Starke Gefühle und die Begegnung mit zwei Gangstern, die mich beschenken und berauben

André Gide war unerbittlich. Manchmal träumte er davon, alle Bücher zu verbrennen. Aus Hunger nach Intensität. Damit er nicht steckenbleibe in den Buchstaben, sondern sich verausgabe in einem außergewöhnlichen, einmaligen Leben. So schreibt er: »Ich will, dass meine nackten Füße es spüren. Denn jede Erkenntnis, der nicht eine Empfindung – ›une sensation‹ – vorausgeht, bleibt ohne Nutzen für mich.« Der Eintrag stammt aus seiner Reise nach Ubangui-Shari (1925), der heutigen Zentralafrikanischen Republik. So viele Jahre später fahre ich ihm hinterher. Und ich vermute, dass Gide »dem starken Gefühl«, das er so hartnäckig suchte, hier begegnet ist. »Ich will dabei sein«, notierte er trotzig, »und koste es das Leben.«

Der Grenzübertritt verläuft den afrikanischen Spielregeln gemäß. Die Lehmhütte – das Zollhaus – steht offen. Unter einem Baum daneben schläft der Zöllner. Ihn behutsam wecken. Er überträgt meine Personalien und kassiert dafür einen »laissez-passer«, der hiesige Deckname für Wegegeld. Einen Steinwurf weiter sitzt der Geldwechsler mit einer Doppelflinte vor seinem Koffer voller Scheine. Er weiß um seine Monopolstellung und rundet großzügig ab. Wir müssen nochmals vierundzwanzig Stunden warten, dann das einzig verfügbare Vehikel anschieben und aufspringen. Wir fahren nach Birao, der nächsten, fünfundsechzig Kilometer entfernten Stadt.

Auf der Ladefläche lerne ich Mohamed und Bebekar kennen. Tunesier. Als »hommes d’affaires« stellen sie sich vor. Da ich gleich lachen muss, weihen sie mich ein. Ihre Affären betreffen das Verschieben von Elfenbein und Diamanten. Der kleine Dicke und der kleine Dünne haben es nicht weit gebracht. Zwei minder begabte Kriminelle, die vierter Klasse reisen und die Botengänge erledigen. Aber ich werde sie nie vergessen. Weil wir gemeinsam durchs Fegefeuer gehen. Weil sie begnadete Lügenbolde und Geschichtenerfinder sind. Weil sie mir zuletzt das Fell über die Ohren ziehen.

Die Landschaft ändert sich. Aus der Sandpiste wird ein Dschungelweg. Ein Mann auf einem Esel, bewaffnet mit Pfeil und Bogen, kommt uns entgegen. Alles an ihm sieht fünftausend Jahre alt aus, nur der Blechkanister stammt aus dem letzten Jahrhundert. Ansonsten wie gehabt: der kochende Motor, die ewig maroden Batterien, das Knallen geplatzter Reifen. Lediglich zwei Überraschungen: Es gibt keinen Wagenheber, für anfällige Reparaturen halten wir über einer Vertiefung. Und der jagdversessene Fahrer, der unerschrocken die Notbremse zieht und mit Patronengürtel und Schrotflinte ein paar Wildgänsen hinterherstürmt. Um insgesamt siebzehn Mal daneben zu schießen. Als abends die Scheinwerfer ausfallen, leuchten drei Mann mit Taschenlampen den Weg. Auch in dieser Gegend lauern Schurken. Spät nachts finden wir ein Dorf, wo alte Männer im Dunkeln neben ihren Lanzen sitzen. Sie heißen uns willkommen und teilen ihren warmen Kürbis mit uns. Ich trinke Wasser. Es gibt nur die Wahl, Stunden später vor Durst blöd zu werden oder – nach Tagen – mit einem Virus im Bauch die Schwäche zu büßen.

Am nächsten Morgen erreichen wir Birao. Der Polizeichef freut sich über uns drei Ausländer. Da die Regierung seit vier Monaten keine Gehälter mehr bezahlt, gehören Ordnungshüter zur gefährlichsten Bevölkerungsgruppe. Unser Gepäck wird gefilzt, ich muss zahlen. Einfach so, ohne Erklärung. Mohamed und Bebekar erwischt es härter, ihnen klaut der Chef zwei Elfenbeinfiguren, sonnig frohlockend: »Was für ein hübsches Geschenk für meine Frau.« Der Vorgang entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Ein Gauner prellt zwei andere Gauner.

