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Auf zwei Welten gab es keinen, der diese Aufgabe so gut gelöst hätte wie Seg. Davon bin ich überzeugt.

Seg, der während unseres Gesprächs seinen Bogen poliert hatte, griff mit fließender Bewegung danach. Die Waffe fuhr hoch, der Pfeil zuckte aus dem Köcher und wurde aufgelegt, der Bogen krümmte sich – dies alles auf so wundersam schnelle Weise, daß sich jeder junge Coy, soeben zu einem Bogenschützenregiment eingezogen, gewundert hätte, aber selbst ich staunte, bei Vox!

Seg schickte den Pfeil los.

Der Werwolf, der im verschwommenen rosafarbenen Mondschein der Jungfrau mit dem Vielfältigen Lächeln deutlich zu erkennen war, huschte auf die Ecke zu. Das in seinem Maul hängende Mädchen wippte auf und nieder. Die tödliche graue Gestalt, drohend, geheimnisvoll, von böser Anmut erfüllt, doch zugleich scharf umrissen in ihrer Grausamkeit, verschwand um die Ecke.

»Ich glaube das einfach nicht«, sagte Seg.

Nath wollte etwas sagen, hielt inne, räusperte sich und machte kehrt. Er ging zum Tisch und schenkte sich ein Glas Rotwein ein. Seine Hand zitterte nicht. Ich wäre wohl nicht überrascht gewesen, wenn sie es getan hätte.

Seg schüttelte den Kopf.

»Ich habe ihn getroffen.«

Er wandte sich zu mir um, und sein gutaussehendes Gesicht war so ernst, wie ich es selten erlebt hatte. »Dray – du weißt, daß ich mit meiner Schießerei nicht prahle, denn das wäre unsinnig. Aber ich weiß, wann ich getroffen habe. Das Ungeheuer muß getroffen sein.«

»Das glaube ich dir gern, Seg. Gehen wir hinab und schauen nach.«

»Der Pfeil hätte ihn dicht hinter den Vorderläufen treffen müssen, direkt ins Herz.«

Nath sagte: »Es gibt keinen konkreten Beweis dafür, daß Gancharks Herzen besitzen.«

»Auf jeden Fall wäre er schwer verwundet. Er hätte nicht so leichtfüßig weiterhuschen können ...«

»Gehen wir nach unten«, wiederholte ich.

Die Sache war rätselhaft. Seg wußte in der Regel, wenn er sein Ziel gefunden hatte. Wurde ein sterbliches Wesen von einem Pfeil getroffen, gelenkt von den rosafarbenen Federn des Zim-Korfs aus Valka, bewehrt mit spitzem gehärteten Stahl, dann dringt dieses Geschoß durch den Körper hindurch. Und wenn Seg behauptete, daß er an einer Stelle getroffen hatte, an der er das Herz durchstoßen müßte, dann war dieses sterbliche Wesen nicht mehr am Leben.

Tot.

Die einzig denkbare Lösung dieser Gleichung hallte bösartig durch meinen alten Voskschädel.

Die Jurukker der Wache verstanden ihr Handwerk, und schon eilten die Wächter durch das Tor ins Freie und deckten die Querstraße wie auch die Gasse, durch die wir liefen. Die Zwillinge, die sich ewig umkreisten und ihr vermengtes Licht herabwarfen, schlossen sich der Jungfrau mit dem Vielfältigen Lächeln an und füllten die Räume zwischen den Häusern mit ihrem rosafarbenen Schein.

Zwei Wächter eilten auf uns zu. Da sie der Schwertwache des Herrschers angehörten, klapperte und knirschte kein Teil ihrer Ausrüstung. Der Anführer, ein Kampeon, erblickte mich und rief:

»Majister! Der Pfeil!«

Er erreichte uns, kam zum Stillstand und hielt uns Segs Pfeil entgegen. Ich ergriff ihn.

»Vielen Dank, Diarmin. Kein Blut daran?«

»Kein Tropfen, Vikatu sei mein Zeuge.«

Ich gab den Pfeil seinem Eigentümer zurück.

»Na?«

Seg Segutorio ist ein gründlicher Mann. Er nahm den Pfeil zwischen die kräftigen Finger, drehte ihn, überprüfte die Federn und hob die Spitze schließlich an die Nase.

»Geölter Stahl«, sagte er schließlich. »Sonst nichts.«

Der junge Mann, der den erfahrenen Diarmin begleitete und von ihm ausgebildet wurde, hatte das strahlend saubere Gesicht des typischen jungen Rekruten, das unter dem harten Eisenrand des Helms oft herzzerbrechend verwundbar aussieht.

