Durch das Haus des Lustmörders, über den Fluss, im Herz das Feuer

Wir brausen davon. Ab Ndele beginnt Schwarzafrika. Es wird hell und sinnlich, der Einfluss des Islam lässt nach. Ich erinnere mich der unguten Szenen mit Etienne, der ebenfalls mit dem Lkw reiste. Etienne war Lehrer und der einzige Christ, deshalb durfte er nicht mit uns gemeinsam essen. Drei Meter weit weg musste er sitzen, allein. Als ich fragte, warum, hieß es, er sei »unrein«. Greg, der Kanadier, den ich in Khartoum traf, verglich alle Religionen mit Aids. Denn sie erniedrigten den Menschen, zerstörten sein (geistiges) Immunsystem.

Die Busfahrt wird fröhlich. Das Radio sprudelt, das Federvieh zwischen den Beinen protestiert, die Ziege auf dem Dach jammert, Männer und Frauen fassen sich an, lachen, flüstern sich sinnliche Worte ins Ohr, jemand verteilt eine Runde Schnupftabak. Sagt einer »Bonjour«, antwortet der andere: »Merci«. (Wie logisch.) Kommen wir durch ein Dorf, fliegt ein Brief aus dem Fenster. Irgendjemand wird ihn finden und zu jemandem tragen, der lesen kann. Und der wird ihn zustellen. Es geht nicht anders, die Post streikt auch. Bald steigen vier Soldaten zu, sie versprechen, jeden zu beschützen, sollten Strauchdiebe über uns herfallen. (Man weiß nie, vor wem man sich mehr in Acht nehmen soll, vor den Ordnungshütern oder denen, die sie stören wollen.) An allen Polizeiwachen komme ich kostenlos vorbei. Mein Gesetz bleibt in Kraft. Einmal muss der Busfahrer blechen, weil – unfassbar witzig – der Erste-Hilfe-Kasten nicht vollständig ist. »Dieu voit tout«, steht mehrmals in den Amtsstuben zu lesen. Nicht ungeschickt. So manches raubt dem Volk hier den Schlaf, das Regime, die Polizei, das Militär, die Banditen und ein Gott, der alles sieht. Bei einer Dorfausfahrt kriechen wir über eine Behelfskonstruktion, ein paar Schritte daneben liegt die alte Brücke, auf ihr – zur Hälfte im Wasser – der Lastwagen, der sie zusammenbrechen ließ. Man glaubt nicht, wie dankbar man in Afrika wird, wenn man heil das Ende eines Tages erreicht.

In Sibut zweigt die Straße ab nach Mobaye, dem Grenzübergang nach Zaire. Jean-Denis, der vor einem Jahr von dort aufbrach, um in Kairo Sprachen und den Koran zu studieren und der dreitausendfünfhundert Kilometer davor in einem urinstickigen Gefängnis hängenblieb, steigt aus. Wir verabschieden uns. Der so außergewöhnliche Mut und die so wache Intelligenz des Neunzehnjährgen, wie bewundernswert. Ich verspreche, ihn zu besuchen.

Während der restlichen fünf Stunden versüßt mir Amadou die Zeit, wir sitzen nebeneinander. Das Abenteuer suchen, das heißt bei ihm zu Hause: »Das Dorf verlassen und in die große Stadt reisen.« So verließ er heute morgen seine Hütte. Ein paar Minuten vergehen, dann bemerke ich, wie Amadou von der Seite mein Gesicht durchforscht. Mit wachsender Unruhe. Ich schaue ihn an, und er hört nicht auf, mich sorgenvoll anzublicken. Ich ahne, dass etwas Aufregendes passieren wird, und unternehme nichts. Bis es aus ihm heraus muss: »Excusez-moi, Monsieur André, mais votre outil c’est pas trop, comment dirai-je, trop petit?« Das ist ein Satz, der Satzhungrige eine Woche lang ernährt. Denn ein Mann fragt einen anderen Mann, ob dessen »Werkzeug« nicht zu klein sei. Und ohne zu zögern zieht der Abenteurer eine Tube aus seiner mit Schnüren zusammengehaltenen Schachtel und flüstert mir ins Ohr, ins Ohr von einem, der es offensichtlich bitter nötig hat: »Jeden Abend damit eincremen und gleichzeitig heftig ziehen.« Die paar Scheine zahle ich von Herzen gerne, nicht für die Verlängerungssalbe, nein, für die Momente der Freude und des Leichtsinns, die mir der Alte spendet.

Nachmittags endlich in Bangui. Ich habe bereits für mein Busticket gezahlt, ich darf weg. Die andern müssen erst das mitgebrachte Vieh verkaufen, um genug Geld für den Fahrschein zu organisieren.