In diesem Ort werden wir geprüft. Hier liegt irgendwo ein Eingang mitten ins Fegefeuer. Auf dem Hauptplatz zerhackt der Fleischer über einem Baumstamm Reste. Um ihn herum kriechen die Krüppel und schnappen nach dem, was abfällt. Gäbe es auf dem Markt etwas zu kaufen, ich könnte es nicht. Keiner wechselt hier Dollar. Mit den letzten sudanesischen Pfund, die akzeptiert werden, finanziere ich ein paar Gläser karkadeh, roten Blütentee. Ich ziehe Bilanz: Ndele, die nächste Stadt, liegt dreihundertsiebzig Kilometer weiter im Süden. Nur eine Straße führt dorthin. Seit einer Woche ist sie – nach der Regenzeit – wieder offen. Ihr Zustand sei, so sagen sie hier, »infernal«. Einziges Transportmittel wäre ein »camion«, ein Laster, den es im Augenblick nicht gibt. Ich habe Durchfall, ich habe Hunger, die Durchquerung des Sudans hat mich sechs Kilo gekostet. Meine Armbanduhr löst sich, das vom Schweißwasser porös gewordene Leder reißt. Leise atmend, besorgt um jede unnötig verschwendete Kalorie, starre ich auf den Metzger und denke nach.

Nichts sollte überraschen. Der aktuelle Zustand der Republik hat Tradition. Zentralafrika hinkt am Bettelstab, und jeder kennt seine Geschichte. Weil sie so einfach ist, so blutrot, ein ganz ordinäres Märchen aus der armen Welt. Kamen bis ins 19. Jahrhundert arabisch-moslemische Sklavenjäger, um zwanzigtausend kostenlose Arbeitstiere pro Jahr einzufangen, überfielen nach ihnen französisch-christliche Kolonisatoren das Gebiet, um nicht weniger effizient die Besitzer des Landes zu liquidieren. Nach so viel Vorbereitung auf die Demokratie kommt 1960 die Unabhängigkeit. Psychopathen gelangen an die Macht. Am berühmtesten wurde der ehemalige Missionsschüler Jean-Bédel Bokassa, der gern die Leichenteile seiner massakrierten Opfer im palasteigenen Kühlschrank lagerte. Als stille Erinnerung an den zuletzt inszenierten Blutrausch. Zugleich wurde der christliche Killer ein guter Spezi französischer Präsidenten. Im Augenblick wirtschaftet General André Kolingba. Die vorläufig letzte Marionette Pariser Außenpolitik, ebenfalls Spezi. Zumindest wird er nicht verdächtigt, beim Abendbrot an Babyfleisch zu naschen. Dafür wissen alle, dass er und seine Clique neunzig Prozent des Diamantenhandels – Hauptdevisenquelle – über ihre Privatkonten abwickeln.

Weil ein paar Hundert mit den drei Millionen Einwohnern Schindluder treiben, deshalb plündert der Polizeichef, deshalb führt nur eine infernalische Straße raus aus Birao, deshalb bleibt seit einem halben Jahr die Schule geschlossen, deshalb vegetieren Krüppelkinder neben dem fliegenverseuchten Baumstamm in der Dorfmitte.

Geldsuche. Nach sieben Märschen in sieben verschiedene Himmelsrichtungen finde ich einen barmherzigen Ausbeuter, der sich meiner zu einem exorbitanten Kurs erbarmt. Und die Bilanz wird besser. Jetzt gibt es auf dem Markt Tomaten, Zwiebeln und Sauermilch. Damit gehen wir zurück zu unserem Schlafplatz. Jean-Denis, der neunzehnjährige Zairer, bereitet den Salat. Der Junge saß vier Monate im Gefängnis von Am Dafok. Er war auf dem Weg nach Ägypten, um dort eine Koranschule zu besuchen. Wegen unerlaubten Besitzes von Devisen wurde er verhaftet. Zehn Dollar fanden sie bei ihm. Während dieser Zeit lernte er Arabisch und die sudanesische Justiz kennen. Zwangsarbeit, kein Essen, Stockhiebe auf Gesäß und Geschlechtsteile. Ernährt wurde er von den Familienangehörigen anderer Häftlinge. Sein Besitz – eine Uhr, zwei Hemden, zwei Hosen, eine Reisetasche – verschwand. Konfisziert. Vor einigen Tagen schlief ich neben dem Gefängnis, in dem er einsaß. Reiner Zufall. Er erzählte mir von seiner kurz bevorstehenden Entlassung. Um sie zu beschleunigen, übergab ich seinen Aufpassern das nötige Bargeld. Devisen, versteht sich.