Nun schluckte der Jüngling mehrmals krampfhaft und sagte: »Majister ... ich glaube ... ich dachte ...«

Diarmin diente schon lange unter mir und kannte meine Art; so konnte er sich ausrechnen, wie er sich in dieser Lage verhalten mußte. »Heraus damit, Jurukker!« bellte er. »Laß den Herrscher nicht warten!«

»Ich habe den Pfeil gefunden, Majister. Als ich ihn aufhob, da hatte ich das Gefühl ... ich meine ...«

»Lös den Knoten aus deiner Zunge, Jurukker!« schäumte Diarmin, offenbar verärgert, vor seinem Herrscher dermaßen bloßgestellt zu werden.

»Jawohl, Deldar Diarmin – an der Pfeilspitze befand sich ein winziges Stück Fell ...«

»Fell! Fell! Und wo ist das Stück jetzt, junger Nairvon?«

»Das ... das weiß ich nicht.«

»Du hast es fallen gelassen, nicht wahr? Du hast wertvolle Indizien verschwinden lassen! Das wirst du bereuen. Warte, bis ich dich morgen früh dem Hikdar übergebe!«

»Jawohl, Deldar.«

»Einen Moment!« schaltete sich Seg ein und bewegte den Pfeil hin und her. »Du bist sicher, daß ein Stück Fell daran klebte, Nairvon?«

»Durchaus, Kov Seg ... nun ja, beinahe sicher.«

Deldar Diarmin öffnete den Mund, doch Seg schaffte es gerade noch, vor ihm zu sprechen ...

»Aber du hast den Fetzen nicht fallen lassen, oder?«

»Nein, Jen, nein. Er war doch ein Indiz.«

»Deldar Diarmin«, sagte ich, »warum gehst du nicht mit dem Jurkker und einigen Fackeln in die Gasse und schaust nach?«

»Quidang!« dröhnte Diarmins Stimme von den grauen Mauern wider. »Jurukker Nairvon – bratch!«

Die beiden Wächter trabten fort, und Seg rief ihnen nach: »Nehmt noch weitere Kameraden mit auf die Suche!«

Nath na Kochwold hatte dem Gespräch schweigend beigewohnt. Jetzt atmete er tief ein.

»Ich möchte der Aussage des jungen Nairvon nicht gern widersprechen. Wenn Seg einen Wolf geschossen hat und dabei ein Stück Fell losgegangen ist, muß Nairvon das Beweisstück fallen gelassen haben.«

»Aber?« fragte Seg.

»Ah ja – wenn es sich um einen Werwolf gehandelt hat, hätte man vielleicht ein ziemlich großes Stück Fell losgerissen. Aber man könnte es nicht finden.«

»Und kein Blut.«

»Durchaus.«

Der Widerspruch zwischen diesen militärischen Regularien – dem brüllenden Deldar, dem stammelnden Jungsoldaten, der Routine und Ordnung und Klarheit im Leben – und den unheimlichen Geschehnissen, die einen Atemhauch des Okkulten durch die Gasse streichen ließen, machte mir zu schaffen. Ich nahm nicht an, daß man diesem verdammten Werwolf mit militärischem Drill beikommen konnte.

Meine Stimme hatte wieder einmal ihren altgewohnten unduldsamen Klang, als ich sagte: »Kehren wir zurück, um unsere Angelegenheit mit Strom Volgo zu Ende zu bringen.«

Meine Gefährten stimmten mir zu, und Nath sagte leise: »Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie einen Fellfetzen finden.«

»Dabei habe ich das Ungeheuer getroffen, davon bin ich überzeugt«, warf Seg ein.

»Da du getroffen hast, was du treffen wolltest, das Ungeheuer aber nicht getötet wurde und kein Blut vergoß – muß etwas anderes dahinterstecken –, aber was, Seg?« Nath schüttelte den Kopf. »Ich ahne Schlimmes.«

»Wir müssen die Identität des armen Mädchens feststellen.« Noch immer sah ich die bedauernswerte Gestalt in der Schnauze des Werwolfs: mit baumelnden Armen und Beinen, das weiße Kleid wie ein Mottenflügel.

»Und wir müssen erfahren«, fügte Seg mit beinahe drohender Stimme hinzu, »was sie um diese Zeit allein auf der Straße zu suchen hatte!«

Als wir in das Obergeschoß der Gescheckten Zorca zurückkehrten, hatte Strom Volgo die schwarze Eisenmaske wieder angelegt.

Offenbar war er zu dem Schluß gekommen, daß die Angelegenheit ihn nichts anging.