Zentralafrikas kleine, feuchte, heiße Hauptstadt, nur dreihunderttausend Einwohner. Aber nicht ohne Charme, nicht trostlos wie Khartoum. Viele Franzosen leben hier. Und viel französisches Militär. Es wacht darüber, dass Staatschef Kolingba beim Diamantenklauen bleibt und nicht auf die Idee verfällt, eine Demokratie einzuführen. So garantiert er Ruhe und Profit. Auch für Frankreich, die ehemalige Kolonialmacht. (Die noch immer fleißig einen Teil ihres Atommülls hier ablädt.) Damit das Volk schön dumpf bleibt – knapp sechzig Prozent Analphabeten –, hängt über der Avenue de France ein riesiges Transparent, auf dem der Kulturminister zur Premiere von »Terminator 2« mit Muskelprotz Schwarzenegger einlädt.

Abendessen im Hotel, draußen gehen Blitze und Regenschauer nieder, letzte Ausläufer einer hartnäckigen Regenzeit. Gespräch mit Pierre T. aus Quebec, ehemaliger Rektor, der hier im Auftrag seiner Regierung nach einem Ausweg sucht, um ein funktionierendes Schulsystem zu etablieren. Ein freundlicher, warmer Mensch. Die Armut vor Ort bedrücke ihn nicht, nicht mehr. Nicht aus Gleichgültigkeit und kaltem Herzen. Er sei vielmehr zu der Überzeugung gekommen, dass die Mehrheit der Weißen in Europa und Nordamerika um nichts glücklicher lebe. Schlimmer: dass die Betäubung durch obszönen Konsum, dass die Abwesenheit von inneren und äußeren Wagnissen zu einer Trostlosigkeit geführt habe, die er hier nicht spüre.

Die Chefin des Hotels setzt sich zu uns, Thérèse, eine Französin. Sie erzählt, dass vor Tagen ein Dieb vor ihrem Haus um ein Haar standrechtlich zu Tode geprügelt worden wäre. Hätte nicht der Bestohlene zuletzt Erbarmen gezeigt und den Mob zum Einstellen der Prügel überredet. Ich frage sie, wie sie solche Erlebnisse verkraftet. Und Thérèse: »Ich gewöhne mich an Afrika, das ist der Preis. Ich glaube, ich bin blind geworden.«

Auf dieses Blindwerden habe ich immer gewartet. Es kam nie. Im Gegenteil, jeden Tag sehe ich genauer. Und bin schneller verletzt. Pierre T. hat gnadenlos recht, in meinem Apartmenthaus in Paris beugen sich Fünfundzwanzigjährige aus dem Fenster, um eine Parabolantenne zu montieren und abends in hundertfünfundzwanzig Kanäle zu glotzen. Aber in Afrika heile ich auch nicht. Den Blick auf die Zumutungen, die anderen zugemutet werden, er verletzt jedes Mal penetranter. Hier haben sie nichts. Keinen Zutritt zu Wissen und Büchern, keinen übrigen Euro für eine Zugfahrt ans Meer, kein Schaumbad im fünf Meter entfernten Badezimmer, keine Telefonleitung, um jene Frau oder jenen Mann anzurufen, nach denen man Sehnsucht spürt. Alles das nicht. Dafür bietet Afrika – wieder stimmt die Diagnose des Rektors – das Leichte, das Lachen, das Nachsichtige, das Großzügige. Verwirrend. Es gibt einen Kindervers von Hans Magnus Enzensberger, vielleicht hat er ihn einmal in Europa und einmal in Afrika aufgeschrieben: »Ich wär’ gern anderswo, denn hier bin ich sowieso.«

Die Weiterfahrt nach Zaire ist gefährdet. Die Deutsche Botschaft rät ab. Zu viel Blut wäre dort in letzter Zeit verspritzt worden. Ich eile zur Zairischen Botschaft. Im Empfangszimmer hängt ein gemeinsames Foto von Mobutu und Kolingba. »Vive la fraternité«, steht darunter. Dass die beiden Berufsverbrecher zum selben Stamm gehören, welch müde Überraschung. Der Botschaftssprecher begrüßt mich freudig, klärt auf: »In unser Land reisen? Überhaupt kein Problem, Monsieur!« Die paar Hundert Toten der letzten Tumulte, die marodierenden Soldaten, die plündernden Horden, die ruinierte Infrastruktur und eine hungerkrank dahinsiechende Bevölkerung, négligeable, wo, verdammt noch mal, soll das Problem sein?

Ich suche nach Alternativen, um das Land zu umfliegen. Witziges Air-Afrique-Büro, es bietet fünfundsiebzig Prozent Ermäßigung für die »Jungen«, die »Alten«, die »Familienmitglieder«, die »Religiösen«, die »Studenten«. Pech für Heimatlose wie mich, die nicht jung und nicht alt sind, weder zu einer Familie, noch einer Religion gehören. Sie müssen mit dem vollen Tarif bestraft werden.

