9. KAPITEL
Meike
»Meike, wir müssen mal reden. Ganz in Ruhe«, sagt meine Mutter. »Wenn du nicht mehr zur Schule willst, dann müssen wir uns etwas anderes überlegen.«
Im ersten Moment versuche ich auszuweichen, aber ich weiß, dass sie recht hat. Ich kann nicht nichts tun. Aber was soll ich tun? Einen Job suchen, arbeiten gehen? Arbeiten ist sicher besser als Schule. Und arbeiten ist sicher auch besser als zu Hause zu hocken und sich zu langweilen. Ich kann mit Langeweile nicht umgehen. Dann mach ich immer nur dummes Zeug, zu viel essen oder die Sache mit dem Spiegel …
Meine Mutter räuspert sich. »Ich hätte eine Idee, aber ich weiß nicht, wie du sie findest.«
Sie hat eine Idee? Sie zeigt mir diesmal nicht das Ende der Sackgasse, in der ich stecke, sondern hat eine Idee, daraus fortzukommen? Ich bin gespannt. Und ich bin skeptisch.
»Du könntest ein Praktikum machen, bei einem Bestatter …«
Ein Praktikum bei einem Bestatter!
»Wäre das vielleicht etwas für dich?«
Ja! Und ob! Ich bin dabei!, denke ich, kann im ersten Moment aber nur nicken, so überrascht bin ich.
Ich dachte immer, dass meine Mutter meine schwarze Kleidung nicht gern sieht und dass sie mich von den Themen, die mit dem Tod zu tun haben, fernhalten will. Aber sie hat tatsächlich vorgeschlagen, dass ich ein Praktikum bei einem Bestatter machen soll. Krass! Der beste Vorschlag aller Zeiten.
»Ich weiß nicht, wie ich darauf gekommen bin, vielleicht ist es auch gar nichts für dich –«
»Doch! Klar! Das ist eine super Idee! Ich würde gern beim Bestatter arbeiten. Das ist bestimmt interessant.« Mir gefällt der Gedanke, etwas zu machen, was nicht jeder tut. Und es ist sicher keine Arbeit, bei der man grinsend dastehen muss und den Leuten dabei zustimmen darf, wie schön das Leben doch ist! Kunden eines Bestatters sind bestimmt alles andere als fröhlich, und damit komme ich besser zurecht. Und die anderen Menschen, mit denen ich dort zu tun habe, sind tot. Tote müssen ziemlich angenehme Zeitgenossen sein. Die reden nicht, die schweigen einfach. Schweigen. Schweigen, so wie sich das gehört. Als ob sie verstanden hätten, dass es zu der ganzen gruseligen Menschheitsmisere sowieso nichts Gescheites zu sagen gäbe. Ich freue mich. Ich freue mich, dass meine Mutter meint, ich könne in einem Bestattungsunternehmen arbeiten.
Anja
Meike tut, als seien Geburtstag und Weihnachten für sie zusammengefallen. Die Idee, ein Praktikum bei einem Bestatter zu machen, begeistert sie. So hab ich mein Kind lange nicht mehr erlebt.
Nach dem Gespräch muss ich doch noch einmal daran denken, welch ein Gräuel die Schule für sie darstellen muss! Die Schule ist der Ort, an dem junge Menschen in besonderem Maße die Gelegenheit gegeben werden soll, ihr Wissen, ihre soziale Kompetenz, ihre Denkfähigkeit, eben ihren gesamten Horizont zu erweitern. Aber löst sie das auch ein? Gibt es nicht viel zu viele Beispiele dafür, dass unsere Schulen nicht so ein Ort sind?
»Schau über deinen Tellerrand« war mal so eine Devise zur Förderung der Mitmenschlichkeit und Toleranz. Der Tellerrand an Gymnasien scheint mir so hoch, dass man nur sehr schwer hinüberschauen kann und vor allem Gefahr läuft, in seiner Suppe zu ertrinken. Vom Gymnasium unseres Schulzentrums hat sich kurz vor meiner Einstellung an der Gemeinschafts-Hauptschule ein Schüler umgebracht. Als ich in meiner Klasse darüber sprach, weil eine Schülerin den Jungen näher kannte und das dramatische Geschehen immer noch in ihr arbeitete, fragte ich die Jugendlichen, wie sie mit Problemen umgehen, die sie belasten. Ich nannte auch noch einmal eindringlich alle Anlaufstellen, die zur Verfügung stehen, wenn man einmal nicht weiterweiß. Die Bemerkung eines Schülers, die große Zustimmung in der Klasse fand, blieb mir haften. »Aber Frau Abens, umbringen tun sich nur die Gymnasiasten, wir sind doch Hauptschüler.«
Wenn das stimmt, womit hat das zu tun? Dass die Anforderungen anders sind? Dass die Schüler an unserer Schulform ihre Probleme extrovertierter zum Ausdruck bringen? Dass Kinder, die kopflastiger sind, mehr grübeln? Na, dann hätte die Armada der Schulpsychologen erst mal ins Gymnasium einfallen sollen, um sich dann bis in die Hauptschule fortzusetzen.
Ich weiß noch, wie Jonas mir völlig fertig von einem ehemaligen Klassenkameraden erzählte. »Mama«, sagte er, »ausgerechnet Flip. Wir alle haben gedacht, er ist unser Überflieger. Immer nur Einser, immer zielbewusst. Ich habe gedacht, der ist stark, so würde ich auch gern sein. Und jetzt? Jetzt hat er sich umgebracht, in Berlin. Dabei studierte er doch erfolgreich Architektur. Ich fass es nicht.«
Jonas wollte immer ein harter Bursche sein, seine eigene Empfindlichkeit hat ihn aufgeregt. Der Verlust eines Kameraden, den er für einen solchen toughen Kerl gehalten hatte, traf ihn bis ins Mark.
So, und jetzt ist für Meike die Aussicht darauf, der Schule den Rücken zuzukehren, der Himmel auf Erden. Überrascht mich das wirklich? Nein. Ich hatte einfach gehofft, wir könnten ihr zu der Dickfelligkeit verhelfen, die dazu gehört, ein solches System zu durchlaufen. Aber dieses Gen liegt wohl nicht in unserer Familie.
Wie kommt man aber jetzt an solch einen Praktikums- oder Ausbildungsplatz beim Bestatter heran, die Bewerbungsphasen sind lange vorbei, das neue Ausbildungsjahr hat bereits angefangen. Meike ist hochmotiviert, sie will zunächst die Bestatter in unserem Viertel abklappern.
Meike
Es gibt einige Bestattungsunternehmen in der Nähe. Aber ich habe voll den Horror, mein Anliegen vorzubringen, ohne dass mich einer danach fragt. Für andere könnte ich mich erkundigen, aber nicht für mich selbst. Bei zwei Unternehmen habe ich mir das Fenster angeschaut, aber mich dann doch nicht getraut hineinzugehen. Bei dem dritten hing ein Plakat im Ladenfenster mit Rufnummern und einer Adresse in Brühl. Das Unternehmen hat in unserem Viertel nur eine kleine Filiale. Die Informationen habe ich mir notiert.
