1. KAPITEL
Meike
Ständig werde ich bewertet. Von morgens bis abends. Ob von meiner Familie, von Freunden oder Lehrern oder wildfremden Personen. Sie haben alle Kriterien zur Bewertung meiner Person. Kriterien zu Äußerlichkeiten, Leistungen bis hin zu meinem Selbst. Zu dick, zu dünn, zu normal, zu hässlich, zu schwach in Mathematik, zu viel Furcht, vom Kunstrad zu fallen, zu viel Angst, um einen Fortschritt machen zu können, zu verwöhnt, zu aggressiv. Sie bewerten mich nicht nur, sie stellen zudem Anforderungen. Würde ich ihre Erwartungen erfüllen, würde ihre Bewertung besser ausfallen.
Am schlimmsten sind die Erwachsenen. Meine Eltern, vornehmlich meine Mutter. Sie hat die Erwartung, ich müsse süß sein, nett, freundlich, höflich, ich soll ein Püppchen sein und mich brav hersetzen bei Familienfeiern, lieb ausschauen, ein Gedicht aufsagen, einen Sketch aufführen, Geige vorspielen. Ich soll eine Leistung erbringen, was sollte ich sonst auf einem Familienfest, wenn nicht mich und die Familie anständig präsentieren? Familienfeste scheinen für sie nur dazu da, den anderen zu zeigen, wie wundervoll alles ist: meine kleine perfekte blonde Tochter neben meinen anderen Kindern, allesamt ebenfalls perfekt. Versteht sich.
Neben meiner Mutter ist mein Vater kaum zu bemerken. Meine Mutter ist aussagekräftig in ihrer Person, wenn meine Mutter da ist, ist nur sie da, meinen Vater nehme ich nicht wahr.
Neben meiner Mutter stehen an meines Vaters Stelle die Lehrer. Allen voran meine Deutsch- und Französischlehrerin. Gute Noten zu schreiben ist eine Voraussetzung für gesellschaftliche Akzeptanz. Ich kann nicht immer gute Noten schreiben. Aber ich brauche die Akzeptanz und die Anerkennung der Gesellschaft, anderer Menschen. Für meinen Trainer im Sportverein, Heinz Steffen, ist es sein Job, mich zu kritisieren. Seit meinem achten Lebensjahr fahre ich Kunstrad. Damals hat es mir noch Spaß gemacht. Ich konnte die Übungen oft schon beim ersten Mal fehlerfrei fahren. So, als würden Kunstradfahren und ich zusammengehören.
Jetzt bin ich älter und langsamer darin, neue Dinge zu erlernen. Aber das geht nicht! Ich muss kontinuierlich besser werden. Denn es gibt Pokalfahren, ich muss mein fünfminütiges Programm vorführen und es muss schwieriger sein als beim vorherigen Turnier. Sonst bekomme ich Stress, Stress mit Herrn Steffen, der auf mich baut, weil ich in unserem Verein die beste Fahrerin meiner Altersklasse bin. Mein Trainer erwartet von mir, dass ich stets konzentriert und ohne Angst bei der Sache bin und dass ich nicht immer wieder die gleiche Abfolge fahre, selbst wenn Routine gut ist; ich soll neue Kunststücke versuchen. Aber diese Übungen will ich nicht machen, sie funktionieren nicht, und einige machen mir regelrecht Angst. Vor allem der Lenkerstand. Dazu muss ich auf den Lenker klettern und schließlich mit den Füßen auf den Griffen stehen. Wenn man mir nur Zeit ließe. Ich gehe nicht mehr gern zum Kunstradfahren. Ich kann das Pokalfahren nicht nur nicht leiden. Ich hasse es. Ich habe Angst davor, Fehler zu machen, mir ist es peinlich, vor anderen Leuten überhaupt auf meinem Rad zu sitzen, und wenn ich dann auch noch hinunterfalle … Ich kann es nicht leiden, wenn diese Menschen mich anstarren und mir nichts anderes übrigbleibt, als in ihren Augen zu lesen, dass ihre Bewertung schlecht ausfällt, dass ich mies bin und doch lieber absteigen sollte, um dem Trauerspiel ein Ende zu machen. Ich hasse Pokalfahren auf den Tod. Und nein, Mama, du hast unrecht, wenn du sagst, dass es mit jedem Mal besser wird, dass die Aufregung mit jedem Mal etwas schwächer sein wird. Mama, es wird schlimmer, ich ertrage es kaum noch und habe eine höllische Angst vor diesen Wettkämpfen. Hörst du mir nicht zu, wenn ich mit dir rede? Nein? Wieso auch? Du siehst nur meine Leistungen, du hörst nur, wie die anderen Menschen über mich urteilen. Mich siehst und hörst du nicht. Und natürlich muss ich am Wochenende zum Turnier.