Aber der Kauf eines Tickets scheitert aus anderen Gründen. Zuletzt an meiner Unlust, Zaire auszulassen auf der Tour hinunter nach Kapstadt. Bevor mir diese Unlust bewusst wird, wandere ich den weiten Weg hinaus zum Schlachthof. Gehen ist ein alter Trick, um das Hirn abzuspecken und den wichtigsten Gedanken übrig zu lassen. Zudem ist der Ort ausgesprochen symbolisch. Gleich daneben liegt die Villa Kolongo, das ehemalige, jetzt verrottete Herrschaftshaus Bokassas. Hier beschlief der als Lustmörder tätige »Empereur« seine Lieblingsfrau »la Roumaine« und warf tagsüber ihm lästige Mitmenschen in den Löwenbunker. Wer von den Raubtieren verschmäht wurde, bekam eine zweite Chance und landete im Krokodilsteich. Sogar einen eigenen Schießgarten besaß der Dicke. Während er mit dem Morden die Zeit totschlug, ließ die immer durstige, immer wasserstoffgelbe Rumänin gleich vier ihrer Leibwächter an sich ran. Jean-Bédel hörte eines Tages davon und machte sie kalt. Das klingt wie Stephen King und ist nur wahr. Bokassas Prozess war eine Reise in die Abgründe seiner monströsen Sehnsüchte.

Nach dem Besuch bin ich krank. Elend tipple ich zurück ins Hotel. Nichts verführt mehr. Auch nicht Omar, der am Straßenrand den Koran liest und ein Fotobuch mit dem erfreulichen Titel »Toutes les positions de l’amour« feilbietet. Augenblicklich würde jede Stellung schmerzen. Als ich ankomme, besitze ich alle Symptome – Fieber, Kopfweh, Schüttelfrost, Durchfall –, um die einzige Diagnose zu stellen: Malaria. Das passiert, trotz Prophylaxe. Schon überfällig. Ein Blick auf die mit Insektenstichen überzogenen, seit Tagen rot geschwollenen Arme und Beine genügt. Ich bin dankbar, dass die lästige Seuche erst jetzt ausbricht. Ich schlucke die mitgebrachte Halfan-Kur. Das Hotel ist einfach und sauber, ich habe Ruhe.

Zum Mittagessen kommt immer Mark A., Amerikaner und Dealer, immer strahlend lachend und auf erfrischende Weise strohdumm (»I never read«) und bestens informiert. Er dealt, »was nicht riecht« und »nicht schwer wiegt« und »schweres Geld einfährt«: Diamanten. Regierungsbeamte bringen in ihren Diplomatenkoffern die Steine ins Ausland. Er schätzt, dass Millionen von US-Dollar das Land schwarz verlassen. Vorbei am offiziellen Bruttosozialprodukt. Viel geht nach Japan und Israel. Wer zur Kolingba-Clique gehört, ist fein raus. Alle Nicht-Mitglieder jedoch, die beim illegalen Wegtragen von Edelsteinen erwischt werden, dürfen fünfundzwanzig Jahre in einem zentralafrikanischen Zuchthaus über ihr Fehlverhalten nachdenken. Oder über Adressen von Geschäftsfreunden, die bereit wären, einen prallen Umschlag mit unzähligen CFA vorbeizubringen, um sie auszulösen.

Undurchsichtig, jeden Abend kommt Schlag sieben Uhr »der Belgier« vorbei und setzt sich an die Bar. Und greift nach den Spirituosen, säuft sich bis Schlag zehn märchenstill blau und verschwindet wieder. Keiner redet mit ihm, weil Thérèse verlauten ließ, dass der Mann allein bleiben will. Eine seltsame, unbewegliche Einsamkeit verbreitet der Mann. Ein Typ aus einem John-Huston-Film. Schon möglich, dass er unheimlich viele Geheimnisse verheimlicht. Schon möglich, dass der Stille nichts anderes darstellt als eine – so nannte Oscar Wilde die verschwiegenen Harmlosen: »Sphinx ohne Geheimnis«.

Nach vier Tagen bin ich reisefertig. Noch schwach, aber nicht schwach genug, um den Zustand der Bettlägerigkeit länger durchzustehen. Genau einunddreißig Passagiere, die sich in den »jolie neige« – so heißt unser VW-Bus Richtung Zaire – pressen. Bevor wir starten, bezahlt der Fahrer die »démarcheurs«, die »Zutreiber«, jene jungen Kerle, die standhaft brüllend die Fahrgäste ranschaffen. Dann los. Während Maman neben mir die Windeln ihres allerletzten Sohnes wechselt, muss ich an ein Gespräch mit Mister F. denken, den ich im ersten Hotel von Bangui traf. Mister F. gehört zu jenen »overpaid and overfat« UNO-Beamten, die per Businessclass die Dritte Welt besuchen, um famos nutzlose Statistiken zu verfassen. Der gepflegte Herr nahm auch das Wort von der »Unterbevölkerung Afrikas« in den Mund.

Mit solchen Reden steht er nicht allein. Immer wieder stoße ich auf diesen fulminanten Stuss. Geht er doch von der Voraussetzung aus, dass man noch weitere hundert Millionen Afrikaner auf dem Kontinent abstellen könne. Dass kein Anlass zur Sorge bestehe, wenn jeder Frauenunterleib nur auf die Welt komme, um als schneller Brüter zu agieren.