Meine Eltern meinen, ich soll zuerst anrufen. Ich habe aber Schiss. Meine Mutter will jedoch nicht warten, und darüber bin ich ausnahmsweise mal froh. Ich möchte auch am liebsten sofort einen Job. Als ich mich immer noch nicht überwinden kann, wählt meine Mutter die Nummer in Brühl. Zu unserer Überraschung kann ich gleich am nächsten Tag zu einem Vorstellungsgespräch vorbeikommen.
Ich bin aufgeregt wegen des Vorstellungsgesprächs. Ich habe mich bisher nur einmal für ein Schülerpraktikum in einem Kindergarten vorgestellt, und ich kannte die Kindergärtnerin, weil ich dort früher selbst Kindergartenkind war und den Hort besucht habe. Mit fremden Menschen zu sprechen ist eine Qual für mich. Das vermeide ich möglichst, ich gehe nicht mal zum Bäcker oder zum Kiosk. Manchmal zum Supermarkt, aber nur wenn es sein muss. Dabei muss man im Supermarkt gar nicht sagen, was man will: Man nimmt sich, was man braucht, geht zur Kasse, gibt das entsprechende Geld und verschwindet. Wenn ich eine Ausbildung anfangen möchte, werde ich mich wahrscheinlich daran gewöhnen müssen, mehr mit Menschen zu reden als bisher. Aber okay, wenn ich dafür nicht in die Schule muss, dann werde ich das schon schaffen. Bei einem Bestatter gibt es aber sicher nicht so viele Gesprächsanlässe. Tote sprechen nicht, Tote fordern nichts.
Morgen fahre ich also mit meiner Mutter nach Brühl zum Bestattungsunternehmen Kuckensiel.
Anja
Nicht zu glauben. Also in dieser Hinsicht haben die Mitglieder unserer Familie den goldenen Helm auf. Alle bekommen immer sofort den Job, für den sie sich bewerben. Ob das gut ist, bleibt dahingestellt, denn wir erfüllen von jeher äußerst pflicht- und verantwortungsbewusst alle Anforderungen und fragen uns sehr spät, ob wir es nicht auch noch an für uns geeigneteren Aufgabengebieten versuchen sollten. Raus aus einer Tretmühle ist nicht das Einfachste, denn sie bedeutet nicht zuletzt Sicherheit. Na, zuerst einmal ist man auf jeden Fall glücklich. So auch Meike.
Das Vorstellungsgespräch verläuft völlig ungezwungen. Herr Kuckensiel ist nur am Anfang etwas skeptisch, weil Meike erst sechzehn ist. Interessiert schaut er ihr Zeugnis an. Deutsch und Englisch gut, Latein befriedigend.
»Also, an deinen Leistungen kann es ja nicht liegen, dass du die Schule verlässt?«
Meike schüttelt den Kopf. »Ich möchte einfach arbeiten. Immer nur Theorie und Klausurendruck. Das will ich nicht mehr.«
»Und wie kommst du auf den Beruf des Bestatters? Entschuldigung, darf ich überhaupt ›du‹ sagen?« Meike nickt, und Herr Kuckensiel fährt fort. »Das ist nicht gerade die übliche Wahl für ein junges Mädchen.«
Ich bin froh, dass Meike ihre extravaganten Auffassungen nicht auf der Stirn geschrieben stehen. So in der Art: Das Leben ist finster und Heile-Welt-Jobs sind nichts für mich und hier kann ich wenigstens schwarze Klamotten tragen.
Meike verweist klugerweise auf ihr Großtante väterlicherseits, die ein Bestattungsunternehmen hat. Die lebt aber am Niederrhein, und Meike würde lieber in Köln bleiben.
Herr Kuckensiel nickt. »Es kann natürlich sein, dass du nach kurzer Zeit feststellst, das dieser Beruf nichts für dich ist, darum sollten wir erst ein Praktikum vereinbaren. Natürlich können wir dann auch von unserer Seite sehen, ob wir zusammenpassen.«
Verblüfft schauen wir ihn an. Das geht ja in einem rasanten Tempo.
Der Beerdigungsunternehmer bemerkt unsere Überraschung.
»Ja, Sie sind einfach zur rechten Zeit am rechten Ort. Eine Hilfskraft hat sich als sehr unzuverlässig erwiesen. Und der Beruf des Bestatters ist gerade erst zum Ausbildungsberuf deklariert worden. Mein Sohn, der den Betrieb einmal übernehmen soll, ist einer der ersten Auszubildenden, die diesen Weg gehen. Dadurch ist er nun oft wochenweise weg. Es gibt nur zwei Berufsschulen, natürlich keine direkt in unserer Nähe, und der Unterricht findet im Block statt.«
Wir nicken verständig. Was Meike denkt, weiß ich nicht, aber ich höre erst mal nur »zur rechten Zeit am rechten Ort« und warte auf weitere Ausführungen.
»Wir sind ein Familienbetrieb. Da musst du entscheiden, ob dir das liegt. Außer meinem Sohn und mir gibt es zurzeit nur noch unsere langjährige Sekretärin, Frau Müller, die aber erst übernächste Woche aus ihrem Urlaub zurückkommt. Sie würde dich mit den Büroarbeiten vertraut machen, die in einem Geschäft wie dem unseren anfallen. Na ja, ich will jetzt nicht vorgreifen. Ich gebe dir den Vertrag mit, und du gibst mir bis Ende der Woche Bescheid, ob du das Praktikum absolvieren willst.«
Nach einer freundlichen Verabschiedung verlassen wir das Beerdigungsinstitut gemessenen Schrittes, dann rennen wir erst einmal ein Stück, um uns dann außer Sichtweise lachend in die Arme zu fallen.
»So was«, sage ich. »Jetzt kannst du schon nächsten Montag anfangen, wenn du willst.«
Meike nickt. Sie strahlt einen Optimismus aus wie lange nicht mehr.
Meike
Das Vorstellungsgespräch lief viel besser, als ich gedacht hatte. Dass ich bereits am nächsten Montag mit einem Praktikum beginnen kann, wenn ich es möchte … das ist so genial! Heute Morgen war ich ganz schön aufgeregt und nervös. Ich war aber froh, dass ich endlich mal zu einem Anlass schwarze Kleidung tragen konnte, ohne dass meine Mutter meckert, weil es so trist aussieht. Natürlich habe ich mir die Augen nicht ganz so stark umrandet wie sonst; ich habe meine schwarze Nadelstreifenhose und ein schwarzes, langärmliges Shirt angezogen. Und meine schwarz-weißen Chucks … die sind natürlich nicht ganz so toll, aber andere dunkle Schuhe habe ich nicht, immerhin habe ich vorher die Spikes rausgenommen, die ich reingeschraubt hatte.
