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In der Zeit der Unruhe war Die Scheckige Zorca niedergebrannt worden, und man hatte das Haus wieder aufgebaut; trotzdem wies das Zimmer im Obergeschoß eine gewisse verblaßte Pracht auf, die an frühere Tage erinnerte. Es gab sogar schwarzweiße Verzierungen an den Kranzgesimsen zu bewundern. Vielleicht hatte sich da nur ein Künstler ausgetobt ...

Nath na Kochwold blies Luft durch die Nase, als er die Verzierungen erblickte, und warf seinen breitkrempigen Hut auf den Tisch. Dann lümmelte er sich in einen Stuhl und streckte die schwarzen Stiefel aus.

»Wirt, Getränke für alle, und zwar schnell!«

»Sofort, hoher Herr.«

Seg und ich starrten auf die Person, die einen schwarzen Mantel und eine ebenso gefärbte Eisenmaske trug. Die Erscheinung war bei unserem Eintritt aufgestanden. Sie trug keine Waffen, während wir voll bewaffnet waren.

»Müßte ich dich kennen, Koter?« fragte ich mit tonloser Stimme.

»Vielleicht, Majister. Wenn der Wirt uns bedient hat, werde ich die Maske abnehmen.«

»Einverstanden.«

Der Raum wurde von Mineralöllampen erleuchtet, die einen etwas scharfen Geruch verbreiteten im Vergleich zu den süßlich duftenden Samphronöllampen, die in vornehmeren Haushalten anzutreffen waren. Als der Wirt, ein bulldoggengesichtiger Brukaj in einer beinahe sauberen gelbgrün gestreiften Schürze, sich zurückgezogen hatte, hoben wir die Flaschen und setzten uns um den Tisch.

Mit energischer Geste löste der Fremde die Verschlüsse und nahm die Eisenmaske ab.

Nun ja, ich kannte ihn. Aber nicht besonders gut.

»Lahal, Strom Volgo.«

»Lahal, Majister.«

Er war Apim wie ich und hatte ein strenges nüchternes Gesicht, das seine Lebenserfahrung nicht verleugnen konnte. Seine Nase war breit geschwungen, die Lippen dagegen schmal, doch wirkte er nicht unattraktiv. Die Augenbrauen hatte er zusammengezogen.

»Ich diene der Kovneva und bin ihr mit meinen Ländereien in der Pflicht. Sie befiehlt, ich gehorche.«

Ein Strom, hier auf der Erde etwa mit einem Grafen zu vergleichen, kann Lehen direkt vom Herrscher oder König empfangen, aber auch von einem Kov oder Herzog. Die Kov-Witwe Natyzha Famphreon von Falkerdrin gebot über weite Ländereien. Sie hatte zahlreiche Edelleute als Statthalter unter sich.

»Also, Jen«, antwortete ich und benutzte damit die richtige vallianische Anrede für einen hohen Herrn, »dann heraus mit deinem Anliegen!«

Er zeigte sich nicht beunruhigt. Er hatte natürlich von mir gehört – wohl noch in der Zeit, da die Racter mich lediglich für einen Propagandaprinzen hielten, einen aufgeblasenen Niemand.

»Ich muß dich informieren, daß die Kovneva davon überzeugt ist, daß sie bald sterben wird ...«

»Ha!« rief Nath. »Das wären gute Nachrichten!«

Strom Volgo ließ sich nichts anmerken, doch fiel mir auf, daß er unmerklich die Stirn runzelte. Dieser Mann diente der alten Natyzha und war sich der Unruhe bewußt, die der Tod einer Aristokratin ihres Kalibers auslösen mußte.

»Sie kennt die Feindschaft, die dir von den Ractern entgegengebracht wird. Sie ruft dir ihren umschlossenen Garten in Erinnerung und die entflohenen Chavonths, die sie und ihre Freunde hätten töten können. Damals bekümmerte es sie, daß du und sie als Feinde gegeneinanderstanden.«

»Ich habe nur getan, was nötig war«, sagte ich. »Meinerseits möchte ich sie daran erinnern, daß ihr Sohn Nath Famphreon Schulter an Schulter mit mir gekämpft hat. Und dabei nur mit einem Rapier bewaffnet war.«

Die Szene war wahrlich aufregend gewesen – entwichene Chavonths, blutrünstige Jagdkatzen, hatten sich auf uns gestürzt mit dem Ziel, uns zu zerreißen und aufzufressen. Ja, ich hatte immer schon das Gefühl gehabt, daß Natyzhas Sohn Nat nicht das Leichtgewicht war, für das alle ihn hielten. Seine Mutter war dermaßen mächtig, so stark in ihrem Willen, so ungeduldig in ihren Forderungen, daß der junge Kov Nath in ihrem Schatten verkümmern mußte.

Während Strom Volgo weitersprach, erkannte ich, daß es hier um hochbrisante politische Fragen ging, um geheime Vereinbarungen, um den Stoff, aus dem Reiche geschmiedet werden.

