5

 

 

Von Tarankar aus gesehen beschrieb die Küste Lohs einen großen Bogen nach Westen, bis sie direkt südlich des Äquators nach einer sanften Kurve zum nördlichsten Punkt des Kontinents führte. Das war das Land der Berge und Täler, das Erthyrdrin genannt wurde und Segs Heimat war. Chem erstreckte sich über den ganzen Äquator. Die direkte Route nach Norden bot keine Vorteile. Wir wollten uns nicht schon wieder mit den Fischgesichtern und ihren fliegenden Schiffen auseinandersetzen müssen. Also blieb uns entweder der Weg nach Westen übers Meer oder der nach Osten über die Wüste. Meine Entscheidung für die östliche Route wurde von dem dringenden Wunsch getragen, bei einem Versagen der Bronzekästen nicht im Wasser zu landen. Um auf einen Absturz in der Wüste vorbereitet zu sein, nahmen wir viele Töpfe mit Wasser an Bord. Dann flogen wir los.

Ich übernahm die Kontrollen, ging, von wilder Ungeduld gepackt, auf volle Kraft und zwang das kleine, aus Baumstämmen bestehende Fahrzeug förmlich vorwärts.

Die Kameraden warfen mir einen Blick zu – und hielten Abstand.

Nur Fan-Si traute sich schüchtern heran; ihr Schweif schlug erst über die eine Schulter, dann über die andere. Sie bat mich, einen anderen ans Steuer zu lassen, damit ich ausruhen konnte.

Das war natürlich vernünftig. Wenn Delia sich in Gefahr befindet, stellt sich das Problem, daß die Vernunft und ich verschiedene Wege beschreiten. Ich sah die kleine Fristle-Fifi auf eine Art an, die sie nicht zurückzucken ließ. Ich glaube eher, daß sie den verwirrten Ausdruck auf meinem Gesicht sah und verstand, daß ich unter dem Bann eines mächtigen Gefühls stand.

»Ausruhen?« fragte ich dümmlich.

»Sonst brichst du zusammen ... Prinz.«

Mevancy trat mit zusammengepreßten Lippen hinzu. Sie warf mir einen Blick zu.

»Also gut.« Sie hatten natürlich recht. Ich wäre von keinerlei Nutzen mehr, wenn wir bei unserer Ankunft sofort in einen Kampf verwickelt würden und ich in den Schlaf fiele. »Wir werden nachts durchfliegen. Rollo muß dann die Kontrollen übernehmen.«

Nun muß man sich dies einmal genau vorstellen: Unsere eigentliche Aufgabe bestand darin, Tarankar von den Schtarkins zu befreien. Wir hätten durch die Gegend fliegen, den Tag des Aufstandes vorbereiten, uns mit Königin Kirstys Heer in Verbindung setzen und alle Bewegungen koordinieren sollen, damit die Fischgesichter vertrieben werden konnten. Doch keiner stellte die Frage, warum wir mit solcher Eile nach Norden und von Tarankar fortflogen.

Angst und Sorge um Delia und die anderen ließen mich schwindelig werden, doch interessanterweise und entgegen meiner Überzeugung konnte ich schlafen. Ich schloß die Augen, dann rüttelte mich Mevancy an der Schulter und rief: »Es ist Morgen, Kohlkopf!«

Ich setzte mich blinzelnd auf.

Ich hatte mich in letzter Zeit tatsächlich zu sehr angetrieben – obwohl es auf Kregen mein Normalzustand ist, bei Vox! Die Natur hatte alles in ihrer Macht Stehende getan, um mich wieder herzustellen. Ich fühlte mich erholt.

Mevancys Augen waren rot.

»Hast du geschlafen, Hühnchen?«

»Etwas. Dort drüben ...« Sie zeigte nach Westen. »... liegt Sinnalix.«

Das frühe Morgenlicht der Sonnen füllte den Himmel apfelgrün und pfirsichrot. Der Wind wehte so frisch wie die sprudelnden Sauerstoffblasen eines Flusses im Frühling. Es war ein Tag, wie geschaffen dazu, auf Kregen große Taten zu vollbringen.