Anja
»Das wird nichts, wir blamieren uns!«, höre ich Meike auf der Rückbank zischen. Im Rückspiegel sehe ich ihren erbosten Blick. Sie sitzt zwischen Marvin, unserem Pflegesohn, der mit seinem Gameboy beschäftigt ist, und Carina, ihrer besten Freundin.
»Aber ist doch nicht so schlimm«, versucht Carina sie zu beruhigen. »Wir versuchen es und gut.«
»Nein, es ist peinlich!«
Darauf erwidert Carina nichts mehr. Sie weiß anscheinend auch, wann es bei Meike besser ist, den Mund zu halten. Karl und ich äußern uns nicht zu dem Thema. Warum auch Öl ins Feuer gießen? Meike ist einfach nicht davon zu überzeugen, dass man Fehler machen darf. Dabei ist sie eine der besten auf dem Kunstrad und patzt nur selten. Ich versuche, mich auf das Fahren zu konzentrieren.
Wir sind unterwegs zum dritten Pokalfahren der Saison. Diesmal nach Duisburg. Insgesamt finden sechs Turniere statt, am Ende steht dann der Landespokalsieger jeder Altersklasse fest, die besten machen später bei den Wettkämpfen um den Bundespokal mit. Bei jedem der Turniere ist ein anderer Verein Ausrichter der Veranstaltung. Das bedeutet, die Eltern der Aktiven backen und kochen und sorgen für das leibliche Wohl der Gäste. Heute sind wir Gäste und können gemütlich zuschauen, herumspazieren und Kaffee trinken. Schon die ganze Woche habe ich mich auf unseren Familienausflug gefreut. Sonst machen wir nur noch selten etwas zu viert. Aber zu Meikes Turnieren kommt selbst Marvin mit, der sich seit einiger Zeit von uns abschottet. Er kennt die Leute aus dem Verein, denn die Jugendfreizeiten für die Sportler sind auch für die Geschwisterkinder offen, und bei Festen feiern die ganzen Familien zusammen. Außerdem sind Marvin und Karl seit letztem Sommer in der Radballabteilung des Sportclubs aktiv. Ich hoffe, dass Marvin sich Karl anvertraut, wenn ihn etwas bedrückt, denn mit mir scheint er zurzeit seine Probleme zu haben. Genau wie Meike.
Aber war das mit Jonas und Anna, meinen Kindern aus erster Ehe, nicht ähnlich? Ist das nicht ganz normal in der Pubertät? Marvin ist fast fünfzehn und Meike zwölf. Das sind nun mal die schwierigen Jahre … Die Großen, Jonas und Anna, sind elf und acht Jahre älter als Meike und beide bereits ausgezogen. Noch vor wenigen Jahren waren wir eine richtige Großfamilie. Wie lange hat es früher bei einem Ausflug gedauert, bis alle Kinder und Sachen im Wagen verstaut waren und wir endlich abfahren konnten … Mit Kindern leben, diese Lebensvorstellung hat Karl und mich von Anfang an verbunden.
Wie glücklich waren Karl, Jonas, Anna und ich, als Meike, unser Nesthäkchen, geboren wurde. Für Jonas war es das reine Wunder, er hatte gerade Sexualkunde in Biologie gehabt, und mit der Entstehung des neuen Lebens im Schulunterricht kam zeitgleich Meike zur Welt. Zu Hause wollte jeder zuerst an ihrem Bettchen sein, wenn sie brüllte. Am siegreichsten ging aus diesem Wettstreit meist Anna hervor, worüber Jonas oft richtig ärgerlich war. »Immer nimmt Anna Meike!«, schimpfte er sichtlich entrüstet, wenn Anna das kleine Schwesterchen stolz auf dem Arm herumtrug. In den wenigen ruhigen Momenten wunderte ich mich wie schon damals bei meinen beiden Großen, dass da plötzlich ein neues Leben ist. Man sitzt in seinem Sessel, und ganz unvermittelt fällt einem ein, dieser neue kleine Mensch gehört zu einem. Dieses glückliche Gefühl bringt einen dazu, an die Wiege zu treten, sanft die zarte, helle Babyhaut zu berühren und sich zu versichern, dass auch alles in Ordnung ist. Meike war von Anfang an ein neugieriges und aufgewecktes Baby, das die meisten Entwicklungsschritte ein wenig schneller als die anderen Kinder machte. Natürlich gab es wieder die durchwachten Nächte, und die Bewegungsfreiheit, die wir sechs Jahre mit Jonas und Anna genossen hatten, wurde mit einem Baby naturgemäß etwas eingeschränkt, aber rückblickend kann ich uns nur als eine glückliche Familie bezeichnen. Als dann vor neun Jahren Marvin zu uns kam, dachte ich, dieses Glück würde perfekt, wenn wir es mit einem Kind teilen dürften, das sich vor allem das wünschte: eine Familie.