Das Bestattungsinstitut ist recht klein, aber wie alle anderen hat es Urnen im Schaufenster stehen. Allein das ist toll. Urnen, Särge, Tote. Was will man mehr? Ich mag das Leben nicht und beim Bestatter bin ich sicher näher am Tod als manch anderer. Zwar nicht an dem eigenen, aber immerhin. Herr Kuckensiel hat mich gefragt, wie ich darauf komme, beim Bestatter anfangen zu wollen. Natürlich habe ich nicht erzählt, dass mir Tote weitaus lieber sind als Lebende, dass ich mit dem Tod nichts Negatives verbinde oder dass ich fasziniert von Särgen und Gruften bin oder dergleichen. Ich weiß nicht mehr genau, was ich gesagt habe. Manchmal vergesse ich Dinge, die ich sage, wenn ich besonders aufgeregt bin. Aber es war wohl in Ordnung, sonst hätte ich schließlich nicht das Angebot bekommen, mit einem Praktikum zu testen, ob mir der Job zusagt und ob ich mich überhaupt dafür eigne. Ich bin unglaublich froh darüber, dass es so schnell geklappt hat. Endlich ist diese grauenerregende Schulzeit vorbei und es hat ein Ende, dass meine Eltern und ich mich mit dem Gedanken rumschlagen müssen, was ich als Schulalternative tun könnte. Ich freue mich so sehr! Und dann auch noch beim Bestatter! Ich glaube, einen besseren Beruf gibt es für mich nicht.
Als ich Anna am Telefon von meinen Plänen erzähle, ist sie nicht sicher, ob ich wirklich damit klarkomme. Aber womit sollte ich nicht klarkommen? Mit dem Tod? Der Tod ist für viele etwas sehr Trauriges, das kann ich nachvollziehen. Aber verstehen kann ich es nicht. Der Tod gehört zum Leben dazu. Wenn es Zeit ist zu gehen, dann ist es eben Zeit. Es ist ja nichts Schlimmes tot zu sein, zumindest nicht für den, der tot ist. Ich glaube, das sehen die meisten Menschen nicht, dass der Tod nichts Schlimmes, sondern etwas Natürliches ist. Das wundert mich schon. Ich habe mit meiner Mutter mal darüber gesprochen, dass viele Menschen nicht gern über den Tod nachdenken, weder über den eigenen noch über den von anderen. Das finde ich seltsam. Der Tod ist doch interessant, er ist geheimnisvoll, auch wenn nach dem Tod das riesige Nichts kommt. Er ist mir lieber als das Leben. Ja, der Tod ist mir definitiv lieber als das Leben. Klar kann ich niemandem einen Vorwurf machen, dass er lieber lebt als tot ist oder lieber mit Lebenden zusammen ist als mit Toten, aber wirklich verstehen kann ich das nicht.
Anja
Es ist wie immer. Für Meike scheint nun zunächst der richtige Weg gefunden, da kommt es wieder von anderen Seiten hammerhart. Irgendwelche neuen Bestimmungen führen dazu, dass ein Vierteljahr vor der Lehrerabschlussprüfung beide Seminarleiter wechseln. In Deutsch habe ich noch Glück, die Neue ist eine ehemalige Schülerin des Leiters, der uns bisher begleitet hat. Das heißt, die Prioritäten und Anforderungen sind ähnlich gelagert. In Englisch ist es ein Grauen. Die neue Dame hat völlig andere Vorstellungen als ihr Vorgänger und will alles in drei Monaten ummodeln, denn ihr Konzept ist das Nonplusultra. Fünf meiner Mitstreiter verabschieden sich in der Zusammenarbeit mit ihr, werden krank, schieben auf, machen jedenfalls den Abschluss in diesem Durchgang nicht mehr, und das, obwohl es alles junge Leute sind. Mir drängt die Frau alle Erinnerungen an die Angst machenden Elemente meiner Schulzeit auf. Ich will es aber schaffen, ich schiebe die Panik bewusst zurück. Doch die Aufgaben des Seminars plus dreiundzwanzig Stunden Unterricht in der Schule bedeuten eigentlich nur Randzeiten für die Familie und zum Durchatmen. Dann hat sich noch ein Dokumentarfilmer, der sich freundlich und scheinbar empathisch an die Schüler und mich herangemacht hat, in meinen Schulalltag eingeschleust und versucht nun, ohne Rücksicht auf Schüler und Stundenplan, vor allem seine Interessen durchzusetzen. Unverschämt! Aber ich lerne nicht aus meinen Fehlern! Als mir eine Erkältung auf die Stimmbänder schlägt, bleibe ich nicht zu Hause, um mich zu kurieren, nein, ich gebe stummen Unterricht. Es fällt mir äußerst schwer, mich krankschreiben zu lassen. Ich gehöre zu denen, die stolz sind, nicht ein Mal zu fehlen, egal was abgeht. Das ist irgendwie krank, das gebe ich zu, aber ich kann nicht aus meiner Haut. Zum Fehlen bringen mich nur Notoperationen und absolute Bettlägerigkeit. Ich kann meine Grenzen nicht gut erkennen. Und merke, wie ich in der Freizeit nur noch Kraft sammle, um wieder arbeiten zu können. »Das ist nicht gut«, sagt meine Kollegin, »wenn du nur noch schläfst, um wieder zu arbeiten, dann läuft etwas falsch.« Recht hat sie, aber wenn ich die Tiefs durchgestanden habe, denke ich: Hat doch geklappt!
Meike
Ich bin gespannt darauf wie es ist, eine Leiche anzufassen. Ich bin gespannt, ob ich die Ausbildung machen kann und ob ich vielleicht sogar an einen Sarg komme, den ich doch so gern schon hätte, bevor ich damit in die Erde eingelassen werde. Ja, ich wünsche mir einen Sarg. Ich bin kein Grufti und er soll nicht als Bett dienen, versteht sich, das stelle ich mir nicht sonderlich bequem vor. Aber als Dekoration. Als praktische Dekoration, in der man Krams verstauen kann, genau wie in einer Truhe eben. Meine Mutter ist nicht so begeistert von dieser Idee, aber das macht ja nichts … wenn ich Glück habe, kann ich vielleicht schon bald einen Sarg mein eigen nennen. Ich kann es kaum abwarten, dass Montag ist.