Der Gesandte hakte den schwarzen Umhang auf und warf ihn über die Stuhllehne. Er trug vallianische Lederkleidung, und die langen schwarzen Reitstiefel zeigten noch den Schmutz der Reise. Er hatte einen weiten Weg zurückgelegt von Falkerdrin, das nördlich der Schwarzen Berge liegt, und nördlich Vennars, jenseits des Flusses der Reißenden Katzenkrallen. Mein Klingengefährte Inch versuchte noch immer die Schwarzen Berge zurückzuerobern, während sich mein Gefährte Turko in seinem neuen Kovnat Falinur abmühte und Vennar einzubinden versuchte, das im Westen angrenzte. Vennar war natürlich das Kovnat Layco Jhansis, der Ober-Pallan des alten Herrschers gewesen war und sich inzwischen als Verräter und Mörder entpuppt hatte.

»Dann kämpfst du also immer noch gegen Layco Jhansi, Strom Volgo?«

»Natürlich, so hat es den Anschein.«

Diese Formulierung gefiel mir ganz und gar nicht, ebensowenig Seg. Er richtete sich auf.

»Oh?«

Volgo breitete die Hände aus. Er trug das bunte Abzeichen – Schturval genannt – von Falkerdrin. Schwarz und golden gefärbt, nach dem Umriß eines Chavonths geformt. Der Schturval funkelte im Licht der Öllampen.

»Die Kovneva hat mir befohlen, dir alle Fragen zu beantworten, Majister. Sie fühlt sich dem Tode nahe ...«

»Und dies ist die Wahrheit? Liegt Natyzha wirklich im Sterben?«

»Ja.«

»Den Berichten zufolge«, meldete sich Nath na Kochwold, »eignet sich ihr Sohn Nath Famphreon nicht dazu, in ihre Fußstapfen zu treten und Kov zu werden. Er würde den Kopf verlieren, ehe er ihr Grab verlassen hätte.«

»Ja«, erwiderte Strom Volgo.

Seg beschäftigte sich noch mit dem Thema davor.

»Was soll das heißen, es hätte den Anschein, ihr kämpftet noch gegen den mörderischen Layco Jhansi?«

»Man hat mir befohlen, dem Herrscher alles zu sagen. Die Racter haben sich mit Layco Jhansi geeinigt ...«

»Beim Teufel, wenn das wahr ist!«

»Aye. Die Racter werden ihre Streitkräfte vor allem gegen den verrückten König von Nord-Vallia einsetzen, während Jhansi den neuen Kov Turko von Falinur niederringen soll.«

»Beim Schwarzen Chunkrah!« fuhr ich auf. »Das wußte ich noch nicht!«

»Damit wäre erklärt, warum Turko in jüngster Zeit solche Schwierigkeiten hatte.« Seg krallte die breite braune Faust um den glatten Schaft seines Bogens. »Ich muß sofort zu ihm, mein alter Dom, und ...«

»Ganz recht! Und ich werde dich begleiten, und zwar mit Verstärkung für Turko. Die ganze Front könnte zusammenbrechen, und dann ... bei Krun! Man darf gar nicht daran denken!«

Strom Volgo rieb noch Salz in unsere Wunden.

»Nachdem Layco Jhansi nun über Ractergebiet Zugang zum Meer hat, konnte er zahlreiche Söldner anwerben.«

»Das reicht!« erklärte Seg. Er stand auf, ein massiger, gutaussehender Mann mit zerzaustem Haar, und marschierte wie ein Leem unruhig im Zimmer umher.

»Mein Dank gilt dir, Strom Volgo, und Natyzha. Sie hat uns mit diesen Nachrichten einen guten Dienst erwiesen. Allerdings weiß ich nicht recht, warum sie mich über solche Dinge informieren wollte.« Ich fuhr mir mit der Hand über das Kinn.

»Deshalb bin ich hier. Die Kovneva rechnet damit, daß die Führer der Racter-Länder nach ihrem Tod wie die Warvols über ihr Kovnat herfallen werden. Ihr Sohn Nath, den sie auf ihre eigene harte Weise liebt, würde sofort untergehen und dabei wohl auch ums Leben kommen. Sie geht auf jeden Fall davon aus, daß Kov Nath niemals Falkerdrin erben würde.«

»Das scheint mir eine vernünftige Einschätzung zu sein«, sagte Nath na Kochwold.

Ich wußte allerdings, zu welcher eisernen Zielstrebigkeit Natyzha Famphreon fähig war, und glaubte zu wissen, worauf sie hinauswollte. Mir verschlug es den Atem. Ich mußte es aus Volgos Mund hören – eine Bitte, die ich eigentlich gar nicht hören wollte.