»Sinnalix«, sagte ich und wiederholte absichtlich den Namen ihrer Heimat. »Du bist eine Kregoinya. Ich glaube, die Everoinye hätten nichts einzuwenden, wenn du deinem Zuhause einen Besuch abstattest. Nachdem wir alles erledigt haben.«

»Oh, ich leide nicht an Heimweh, Fambly!«

»Dann will ich nichts gesagt haben. Komm, Hühnchen, Frühstück!«

Während wir über das sich unter uns erstreckende Grasland flogen – die Wüste lag weit hinter, die Dschungel vor uns –, nahmen wir das erste Frühstück ein. Hinter einer Leinwandplane konnte man sich frischmachen; ich hatte nur die Verwendung von feuchten Tüchern gestattet – es kam nicht in Frage, daß jemand einen Krug Wasser über sich entleerte. Llodi behielt den Wasservorrat im Auge. Er hatte eine Strangdja aufgetrieben, und kein vernünftiger Mensch, der diese stählerne, heimtückische, stechpalmenblattförmige Spitze sah, würde den Versuch wagen, mehr als die ihm zustehende Wasserration zu beanspruchen.

Etwas beschäftigte Mevancy.

Ich war unnatürlich ruhig geworden. Wir flogen so schnell wie möglich. Wir würden den abgestürzten Voller erreichen, wenn es soweit war. Erst dann würde ich den wahren Ernst der Situation erfahren, denn Deb-Lu hatte sich, vermutlich zu Recht, nicht erneut gemeldet.

Ich kaute die letzten meiner Handvoll Palines und genoß die gelben Beeren, wie jeder Bewohner Kregens. Mevancy saß am Rand des fliegenden Floßes und ließ die Beine baumeln. Sie schaute nach Westen, und ich stellte mich neben sie.

»Wenn du hinunterfällst, Hühnchen«, sagte ich, »werde ich nicht anhalten, um dich wieder aufzusammeln.«

»Sie bedeutet dir also soviel?«

Ich war verblüfft.

»Die Dame, von der du erzählt hast«, sprach Mevancy leise weiter.

»Ja.«

Mevancy hob die Schultern und ließ sie dann wieder hängen. Sie hatte einen Arm um einen Relingpfosten gelegt. Sollte sie ihn loslassen und versuchen, etwas Unüberlegtes zu tun, würde ich sie vorher festhalten.

Die Vorstellung war so ungeheuerlich, daß mir meine Probleme plötzlich unbedeutend vorkamen. Mevancy hatte geglaubt, in Leotes verliebt zu sein, doch nun wußte sie, daß dies nicht der Wahrheit entsprochen hatte. Ich war auf die verrückte Idee gekommen, sie und Kuong sollten es einmal miteinander versuchen. Man konnte Mevancy durchaus zu den Apim rechnen, auch wenn sie zu einer etwas anderen Art gehörte und ihre Unterarme mit Depots bedeckt waren, deren Pfeile das Gesicht eines Mannes zu zerfetzen vermochten. Sie war eine Abart, eine Mutation, und in ihrem Land einzigartig. Kuong war ein Apim. Sie würden gut zueinander passen.

Doch das war etwas, das ich ihr nicht sagen konnte.

Als Deb-Lu auftauchte, um uns zu führen, zeigte er sich in einer lupalen Projektion. Man konnte nicht durch seinen Körper hindurchsehen. Weder seine Gestalt noch sein Kopf verströmten einen blauen Schein. Er stand auf den Baumstämmen und lächelte mich an, wie immer – und der verdammte Turban rutschte ihm fast aufs Ohr, bevor er ihn geraderückte.

»Jak! Du hast dich sehr beeilt.«

In Erinnerung an alte und gefahrvolle Zeiten gemeinsamer Abenteuer nannte er mich oft Jak. Er kannte auch meine Vorliebe für Decknamen. Rollo kam und war sehr höflich. Einige von Kuongs Leuten nahmen so weit Abstand von dem Zauberer, wie sie nur konnten. Es gab kein unpassendes Gemurre. Die Existenz von Zauberern ist auf Kregen eine Tatsache.

Mevancy und Kuong standen schweigend daneben, als ich sagte: »Deb-Lu, wärst du vielleicht so nett und würdest Rollo unseren Kurs mitteilen?«

Rollo widmete mir einen anzüglichen Blick. »Du erlaubst, daß ich fliege?«

»Mach weiter!«

Ich unterband weitere Gespräche, indem ich zum Bug trat und mich auf einen hervorstehenden Stamm legte. Ich klammerte mich daran wie ein Affenjunges an die Mutter, wenn sie sich durch den Wald schwingt. Ich sah in die Tiefe.