Fein wird dieser Abend aber erst durch die Anwesenheit der Tunesier. Vertreibt die Nacht die schlimmste Hitze und zieht ein Hundertachtzig-Grad-Sternenhimmel auf, beginnt eine orientalische Märchenstunde, schillernd erstunken und erlogen von diesen beiden arabischen Brüdern Grimm. Sie erzählen und wir fliegen: von ihren Nahkämpfen mit der libyschen Wüstenpolizei zu ihren Geheimtreffen mit den Giganten des Schmuggelbusiness im Pariser Hotel Georges V, rüber nach Griechenland, wo sie auf ihrem Großgrundbesitz entspannen für den nächsten Coup, schließlich Landung – für heute – in Nyala, dem Stinkloch, wo ich vor Kurzem drei Tage darbte, während sie sechs Wochen lang mit der Security feierten und an einem Abend bis zu zehn Frauen – Jungfrauen, wohlgemerkt – von der Bürde der Unschuld erlösten. Ich frage zwei Mal nach und höre es zwei Mal ganz deutlich: »Dix vièrges.«

Ich erinnere mich wieder, dass viele arabische Märchen mit Kan ya makan anfangen: Vielleicht war es so. Oder vielleicht auch nicht. Sprache als Fallschirm, als Rettungsboot, als Schleudersitz, um sich davonzumachen aus der Trübsal des Alltags. Mohamed und Bebekar halten die Tradition bravourös hoch. Schon der Koran verspricht ein Paradies, das alles anbietet, was in der Wüste nie vorkommt: Süße Wasser, kühle Schatten, juwelenbestickte Sofas und Flüsse von Wein, unaufhörlich nachgeschenkt von unsterblicher Jugend. Die Halluzination zählt, nicht Birao.

Transportsuche. Ich bin nicht der Einzige, den die Hitze schwächt. Aber Afrika versorgt einen auch dann noch mit Lachkrämpfen. Als ich mich auf dem Markt nach einer Mitfahrgelegenheit umhöre, werde ich mit wundersamen Worten verwöhnt: »Morgen landet ein Flugzeug!« Als ich frage, ob – vielleicht hat die Maschine Verspätung – der Zug pünktlich ankommen wird, höre ich: »Bien sûr«, natürlich. So reden sie, ist doch keiner grausam genug, dem Fremden zu sagen, dass es weder Piste noch Bahnhof gibt. Nun, da ich auch der Auskunft vom ankommenden Zug misstraue, sage ich: »Im Notfall nehme ich das Boot.« Und jetzt kreischen alle vor Vergnügen. Und alle wissen wieder, dass das Lachen und das Lachen aus dem letzten Loch auf diesem Kontinent erfunden wurden.

Irgendwann finde ich eine Gruppe sudanesischer Händler, die nach Bangui, in die Hauptstadt, wollen. Sie liegen fest, reparieren gerade ihren ramponierten Lkw. Zähe Verhandlungen. Jemand flüstert mir zu, dass es besser wäre, wenn ich mich als Moslem vorstellte. Also trete ich umstandslos zum Islam über. Was den exorbitanten Fahrpreis nicht dramatisch senkt, jetzt bin ich eben ein weißer Gläubiger, sprich »rich, very rich.« Zudem muss für Jean-Denis bezahlt werden, der nicht über eine einzige Münze Geld verfügt. Bald werde ich erfahren, dass sie keinen Franc zu viel verlangen, da der kommende Materialverlust jeden Betrag rechtfertigt.

