Durch die Wüste, vorbei an Sudanesinnen mit schönen Händen, an Heuschreckenschwärmen und einer Leiche
Am nächsten Morgen beginnt die Reise Richtung Osten, Richtung Zentralafrika. So fängt sie an: Mit einem Stadtbus will ich zum Bahnhof. Wir steigen ein. Und steigen wieder aus. Die lahme Batterie, alle müssen anschieben. Es zündet. Das klappt drei Minuten lang, dann knallt ein Vorderreifen. Wieder hinaus.
Der erste Streckenabschnitt nach El Obeid birgt keine Probleme. Die fünfhundert Kilometer sind asphaltiert. Der Bus funktioniert ohne Zwischenfälle. Der einzige Zwischenfall bin ich. Drei Mal muss ich raus zur Kontrolle, und drei Mal bitte ich den Fahrer, auf offener Strecke anzuhalten. Bauchkrämpfe, der kalte Schweiß steht mir auf der Stirn. Das dreckige Wasser, das dreckige Essen, mein westlich degenerierter Magen wimmert vor Schmerzen. Das wäre nicht der Rede wert, machte ich dabei nicht eine merkwürdige Erfahrung: Ich renne hinaus und setze mich in den Sand. Riesiges flaches Land, nichts als ein magerer Strauch beschützt mich vor den Blicken der anderen. Aber ich fühle keine beklemmende Scham. Ich merke, wie sich die Prioritäten verschieben. So ist mein Leben in diesem Moment, ich habe keine Wahl.
In El Obeid komme ich nicht aus, ein »welcome tea« ist fällig. Wildfremde heißen einen Wildfremden willkommen, das ist immer ein Erlebnis für einen Weißen. Er kennt es so anders. Dann einen Lorry finden, ab jetzt käme kein Bus durch. Aufpacken. Unter den Passagieren sitzen diesmal sieben Soldaten, die Kalaschnikows zwischen den Beinen. Knapp siebenhundertfünfzig Kilometer liegen vor uns, kein Meter davon geteert, die Front zum Bürgerkrieg rückt näher. Und Gauner soll es geben, die Waffen und Drogen schmuggeln, die ausrauben und totschießen. Noch gestern stand es im New Horizon. Der Fahrer kniet nieder zum Gebet, dann los um siebzehn Uhr fünfundfünfzig, es dunkelt bereits.
Wieder der Tiefsand, die Löcher, der aufjaulende Motor, der oft durchkommt, oft scheitert. Dann wieder schaufeln, die Sandbleche unterlegen, sie greifen, daneben herrennen, vor die Hinterreifen werfen. Im Lichtkegel ziehen die Hirten mit ihren Ziegen vorbei. Ein Vogel verirrt sich auf die Ladefläche. Und immer anheimelnd, wenn wir von Weitem flackernde Feuer sehen. Dann erwartet uns ein Rastplatz mit Strohmatten, Petroleumlampen und scheuen Sudanesinnen, die mit ihren schmalen, schönen Händen Tee bereiten. Mehr nie. Die Frau ist die Teefrau. Kein Seitenblick, kein Augenflirt, kein anderer Ton in der Stimme.
Ein paar Stunden schlafen. Azen, der Lehrer, sieht mich unterm Moskitonetz frieren und sagt: »Wir können meine Decke teilen. So haben wir es beide warm.« Um fünf Uhr auf und weiter bis nach Khuwei, dort Frühstück unterm »palaver tree«, da, wo die Alten sitzen und Probleme bereden. Der Polizeichef kommandiert mich ab in seinen Unterstand. Rechts vom Eingang liegt die Gefängniszelle. Während Chef und Vize aufmerksam meine Permission dechiffrieren, ereignet sich etwas Kurioses. Die acht Gefangenen stehen auf und strecken mir die Hand durch die Gittertür entgegen. Dann setzen sie sich wieder, schauen hilfesuchend herüber. Ich lächle hilflos.