Dort unten standen Bäume. Es waren keine Brellambäume. Der Duft des Dschungels stieg in der heißen Luft herauf, und mir drang ein würziger Geruch in die Nase. Es war ein Gefühl, als bade man mit dem ganzen Körper in exotischem Parfüm. Die Bäume standen eng beieinander und bedeckten große Gebiete; sie paßten sich der Form der Landschaft an, bildeten mit ihren Wipfeln aber keine geschlossene Fläche. Zwischen ihnen bahnten sich schmale Flußläufe willkürlich ihre Bahn, und an diesen Stellen war der Himmel frei. Der Boden wirkte sehr steinig, und die Flüsse waren mit Felsen übersät; meiner Meinung nach war der steinige Boden nur mit einer dünnen Schicht Mutterboden bedeckt. Die Bäume gehörten nicht zu den unglaublich großen Riesen, die es in vielen Dschungeln Kregens gab. Doch obwohl sie von kleinerer Statur waren, bildeten sie einen gewaltigen lebenden Organismus, in dem tierisches Leben gedieh.

Die dramatische und in Wahrheit prahlerische Geste, die ich bot, als ich nach vorn kroch, um der erste zu sein, der den abgestürzten Voller entdeckte, war unnötig. Rollo beherrschte das fliegende Floß sicher, während wir über den Baumwipfeln dahineilten, und als wir die letzten Zweige hinter uns ließen, schoß eine große baumumstandene Lichtung in Sicht.

Die Situation und das damit verknüpfte entsetzliche Geschehen waren sofort ersichtlich.

Bei dem Voller handelte es sich um ein Modell, das ich nicht identifizieren konnte. Er war kaum zu sehen, denn er war von zahllosen seilähnlichen Ranken bedeckt, die sich von den umgebenden Bäumen über Decks und Aufbauten erstreckten. Das netzähnliche Gebilde war weiß und klebrig, und noch während ich in die Tiefe schaute, peitschten weitere Tentakel aus den Baumwipfeln und klammerten sich an dem Flieger fest. Sie wollten ihn in die Höhe zerren, damit die an den Baumstämmen wachsenden, mit Stacheln bewehrten heimtückischen Blüten ihre Beute verzehren konnten. Der Voller tat einen Satz nach oben und sank, von einem Schwall faulig stinkender Luft und einem rülpsend-saugenden Geräusch begleitet, wieder auf seine alte Stellung. Das Gras auf der Lichtung war von strahlendem hellen Grün.

Das unheilvoll helle Grün drängte sich überall gegen den Rumpf des Vollers; wie Tausende von Mäulern, die versuchten, ihn in die Tiefe zu saugen.

»Ich brauche dir nicht zu sagen, was das ist!« rief Rollo.

Auf dem Weg nach Süden hatte er uns vor einem dieser tödlichen Shuckerchuns gerettet.

Ich rutschte von dem behelfsmäßigem Aussichtsposten zurück und stand auf. Ich fühlte mich nicht gut und hatte das dringende Bedürfnis, die Augen des Teufels auszustechen, der bei dieser infernalischen Geschichte seine Hand im Spiel gehabt hatte.

»Das Shuckerchun versucht, den Voller in die Tiefe zu zerren. Die Bäume wollen ihn hochziehen. Was zum Teufel sind das für Dinger?«

»Eine Art Slaptra«, meldete sich Rollo zu Wort. »Durch eine Veränderung in ihrer Umgebung haben auch sie sich verändert. Man nennt sie Flitchlaks. Sie peitschen eine klebrige Ranke um ihr Opfer und zerren es augenblicklich in ihre Blüte. Böse Geschöpfe.«

»Der Boden saugt in die Tiefe, und die Bäume ziehen in die Höhe«, bemerkte Kuong tief besorgt. »Sie schaffen ein Gleichgewicht.«

»Wenn wir aber die Ranken durchschneiden«, bemerkte Mevancy, »wird der Voller vom Boden verschlungen.«

Rollo ließ unser kleines Floß über der Lichtung kreisen. Jedermann blickte nach unten. Auf dem rankenverseuchten Flieger in der Tiefe war keine Bewegung zu erkennen.