In der Bahn auf dem Weg nach Brühl bin ich aufgeregt. Und der erste Tag beim Bestatter enttäuscht mich nicht. Ich habe ein Holzkreuz mit den Buchstaben für den Namen eines Verstorbenen beklebt. Diese Kreuze werden auf die Gräber gestellt, bis der Grabstein fertig ist. Herr Kuckensiel hat mir gezeigt, wie man die Buchstaben aufklebt. Die Abstände zu den jeweiligen Kanten werden mit einem Lineal abgemessen, und der Abstand zwischen den Buchstaben sollte natürlich auch immer ungefähr gleich groß sein. Ich hab mich anfangs etwas schwergetan. Das tue ich immer, wenn ich etwas Neues lernen will, das mehr oder weniger wichtig ist. Wenn ich etwas machen muss, das nachher beurteilt wird, dann frage ich lieber ein paarmal öfter nach, ob ich es richtig verstanden habe, bevor ich mit einem Ergebnis ankomme, das nicht akzeptabel ist. Wahrscheinlich nervt meine Fragerei, mich jedenfalls nervt meine Fragerei, schließlich frage ich gar nicht gern, ich rede ja nicht mal gern. Aber ich frage lieber, als irgendwas falsch zu machen. Das wäre natürlich schlimmer. Wenn ich einen Buchstaben falsch aufklebe, kann ich ihn ab und zu auch wieder ganz abziehen und erneut aufkleben. Wenn der Buchstabe aber schon festklebt, geht er zwar ab, ist aber nachher nicht mehr zu gebrauchen. Ich lass mir also lieber etwas Zeit dabei. Herr Kuckensiel meint, dass ich es gar nicht schlecht mache und dass es mit der Zeit dann sicher schneller gehen werde. Ich habe ihm einfach mal zugestimmt, wobei ich natürlich für nichts garantieren kann.
Anfangs waren wir zu zweit im Laden, der Sohn von Herrn Kuckensiel kam erst am Nachmittag. Wenn man nur zu zweit ist und es angebracht ist zu reden, dann muss ich auch reden. Aber ich weiß nie, was, wie viel und ob ich überhaupt reden soll. Aber es ging heute besser als erwartet, und es wird mit der Zeit sicher auch leichter, wenn man sich besser kennt.
Anja
Alles klappt, bis es zusammenklappt. Nachdem ich in heftiger Aufregung meine Examensarbeit persönlich in Siegburg abgegeben habe, baue ich auf der Rückfahrt einen Autounfall. Vor lauter Freude nach Hause zu kommen und mit Karl zu feiern, dass jetzt zumindest die Schreiberei für den Abschluss ein Ende hat, habe ich die Autobahnauffahrt zu schnell genommen und den Wagen vor die Leitplanke gesetzt. Ein verdreckter, nasser Untergrund hatte das Seinige zu meiner Rutschpartie beigetragen. Alle um mich herum sind hilfsbereit. Ein Lkw-Fahrer hält den Verkehr auf und erledigt die notwendigen Telefongespräche. Ich bin völlig fertig und froh, dass es die Polizei und den ADAC gibt.
Karl und Meike sind erleichtert, dass mir nichts passiert ist, aber ich brauche wohl noch ein paar Tage, bis ich den Schrecken überwunden habe. Es entlastet mich immerhin, dass Meike zurzeit konsequent ihren Weg geht. Was sie alles macht: Todesanzeigen entwerfen, Trauerfeiern vorbereiten, Verstorbene abholen, Amtsbesuche erledigen. Jetzt fragt sie mich, ob sie zu Hause bleiben soll, wegen meines blöden Unfalls. »Quatsch, das ist nicht nötig.« Meike will nämlich zu einer Party, was in ihrem Leben nach wie vor Seltenheitswert hat. Ich tue, was ich in letzter Zeit am Wochenende meistens tue, wenn ich nicht arbeiten muss, schlafen.
Meike
Partys sind einfach nichts für mich. Ich war auf der Geburtstagsfeier von Marco. Ich habe ihm zwar gesagt, dass ich Feiern nicht mag, aber letztlich hat er mich überzeugt, dennoch zu kommen. Schließlich mag ich ihn, und außerdem waren noch zwei andere ehemalige Mitschüler eingeladen, die ich in Ordnung fand.
Es war letzten Endes aber doch eher kacke, um es mal freundlich zu sagen. Ich habe versucht, möglichst vorurteilsfrei zur Party zu gehen. Aber es fing natürlich mit Alkohol an und Musik, die ich nicht mag. Irgendein Punk-Alternativ-Kack. Das soll Musik sein? Ich mag dieses Rumgekreische von angeblich männlichen Sängern überhaupt nicht, ich mag diese Tonlage nicht, ich höre lieber Musik, in denen die Stimmen der Sänger oder Sängerinnen möglichst dunkel sind. Ich höre lieber Metal, möglichst dunkel und nicht so hektisch und chaotisch. Ich trinke keinen Alkohol, ich trinke Wasser und es ist bescheuert, zwischen Angetrunkenen und nach und nach sinnlos Betrunkenen herumzusitzen, während man selbst stocknüchtern ist. Alberne betrunkene Jungs, die Scheiße labern, und dumme Tussis mit zu kurzen Röcken. Ich hätte gar nicht gedacht, dass Marco so peinliche Freunde hat. Diese Punktussis finde ich übel, und die eine bemerkt nicht einmal, dass sie für den kurzen Rock und das T-Shirt zu fett ist. Dazu streckt sie ihren Hintern »versehentlich, weil sie stolpert« jedem Typen ins Gesicht. Marco hat nur einen Freund, der ebenfalls keinen Alkohol trinkt und nichts von Partys hält, noch weniger als ich.
»Weiß auch nicht, wieso ich hergekommen bin, einfach wegen Marco, glaube ich«, schreit er gegen die Musik an.
»Geht mir auch so«, schreie ich zurück. »Eigentlich wollt ich gar nicht. Aber Marco ist mein bester Freund, ich hab mich belabern lassen.«
»Was machst du denn so?«
Ich zucke die Schultern. »Nicht viel. Chatten … Musik hören … Lesen …«
Marcos Freund rückt interessiert näher, aber dann stürzt ein betrunkener Exklassenkamerad zwischen uns auf den Boden und fängt an, mich vollzulabern. Ich habe kein Wort verstanden. Marcos Freund ist auf einmal weg. Und ich würde auch gern gehen, aber ich kenne den Weg zum Bahnhof nicht. Ursprünglich wollte ich mit einigen anderen bei Marco übernachten, aber dann halte ich das Herumstehen und Wassertrinken nicht mehr aus. Ich wühle mich durch die besoffenen Partygäste, bis ich endlich Marco gefunden habe.
»Ist mir peinlich«, sage ich, »aber ich möchte nach Hause.«
»Willst du doch nicht übernachten?«
Ich schüttele bestimmt den Kopf.
»Okay. Ich bring dich zum Bahnhof.« Marco schaut mich an und guckt richtig lieb, obwohl ich ja voll die Umstände mache.