Was für ein gerissener Rassismus. Weil hinter seiner bestechenden Toleranz ein Abgrund von souveräner Verachtung schwelt. Als ob es nur – schon da scheitern wir – darum ginge, die Mägen der Hungerleider abzufüllen. Aber vielleicht hat der arme (schwarze) Teufel noch ein anderes Bedürfnis, als sich satt zu fressen. Vielleicht überkommt ihn irgendwann die (weiße) Lust, allein sein zu wollen, Platz zu haben, eine menschenwürdige Arbeit zu erledigen und sich hinterher auf ein sauberes Bettlaken zu legen. Und die einzige Antwort auf diese bescheidenen Träume – eingedenk der Tatsache, dass wir Menschen sind und die Anforderungen an unsere Menschlichkeit nicht überziehen sollten –, diese einzige Antwort ist das Anhalten einer außer Rand und Band geratenen Menschenexplosion.

Aber Afrika lehrt noch etwas anderes. Dass manches Desaster seine wohltuenden Seiten hat. Diesmal drängt das Gewimmel in unserem Fahrzeug so unausweichlich, dass die aparte Désirée (kann ein Name wahrer sein?) nicht anders kann, als sich an mich zu schmiegen, und mit Anmut ihre Arme auf meine Arme legt. Neu ist auch, dass wir von Polizeipatrouillen nach Waffen durchsucht werden, da Wilderer durch die Gegend ballern. Einmal müssen wir fluchtartig hinaus, weil heißer Dampf vom Boden aufsteigt. Bei einem der Stopps entdeckt Fahrer Jacky ein Leck im Benzintank. Also reißt er einen Strauch vom Straßenrand, stampft die Wurzel mit seinen Füßen weich, spuckt hinein, verwendet den Brei als Dichtungsmasse.

Übernachtung in Bambari. Als ich mit der Öllampe in der Hand eine Bude der Auberge Kahil betrete, überkommt mich ein sentimentales Gefühl der Dankbarkeit meinem Körper gegenüber. Weil mir klar wird, welche Löcher, Fallen, Nasszellen und Abtritte ich ihm schon zugemutet habe und er nie murrte, immer es hinnahm, immer zu mir hielt.

Am nächsten Nachmittag Ankunft in Mobaye. Reza, der hier einen Laden besitzt, wechselt meine restlichen CFA. Zudem will mir der Iraner ein Huhn verkaufen. Leider passt es nicht in den Rucksack, ohne Huhn steige ich auf sein Moped, Reza bringt mich die letzten Kilometer zum Grenzfluss Oubangui.

Ich bin noch beim Absteigen, da rennt ein Dutzend Jugendlicher auf mich zu, sie schreien, rempeln, zerren mich zu ihren Pirogen. Nach Zaire will keiner, ich bin seit Tagen die erste Kundschaft. Wie überraschend, als ich mich für Ibrahim und Dodo entschieden habe, sind die anderen zehn sofort still, schreien nicht mehr, lächeln, lachen, winken hinterher.

Schöne, schönste Überfahrt. Afrika reißt in Extreme. Jetzt gibt es den breiten Fluss, die sanfter werdende Sonne, die glitzernden Wellen. Und natürlich die beiden eleganten Paddler, die mittendrin einen neuen, den doppelten Preis, vorschlagen. Damit Frieden auf Erden herrscht und sie mich nicht auskippen zwischen den sanften Stromschnellen, bin ich mit allem einverstanden.

Zwanzig Minuten später Ankunft in einem der größten und reichsten Länder der Welt. Da Zaire vierhundertfünfzig Jahre lang von weißen Eroberern – zuerst von Portugiesen, dann Belgiern – wundgeprügelt wurde, fand kein Lernprozess statt, um mit diesem Reichtum umzugehen. Seit 1965, das Land ist bereits unabhängig, prügelt ein anderer drauflos. Diesmal ein Schwarzer. Er heißt Mobutu Sese Seko Kuku Ngbendu wa Zabanga – »Mobutu auf alle Zeit, der Hahn, der keine Henne unbestiegen lässt« – und zählt zu den rafflüsternsten Hanswursten des 20. Jahrhunderts. So degenerierte der über zwei Millionen Quadratkilometer riesige Erdteil zu einem erbärmlichen Land. Mobutus Beute, sein Privatvermögen, entspricht in etwa der Auslandsverschuldung seines Landes: neuntausend Millionen Dollar. Der erste Zairer, den ich treffe, flüstert: »Il a volé le pays.« Übersetzt man den Satz wörtlich, stimmt er genau: Er hat das Land gestohlen.

Nach den letzten Ausschreitungen befindet sich dieser Staat in demselben Zustand wie jener Peugeot 204, den ich anheuere und der nach zweihundert Metern mit einem eindrucksvollen Knall aus der Motorgegend liegen bleibt. Der Fahrer geht zum Biertrinken über die Straße, ich schlage mich durch ins fünfundzwanzig Kilometer entfernte Gbadolite, wo Mobutu seine Kindheit verbrachte.