»Deb-Lu«, sagte ich, »kannst du ihnen sagen ...?«

Er nickte, und sein Turban fiel fast auf den Boden seines Gemaches daheim in Vallia. »Khe-Hi ist schon bei ihnen, Jak.«

»Nur um ihnen Mut machen, verstehst du?«

Ich wandte mich von dem Zauberer aus Loh ab und starrte blaß auf das schreckliche Schauspiel unter uns. Dabei sah ich aus den Augenwinkeln, daß Fan-Si sich unauffällig zu der am Bug befindlichen Gruppe gesellte. Ich hörte, wie sie mit ihrer zischenden Fristle-Art flüsterte: »Was können wir denn tun?«

Der Voller hing zwischen dem saugenden Shuckerchun und den ziehenden Flitchlaks in der Schwebe. Das Shuckerchun hatte sich offensichtlich einen Weg unter den Boden gebahnt. Es konnte sich nur langsam bewegen, so daß es für die zurückgelegte Strecke lange gebraucht haben mußte. Die Bäume waren wieder nachgewachsen, nachdem ihre Vorgänger in die Tiefe gezogen worden waren. Ich nahm an, daß das Shuckerchun nach besserem Boden Ausschau hielt als dem dünnen Mutterboden und dem steinigen Untergrund. Was die Flitchlaks anging, so hießen sie vielleicht eine Lichtung an dieser Stelle willkommen, vielleicht sogar eine, die mit ihnen um die Beute wetteiferte. Ich konnte mir den Wettlauf zwischen den beiden vorstellen, wenn sie versuchten, Wild zu fangen, das sich in diese tödliche Schneise verirrt hatte.

Doch wie Fan-Si schon gefragt hatte: Was konnten wir tun?

Den ersten und klar auf der Hand liegenden Einfall hatte ich sofort verworfen. Die Gefahr, die dabei für die Leute auf dem fliegenden Floß bestand, war nicht annehmbar. Doch während ich mir das Gehirn nach einer besseren Idee zermarterte, kam ich stets zu der offensichtlichen Möglichkeit zurück. Die elegante Lösung eines Problems sagt mir immer zu. Wenn die Leute an Bord des Floßes sich ruhig verhielten, konnte man ihre Gefährdung auf ein annehmbares Maß verringern. Die Eleganz rührte daher, das Problem zu lösen, indem man es mit der ihm innewohnenden Tödlichkeit besiegte.

Ließ ich die Besatzung irgendwo in der Nähe von Bord gehen, konnte sie in genau so große Gefahr geraten – sei es durch Flitchlak, Slaptras, hungrige Reptilien oder eine andere der hundert Gefahren des Dschungels –, als wenn sie bei mir auf dem fliegenden Floß blieb. Wie dem auch sei, ich war nicht in der Stimmung zu zögern. Ich wollte die Sache erledigen, und zwar schnell.

Da ich keine andere Möglichkeit sah, traf ich also eine Entscheidung.

»Llodi, Moggers, Larghos, Tuco – helft mir, die hinteren Baumstämme zu lösen. Durchtrennt aber nicht die Seile, wir brauchen sie, um die Stämme neu zu verschnüren.«

Nach diesen Worten stürmte ich zum Heck des Floßes, um die hinteren Stämme aus dem Viereck zu lösen. Meine Freunde starrten mich verständnislos an, allerdings nur einen Augenblick lang, bei Krun! Nur einen Augenblick lang.

»Fangt endlich an, ihr Horde Hulus! Bratch!«

Sie sprangen.

Sie folgten meinem ungeduldigen Vorbild und trugen die gelösten Baumstämme zu dem Kontrollstand am Bug. Dort wurden sie schräg über den Auftriebs- und Geschwindigkeitshebeln auf den Planken positioniert. Kürzere Hölzer bildeten die Vorderfront; man ließ lediglich einen Spalt bestehen, der groß genug war, damit ich hindurchsehen konnte. Nach kurzer Zeit war die Steuerung von einem schrägen dreieckigen Unterstand umgeben.