Als wir vierundzwanzig Stunden später in en-Nahud ankommen, gerade zweihundert Kilometer von El Obeid entfernt, liegen bereits ein Getriebeschaden, eine undichte Ölwanne und ein Defekt in der Lichtmaschine hinter uns. Wir fahren weiter, da es im Dorf nichts mehr zu essen gibt. Wir sind zu spät, die heutige Tagesration ist verbraucht. (»Finished.«) Um halb zwei Uhr nachts bleiben wir endgültig stehen. Tote Batterie. Wir kriechen unter den Laster, suchen Schutz hinter den Reifen, warten. Ein kalter Wind jagt den Sand über die Wüste. Um vier kommt ein Lkw, der UNO-Weizen transportiert. Seine Batterie hilft, zwei Stunden später funken die Kontakte, wir starten.
Im Arabischen heißt das Wort »Zukunft« (mustakbal), wörtlich übersetzt: »das Angenommene, das Akzeptierte«. Vielleicht reicht das als Erklärung für den Gleichmut der Sudanesen. Was auch geschieht, nie höre ich einen Fluch, ein rasendes Wort, einen Wutausbruch. Sie nehmen es hin, machen sich an die Arbeit. Und hinterher keine andere Reaktion: ein Kopfnicken, ein Lächeln. Kein Freudenschrei, kein Protzen, keine Sprüche. Ähnlich ihr Umgang mit der Zeit. Nie habe ich den Eindruck, dass sie Zeit »verlieren«. Ich kauere hinter dem Reifen und denke, was für ein Verlust. Sie denken das nicht. Ich weiß, dass sie es nicht denken, ich habe danach gefragt. Denn Zeit »vergeht« nicht, Zeit ist immer da.
Harmlos fängt der Tag an. Irgendwann finden wir etwas zu essen, wir halten. Es gibt Fladenbrot, Schafsmilch und Tee, Bohnen und Zwiebeln. Azen übersetzt mir das Lied, das aus einem Kofferradio rauscht. Eine Frau beschreibt die Schönheit des Mannes, den sie liebt. Seine Halslinien, sein Profil, seinen schwerelosen Gang. Das Lied scheint weit weg, gegenwärtig ist es zu heiß für die Liebe. Selbst die Sudanesen leiden, wie lahme Hunde kriechen wir in jeden verfügbaren Schatten. Entdeckt jemand etwas zu trinken, bin ich der Erste, dem sie es anbieten. Irgendwie – womöglich rate ich daneben – scheinen sie berührt von der Tatsache, dass ein Fremder ihr kümmerliches, von allen Übeln kujoniertes Land besucht. Und irgendwie – das scheint gesichert – verfügen sie über ein Talent zum Teilen, das andere nur bestaunen können. Und nie haben werden.
Spätnachts weiß ich von zwei weiteren Übeln. Das eine schädlich, das andere tödlich. Nach dreiundzwanzig Uhr surrt ein Millionenheer über uns hinweg. Eine dunkle Wolke Heuschrecken, leer fressend, was noch nicht leer gefressen ist. Sie klatschen gegen das Blech und die Fensterscheiben. Man muss nur die Hand ausstrecken, um sie abzufangen. Zwei Millionen Flügel sind laut, es braust, nach zwanzig Minuten ist die Welt wieder leise, der Spuk verflogen.
Der nächste Auftritt, drei Stunden später, ist kriminell. Wir kommen zum Stehen. Die meisten schlafen, einige unterhalten sich. Azen erzählt mir gerade von seinem Leben als Dorflehrer. Dass wir stoppen, ist nichts Besonderes. Möglicherweise den Motor abkühlen und Wasser nachfüllen. Diesmal nicht. Von vorn kommt ein scharfer Wortwechsel. Als ich aufstehen will, um nachzusehen, hält mich Azen blitzschnell zurück, legt die Hand auf meinen Mund: »Be quiet, be quiet«, flüstert er, »gangsters, gangsters here.« Der nahe Wortwechsel ist auf Arabisch, und er weiß sofort, was es geschlagen hat: Wir sollen absteigen, Geld abgeben und unser Gepäck öffnen. Mir fällt meine Unterschrift in Khartoum ein, siehe unter »armed robbery«. Jetzt ist Zahltag. Aber die Zeit reicht nicht. Weder für Selbstvorwürfe noch für heftigere Angstzustände. Ein Maschinengewehr peitscht, ein Durchgang. Dann Stille. Als wir endlich wagen, uns aufzurichten, ist alles längst vorbei. Der Anführer liegt neben dem linken Vorderrad, blutüberströmt. Die andern beiden sind geflohen, querfeldein mit den Kamelen. Eine hysterische Aufregung bricht los. Vierzig Männer schreien durcheinander. Dann knallen wieder Schüsse. Es ist Abukabar, einer der Soldaten, der Todesschütze, der um Ruhe bittet. Er stand hinter dem Führerhaus auf der Ladefläche. Und da er keine Uniform trug, sondern nur den traditionellen Umhang, sah er aus wie ein harmloser Passagier. Als der Bandenchef einen Moment den Kopf wandte, um seinen Leuten etwas zuzurufen, packte Abukabar seine griffbereite Kalaschnikow und feuerte ab.