Die Reparatur zieht sich. Tagsüber bewachen wir den Markt, um die Milch und die Papaya nicht zu versäumen. Und abends gibt es arabischen Abenteuerfunk. Oder einen Trip. Die Einheimischen nennen die Blätter unergründlicherweise »trente-six«. Man legt sie in die Schuhe, dann mit nackten Füßen hineinschlüpfen. Das ist ein ergreifendes Gefühl: Um Mitternacht durch Birao spazieren und high dahinschweben. Abgestürzt bin ich mit tombako, einem feuchten Tabak, den man sich zwischen Oberlippe und Zahnfleisch schiebt. Der Flash kommt nach zehn Sekunden. Es blitzt im Kopf. Nach dem Blitz kriecht eisiger Schweiß auf die Stirn. Dann kichern die Biraoaner, und ich muss mich übergeben. Jemand reicht einen Napf Wasser, Jean-Denis organisiert ein Stück Zitrone. Der Körper beutelt, langsam beruhigt sich das pochende Herz.

Nach drei Tagen ist der Laster startbereit. Das Schmiergeld für die Johnny-Walker-blauen Zollbeamten wurde entrichtet, die Ware (Erdnusssäcke) gleichmäßig verstaut, das Getriebe scheppert weniger laut. Bei der Ausfahrt lese ich einen in den Lehm geschmierten Satz: »Les routiers sont les véritables guerriers«, die Fernfahrer sind die wahren Krieger. Erst später entschlüssele ich den Satz so, wie er gemeint ist: als Warnung.

Wir haben Platz, nur fünfzehn Männer befinden sich auf der Ladefläche. Vorbei an Affen und Antilopen und der afrikanischen Bevölkerungsexplosion. Durch Krale mit Maniok stampfenden Müttern, Läuse zupfenden Alten und Kinderrudeln mit dicken Hungerbäuchen und offenen Abszessen. Wir stoppen in einem Dorf neben einem schmalen Fluss. Fodor ist der Chef der sechs Hütten. Analphabet, siebenunddreißig, vierfacher Gatte, elffacher Vater. Immer ist eine seiner Frauen als menschlicher Brutkasten unterwegs. Auf diesen zweihundertfünfzig Quadratmetern Erde, wo sie ärmer leben als ihre sechs Hennen, wird ununterbrochen gezeugt und gebrütet. Da »Allah entscheidet« (so Fodor), wird »das Eintreffen neuer Münder am Tisch des Herrn« (so der Papst) erst dann versiegen, wenn Fodors Geschlecht erlahmt. Bis dahin treffen sie ein, die eitrigen Münder am leeren Tisch des Herrn.

Um Mitternacht Ankunft in Tiroungoulou, stolzes Dorf mit Schlagbaum. Versuch, zwischen rastlosen Schnarchern zu schlafen. Bis vier Uhr früh. Dann höre ich einen scharfen, rhythmischen Gesang. Als ich näher komme, sehe ich zwei Dutzend Kinder um ein Feuer sitzen, alle vor sich ein Holzbrett mit arabischen Schriftzeichen, Suren. Jeden Morgen gehen sie hier für zwei Stunden in die Koranschule. Das hat eine irritierende Faszination. Der peitschende, kreischende Sprechgesang, das Feuer, das Zwielicht des kommenden Tages.

Das Frühstück wird heiterer. Einladung beim »roi du village«. Er ist nur Bürgermeister, aber ein Bürgermeister im Busch ist ein König. Er lässt großzügig auftragen, Maniok, Hirschfleisch, Zuckerrohr. Plötzlich ein schneidender Pfiff, jeder schnellt hoch und erstarrt: Die Flagge wird gehisst. Ist sie oben, wieder Pfiff, wieder setzen und weiteressen. Ist der Bürgermeister fertig, sind die anderen es auch. Vier Bedienstete bringen das Dienstfahrrad. Der Herr König schwingt sich hinauf, mit der Pistole am Gürtel macht er sich auf den Weg zu seinen Verpflichtungen.

So ein Essen bekommen wir nicht wieder. Bis zur Ankunft in Ndele werden wir mit Stroh und einem Holzstück Feuer entfachen, um – mit einer Ausnahme – Hirsebrei und Tee zu kochen. Für den Rest der Zeit haben wir nur eine Aufgabe: uns fortzubewegen.

Wir brechen auf. Da die Regenzeit gerade vorbei ist, unterbrechen stehende Wasser, Morastgruben und drei Meter hohes Schilfgras die bisweilen nicht mehr auffindbare Spur. Jede verdächtige Stelle wird vorher geprüft. Was uns nicht hindert, bis rauf zu den Kotflügeln abzusacken. Dann schaufelt eine Gruppe die schwere, schwarze Erde von den Reifen, andere schlagen Holz, das wie Sandbleche als griffige Starthilfe dienen soll. Manchmal mit Vollgas heraus, manchmal mit Vollgas uns festbohren.