»Ich freu mich, dass du überhaupt gekommen bist. Ich weiß ja, wie du Partys hasst.«
Ich bin Marco sehr dankbar und rechne ihm hoch an, dass er mich zum Bahnhof bringt. Der Abend hat mir mal wieder bestätigt, dass ich Feten einfach nichts abgewinnen kann, und das bleibt sicherlich auch in Zukunft so.
Anja
Begeistert war Meike nicht von der Party. Aber enttäuscht auch nicht. Es war, als wäre sie nur in einem Urteil bestätigt worden. Außerdem fand sie es sehr nett von Marco, dass er sie noch mit dem Roller zum Bahnhof gebracht hat. Wie viel er getrunken hatte, hab ich lieber nicht gefragt. Aber vielleicht legt er gar keinen Wert auf Alkohol. Meike ist da sehr kategorisch. Sich besaufen findet sie unmöglich. Karl und ich trinken nicht viel. Dazu muss gesagt sein, dass uns auch schon ein, zwei Gläschen reichen, um in ausgelassene Stimmung zu kommen. Manchmal denke ich, Meike ist zu diszipliniert, und ich versuche, ihr nahezubringen, dass sich hin und wieder etwas gehen lassen auch gut tun kann. Einfach mal locker sein, das braucht doch jeder.
Ich finde Sport ein sehr gutes Mittel, um aufgestaute Gefühle loszuwerden. Oder eine Aufgabe, die einen so fasziniert, dass man seine ganze Kraft hineingibt. Mit dem Sport ging es bei Meike so lange gut, wie sie keine Probleme hatten, sich anderen in Sportzeug zu zeigen. Nach wie vor ist es mir ein Rätsel, wodurch dieses falsche Selbstbild entstanden ist. Das hässliche Bild von sich selbst. Und ich denke, Meikes Explosionen kamen nicht von ungefähr. Weder die Wutanfälle noch die Sache mit dem Schneiden, wo sonst hatte sie ein Ventil, um alles rauszulassen, was sie bedrängte? Sie hat sich keines erlaubt … und klar ihrer Verachtung Ausdruck gegeben über Menschen, die sich nicht im Griff haben, egal auf welchem Gebiet. Sie verabscheut Schwäche und bewundert Stärke. Aber diese Stärke muss in jeder Hinsicht makellos sein. Und sie glaubt nicht, dass es so jemanden gibt. Na ja, ich fürchte, da hat sie recht. Wie Menschen Stärke und Macht ausüben, zeugt viel zu oft nicht von moralischer Größe. Was uns vorgemacht wird von Politikern, Wirtschaftsträgern und anderen VIPs entspricht wenig einer Ethik, die wir unseren Kindern nahebringen wollen und sollen. Haben die Jugendlichen nicht recht, wenn sie den Eindruck haben, die Menschheit sei es nicht wert?
Meike
Meine erste Leiche. U-hu.
Heute fahre ich mit Herrn Kuckensiel zum Krankenhaus, um »jemanden« abzuholen. Die Autofahrt ist in Ordnung, obwohl mir die Wahl des Musiksenders eher nicht passt, aber meine Güte, man kann nicht alles haben. Wir unterhalten uns, aber es ist nicht so beklemmend, wie ich es erwartet habe, vielleicht weil ich weiß, dass ich mich über einen längeren Zeitraum damit arrangieren muss, wenn ich das Praktikum zu Ende machen möchte. Außerdem ist Herr Kuckensiel nett, er wirkt recht locker und freundlich. Ein wenig streng allerdings auch. Solange er mich nicht für Dinge anmotzt, für die ich nichts kann, ist das in Ordnung.
Ich bin gespannt, ob es mir tatsächlich leichtfällt, einen Toten anzufassen. In der Vorstellung ist es doch etwas anderes. Vielleicht habe ich doch Berührungsängste. Schätze ich mich richtig ein? Als wir am Krankenhaus halten, zeigt mir Herr Kuckensiel, wo im Auto die Handschuhe liegen. Es sind diese Einweghandschuhe, sehr cool, ich mag das, mit diesen Handschuhen fühlt man sich wichtig, wie ein Arzt oder so. Ich habe mir vorher gar keine Gedanken über Handschuhe gemacht, doch es macht Sinn, bei solch einem Einsatz Handschuhe zu tragen, zumindest mit Blick auf die Gesellschaft. Für mich nicht unbedingt. Klar, wenn der Tote Krankheiten oder sonst etwas hatte oder irgendwas gefährlich ist, dann sollte man Handschuhe tragen. Aber wenn einfach jemand gestorben ist? Einerseits macht es den Eindruck, als würde man sich vor dem Kontakt mit dem Verstorbenen ekeln, das ist diesem gegenüber beleidigend. Andererseits ist es natürlich respektvoller, eine Leiche mit Handschuhen anzufassen. Im Grunde kommt es auf die Person des Toten selbst an, welche Sichtweise sie bevorzugt, aber das können wir schlecht in Erfahrung bringen. Also finde ich mich mit den Handschuhen ab.
Der Tote ist ein sehr alter Mann, oder zumindest sieht er sehr alt aus. Alt und dünn, mit fast ganz weißem Haar. Gemeinsam legen Herr Kuckensiel und ich den Toten in den Sarg, den wir zuvor aus dem Auto geschafft haben. Der alte Mann ist gar nicht schwer, das erleichtert mich etwas. Ich denke zwar nicht, dass ich schwach bin, aber übermäßig stark bin ich auch nicht. Irgendwie finde ich es schon schade, einen Toten nicht so mit bloßen Händen berühren zu können, ich frage mich, wie sich das anfühlt. Mehr frage ich mich in dem Moment nicht. Mein Gefühl hat mich nicht getrogen, es macht mir kein Problem, tote Menschen zu sehen oder anzufassen, warum auch? Ich verstehe nicht, wieso andere Menschen damit Probleme haben. Nachdem wir den Sarg in das Auto zurückgeschoben haben, desinfizieren wir unsere Hände. Diese Desinfizierkästchen gibt es scheinbar in allen Leichenhallen und Krankenhäusern. Der Desinfizierungsakt ist für mich ein Beleg dafür, dass die Handschuhe wohl eher zu unserem Sauberkeitsgefühl und unserer Sicherheit da sind und gar nichts mit Respekt vor dem Toten zu tun haben. Was soll’s, ich kann nicht erwarten, dass alle Menschen natürliche Dinge so selbstverständlich hinnehmen wie ich.
Anja
Meike macht sich sehr gut im Praktikum. Ihr Perfektionismus kommt gut an bei Herrn Kuckensiel. Was sie alles erzählt … es ist spannend, und viele Dinge sind auch für Karl und mich neu. Sie wird sogar auf eine Fortbildung geschickt. Es gibt ein neues Grafikprogramm für den Entwurf von Traueranzeigen, und mit dem Computer kann Meike gut umgehen. Aber dass sie auch Verstorbene abholen muss. Meike scheint das nicht zu stören. Ihre Freizeit verbringt sie vorwiegend am PC. Jetzt möchte sie, dass uns ein Mädchen besucht, dass sie in irgendeinem der virtuellen Chaträume kennen gelernt hat.