Am linken Oberarm des Toten hängen sieben winzige Lederbeutel, das chidbet. In jedem steckt eine Sure des Korans. Sieben Mal sollten sie beschützen. Auch gegen Gewehrkugeln, so Azen, »damit sie nicht losgehen«. Sogar eine Sure gegen »jede Verhaftung«. Die hat geholfen. Wäre der Raubritter am Leben, die Scharia-Justiz würde ihn zerstückeln.
Die Soldaten wickeln die Leiche in Tücher, laden sie auf. Blut sickert durch den weißen Stoff. Die Fahrt geht weiter, wie gebannt starren wir auf das Bündel. Einer hält mit gezogener Pistole Wache. Sudanesen glauben an vieles, sicher auch an die Wiederauferstehung von Erschossenen.
Am nächsten Morgen kommen wir in Ed Daein an. Ein großer Parkplatz, ein Markt. Wir halten am Polizeiposten. Abukabar wirkt zufrieden, er gilt als Held der Nacht. Sicher ist eine Beförderung fällig. Viele umarmen ihn, sie verdanken ihm ihr Hab und Gut.
Vierundzwanzig Stunden später erreichen Azen und ich Nyala, die Hauptstadt der Provinz Süd-Darfur. Ein Sultan regierte hier vor langer Zeit. Inzwischen kamen Hungersnöte und biblische Dürren. Wäre es anders, funktionierte der Ort noch immer als Endstation der Zugverbindung nach Khartoum. Aber vor Jahren kam ein letzter Zug vorbei. Azen lebt hier. Als wir in den Ort hineinfahren, sagt er den unglaublichen Satz: »It’s a beautiful city, isn’t it?« Ein Drecksloch, ausgedörrt, auf den Abfallhaufen wimmeln Kinder und Alte, die nach Nahrung suchen. Aber hier sind die Menschen, die Azen liebt. Hier muss es schön sein.
Überall Militär, die Bürgerkriegsfront jetzt ganz nahe. Bevor ich mich auf die Holzpritsche meiner Unterkunft – Kakerlaken und eine Maus werden sie mit mir teilen – legen darf, muss ich zur Security. Es geht nicht mehr um eine Permission, sondern nur noch um die Bestätigung, dass ich sie bereits habe. Ein Giftbrocken fragt mich aus, sogar meinen »nickname« will er wissen sowie alle Länder, die ich je besucht habe. Anschließend schreibt er sich die Nummern aller im Pass befindlichen Visa auf, forscht nach dem Beruf (ich lüge grundsätzlich, bin immer »teacher«), fragt nach »speciality« (französische Philosophie, auch das klingt arglos), verschwindet und lässt mich warten. Ich weiß, dass ich nun lautstark und unhöflich werden muss. Sudanesische Beamte sind – ähnlich einem Funktionär in Paris oder Pinneberg – wiedergeborene Mehlsäcke und müssen bisweilen daran erinnert werden, dass die andere Hälfte der Menschheit noch andere Geschäfte zu erledigen hat, als in muffigen Wartezimmern zu lungern. Mein Zorn wirkt. Umso mehr, als sich herausstellt, dass sich im gesamten »Passport Office« keine drei Bogen Papier befinden, um meine neue Permission zu expedieren. Ich schlage ein Geschäft vor: Ich besorge der Regierung von Darfur einen Stoß Blätter und bekomme dafür ruckzuck den nötigen Stempel. Das funktioniert, im suq finde ich einen Laden für Griffel und Schreibwaren. Dreißig Minuten später gehen der Mehlsack und ich – gegenseitig lächelnd um Nachsicht bittend – auseinander. Ich mit meinem ab sofort gültigen Pass und er mit drei Notizblöcken, die er sicher noch heute Abend auf dem Schwarzmarkt verschleudern wird. Das muss er, sein Hungerlohn reicht nur zum Hungern.