»Nehmt jetzt die Seile. Bindet sie fest! So ist's richtig.«

»Ich passe da ganz gut hinein«, sagte Rollo. »Doch wozu?«

»Du paßt da nicht hinein«, sagte ich. »Aber ich.«

»Aber ...«

»Du hilfst dabei, daß jedermann im Decksunterstand verschwindet. Und laß niemanden nach draußen!«

»Ich verstehe!« Er schleuderte es mir entgegen. »Dieser Plan ist verrückt! Der Flitchlak wird den fadenscheinigen Steuerraum in Stücke reißen, dich herauszerren und zum Mittagessen verspeisen!«

Ich hatte keine Lust zu streiten. Ich hätte ihm sagen können, daß es den Ranken nicht leichtfallen werde, mich zu erwischen. Wenn es doch dazu kam, hatte ich mein Schwert. Doch obwohl meine Problemlösung elegant war, blieb es doch ein verrückter Plan.

Wie ich es mir gedacht hatte, gab es die unvermeidliche Diskussion mit Trylon Kuong. Resigniert ließ ich sie über mich ergehen und versuchte, meine Ungeduld nicht zu sehr zu zeigen.

»Ich verstehe zwar nicht ganz, was du eigentlich erreichen willst, aber ich werde dir zur Seite stehen«, sagte er in seiner offenen Art.

Bei dieser Gelegenheit zahlte sich der Unsinn mit dem Prinzentitel einmal aus.

»Das Angebot ist deinem Mut angemessen, Trylon. Doch ich bin hier der Prinz, und diese Aufgabe muß ich übernehmen.«

Er sah ehrlich enttäuscht aus. »Natürlich, Prinz.«

Wir zogen die letzten Seile an den zusammengeschnürten Stämmen fest. Ich wußte nicht, wozu die verdammten Flitchlaks fähig waren. Bedenklicherweise hüllte sich Rollo, der sich auskannte, in gekränktes, düsteres Schweigen. Mevancy konnte ihre Nervosität nicht verbergen. »Wir können immer nur ein paar Leute nacheinander aufnehmen, Kohlkopf. Und während wir warten, werden die Ranken uns packen.«

»Ich will, daß die Ranken uns packen. So viele wie möglich.«

»Was?«

»Du bleibst im Decksunterstand. Wenn ein Flitchlak deinen Kopf mit einer Ranke trifft, bleibt er nicht auf deinen Schultern.«

»Und was ist mit deinem Kopf – Kohlkopf?«

Dazu gab es nichts zu sagen. Gerade als ich mich hinter die Kontrollen in den engen dreieckigen Verschlag zwängen wollte, kam mir der Gedanke, ob es nicht doch besser gewesen wäre, eine Stelle zu finden, an der ich meine Kameraden hätte abladen können. Ich brachte sie in schreckliche Gefahr. Die Bewegungen des Vollers unten auf der Lichtung zwangen mich auf unerfreuliche, um nicht zu sagen furchteinflößende Weise zu einer Entscheidung.

Die Flitchlaks beugten sich nach vorn, und die ganze Zeit über hatten sie die Krümmung noch verstärkt. Sie schossen immer neue Ranken ab. Die vorher abgefeuerten rissen unter der Belastung. Das machte mir zwar angst, doch gleichzeitig fand ich dadurch neuen Mut, denn es untermauerte die Richtigkeit meiner Entscheidung. Das von uns entdeckte Gleichgewicht zwischen Saugen und Ziehen geriet nun aus dem Gleichgewicht. Zeit war plötzlich ein lebenswichtiger Faktor geworden.

Natürlich war Geschwindigkeit immer wesentlich gewesen.

Falls es den verdammten Ranken, Tentakeln oder Lianen gelingen sollte, sich an dem kleinen fliegenden Floß festzusetzen, bevor ich es an die ausgesuchte Stelle gesteuert hatte, war der ganze Plan gescheitert. Außerdem wären auch wir dann gefangen.

Ich rief knapp: »Alle Mann drinnen?« Kuong antwortete: »Alle drin!« Und ich legte los. Die Kontrollhebel fühlten sich rutschig und warm an. Die Luft in dem engen Raum war sehr schwül. Wir hatten nur eine einzige Chance. Ein Fehler, und wir alle trafen uns auf den Eisfeldern von Sicce, oder, da wir uns in Loh befanden, in den Todesdschungeln von Sichaz wieder. Ich schob die Kontrollen auf volle Kraft und jagte das kleine Floß schwungvoll auf die Lichtung.