»Kovneva Natyzha Famphreon von Falkerdrin erbittet und fordert von dir, Dray Prescot, Herrscher von Vallia, daß du das juristische und tatsächliche Erbe ihres Sohns, Kov Nath Famphreons von Falkerdin garantierst.«

»Was sollen wir tun?« Seg hielt in seinem unruhigen Marsch inne und fuhr mit gesenktem Kopf herum. Seine Stimme glich einem Fauchen. »Ist die Frau verrückt geworden?«

»Sie hat sich, Kov Seg, eine Meinung über den Herrscher gebildet. Zu dieser Bitte kann von niemandem anders Stellung bezogen werden.«

Mit leiser Stimme sagte ich: »Wenn ich diese erstaunliche Bitte gewähre und ich Kov Seg Segutorio schicke – ihn bitte, nach Falkerdrin zu reisen und alles zu regeln –, dann, das kannst du mir glauben, Kov Volgo, wird alles geregelt werden, und auf eine höchst ansehnliche Weise, bei Vox!«

Volgo blinzelte zweimal in schneller Folge.

»Ich würde natürlich sofort aufbrechen, Dray. Aber ich muß zugeben, daß ich mir weitaus größere Sorgen um Turko mache.«

»Ich auch. Turkos Probleme mit diesem Sicce-Abkömmling Jhansi sind viel dringender als Natyzhas Todesahnungen.«

»Verzeih mir, Majister – aber die Kovneva liegt wirklich im Sterben. Die Nadelstecher und Punkturfrauen wissen nicht mehr weiter.«

»Nun denn, Volgo, ich werde darüber nachdenken. Man muß die alte Dame allerdings bewundern. Sie war immer der härteste Brocken unter den Racter-Anhängern. Wenn ...«

»Majister!« Er unterbrach mich in vollem Bewußtsein der Gefahr, die ein Höfling einging, wenn er seinen Herrscher nicht aussprechen ließ. »Ich bitte dich um Verzeihung. Die Kovneva stirbt, und sie braucht deine Zustimmung als Trost für ihr Totenbett. Du siehst das bestimmt ein – Majister.«

»Ich sehe, daß du ihr ergeben bist, Volgo, und das muß ich bewundern. Nun gut. Überbring ihr diese Nachricht. Ich erinnere mich gut an Kov Nath – nein, bei Krun! –, ich hege Zuneigung zu dem jungen Mann. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um dafür zu sorgen, daß er nicht um sein Erbe betrogen oder gar ermordet wird. Aber wenn dies alles geschieht, solange ich noch nicht zur Stelle bin oder meine Armeen noch nicht weit genug vorgestoßen sind, nun, dann ...«

»Du wirst es irgendwie einrichten, Majister. Deshalb hat die Herrin dir ja auch ihre Bitte vorlegen lassen.«

Da ich den ungestümen Seg der frühen Tage kannte, versuchte ich ihm auszuweichen. Aber das war vergeblich. Sein Blick richtete sich auf mich, schien mich einzufangen und hypnotisieren zu wollen. Er stimmte sein typisches Lachen an.

»Da hast du es, mein alter Dom! Ich habe es dir oft genug gesagt!« Er benutzte kregische Worte, doch sagte er: »Du bist viel zu ritterlich, als es für dich gut ist.«

Das durfte nicht unwidersprochen bleiben: »Ritterlich! Nach all den Streichen, die wir angezettelt haben!«

Nath na Kochwold war zwar ein guter Gefährte, konnte uns in diesem Augenblick aber nur verständnislos anschauen.

Strom Volgo achtete weiter auf die äußere Form.

»Es freut mich, deine Nachricht meiner Herrin überbringen zu können. Die Kov-Witwe hat seit der Zeit der Unruhe kein Glück mehr gekannt ...«

»Oha, bei Vox!« explodierte Nath. »Wer hat das schon?«

Die häßliche Bedeutung dieser Worte hing in der Luft. Die hohen Fenster waren von Gardinen verdeckt, und wie ich mich erinnere, bestanden sie aus einem dicken Gewebe, wie es in einer der östlichen vallianischen Provinzen hergestellt wird, hellgrau mit silbernen Schnörkeln. Während Naths unbedachte, aber zutreffende Worte noch durch den Raum hallten, gellte vor den Fenstern ein schriller, herzerweichend angstvoller Schrei auf.

Schon drängten sich Seg und ich Schulter an Schulter vor dem Fenster. Er riß die Gardine zur Seite. Wir starrten in die mondhelle Nacht hinaus.

Der kleine Hof lag direkt unter uns. Männer der Wache liefen ins Freie und zogen ihre Schwerter. Die Mauer, die den Hof von der Straße trennte, versperrte ihnen die Sicht. Wir aber konnten über die Wand in die schmale Gasse schauen, die unter überhängenden Balkonen und hohen Fassaden mit Kopfsteinen gepflastert war. Ein Streifen Mondlicht fiel in die Tiefe.

»Dort!« rief Seg.

Nath stand dicht hinter uns und linste hinaus. Zornig, aufgebracht, heftig brüllte er: »Der verdammte Ganchark!«

Eine hagere Gestalt mit zottigem grauen Fell lief ungleichen Schrittes die Straße entlang, und in der Schnauze des unsäglichen Geschöpfes hing die schlaffe Gestalt eines Mädchens. Wieder hatte das Ungeheuer zugeschlagen.

Der Werwolf schleppte sein Opfer fort, um es zu verschlingen.