Meike
Warum versteht mich denn niemand? Merkt denn gar keiner, dass ich dem Druck beim Kunstradfahren nicht mehr standhalten kann? Stattdessen sehen mich alle erwartungsvoll an. Zu allem Überfluss habe ich gestern auch noch meine Tage bekommen, zum dritten Mal überhaupt. Dabei war ich im ersten Moment froh, andere Mädchen hatten ihre Menstruation längst. Aber es war auch ein Schock. Ich war so überrascht, dass ich nach meiner Mutter gerufen habe. Beim Anblick der blutigen Unterhose hat sie kurz das Gesicht verzogen, mich dann aber beruhigt. Ein verschmutztes Höschen ist kein schöner Anblick, klar. Aber ihr Blick hat mich gestört. Selbst wenn sie nachher gesagt hat, dass es völlig normal sei, so hat sie doch zuerst das Gesicht verzogen. Was kann ich dafür, dass ich anfange da unten zu bluten. Ich kann nichts für meinen beschissenen Körper. Aber ich muss mich damit abfinden, es gehört eben zum Erwachsenwerden dazu.
Beim Sport ist das etwas anderes, da gehören blutige Unterhosen nicht hin. Und ich verzweifle, wenn ich trainieren muss und meine Tage habe, ich will sie nicht dabei haben. Ich muss auf dem Fahrrad sitzen und Kunststücke versuchen, während ich da unten blute und mir mein Trainer zuruft, was ich zu tun habe. Ich weiß nicht, woher das Gefühl kommt, aber seitdem ich blute, ist es schlimmer, nicht einfach schlimmer in einer Weise, in der es vorher schon schlimm war, sondern zusätzlich auf eine andere Weise schlimm, wodurch das Ganze eben schlimmer wird. Schlimm + Schlimm = Schlimmer, um es kurz auszudrücken. Ich fühle mich ekelhaft. Neben dem Gefühl, unter Druck gesetzt zu werden, Leistung zu erbringen, fühle ich mich auch noch ekelhaft.
Anja
Wir sitzen erwartungsvoll auf der Tribüne – Karl, Marvin und ich. Wir sitzen zwischen Ulla, der Mutter von Carina, und den Müttern von Sine und Tanita, den beiden Mädchen, die mit Meike und Carina den Vierer fahren. Nur wenige Vereine stellen in dieser Altersklasse einen Vierer im Kunstradfahren. Das heißt, Meike und ihre drei Mitfahrerinnen erreichen in jedem Fall eine Platzierung. Das ärgert Meike, sie will einen Preis nur, wenn sie ihn verdient hat, und nicht, weil nur so wenige Teilnehmer da sind. Der Trainer und die anderen Kinder sind stolz, dass sie in so kurzer Zeit ein Programm zusammenstellen und einüben konnten. Aber Meike unkt weiter herum. »Das wird eine Riesenblamage!«, prophezeit sie noch einmal, bevor sie mit ihren Kameradinnen hinunter in die Halle muss. Die Startnummer des Teams steht bereits auf der Anzeigetafel, als die vier Mädchen ihre Räder holen und sich auf dem Startfeld in Position bringen. Gleich wird die Musik anfangen, und bei der ersten Bewegung der Kinder setzen die Zeitnehmer die Uhren in Gang. Start! Die ersten Runden laufen wunderbar. Keine Fehler bei den Einzelübungen und ziemliche Harmonie beim Kreisen und Parallelfahren. Aber dann! Wie schade! Sine setzt einen Fuß auf den Boden, und dieser Augenblick zieht eine Kettenreaktion nach sich wie beim Domino Day. Die Gruppe kommt völlig durcheinander, eine nach der anderen strauchelt und eiert herum. Erst kurz bevor die Zeit ganz abgelaufen ist, finden die vier wieder zusammen und können ihre Kür ordnungsgemäß abschließen. Ich sehe Meike an, wie zornig sie ist. Mit steifen Schritten verlässt sie das Feld, stellt ihr Rad ab und verschwindet aus der Halle. Nachdem sie gar nicht mehr auftaucht, beuge ich mich über die Brüstung und winke Carina heran.