Die schlängelnden weißen Lianen peitschten sofort los. Sie kreuzten einander in einem verwirrenden Muster. Ich kurvte herum und wich aus; die Geschwindigkeit verringerte sich stets für einen kurzen Augenblick, wenn eine Ranke heranschoß und für kurze Zeit Halt fand. Dann tat das Floß einen Satz nach vorn, die Liane riß und rollte sich zusammen, während wir weiter in die Tiefe rasten.

Ich stürzte mich direkt auf den gestrandeten Voller. Die weiße Rankenmasse, die Deck und Aufbauten wie Girlanden bedeckte, sah aus, als hätte ein riesenhafter Koch die Kontrolle über eine Spritztüte verloren und hemmungslos gewütet. Die Dinger hüllten das Schiff in einen festen Klumpen ein. Ich hielt auf mein Ziel zu, führte ein Ausweichmanöver nach dem anderen aus und setzte mit einem sturmähnlichen Tosen hart auf.

In dem Augenblick, da ich den Voller berührte und ein wenig in den Haufen aus weißen Ranken einsank, schoß eine weiße Liane nach der anderen auf uns zu und hüllten das Floß in einen klebrigen Kokon ein.

Die Sicht nach vorn ging fast sofort verloren. Durch den von den Tentakeln der Flitchlaks bedeckten vorderen Aussichtsschlitz drang nur noch ein schwaches graues Licht.

Man brauchte nichts zu sehen. Ich konnte alles fühlen. Das Peitschen und Klatschen auf dem zerbrechlichen Unterstand; wie sich das Floß bewegte. Ich wartete.

Ich wartete.

Bei den stinkenden, verfaulenden Nasenlöchern und herabbaumelnden Augäpfeln Makki-Grodnos! Ich wartete.

Ich spürte nicht nur, wie die Baumstämme unter dem Aufprall der Ranken erzitterten, ich merkte auch, daß wir stetig weiter in den Tod gezogen wurden. Das Shuckerchun gewann den Wettstreit. Bald mußte der Voller, sobald alle Ranken gerissen waren, in die Tiefe gezerrt werden. Dann waren alle meine Freunde, die sich hier aufhielten, vom Antlitz Kregens verschwunden.

Es reichte. Ich konnte nicht länger warten. Ich setzte alles auf eine Karte, ja, doch ich trieb es nicht zu weit. Falls es dem Shuckerchun gelang, den Voller weit genug unter die Oberfläche zu ziehen, konnte mein waghalsiger Plan nicht gelingen. Die Zeit war gekommen!

Sehr – sehr! – vorsichtig schob ich den Kontrollhebel nach vorn.

Wenn ich mich verrechnet hatte ...

Zuerst tat sich nichts. Wir stiegen nicht. Ich schob den Hebel noch ein kleines Stück weiter vor. Das Floß bewegte sich. Ich spürte, daß sein Gewicht zugenommen hatte. Noch ein Stück. Wir stiegen. Ich konnte nach vorn noch immer nichts sehen. Einem lauten reißenden Geräusch folgte fast sofort ein blubberndes, saugendes Schmatzen. Ein ekelhafter Gestank stieg in die Höhe.

Ich empfand freudige Erregung.

Wir stiegen! Wir glitten in die Höhe! Das saugende Geräusch und der Gestank bestätigten, was die Kontrollen vermittelten. Die Apparatur verriet mir, daß wir zusammen mit dem Voller, an dem wir durch die Tentakel der Flitchlaks festklebten, in die Luft stiegen.

Wir gewannen langsam an Höhe, dann schossen wir mit einem gewaltigen Schub an Auftrieb in den Himmel.

Ich ließ die zusammenklebenden Flieger immer höher steigen, dann schob ich die Hebel ruckartig nach vorn, um uns von der verfluchten Lichtung wegzubringen.

Kuong war der erste, der mit dem Schwert in der Hand aus dem Decksunterstand stürmte und die weißen Ranken von meinem dreieckigen Zufluchtsort abschlug. Hinter ihm kamen Mevancy und Llodi, und dahinter drängten sich die anderen. Das Licht der Sonnen beleuchtete mein Gesicht. Ich konnte meine neuen Freunde wieder sehen.

Dann lief ich zum Rand des Floßes und sprang. Mit dem Schwert in der Hand landete ich in der klebrigen Masse aus weißen Ranken.