»Mama, stört es euch, wenn Miriam mich besuchen kommt?«
»Miriam?«
»Ja, ich habe doch von ihr erzählt … das Mädchen aus Bayern.«
»Und wann? Es sind doch gar keine Ferien.«
»Ja, nur zum Wochenende. Sie würde gern Köln kennen lernen und mich halt persönlich treffen.«
Mir kommt das etwas seltsam vor, so eine weite Reise nur für ein Wochenende, aber Karl und mich freut es, dass Meike wieder kontaktfreudiger ist, also stimmen wir zu.
Meike
Miriam scheint ganz nett zu sein. Und ein bisschen verzweifelt. Ich kenne sie noch nicht lange, ein, zwei Wochen vielleicht, und das auch nur übers Internet. Also kenne ich sie im Grunde gar nicht. Aber sie will weg. Weg von zu Hause. Ich kenne dieses Gefühl, wenn man fort will und nicht weiß, wohin. Ich würde ihr gern helfen. Ich kann sie bis jetzt natürlich nur sehr oberflächlich beurteilen, aber ich habe den Eindruck, sie ist eher schüchtern und ängstlich. Sie wirkt nicht wie ich, wenn ich es nicht mehr aushalte. Ich motze dann immer herum und erkläre, wieso ich wegwill. Miriam scheint nicht aggressiv zu sein, sie scheint nicht so wütend zu sein, sondern eher ängstlich. Aus welchen Gründen auch immer sie von zu Hause fort will. Wenn man wegwill, dann hat das seine Gründe und dann sollte man die Möglichkeit bekommen, fortgehen zu können. Diese Möglichkeit möchte ich ihr gern geben. Ich frage meine Eltern, ob sie vorbeikommen kann. Dass sie von zu Hause weg will, weil sie Stress mit ihren Eltern hat und so, das erzähl ich meinen Eltern erst mal nicht. Die würden mir wahrscheinlich irgendwelche Moralpredigten halten und mit ihr telefonieren wollen und versuchen, das alles durch Miteinanderreden zu klären. Das geht aber oft nicht. Quatschen nutzt nichts, wenn man sich wünscht, woanders zu sein.
Anja
Ja, das hatte ich mir doch gedacht, da steckte eine Menge mehr hinter dem Besuch von Miriam, als Meike erzählt hat. Ein Mädchen, das mit seinen Eltern zurzeit gar nicht klarkommt. Erst hatten sich die beiden im Netz nur über Miriams Verhältnis zum Essen ausgetauscht, bis dann der ganze Rattenschwanz kam, wieso, warum überhaupt. Und dass Miriams Vater das Problem zu lösen sucht, indem er sie zwingt, das Fleisch zu essen, das vor ihr auf dem Teller liegt. Hier bei uns kann ich gar nicht feststellen, dass Miriam ein gestörtes Verhältnis zum Essen hat. Natürlich haben wir gefragt, was sie mag, weil Meike ihre Schwierigkeiten angedeutet hatte. Aber Miriam sagte, sie mag alles, und das stimmt tatsächlich. Wirklich. Sie isst frohgemut und mit Appetit. Erst war ich etwas misstrauisch, ob sie vielleicht Bulimie habe, aber da gab es keine Anzeichen. Meike und Miriam sind mit ganz anderen Dingen beschäftigt. Sie wollen Miriams Problem lösen! Schließlich rückten sie auch deshalb mir und Karl gegenüber mit der Wahrheit heraus. Es wird ganz klar, dass Miriam die Situation zu Hause den Appetit verdirbt. Miriam soll Anforderungen in der Schule erfüllen, damit sie dann den Gärtnereibetrieb ihres Vaters übernehmen kann. Der Vater bestimmt sehr autoritär über Miriams Tagesablauf und ihre Lebensplanung, und die Mutter hat dem nichts entgegenzusetzen. Den Sohn hatte die Familie auf diese Weise schon vergrault. Jetzt liegen alle Hoffnungen auf Miriam. Ja, und Miriam ist nun zu Meike abgehauen. Meike, die jede soziale Ader in sich verleugnet, aber es selbstverständlich findet, anderen zu helfen, soweit sie es vermag. Jetzt wissen die beiden nicht wirklich weiter, und ich sage, gleichgültig, was passiert ist, Miriam muss ihren Eltern mitteilen, wo sie steckt. Miriam hat eine Höllenangst, retour geschickt zu werden, aber ich sage, dass das eine mit dem anderen nichts zu tun hat und erkläre mich bereit, mit der Mutter zu sprechen.
Meike
Miriam scheint es bei uns ganz gut zu gehen. Aber sie ist wirklich verdammt dünn. Hier isst sie immerhin normal – ich frage mich, ob sie das nur tut, um zu verhindern, dass man sie dazu anhält mehr zu essen und ihr damit auf die Nerven geht. Meine Eltern sind zur Arbeit. Weil ich noch einige Tage gut hatte, konnte ich für Miriam zwei Tage frei bekommen. Herr Kuckensiel hätte aber bestimmt nicht zugestimmt, wenn gerade Stress im Institut gewesen wäre. Also Glück für mich und Miriam. Meine Mutter hat versprochen, dass wir heute Mittag in Ruhe darüber reden, wie es weitergehen soll. Sie meint, wichtig sei erst einmal, dass Miriams Eltern wissen, dass es ihr gut geht. Vielleicht hat sie recht, aber die sollen sich ruhig mal Sorgen um Miriam machen, so wie die sie immer behandeln.
Miriam und ich spielen Mensch ärgere Dich nicht. Im Grunde kein besonders spannendes Spiel, aber wenn man sich dabei unterhalten möchte und das Spiel nur Nebenbeschäftigung ist, dann ist es in Ordnung. Als es klingelt, bin ich erstaunt. Ich öffne erst nur die Korridortür, es könnten die Freunde meiner Eltern sein, die gleich in der Wohnung gegenüber wohnen. Aber auf dem Flur ist niemand. Ich drücke auf den Schalter, der die Haustür öffnet, und gucke zwischen dem Geländer die Treppen hinunter, wie wir es immer machen, wenn wir nicht wissen, wer da kommt. Zwei Polizisten! Ich kann die Uniformen erkennen. Was wollen die hier? Die beiden Männer gucken mich unfreundlich an, als sie oben angekommen sind.