»Wo ist denn Meike?«, frage ich.
»Auf der Toilette. Wir waren schon da und haben an der Tür geklopft, aber sie kommt nicht raus.« Carina zuckt hilflos die Achseln.
Ich reibe mir die Stirn, etwas Ähnliches habe ich befürchtet. Ich sage Karl Bescheid und will zu Meike, aber Karl hält mich zurück. »Lass mal, ich mach das schon. Ihr geratet doch nur wieder in Streit.« Ich muss ihm recht geben. In letzter Zeit reagiert Meike oft empfindlich, selbst wenn ich ihr nur gut zureden möchte. Also setze ich mich und warte, was Karl ausrichten wird.
Meike
Ich wusste doch, dass alles schiefgeht! Ich könnte schreien. Ich wusste, dass Sine das nicht rafft. Warum hört keiner auf mich? Ich möchte nicht gemein zu Sine sein, aber ein guter Trainer muss doch sehen, dass das alles nicht funktioniert. Ich fühle mich schlecht, schlecht, schlecht! Und einfach aus der Halle rennen. Wie peinlich ist das denn? Jetzt sagen, dass ich meine Tage habe, hört sich an wie eine blöde Ausrede. Eine blöde, hinterhergeschobene Entschuldigung für mein Benehmen.
Ich hocke auf der Toilette und weiß, dass die Binde in meiner Unterhose mit Blut getränkt ist. Ich fühle mich zum Kotzen. Auf einmal höre ich dumpf die Stimme meines Vaters. Er will mit mir sprechen, fragt, was los sei. »Ich höre auf Kunstrad zu fahren«, sage ich. Aber er versteht mich nicht. »Ich höre auf Kunstrad zu fahren!«, sage ich noch einmal lauter. Das hat er verstanden. Er bittet mich endlich herauszukommen, damit wir besser reden können. Widerwillig schließe ich die Toilettentür auf. Mein Vater lehnt im Rahmen der Tür, die nach draußen führt und sieht ganz traurig aus. »Wieso willst du denn so plötzlich nicht mehr fahren? Du warst doch immer so gut … Heute hattet ihr Pech.« Ich kann ihm nicht sagen, warum ich es nicht mehr will, und ich will es auch nicht sagen. »Du bist doch immer so gern zum Training gegangen und hast dich auf die Turniere gefreut. Warum ist denn plötzlich alles anders?«
Ich zucke mit den Schultern. Insgeheim bin ich dankbar, dass mein Vater da ist und nicht meine Mutter, denn sonst säße ich nächstes Jahr noch in der ungemütlichen Toilettenkabine der Sporthalle und würde mir anhören müssen, aus welchen Gründen ich gern weiter Rad fahren würde.
Ich höre also mit dem Kunstradfahren auf, und das ist einfach nur gut.
Anja
Warum meint Meike immer, dass sie perfekt sein muss? Allein, dass sie Kunstrad fahren kann, ist doch bemerkenswert. Aber nein, der Misserfolg vom letzten Sonntag hat ihr jede Motivation genommen. Ist ja wunderbar gelaufen das Gespräch zwischen Karl und Meike. Nach dem Turnier eröffnet Karl mir, Meike wolle den Sport aufgeben. Genauso, wie sie das Geigespielen aufgegeben hat. Ich verstehe es nicht. Wieso hat sie keinen Spaß mehr an den Dingen, die sie mit so viel Freude begonnen hat und für die sie nach Aussage von Trainer und Musiklehrerin eindeutig Talent mitbringt?
Ich bin ratlos. Ich selbst habe als Jugendliche den Sport auch geschmissen, aber mit sechzehn. Meike ist gerade mal dreizehn. Wie soll das denn weitergehen? In die Schule geht sie auch nicht gern … Aber Meike wird schon nicht so dumm sein wie ich und sich durch Schwänzen das Abi vermasseln. Damals, das waren auch ganz andere Umstände. Ich hatte immer das Gefühl, mein Vater liebt mich nur, wenn er stolz auf mich sein kann. Seine Erwartungen haben mir die Luft zum Atmen genommen. Meinen Bruder, der an den Rollstuhl gebunden war und eine Hauptschule besuchte, hat er ignoriert. Und so habe ich meine bewundernswerten Aktionen irgendwann abgebrochen und die Aufmerksamkeit meines Vaters von mir genommen.