Ich sah nun folgende Prioritäten: Zuerst mußte Turko Verstärkung erhalten, um die Front zu halten, gleichzeitig war Inchs Lage zu überprüfen. Zweitens mußte ich gegen den Werwolf vorgehen, während ich drittens Natyzha Famphreon und ihrem Sohn Nath nach besten Kräften helfen wollte.

Dies erklärte ich Strom Volgo.

»Diese bedauerliche Reihenfolge muß ich akzeptieren, Majister, denn ich verstehe deine Lage. Ich bin es zufrieden, daß du dein Wort gegeben hast.«

Seg zupfte sich bei diesen Worten am Kinn, aber die Sache war abgeschlossen, und es gab nichts mehr daran zu rütteln.

»Strom Volgo«, sagte ich, als er sich schon zur Tür wenden wollte, »gestatte mir, dir eine halbe Schwadron zum sicheren Geleit aus Vondium mitzugeben!«

Er zögerte und sagte dann: »Wie du willst, Majister. Mein Dank.«

Ein vernünftiger Bursche ...

Für die erste Aufgabe auf meiner Liste hatte ich in der Gestalt Naths na Kochwold das perfekte Werkzeug gleich bei mir. Wir ritten zum Palast zurück, gefolgt von den Wächtern. Es amüsierte mich ein wenig zu beobachten, daß sie die Waffen blank gezogen hatten. Wenn Seg auf das verdammte Wesen schießen konnte, ohne daß es tot umfiel, konnten diese Burschen auch nicht viel ausrichten, mochten sie auch noch so gut kämpfen ... »Nath«, sagte ich, »was Turko betrifft ...«

»Ha!« rief er. »Du willst mich losschicken ...«

»Ich möchte, daß du die Ausbildung der Fünften Phalanx beendest.«

Finster starrte er mich an.

»Na gut. Wie du weißt, mag ich im Leben nur eine Sache lieber als die Ausbildung einer Phalanx – und das ist ihre Leitung während einer Schlacht.«

»Du bist ein blutrünstiger Schurke, Nath!«

»Oh, aye, manchmal mag das wohl sein.«

Während meiner Abwesenheit hatte man die Phalangen neu verteilt. Die Halb-Phalanx, auch Flügel geheißen, wurde allerdings selten bei diesem Namen genannt, weil sie eigentlich keine unselbständige Hälfte darstellte – vielmehr hatten wir ihr den Namen Kerchuri gegeben – eine selbständige Einheit, von denen zwei eine Phalanx bildeten.

Ich erklärte Nath na Kochwold mein Vorhaben.

»Ich nehme die Sechste mit zu Turko. Vondium kann ohne weiteres von der Neunten und Zehnten bewacht werden.«

Der Dritten Phalanx galt unsere besondere Zuneigung. Die Sechste Kerchuri der Dritten Phalanx war im entscheidenden Augenblick der Schlacht von Kochwold in die Lücke vorgedrungen, die die wilden Klansleute auf dem Rücken ihrer Voves zu reißen drohten. Dieser Schlacht entlehnte Nath seinen Namen.

»Na schön. Schließlich kann man die Fünfte wohl kaum eine unerfahrene Einheit nennen. Viele Männer haben schon in der alten Fünften gedient.«

»Gut.«

»Und wenn du uns rufst, drille ich die Burschen noch weiter, während wir dir schon nachmarschieren.«

»Nath, ich hoffe sehr, daß ich das Problem lösen kann, ohne dich um Hilfe zu rufen. Vielleicht meldet sich statt meiner Drak aus dem Südwesten. Und oben im Nordosten, jenseits des Hawkwa-Landes ...«

»Dort halten wir uns gut«, sagte Seg mürrisch.

»Aye«, bestätigte Nath. »Vorwiegend mit leichter Kavallerie, die Überfälle erwidern muß. Da läßt es sich wirklich vertreten, eine Keruchuri abzuziehen.«

»Besprich das alles mit Farris«, sagte ich.

Ich will ehrlich sein – Sorgen machten mir vor allem die verflixten Mädchen. Ich mochte mir noch so oft einreden, daß ich damit überaus dumm reagierte – immer wieder erfüllte mich Unbehagen, wenn ich ein Kriegermädchen in Aktion erlebte. Sie sahen prächtig aus, wie sie da mit ihren geschäfteten langen Beinen herummarschierten, das Gesicht strahlend vor Gesundheit, die Augen funkelnd vor Begeisterung. Das war natürlich das Äußere, die Zurschaustellung, dazu kamen die flotten Uniformen, die grell tönenden Trompeten, die grollenden Trommeln und wehenden Flaggen.