Ich spüre die spitzen Knochen meiner Hüften, kehre zurück auf den Markt, will einen Tee schlürfen und ruhen. Ich ruhe nur Minuten und Saphina setzt sich an meinen Tisch. Kein »leichtes Mädchen« (da sei die scharia vor), eher nachdenklich und selbstbewusst. Sie sei bereit, mich auf meiner weiteren Reise zu begleiten, spätere Hochzeit nicht ausgeschlossen. Von der Schönen beschützt werden, das hat was. Scheint doch eine Fahrt durch Afrika von permanenten Kassandra-Rufen verdüstert: Zug und Gleise weggeschwemmt, Regensaison noch nicht vorbei, ein Staatsstreich droht, Gebiet wegen Stammesfehden unpassierbar, Straße nach Erdrutsch verschwunden, der einzige Geldwechsler in der Stadt gestorben. Und siehe das Abschiedsgeschenk des gerade noch lächelnden Giftbrockens: »Central Africa is bad, real shit, no food.« Aber deswegen gleich heiraten? Ich tröste Saphina, verspreche, dass bald ein dankbarerer Mann vorbeikommen wird.
Abends ins Freilichtkino. Groß wie ein kleines Stadion. Voll bis auf die Mauersitze. Zweitausend Männer und keine Frau. »Red Sonja« läuft, flott gemachter Abschreibungsmist aus Hollywood. Starring Arnold Schwarzenegger mit gestandenem Alpenländerenglisch und Brigitte Nielsen mit frisch silikongepufferter Vorderfront. Reitet Arnold aus dem Off in die Bildmitte, braust Beifall auf. Nähern sich seine Lippen denen der roten Sonja, wird schallend gelacht. Hier im Sudan fassen sich Männer und Frauen in der Öffentlichkeit nicht einmal an den Händen. Wie komisch muss dann die Großaufnahme einer solchen Zärtlichkeit wirken.
Das Kino tut den Männern gut. Der Anblick intensiv gepflegter Menschen, teuer ernährt und erlesen bekleidet, heilt (kurzfristig) die Zumutungen der tagsüber stattfindenden Realität. Bevor sie Brigittes pneumatische Silhouette anschauen dürfen, heißt es zahlen mit dem Ertragen des ganz gemeinen Lebens.
Ich will eine Straßenszene beschreiben, die Klarheit schafft: Mitten auf dem Markt, mitten im Dreck sitzt eine Frau. Zahnlos, halb nackt, verschorft. Ihr Alter, wie ich nachher erfahre: fünfunddreißig. Ihre Haut knapp unter siebzig. An den plattgesaugten, bis zum Bauchnabel schlaffen Brüsten, hängt ein Säugling. Beide stöhnen um Geld. Das miserable Paar ist keine Ausnahmeerscheinung. Nyala hat ein ganzes Kontingent davon. Was die beiden so außergewöhnlich macht, ist der Zufall.
Als ich vorbeikomme, steht einige Meter von ihnen entfernt ein Range Rover der englischen Hilfsorganisation »Save the children«. Sofort – ob mir die Frage gefällt oder nicht – will ich wissen: Retten wofür? Für ein Überleben in lebenslänglicher Scheiße? Der Zufall hält an. Ich quetsche mich in einen überfüllten Minibus, und ein Alter zwängt von außen seine rechte Hand durch das Gitter des Fensters, »I need the money from God, I need the money from God« sabbernd. Und wieder sofort stelle ich die Verbindung her zwischen dem elenden Säugling und dem elenden Alten. So wird der acht Monate junge Sudanese enden. Dazwischen liegen fünfzig Jahre Kot atmen, um Almosen greinen, im Abfall stöbern, das Hungern verleugnen. Wie hypnotisiert blicke ich auf die drei und den Range Rover. Ich weiß, dass der Kleine dasselbe Recht auf ein anständiges Leben hat wie ich. Aber ich weiß genauso unwiderruflich, dass er dieses anständige Leben nie haben wird.