Landen wir in einem Tümpel – das Wasser schwemmt bereits durchs Führerhaus – versucht der zweite Laster, uns herauszuziehen. Oder umgekehrt. Hinterher suchen wir eine Alternativroute, hauen mit Äxten die querstehenden Bäume weg, finden nur Sackgassen, fangen von vorn an. Was jede Aktion stark verzögert, ist der Zustand des Materials, mit dem wir arbeiten. Die Schaufeln brechen, die Stiele der Äxte splittern, die Haken an den Stoßstangen lösen sich, das erste Abschleppseil, das zweite – vier Mann müssen es tragen – reißt.

Es gibt Situationen, in denen ein Camion im Flussschlamm stockt und der andere auf der Suche nach einem Umweg in einem Moorloch endet. Befinden sich beide irgendwann, irgendwann fünf Stunden später, wieder auf trockener Erde, müssen wir anschieben. Die Batterien sind inzwischen leer. Anschieben bergauf. Funktioniert das, bleiben noch ein Dutzend Gründe, um noch immer nicht vom Fleck zu kommen. Der mehrmalige Hauptgrund: Die Rippen des Kühlergrills deformieren sich, verstopfen. Wegen Hitze, Überlastung, uralten Rosts. Das Alteisen ausbauen, geradebiegen, reinigen, einbauen. Ein Halbtagsjob. Damit uns nichts fehlt, wimmeln Moskitos und Fliegen. Und alle baden. In Schweiß. Fahren wir tatsächlich, muss einer den Schaltknüppel festhalten, damit er nicht rausspringt.

Mehr als ihre körperliche Ausdauer, mehr als ihre technische Fantasie, mehr als alles das bewundere ich die innere Kraft der Männer. Verfluche, hasse und bereue ich, spüre ich mein Herz schrumpfen, bin ich vor physischer und psychischer Erschöpfung nicht fähig, irgendeine produktive Idee zur aktuellen, in meinen Augen hoffnungslosen Lage beizusteuern, machen sie weiter, murren nicht, suchen keinen Schuldigen, finden immer einen Notausgang. Was für mich ein einmaliges Ereignis ist, ist für sie der banale, ungeheure Alltag. Erdnusssäcke und (darunter) ein paar Kilo heiße Ware von Nyala nach Bangui transportieren, so leben sie, so verdienen sie ihr Leben. Bin ich auch Lichtjahre von jeder Religion entfernt, so sehe ich doch, wie sie Kraft holen von ihrem Gott, wie sein Trost, sein Versprechen auf ein nächstes, schwereloses Leben sie ausrüstet für die Hinnahme unsäglicher Zustände.

Aber ein Zustand kommt, bei dem auch sie schreien vor Angst. Vierter Tag, von Weitem sehen wir braune Wolken über den Baumwipfeln. Als uns die fliehenden Heuschrecken entgegenkommen, bleibt kein Zweifel: Der Wald brennt. Zuerst ist der Anblick fantastisch. Links und rechts unseres Weges lodert das Gebüsch, mehrere Meter hoch züngeln die Flammen. Der nächste Kilometer vor uns sieht aus wie ein Tunnel aus Feuer. Aufregend, aber nicht gefährlich, da nach beiden Seiten hin noch genügend Abstand liegt. Sofort liefern die Männer eine spektakuläre Erklärung: Banditenfeuer, um Durchreisende zum Halten zu zwingen und leerzurauben. Wir fahren weiter. Und kein Straßenräuber taucht auf. Trotzdem wird es Minuten später hundsgefährlich. Der Tunnel verengt sich, und brennendes Holz liegt auf der Strecke. Modi, der Fahrer, stoppt. Wir alle stehen jetzt auf der Ladefläche und brüllen in Richtung Fahrerhaus. Die einen wollen weiterfahren, die andern zurück. Was auch nicht geht, nicht mehr. Denn inzwischen hat sich das Feuer zu nahe an den Rand des Pfades herangefressen. Als Modi zurückstößt, um mit Anlauf über den fünfzehn Meter langen Feuerteppich zu preschen, will ich abspringen. Neben mir steht das Hundert-Liter-Benzinfass, unser Reservetank. Lieber hetze ich zu Fuß durch die Glut als neben dieser Ladung in die Luft zu jagen. Aber ich entscheide mich zu spät. Modi ist bereits mit Vollgas im ersten Gang, und jemand reißt mich zurück. Mein schwarzer schesch, ein Geschenk der Tuaregs, fliegt mir vom Kopf. Jetzt – und nur dieser eine Gedanke hat noch Zeit: Jetzt ist es aus.