Die Stadt gehört ihm, dem »Rassembleur«, dem Vereiniger. Auch das »guesthouse«, in dem ich nach einem Zimmer suche. Ich zahle achtundsiebzigtausend Zaïre pro Nacht, etwas über einen Dollar. In diesem Land ist jeder arme Schlucker als Millionär unterwegs. Ich frage nach dem Palast, der bis hierher herüberleuchtet. Der Palast wäre eine von Mobutus »résidences présidentielles«. Ich bin naiv genug und ziehe los. Als ich mich dem imposanten Eingangstor nähere, kommen sechs Soldaten aus dem Dunkeln auf mich zu, fragen nach den Papieren und nehmen eine Leibesvisitation vor. Nicht um Mobutu zu schützen (der ist weit weg, irgendwo in einem seiner auf fünftausend Stück geschätzten Eigenheime), sondern um sich ein paar meiner Geldscheine anzueignen. Ich habe Pech, weil sechs Maschinenpistolen herumstehen und Glück, weil die großen Banknoten sorgfältig versteckt sind. Nach dem Diebstahl muss ich unterschreiben, dass alles ordnungsgemäß verlief, Papiere vorzeigen, sonst nichts. Hinterher bringen sie mich auf einem Jeep zur Kaserne, zum Verhör. Harmlos. Weil ich dort auf Colonel Thierry C. stoße, einen hellen Mitmenschen, der nach Minuten erkennt, dass es sich im vorliegenden Fall um keinen Spion handelt, sondern um einen dünnen, fußblasengeschundenen Weißen, der sich verirrte. Ich bin entlassen.

Ich wandere zum Markt, finde die Trinkbude des freundlichen Mungul. Der Fernseher läuft, »les Actualités«, die Spätnachrichten, klären mich weiter auf. Sie zeigen Bilder vom Zustand des Landes nach den blutigen Verwüstungen. Sogar Tapeten und Waschbecken wurden von den Wänden gerissen und als Diebesgut auf dem Schwarzmarkt verkauft. Ich begreife, dass an eine Durchquerung Zaires nicht mehr zu denken ist. Mein Plan, auf dem Kongo in den Süden des Landes zu gelangen, ist ab sofort hinfällig, jeglicher Schiffsverkehr wurde eingestellt. Und der Landweg bietet keine Alternative. Die Regenzeit dauert in diesem Jahr länger als üblich. Man zeigt im Morast versunkene Laster, verlassen, bis zur nächsten Trockenzeit aufgegeben. Gespräche mit anwesenden Lkw-Fahrern bestätigen die eindeutigen Bilder. Manche sitzen seit Wochen fest, warten. Die zweitausend Kilometer nach Lubumbashi könnte ich schaffen, meint einer, »in Unterhosen und in drei Monaten«. Die Unterhosen spielen auf die Raubritterzeiten hierzulande an. Ein einziges Paar bliebe mir. Den Rest meines Eigentums hätte man inzwischen beschlagnahmt.

Am nächsten Morgen geschieht etwas, was auf unübertrefflich absurde Weise den Zustand des Landes beschreibt. Frühstück, es gibt kein Brot, keine Butter, keine Marmelade, keine Milch, keine Früchte, nichts, fast nichts. Nur Kaffee, Zucker und zwei Spiegeleier. (Die Eier von mir besorgt.) Das ist nicht witzig. Das wird es erst, als mir der Rezeptionist auf die Schulter tippt und um meinen Kaffeelöffel bittet. Der sei der einzige im Haus und die anderen zwei Gäste würden auch gern mit ihm umrühren. Fast gleichzeitig prusten wir los, erkennen unter Gewieher den Aberwitz der Situation. Drei Meter neben uns, hinter dem großen Fenster, liegt ein Land, so dunkelgrün, so üppig und wuchernd wie keine zehn anderen Länder im Universum. Und die Realsatire hört nicht auf. Kurz darauf erklingt im Radio, wie jeden Tag um diese Zeit, »La Zaïroise«, die Nationalhymne: »Nach vorn, stolz und voller Würde, großes Volk, für immer freies Volk … um aufzubauen ein immer schöneres Land.«

Flugzeuge fliegen noch, vereinzelt. Ich gehe zum Air-Zaïre-Büro. Das klappt. Für siebzig Millionen gäbe es einen Flug über Kinshasa, die Hauptstadt, nach Lubumbashi im Süden. Nicht heute, da verschoben, Benzin fehlt. Aber morgen. Auch nicht. Aber übermorgen. Wieder nicht. Aber überübermorgen, dann ja.

Dazwischen stille Tage in Gbadolite. Hier in der Äquatorprovinz lebt Mobutus Stamm. Deshalb blieb der Ort von Plünderungen verschont. Dennoch sind alle Mitarbeiter westlicher Firmen geflohen. Auch sonst steht vieles leer, die Post, Hotels, die Baustellen. Niemand gibt hier irgendwelche Garantien. Sicher nicht, seit feststeht, dass selbst die »Division Spéciale Présidentielle«, Mobutus eigene Leibwache, mitplündert.