Ich verfüge nicht über die Fantasie, um mir noch ein menschenwürdiges Leben ohne ein paar trockene Quadratmeter Wohnung vorstellen zu können, ohne die Möglichkeit zu lernen und zu begreifen, ohne die Zeit für ein paar leichtsinnige Nebenbeschäftigungen. Unter der Schädeldecke des Kleinen liegt ein Batzen Hirn, das faszinierendste Instrument der Weltgeschichte. Und er trägt es mit sich herum, um nach Wasser und Brot zu lallen. Ich möchte für ein solches Scheißleben nicht gerettet werden. Da vergehe ich lieber, da bin ich lieber nicht. Denn leben ist nichts. Denn wie leben ist alles.
Noch dreihundertfünfzig Kilometer sind es nach Am Dafok, dem Grenzort. So viele wollen mit auf die zwei Lorries, dass wir uns abwechseln, die einen stehen, die anderen sitzen, nach drei Stunden umgekehrt. Zwei Fahrzeuge, aus Sicherheitsgründen. Die Reise führt durch das Dreiländereck Tschad, Sudan und Zentralafrikanische Republik, eine Lieblingsgegend von Schmugglern. Mit Vieh, Drogen, Gold, Waffen und Gummiarabikum schachern sie. Einer der mitfahrenden Soldaten hält meine Gürteltasche für ein Holster, trocken sagt er: »I want to buy your pistol.« Es erstaunt ihn gehörig, dass ich nicht bewaffnet bin.
Wir passieren acht Polizeikontrollen, der schwere Sand, die Pannen, die Gebete im Schatten, der kurze Schlaf unterm Wüstenhimmel, alles geht seinen gewohnten Gang. Als wir am nächsten Spätnachmittag ankommen, wartet in dem Strohhüttenkaff schon die Security auf mich. Es gibt keinen Strom, aber einen Geheimdienst. Prioritäten der Dritten Welt. Jetzt brauche ich eine Permission, um das Land verlassen zu dürfen. Ich zähme mich. Die Sonne schmilzt meine Energien, und ein Blick ins Dorfgefängnis, wo zwischen Urinlachen und Fäkalien zwei Männer siechen, dämpft die Wut. Ich frage, ob ich in dem Stall daneben übernachten könne. Nein, denn der Stall sei das »hospital«. Ich schlafe davor.
Um fünf Uhr morgens stehe ich auf, wandere den kleinen See entlang. Die Stille, die gelb-weißen Blüten auf dem Wasser, die noch erträgliche Temperatur der Welt. Drüben liegt die Zentralafrikanische Republik, in drei Stunden werde ich dort sein. Ich mache Notizen, der gestrige Tag ist dran, so war er: »Vor meiner Abreise zur Grenze besuche ich Herrn S., der hier im Rahmen der Entwicklungshilfe arbeitet. Löcher bohren, Wasser finden, Brunnen bauen. Er erzählt mir von einer öffentlichen Auspeitschung im Gefängnishof von Nyala. Hände und Füße gefesselt lag der Delinquent auf einem Holzbock. Um den Schmerz zu verschärfen, legten sie auf den schon blutschimmernden Hintern einen nassen Lappen, mit Salz getränkt. Scharia in action.
S. berichtet den Vorfall, um seine Missachtung gegenüber den Schwarzen zu illustrieren. Bevor wir uns verabschieden, führt er mich noch zur Vorratskammer. Er verstaut das gerade mit Botschaftspost angekommene Fresspaket. Ich untertreibe und behaupte, dass hier fünf Zentner vom Feinsten aus europäischen Supermärkten lagern. S. weiß, dass ich zweitausendvierhundert Kilometer Sandwüste hinter mir habe und noch tausendvierhundert Kilometer Urwald vor mir liegen, bis ich wieder in die Nähe einer brauchbaren Mahlzeit komme. Er will sich nicht lumpen lassen und überredet sich zur Herausgabe von fünfhundert Gramm Vollkornbrot. Ich solle aufpassen, meint er noch, die Burschen hier seien hinterlistig. Einmal umdrehen und die Dose wäre weg.
Am Lastwagen-Suq wartet schon Azen, um mich zu verabschieden. Er hat – ich überschlage kurz – ein Fünftel seines Monatslohns investiert und eine Tüte mit Grapefruits, Fladenbrot, Hammelfleisch, Nüssen und Bonbons mitgebracht. Er zieht mich ums Eck. Zwei Gläser stehen da. Dass ich ohne »goodbye tea« nicht davonkommen würde, ich hätte es wissen müssen.