»Wir suchen Miriam Weiler«, sagt der jüngere Mann in barschem Ton, »sie soll hier bei euch sein. Wenn das stimmt, hole sie bitte an die Tür, sonst müssen wir reinkommen.« Der Polizist ist unhöflich. Dreist. Fordernd. Ich hasse solch einen Ton. Denken die, sie könnten sich erlauben, so mit mir zu sprechen, nur weil sie Uniformen tragen? Oder noch schlimmer: Denken die, sie könnten sich erlauben, so mit mir zu sprechen, nur weil sie erwachsen sind und ich nicht? Natürlich sage ich das nicht.
»Ja, sie ist hier.« Ich bemühe mich um einen freundlichen Ton. Das muss ich machen, sonst werden sie wahrscheinlich noch laut. Ich halte es für besser, ihnen das Gefühl zu geben, dass ich ihren Anweisungen Folge leisten werde und mich nicht gegen sie auflehnen will. Tatsächlich wird ihr Ton nun höflicher.
»Könnten wir bitte mit ihr sprechen?«
Ich bin irgendwie verwirrt. »Einen Moment bitte«, sage ich deshalb und trete zurück in die Wohnung, um Miriam zu holen. Sie steht bereits in der Wohnzimmertür. Ich versichere ihr, dass es in Ordnung ist und ich schon aufpassen werde, dass die Polizisten sie nicht einfach mitnehmen. Miriam folgt mir an die Tür. Ich stelle mich so vor Miriam, dass die Polizisten sie nicht am Arm packen und mitnehmen können, bleibe aber freundlich. Sie fragen Miriam, wieso sie von zu Hause weggelaufen ist. Ich nicke Miriam zu, dass sie ruhig antworten soll. Ich antworte nicht für sie, wenn es nicht notwendig ist. Ich antworte auf Fragen an uns beide. Ich bin angespannt und aufgeregt und nervös, wobei ich nicht glaube, dass die beiden Beamten davon irgendwas merken. Miriam erzählt glaubhaft, warum sie es zu Hause nicht mehr ausgehalten hat.
»Können wir nicht mit meinen Eltern besprechen, wie es weitergehen soll?«, frage ich anschließend. »Meine Mutter hat doch mit Miriams Mutter schon telefoniert und es so verabredet.«
Die Polizisten schauen sich an. »In Ordnung«, sagt der ältere dann, »aber nur, wenn ihr heute Nachmittag auf dem Revier erscheint und uns erklärt, wie es weitergehen soll, damit wir Miriams Eltern ausführlich Bescheid geben können.«
Mann, da bin ich aber platt, dass das jetzt so locker geht. Wir machen vier Uhr aus. Erleichtert schließe ich die Tür und wir fallen uns um den Hals.
Anja
»Die Polizei war da!«, platzt Meike heraus, noch bevor ich meine Tasche abgestellt habe.
»Was?«
Die Mädchen erzählen mir, was sie gerade eben erlebt haben, und ich bin erstaunt. Ich hatte doch mit Miriams Mutter sehr ausführlich gesprochen, und sie selbst hatte mit Miriam geredet, um zu hören, ob es ihrer Tochter wirklich gut gehe. Miriam war allerdings sehr kurz angebunden, und mit ihrem Vater wollte sie keinesfalls reden. Ich hatte den Eltern unsere Adresse und Telefonnummer gegeben, damit sie sicher waren, dass alles seine Richtigkeit hat – und als Ergebnis schicken sie uns die Polizei vorbei. Im ersten Moment bin ich ziemlich aufgebracht und denke, was ist denn das für eine Kommunikation, aber dann überlege ich mir, dass ich selbst vielleicht auch auf Nummer sicher gegangen wäre. Auf jeden Fall bin ich stolz, wie die Mädchen die Situation gemeistert haben. Immerhin konnten sich die Polizisten überzeugen, dass es Miriam gut geht, und das war vermutlich, was die Beamten herausfinden wollten. Trotzdem bleibt das Hauptproblem bestehen: Miriam will nicht nach Hause. Aber sie kann auch nicht für immer bei uns bleiben. Schließlich telefoniere ich mit dem Jugendamt und frage, wie man sich nun am besten weiter verhält. Man vermittelt mich mit der für Miriam in Süddeutschland zuständigen Stelle. Und da erschließt sich für mich eine Welt zuständiger Kompetenz, wie ich sie hier bei uns zum Schluss mit Marvin gar nicht mehr erlebt habe. Ich schildere der Frau, wie groß Miriams Angst ist, allein auf ihre Eltern zu treffen. Sie versichert sich darüber auch noch bei Miriam selbst. Dann bittet sie um etwas Bedenkzeit, um zu sehen, wie die Situation am besten zu lösen sei. Sie müsse sich auch mit Miriams Eltern in Verbindung setzen. Als ich den Hörer auflege, bin ich erleichtert. Ich habe das Gefühl, das Problem in die Hände von jemandem gelegt zu haben, der verantwortungsvoll und umsichtig handelt, und das ist ein gutes Gefühl.
Bei den Mädchen stoße ich nicht gleich auf Gegenliebe mit der ganzen Aktion, Miriam hat eine tiefe Angst vor der Rückkehr nach Hause und Meike steht natürlich hinter ihr. Aber dass sie nun zur Polizei gehen können mit der Nachricht, dass wir das Jugendamt eingeschaltet haben und mit der Rufnummer von Frau Liefen, so heißt die zuständige Dame, und dass so nun alles eine gewisse Ordnung hat, erfüllt sie mit etwas Zuversicht. Bei Miriam merkt man deutlich, dass es ihr sofort besser geht, wenn man sie in Entscheidungen einbezieht, wenn sie merkt, nichts geschieht über ihren Kopf hinweg, und ich denke, da wird wohl der Hund begraben sein bei ihr zu Hause.
Ehe ich weiter darüber spekulieren kann, klingelt schon wieder das Telefon.
Frau Liefen berichtet, dass Miriams Eltern ziemlich verärgert, um nicht zu sagen wütend sind darüber, dass das Jugendamt eingeschaltet wurde – vor allem Miriams Vater. Aber sie wollen eben auf jeden Fall, dass Miriam zurückkommt, und mit dieser Aussicht konnte Frau Liefen sie schließlich beschwichtigen. Sie hat den Eltern klargemacht, dass Miriam nicht nach Hause will, wenn alles so bleibt, wie es ist.
»Ja, aber was soll sich ändern?«, frage ich ratlos.
Und Frau Liefen hat einfach nur gute Ideen. Sie erklärt, dass sie außer Miriam natürlich noch in andere Fälle eingebunden ist, die sie zeitlich einschränken, aber wenn wir es hinbekommen könnten, dass Miriam dann und dann in München ankommt, könnte sie persönlich am Bahnhof sein und mit Miriam alles durchsprechen. Sie hätte sogar eine Unterbringungsmöglichkeit, damit sie nicht sofort in ihre Familie zurückkehren müsse.