Die Realität des Kampfes, die Grausamkeit von Blut und Tod hatten wenig zu tun mit der märchenhaften Romantik, die die Jikai-Vuvushis zu umgeben schien.

Der Palast erstrahlte bei unserer Rückkehr von zahlreichen Lampen. Niemand wollte sich in den dämmerigen zuckenden Schatten von dem Werwolf erwischen lassen.

Garfon der Stab, unser angesehener tüchtiger Majordomus, berichtete, daß Deb-Lu-Quienyin mich im Empfangsraum vor meinem Privatquartier erwarte. Delia war nicht anwesend, aber sie hatte mir eine Nachricht hinterlassen. Deb-Lu-Quienyin war der eiligen Aufforderung, nach Vondium zurückzukehren, gefolgt und hatte einen anstrengenden Flug hinter sich.

Wir marschierten durch, ohne anzuhalten, riefen nach Wein und warfen die Mäntel ab. Deb-Lu lächelte bei unserem Anblick. Er war unruhig auf den walfargschen Teppichen herummarschiert und blieb nun stehen.

»Lahal, Deb-Lu! Du hast die Berichte über den Werwolf vernommen?«

»Lahal, Majis. In der Tat. Eine üble Sache. Aber es gäbe da gewisse Möglichkeiten ...«

»Und ob!« sagte Seg, schnappte sich ein Glas und suchte nach der erstbesten Flasche.

Sicher fällt Ihnen die Art und Weise auf, wie Deb-Lu und ich miteinander umgingen – ohne jede unnötige Förmlichkeit, ohne Rattenschwanz an Lahals und höflichen Fragen, wie es denn gehe. In diesem unsicheren Augenblick der vallianischen Geschichte wäre das nur überflüssig gewesen. Dennoch hatten sich Deb-Lu und ich lange nicht gesehen – verdammt lange nicht, bei Krun!

»Genau das wollte ich hören!« rief ich und nahm Seg das Glas ab. »Trotzdem, San, besteht noch die Möglichkeit, daß das Ungeheuer gar kein Werwolf ist.«

Jedesmal wenn ich an Deb-Lu-Quienyin voller Zuneigung und Ehrfurcht denke und ihn dann das nächstemal wieder vor mir sehe, muß ich sagen, daß er mir unverändert erscheint. Nun ja, natürlich macht auch er eine Entwicklung durch und bietet zuweilen auch ein verändertes Erscheinungsbild. Als berühmter und gefürchteter Zauberer aus Loh, der als San angeredet wurde, gehörte er zu der kleinen Gruppe enger Vertrauter des Herrschers und der Herrscherin.

Nein, für mich gibt es noch immer keinen Zweifel, daß die Zauberer aus Loh unter allen kregischen Zauberern den höchsten Rang innehaben. Sie erkennen vielleicht, daß mir ihre wahre Macht nur sehr langsam bewußt geworden war. Als ich nun Deb-Lu anschaute und die alte Woge der Zuneigung spürte, fiel mir auf, daß er den riesigen Turban abgenommen hatte. Das rote lohische Haar wirkte verwuschelt. Er bot das typische Bild des mächtigen Magiers – ohne daß er sich Runen auf die Gewänder sticken oder sich mit Schädeln und Federn und Büchern umgeben mußte. Ein Zauberer aus Loh braucht keine materiell greifbaren Hilfsmittel, um seine Magie wirken zu lassen.

Allerdings besaß er einen Stab, der jetzt an einem Stuhl lehnte. Deb-Lu hatte mir mehr als einmal versichert, daß er den Stab eigentlich nur brauche, um seine müden alten Knochen beim Gehen abzustützen – wie Sie noch merken werden, machte er sich sein betagtes Alter gern auf sehr untypische Weise zunutze ... Wahrscheinlich hatte er sich einen Teil seiner Klageroutine beim alten Hunch abgeschaut ...

Dies bringt mich darauf, daß es in Vondium viele Leute gibt, die hier und jetzt eigentlich erwähnt werden sollten. Allerdings muß ich sie zunächst übergehen, weil die sich entwickelnde Geschichte um den Werwolf von Vondium Vortritt hat.

Deb-Lu äußerte sich knapp, klar und sehr logisch – bei Zair, hätten wir nur gut zugehört und unsere Köpfe zu etwas anderem benutzt, als hübsch gefiederte Hüte darauf zu drapieren!

»Dudinter«, sagte Deb-Lu-Quienyin. »Dudinter.«