Da keiner mehr kommt, hat die hübsche Alphonsine Zeit für mich. Sie arbeitet als Kellnerin im »Au petit repas« und serviert lächelnd eine Limonade. Sie setzt sich gleich daneben und fragt, was ich vom »faire l’amusement« hielte. Ich frage, was das sei. Das sei »sich küssen und sich lieben«. Für ein »kleines Geschenk«, sie erwähnt zweihunderttausend Zaire, sprich vier Bierflaschen, würde die Hübsche heute Nacht an meine Zimmertür klopfen. Auf dem Restauranttisch liegt gerade ein Buch von Octavio Paz, in dem er einen Satz von Novalis zitiert, den ich vor Tagen angestrichen habe: »Den Körper einer Frau berühren heißt den Himmel berühren.« Eine ganze Nacht Alphonsine anfassen, ich seufze. Aber die Zeiten sind ungesund in Zaire. Aids geht um. Als ich das Mädchen grinsend frage: »Gestehe, Alphonsine, hast du Aids?«, antwortet sie todernst: »Ich? Nein! Aber die andern.«

Dramatische Nächte, auch ohne die Wärme der Zutraulichen. Zwei Stunden lang erhellen tosende Blitzlichter mein Zimmer, immer nach Mitternacht, wenn eine Ladung Regen vom Himmel fällt. Seltsam, so überwältigend scheint das Licht, dass sofort alle drei Kerzen neben dem Bett verlöschen.

Überübermorgen geht es tatsächlich los. Nicht wahr ist, wie Lästerzungen behaupten, dass man hier sogar die Flugzeuge anschieben müsse. Sehr wahr jedoch, dass alle Passagiere wieder vom Lastwagen runtermüssen, um das Fahrzeug, das sie zur Startbahn schaffen soll, in Schwung zu bringen. Rechts von der Eingangshalle stehen die Bambushütten der Bewohner im Regenschlamm, links lässt sich ihr Staatschef gerade einen »Salon d’Honneur« aufstellen. Das goldene Dach steht schon, der Paradeplatz mit Lichtorgel und Lautsprecheranlage ebenfalls.

Ruhiger Zweistundenflug. Das weite Land, der Dschungel, die Flüsse. Jeder bekommt ein trockenes Kuchenstück. Mir ist nicht gut. Nicht wegen der Ameise, die aus meinem Streusel kriecht. Ich denke an das letzte Treffen mit Jean-Denis. Sein Dorf lag ganz in der Nähe von Gbadolite. Klar gab ich ihm Geld. Aber jetzt erscheint mir die Summe lächerlich für einen hochbegabten Kerl mit sechs Sprachen und ohne Zukunft. Soll sich das ändern, braucht er Cash. Ich weiß, ich bin knapp bei Kasse, die Flugkosten waren nicht geplant. Dennoch. Ich sehe ihn nochmals von mir weggehen und bilde mir plötzlich ein, dass sein Gang etwas wie Enttäuschung ausdrückte. Nicht ohne Grund. Natürlich hätte ich ihm mehr geben können. Weiß und reich wie ich bin. Hätte ich nur ein anderes Herz, ein großzügigeres, ein furchtloseres.

Zwischenlandung in Kinshasa. Alle ausländischen Fluggesellschaften sind davon. Man sieht noch die Einschusslöcher und das gesplitterte Holz gewaltsam überrannter Türen. Nachts habe ich einen Anschlussflug nach Lubumbashi. Ich will die Zeit nutzen und fahre ins Zentrum der Hauptstadt. Schlecht genutzt. Ein wüster Anblick. Die leer gestohlenen Geschäfte, ausgeräuchert, das zertrümmerte Mobiliar, das im Freien herumliegt. Als ich auf der Hauptstraße »Boulevard du 30 Juin« die Tür eines Taxis öffne, stößt mich jemand von hinten in den Fond, zückt seinen Ausweis und zischt: »Sécurité. Je vous arrête.« Ich muss ihm auf die Terrasse eines Restaurants folgen. Andere Sécurité-Männer kommen, setzen sich dazu. Der Boss zeigt mir einen verschmutzten Wisch, und ich weiß Bescheid: Kleine Tagediebe, die auf ein paar schnelle Dollars spekulieren. Der Zettel – ein Strafregister für alle, die keine Devisenerklärung besitzen – hat zu viele Schreibfehler, um offiziell zu sein. Der Coup ging daneben. Sie sind keine Spur verlegen, sie zahlen sogar meine Limonade, dann darf ich zurück zum Taxi. Es wird Zeit. Strömender Regen, als die Boeing 737 über die Startbahn rast.