Ich bin platt. Wenn ich bedenke, mit welchen Amtsmühlen wir schon gekämpft haben. Aber diese Geschwindigkeit ist mir auch unheimlich. Ich denke, wenn Frau Liefen doch nur im Sinne von Miriams Eltern handelt und Miriam einfach zurückgebracht wird, dann können wir von Köln aus nichts machen … Vor allem Miriams Vater ist mir nicht geheuer, denn er hatte alle Abmachungen, die ich mit Miriams Mutter getroffen hatte, in den Wind geschossen und vermutlich sogar seine Frau so weit manipuliert, dass sie uns beim zweiten Telefongespräch nur Vorwürfe machte. Ich hörte genau den Vater: »Miriam hat hier zu sein, zu gehorchen und sonst nichts!«
Wenn er Frau Liefen beeinflusste … Und bestimmt gibt es Familien, in denen es noch ganz anders zugeht, Kinderheime und Straßen sind ja voll von Kindern aus schwierigen Verhältnissen …
Ich schildere Frau Liefen meine Sorge. Ich möchte das Vertrauen, das Miriam zu Meike und uns gefasst hat, nicht enttäuschen, das wäre ja grauenhaft.
Frau Liefen beruhigt mich. Nein, nichts wird gegen Miriams Willen geschehen, und Miriam kann uns doch gleich anrufen von München aus, dass alles so ist, wie Frau Liefen es versprochen hat.
Meike
Das geht gar nicht. Miriam soll schon morgen zurückfahren. Die Frau vom Amt macht uns bestimmt nur etwas vor. Das denkt Miriam auch, und sie hat den absoluten Horror. Sie will schon wieder abhauen und ganz woanders hinfahren, Hauptsache nicht nach Hause. Sie weint, weil sie dachte, sie könnte noch bei uns bleiben. Wieso ist sich Mama nur so sicher, dass alles mit rechten Dingen zugeht? Dass alles in Miriams Sinn ablaufen wird? Ich weiß gar nicht, was ich machen soll. Miriam liegt auf meinem Bett und heult sich die Augen aus dem Kopf. Sie ist ganz anders als ich. Sie spricht wenig und leise. Ich schrei immer gleich herum, wenn mir etwas nicht passt. Meine Mutter ermahnt mich dann, ich soll ordentlich reden, aber das kann ich manchmal einfach nicht. Wenn ich wütend bin oder ich mich im Recht fühle und meine Mutter das nicht einsieht, platzt der Ärger ungefiltert aus mir heraus. Frau Hendricks meint, ich hätte früher nicht gelernt, meinen Unmut oder mein Traurigsein auszudrücken, und deshalb äußere ich diese Gefühle heute oft noch unangemessen. Ich finde das schwierig, wenn man sich nicht unter Kontrolle hat. Miriam hat das wohl auch nicht gelernt zu sagen, was ihr nicht passt, aber sie spricht so, dass man fast nichts hört. Ich bin beinah froh, dass es an der Tür klopft (sonst nervt mich das meistens). »Herein«, sage ich, und meine Mutter kommt ins Zimmer.
»Darf ich mal mit Miriam sprechen?«, fragt sie vorsichtig. Miriam setzt sich auf und wischt sich die Tränen ab. Sie nickt.
Anja
Mein Gott, das war nicht leicht, Miriam zu überzeugen, dass es alle gut mit ihr meinen. Meine einzige Angst ist jetzt, mich in Frau Liefen getäuscht zu haben. Aber ich habe Miriam fest versprochen, dass wir zu ihr kommen, wenn man uns belogen hat. Natürlich hoffe ich, dass das nicht nötig ist. Und ich glaube es auch nicht. Ich vertraue Frau Liefen. Miriam wird ihren Eltern nicht allein gegenüberstehen, und sie wird auch nicht gezwungen werden, mit ihnen nach Hause zu gehen, wenn sie es nicht will. Daran glaube ich, als wir Miriam verabschieden. Ich nehme sie zum Abschied fest in den Arm. Als die Mädchen sich umarmen, haben sie beide Tränen in den Augen. Ich bin froh, dass ich zur Schule muss, denn wir werden erst heute Nachmittag erfahren, wie es wirklich ausgeht.
Meikes Tagebuch
Verräter
Es gibt so viele Menschen, die einmal – oder auch mehrmals – in ihrem Leben an einen Punkt kommen, an dem sie nicht weiterwissen, an dem sie nicht weiterkönnen. Sie verzweifeln an der Gesellschaft und dem System, das sie erschaffen hat. Sie hoffen auf Veränderungen und auf Hilfe, hinaus aus der Ungewissheit und den Schmerzen. Neben ihrer Verzweiflung sammelt sich Hass, Hass auf jene, die diese Regeln gemacht haben, und auf jene, die dafür sorgen, dass sie bestehen bleiben. Er ist da, dieser unglaubliche Hass und diese brennende Wut. Sie beginnen sich aufzulehnen, versuchen, die Dinge zu ändern. Doch sie befinden sich in einem Zustand der Schwäche, der Zerbrechlichkeit. Sie wissen, dass etwas geändert werden MUSS, doch sie können nichts ausrichten. Manche kommen über diese Krise nicht hinweg, bleiben stecken, einige suchen ihre Ruhe im Tod. Die aber, die es schaffen, die diese Zeiten überstehen, machen es nicht besser. Ihre Vorwürfe sind wie weggeblasen. Sie gliedern sich ein in dieses unmenschliche System, als hätten sie niemals Leid erfahren. Sie kümmern sich nicht mehr um das, was war. Sie haben nun das erreicht, was sie wollten, haben ihr eigenes kleines Leben gerettet, das reicht ihnen. Dass andere dieses Schicksal ebenso ertragen müssen, wie sie es mussten, ist ihnen gleichgültig … letztendlich ist es nur eine Phase, die man nun einmal zu bewältigen hat; diejenigen aber, die daran zugrunde gehen, werden nicht beachtet oder gelten als besonders labil. Jene Menschen also (nicht ALLE), die die schlechten Zeiten überwunden haben, scheren sich nicht um die ehemaligen Leidensgenossen. Sie spucken ihnen noch ins Gesicht … und verschwinden in der Masse, die sich so unmenschlich präsentiert …
Anja
Alles ist so geschehen, wie Frau Liefen es versprochen hat. Sie hat Miriam abgeholt. Sie hat mit den Eltern gesprochen. Für Miriam ist eine Familienhilfe geplant, die sie begleitet, die hilft, dass Miriam sich in ihrer Familie wieder wohlfühlt. Und bis diese Begleitung feststeht, ist Frau Liefen Miriams Ansprechpartnerin, an die sie sich jederzeit wenden kann. Ich bin so dankbar, dass mein Gefühl mich nicht getrogen hat. Frau Liefen ist genau so verlässlich, wie sie von Anfang an gewirkt hat. Meike ist sichtlich erleichtert nach Miriams Anruf. Sie hatte solche Angst davor, dass alles nur Gerede war.