Hinterher klingt das gehörig übertrieben. Der Tod kommt nicht, auch diesmal nicht. Nur das Hirn ist tot vor Angst. Nach wenigen Sekunden geht das Leben weiter. Modi ist durch, sogar die Reifen überlebten. Die Flammen lichten sich, unsere feuerhitzigen Köpfe kühlen im Fahrtwind.

Neben einem Bach schlagen wir unser Nachtlager auf. Diesen Abend haben wir verdient. Heute kein Hirsebrei und fauliges Kanisterwasser. (Der Tee-Nachschub längst unterbrochen, die Kiste irgendwo versumpft.) Afrika in Hochform. Wir kratzen die Dreckkrusten aus dem Führerhaus, reinigen zum drittletzten Mal den Radiator, waschen die dreckigen Körper und dreckigen Kleider. Negat, der Koch, zieht aus der Reuse sechs Fische. Der dicke Niemat ruft zum Gebet. Ich creme die von herabhängenden Ästen geschürften Gesichter ein, verreibe Insektenmittel auf zerstochenen Unterarmen, verbinde den verstauchten Fuß von Modi und verteile an jeden der »turnboys« (die Mechaniker) ein Valium. Seltsam, wie es mich verwundert, dass auch Schwarze unter Schlafstörungen leiden.

Doch Mohamed bleibt der Star und nährt uns mit einer wunderbar dramatisierten Fassung seines letzten Abenteuers, tief in den Goldstollen Brasiliens. Damit gehen wir schlafen. Jean-Denis hat das Strohbett hergerichtet. Über uns das Moskitonetz und dahinter der Mond. Auf meinem Kurzwellenradio höre ich RFI, den französischen Auslandssender, Charles Aznavour singt gerade »C’était triste de venir«. Ein Glücksgefühl durchzieht mich. Weil ich spüre, wie sehr ich Afrika liebe und wie sehr ich Europäer bin. Diese klare Erkenntnis, sie verschafft das Glück.

Am nächsten Tag erreichen wir Ndele. Als die Polizei an der Dorfgrenze wieder nach meiner Börse greift, halte ich zu. Und erfinde ein Gesetz, sage, dass seit letztem Oktober Deutsche, Portugiesen und Franzosen nichts mehr zahlen müssen. Der Capitaine verschwindet verdutzt in seinem Verschlag und kommt lächelnd zurück, bestätigt mein Gesetz: »Oui, Monsieur, c’est correct.«

In der kleinen Stadt hat die schaurige Mühsal ein Ende. Und das Lustige fängt wieder an. Ich frage einen Zwiebelverkäufer nach dem Weg zum Markt, und der Alte meint, er habe nichts verstanden, da er schlecht höre. Je höher die Temperatur, um so tauber werde er. Da gerade die Mittagssonne brennt, muss ich ihn anbrüllen, um die Richtung zu erfahren. Und lächelnd zeigt Bipo nach links hinten. Die Auskunft stimmt genau. Links hinten gibt es Grapefruits, Limonaden, Bier und die Bar Sazara, wo Steppkes Breakdance üben. Und die Aussichten klingen beruhigend. Die restlichen sechshundertachtzig Kilometer nach Bangui seien brauchbare Schotterstraße, das letzte Teilstück sogar geteert. Und morgen fahre ein Bus in die Hauptstadt, sicher schneller und weniger demoliert als unser Lkw, den Modi unter dem großen Baum an der Avenue des Martyrs (trefflicher Name) aufbocken ließ. Das Getriebe rumort schon wieder, die Windschutzscheibe bröselt, der erste Gang will nicht mehr, alle Scheinwerfer sind blind.