Kurz vor Mitternacht Ankunft in Lubumbashi. Einen Monat nach Kinshasa kam die Stadt, die zweitgrößte des Landes, unter die Räder. Vor allem die Läden der Libanesen, sie gelten als Kollaborateure Mobutus. (Belgische und französische Truppen flogen ein, um Leib und Leben der hiesigen Europäer zu schützen.) Was die einheimischen Soldaten nicht abräumten, packte die Bevölkerung ein. Wie menschlich, wie vorhersehbar: Wer eineinhalb Bierflaschen Sold bezieht, wer schweinischer leben muss als ein Schwein, weiß wohl keinen anderen Ausweg. Wer nicht hungern will, muss plündern. Lubumbashi hat alles: Zentrum pyramidaler Bodenschätze, Kupfer, Kobalt, Zinn, Zink, Silber. Lubumbashi hat nichts: Es liegt in einer Kleptokratie. An einer Hausmauer steht auf Suaheli: »Mobutu ni mavi.« (Mobutu ist Scheiße.)

Gehe ich einen Sonntag lang durch die Brandruinen, bin ich alle zehn Meter Anlaufstelle verschiedenster Bedürfnisse. Fragt einer nicht nach Geld, will er meine Stiefel, mein Hemd, meine Zigaretten, ein Stipendium oder eine Arbeitserlaubnis für »das schönste Land der Welt, für Deutschland«. Manchmal verläuft die Begegnung munter, manchmal wird der Antragsteller handgreiflich, greift wütend nach Dingen, die ich behalten will. So eine lauernde Armut. Wie sie Angst macht, wie man sie begreift.

Ich treffe Sissiko, ausführlich erkläre ich ihm, dass ich der falsche Mann bin, nicht den geringsten Einfluss habe auf die Visum-Politik der deutschen Botschaft. Und Sissiko sagt den bewegenden Satz: »Ich will nur nach Europa und dort sterben. Um anschließend wieder zur Welt zu kommen, als Weißer. Denn Gott erschuf den weißen Mann und der Teufel den schwarzen.«

Nachts stehe ich auf dem Balkon des verrotteten Hotels Belle Vue. Und der schöne Blick zeigt die nassen, verkohlten Hauswände der Innenstadt. Ein unbeleuchtetes Fahrzeug stottert durch den Regen, eine Hure stöckelt über die Schlaglöcher. Durch das offene Fenster der gegenüberliegenden Wohnung sehe ich den Fernseher flimmern und höre eine erotische Männerstimme fragen: »Tu sais pourquoi je suis venu?« Ich werde es nie wissen, irgendwo peitschen Schüsse.

Nach zwei Uhr morgens wache ich auf und heule. Das passiert öfter auf langen Reisen. Ich könnte nicht genau sagen, warum. Schon als Jugendlicher war ich oft unterwegs. Aber zwischen den Reisen waren längere Pausen. Die Wunden, die Bilder, die ich in meinem Kopf nach Hause trug, hatten Zeit zu verheilen. Auch waren sie weniger tief, weniger grell. Heute sind die Pausen kürzer. Und die Wunden tiefer, greller. Heute bleiben sie offen. Ich vermute, dass ich in manchen Stunden dem Druck nicht standhalte. Dass mir heulend bewusst wird, dass ein paar Milliarden Männer und Frauen und Kinder kein Glück haben. Und mir keine Rechtfertigung mehr einfällt, warum das so ist. »Something went terribly wrong«, schrieb Shiva Naipaul in seinem Afrikabuch »North of South«. Aber ja.

Montagmorgens warte ich sechs Stunden vor dem Konsulat von Sambia, um eine Einreiseerlaubnis zu beantragen. Mit der Nase fünf Zentimeter vom Eisentor entfernt. Andere hundert Nasen drücken hinter mir. Um zwölf Uhr fünfzig öffnet jemand zum ersten Mal den Eingang, und ich erfahre, dass ich das Dokument nicht brauche. Ein Transitvisum, ausgestellt an der Grenze, würde genügen. Nach hundertzehn Kilometern bin ich dort. Fast. Bis zum Schlagbaum haben die Bettler eines bettelarmen Landes Stellung bezogen. Im Laufschritt an ihnen vorbei, dann schnell in einem öffentlichen Abtritt die üblichen Manöver erledigen: die großen Scheine verstecken, mittlere Scheine als »Geschenk« bereithalten, eine Visumserklärung fingieren.

So ausgerüstet erfolgt ein unbeschwerter Übertritt. Bei den zairischen Behörden muss ich mich noch ins große Buch für Ausländer eintragen. Hinweisträchtige Überraschung: Die letzte Unterschrift stammt von einem Australier, einen Tag nach der Plünderung. Ich vermute, er rannte um sein Leben. Seitdem, fünf Wochen lang, kein Eintrag mehr.

Spätnachmittags geht es weiter. Vom ersten Schritt an heilt Sambia. Afrika aus dem Märchen. Die Sonne über den schwarzen Wolken, dazwischen ein blassblauer Seidenhimmel. Das leichte Schaukeln des Kombis, der eintönige Sound des Motors, wie sie besänftigen. Wie das Wissen, dass die zehn Millionen Einwohner des Landes drei Mal mehr als jenseits der Grenze verdienen. Und mehr als die Hälfte weniger Analphabeten haben. Und einen Präsidenten, der sich noch immer keinen Namen als Halunke und Schinder gemacht hat.

Vorbei an flachen, sauberen Häusern. In der nächsten Ortschaft sitze ich in einem Bus, der tatsächlich abfährt, voll mit Arbeitern einer nahen Kupfermine. Letzte Sonnenstrahlen zielen auf ihre Gesichter, bisweilen kreuzen sich unsere Blicke, wir lächeln. Es gibt eine Müdigkeit, die zufrieden macht und brüderliche Wärme ausstrahlt.

In Kitwe steige ich aus. Im Nkana Hotel (zwei Sterne, heißt es) fragt mich der Rezeptionist, ob ich Diplomat sei. Denn für sie, die Spitzenverdiener, sei das Zimmer billiger. Mysteriöser Kontinent. Sofort bin ich Konsul. Die gesparten Kwacha machen weniger Freude als die Erkenntnis, dass ich sicher der einzige Diplomat der Welt bin, der mit einem Rucksack unterwegs ist.

Eine halbe Stunde später sitze ich im Restaurant. Ich bin rasiert, gewaschen, dünner als je und gerade dabei, seit längerer Zeit wieder satt zu werden. Der Ober bringt immer, um was ich ihn bitte, eine Tomatensuppe mit Brot, ein Huhn mit Reis, Zwiebeln und Erbsen. Als er Kaffee und Kuchen serviert, kommt ein Mann zur Tür herein, der alles entscheidet. Weil ich im selben Augenblick weiß, dass meine Reise zu Ende ist. Der Dicke schaut skeptisch und kratzt sich am gelben Frotteehut. Über seinen Bauch spannt sich ein T-Shirt mit den feuerroten Worten: »I love New York«, hintendrauf steht grün: »Acapulco, Acapulco«. Der Dicke ist der Hammel, unübersehbar, unüberhörbar schnarrt er Anweisungen Richtung Personal. Wieder geht die Tür auf und dreiundzwanzig Schafe ziehen ein. Alle lieben New York und Acapulco. Nur der Frotteehut ist weiß. Der Gelbe teilt den Weißen die Plätze zu, laut englisch schnatternd nehmen die Schafe Platz, warten auf das bereits in Birmingham bezahlte Menü.

Meine Reise ist zu Ende. Unwiderruflich. Hier in Sambia, im Nkana-Restaurant, beginnt der Wohlstand. Und mit ihm die läppischste Form allen Reisens, der Tourismus. Bis hinunter nach Kapstadt – ich ahne es jetzt und genau so werde ich es erleben – wird alles seinen reibungslosen Weg gehen. Nie mehr schlafe ich außerhalb eines Bettes. Um nichts muss ich mehr kämpfen. Um kein Stück Papaya, keinen Schlafplatz, kein Ticket, keine Permission. Nie mehr muss ich notlügen und mich davonreden. Keiner bedroht mich, keiner fordert, keiner fordert heraus, nicht einmal werde ich Angst haben. Das schwerwiegende Gefühl, mit allen Sinnen am Leben zu sein, es ist verschwunden.

André Gide notierte einmal, dass »ihm der Zwang natürlicher war als anderen die Hingabe ans Vergnügen«. Das ist ein wagemutiges Eingeständnis. Und furchterregend wahr. Gides Grausen vor dem Komfort, die nackte Panik, vom Wohlstandsgerümpel um die so bitter notwendige »émotion forte«, sprich um umwerfende und mitreißende Gefühle betrogen zu werden, seine größere Angst vor dem toten Leben als vor dem Tod, all diese Ängste, die immerhin, darf ich mit dem Meister teilen.

An diesen Abend denke ich oft an Hiroshi. Als suchte ich Schutz bei ihm. Weiß ich doch, dass er mir recht gäbe. Den dreiundzwanzigjährigen Japaner traf ich in Wadi Halfa, dem sudanesischen Grenzort zu Ägypten. Schon sechs Tage hatte er in dieser Staublunge ausgehalten. Es gab Laster nach Khartoum, aber er wollte nicht zahlen. Nicht aus Sparsamkeit, sondern um zu wissen, ob er die Kraft habe zu warten, bis ihn jemand kostenlos mitnähme. Er hatte vor, später Filme zu drehen. Und Afrika, meinte er, sei der richtige Platz, sich darauf vorzubereiten. Seine Bestimmtheit und Intensität waren ungewöhnlich, und ich fragte ihn provozierend, warum er allein reise. Denn ein einziger Japaner komme eher selten vor. Darauf Hiroshi, verächtlich: »Don’t have fire, don’t have passion.« Und Daniel, ein junger Sudanese, der an unserem Gespräch teilnahm und dem manchmal ein englisches Wort fehlte, fragte: »What is that, passion?« Und Hiroshi, stolz und schön: »It’s a fire, it’s a fire in your heart.«