Ich kehre zurück zur Bar, setze mich auf einen Stuhl und finde keine Position, die dem Körper guttut. Jeder einzelne Knochen scheint entzündet. Wie ein wundes Tier drehe ich den Leib in verschiedene Richtungen, um ihn zu besänftigen. Bis ich seltsam quer eine Stellung einnehme, die sogar das Halten eines Buches erlaubt. Und entdecke bei André Gide einen Satz, der genau das liefert, was der besessene Leser vom Lesen fordert: Schönheit und – Bukowski hat das in einem Interview verkündet – eine Schachtel Aspirin. Um die nächsten drei Stunden Leben schwungvoller zu überstehen. Gide schreibt da: »Mein Auge fastete in den letzten zehn Tagen, aber nun öffnet es sich der Sonne, schlendert und betrachtet alles mit Appetit.«

Stunden später treffe ich Ditmar, den Schlosser. Obwohl er den furchtbaren, nach Müsli und Gutmenschen-Latzhose stinkenden Satz »Ich wollte mich noch einbringen in die Dritte Welt« loslässt, erweist er sich als angenehmer, unprätentiöser Zeitgenosse. (Das Wort »noch« soll wohl »noch rechtzeitig« heißen: noch rechtzeitig sich absetzen, bevor einer als komfortsüchtiger Tränensack zwischen Couchgarnitur und Fernbedienung verdämmert.) Vor Ort gibt es eine katholische Mission, er werkt hier seit vierzehn Monaten im Auftrag des Ordens der Spiritaner als Allround-Handwerker, mauert gerade eine kleine Krankenstation. Wie jeder Weiße, den ich traf und der längere Zeit in Afrika lebte, hält er den Kontinent für verloren. Was ihn nicht bremst. Er baut das Haus, es muss her, es muss raus aus ihm. Für die Nacht bietet er Jean-Denis und mir zwei saubere Feldbetten mit Moskitonetz an. Ich nehme dankbar an unter der Voraussetzung, dass er uns zwei Exkatholiken – der Junge wurde vor Jahren zum Islam »bekehrt«, ich vor Jahrzehnten zum Agnostizismus – jedwede Predigten vom wahren und rechten Glauben erspart. Und Ditmar, der tapfere Schlosser, hält Wort. Selig versinken unsere ächzenden Körper in Schlaf.

Der rührige Jean-Denis. Jeden nennt er »mon frère«. Auch dann, wenn ihn seine schwarzen Brüder piesacken. Wie heute, nach den beachtlichen Spiegeleiern zum Frühstück. Plötzlich fällt der lokalen Mafia ein, dass der Zairer neue Papiere braucht, sprich, ein paar Scheine rausrücken soll. Der Einfall hat sicher mit der Tatsache zu tun, dass der Neunzehnjährige mehrmals in meiner Nähe gesehen wurde, ins Afrikanische übersetzt: in der Nähe von Geld. Doch die Frechheit der Abzocker verschafft gleichzeitig eine weitere Möglichkeit, den Jungen zu bewundern, ihm zuzuschauen, wie er so vieles riskiert, um seine Würde zu bewahren. Umgehend rennt er zum Markt und verkauft seine Schuhe. Da auch Schwarze mit nackten Füßen nur blutig von hier nach Zaire gelangen, löse ich die Sandalen wieder aus und zahle die Papiere. Keine Summe für Europäer. Aber hinterher bin ich froh, dass ich gewartet habe, nicht sofort anbot, die Kosten zu übernehmen. Ich mag den Anblick von Männern und Frauen, die das produzieren, was Hemingway einmal mit »grace under pressure« bezeichnete.

Am späten Vormittag kommt die Wahrheit. Die Stunde des Abschieds von meinen tapferen Reisegefährten nutzen Mohamed und Bebekar, um mich aufs Kreuz zu legen. Jetzt nämlich wäre Zahltag. Wir hatten ausgemacht, die Fahrtkosten für Jean-Denis von Birao bis zur zairischen Grenze durch drei zu teilen. Da ich alles vorgestreckt habe, will ich nun ihren Anteil einfordern. Natürlich ist mir nicht zu helfen, einem, der glaubt, zwei abgerissene Schieber würden sich an ihr Wort erinnern.

Ich mag sie noch immer. Auch nachdem sich herausstellt, dass sie nichts teilen. Am wenigsten Geld, das sie nicht haben. Die beiden Juwelengroßhändler bleiben die Wasserträger, als die sie schon immer unterwegs sind. Ich bereue nichts, weil mir plötzlich klar wird, dass sie längst bezahlt haben. Viel mehr als nötig: Mit einem so witzig, so fantasiereich, so rasant gesponnenen Lügennetz tausendundeiner Geschichten.