Aber bei Meike ist doch alles anders. Ihr Vater liebt sie ohne Einschränkung. Familie und Freundeskreis meinen einhellig, er verwöhne unsere Jüngste, wenn es auch nicht immer lobend gemeint ist. Außer den Großeltern und unseren besten Freunden halten die meisten Verwandten und Bekannten Meike für ein verzogenes Mädchen. Sie kann aber auch bockig sein …
Ach, was mache ich mir so viele Sorgen um Meike, unser Problemkind zurzeit ist eindeutig Marvin. Seit nicht mehr Frau Lange, sondern Frau Bast unsere Betreuerin im Jugendamt ist und bei Marvin die Pubertät offenbar voll durchschlägt, steckt Karls und meine Beziehung zu ihm eindeutig in der Krise. Meike hält nach wie vor in schwesterlicher Solidarität zu ihm. Dabei hat sie oftmals zurückstecken müssen, seit er bei uns ist. Die meisten kennen Marvin nur als stillen und hilfsbedürftigen Jungen, sodass man eher ihm als Meike die Stange hielt, wenn es zum Streit kam. Meist hatte bei Familienfeiern Meike den Schwarzen Peter. »Nun lass doch den Marvin in Ruhe Klavier spielen!«, fuhr die wohlmeinende Tante Marianne Meike an, als diese ebenfalls auf dem Klavier in einer Gaststätte klimpern wollte.
Marvin muss auch tatsächlich viel durchgemacht haben, bevor er im Alter von sechs Jahren zu uns kam. Er wollte jedoch nie darüber sprechen und wir wissen nicht viel über seine ersten Lebensjahre. Ich hatte gehofft, dass ihm unser Zusammenleben Halt gibt und er sich irgendwann öffnet. Stattdessen macht er seit einiger Zeit in der Schule und zu Hause nur noch, was er will, genau genommen seit dem ersten Hilfeplangespräch mit Frau Bast vom Jugendamt. Seitdem ist er verändert.
Meike
»Gewonnen!« Ich setze mein Figürchen auf den Zielpunkt und grinse Marvin an. Der sitzt wie meist im Schneidersitz und räumt gleichmütig das Verrückte Labyrinth zusammen. Das finde ich gut an meinem Bruder, Verlieren macht ihm nichts aus, obwohl er sich natürlich mehr freut, wenn er gewinnt, genau wie ich. Ich ziehe mir das Handtuch vom Kopf, das ich immer als Turban aufsetze, wenn ich mir die Haare gewaschen habe.
»Was machen wir denn noch, bis Lena kommt?«
Marvin zuckt die Achseln. »Ist doch nicht mehr viel Zeit.«
»Also, ich föhn mir die Haare und dann … dann spielen wir Lena einen Streich.«
»Deiner Freundin?«
»Na, nichts Schlimmes, irgendwas Lustiges.«
Während ich mir die Haare föhne, habe ich eine Idee.
»Weißt du was«, rufe ich aus dem Badezimmer, »wir verkleiden uns!«
»Okay!«, ruft Marvin. Ich wusste, dass er dazu Lust hat. Verkleiden war eins unserer Lieblingsspiele, als wir kleiner waren. Das haben wir schon lange nicht mehr gemacht.
»Also«, erkläre ich, als ich zurück in Marvins Zimmer bin, »wir spielen du bist ich und ich bin du.«
»Wie soll das denn gehen?«
»Na, du ziehst einfach ein paar Klamotten von mir an und bindest ein Handtuch um den Kopf. Lena weiß doch, dass ich das nach dem Haarewaschen immer mache.«
Marvin findet Gefallen an der Vorstellung: »Au ja, und weil ich mit dem Rücken zur Tür am Schreibtisch sitze, merkt sie erst mal nix.«
»Und ich ziehe etwas von dir an und setze vor allem eine Baseballkappe auf. Gut, dass die Schreibtische zum Fenster stehen …«
Ich muss richtig lachen bei der Vorstellung, was Lena wohl macht, wenn Marvin sich dann umdreht. Marvin springt auf und wir wühlen im Schrank nach den passenden Sachen. Er bekommt eine schicke Schlaghose mit Stickerei am Hosenbein und ein langärmliges graulila Hemd.
»Ah, wunderschön. Steht mir das nicht toll?«, fragt er mit hoher Stimme. Ich muss schon wieder lachen und ziehe einfach die Klamotten an, die er gerade auf den Boden geworfen hat, dazu schnapp ich mir ein Käppi von der Garderobe und verstecke meine Haare darunter. Marvin holt sich ein Handtuch und versucht es kunstvoll um seinen Kopf zu schlingen, es gelingt aber nicht ganz, beim ersten Versuch rutscht es von seinem Kopf und beim zweiten sieht er nichts mehr; wir lachen beide.
»Warte mal, also … Kopf runter … so …«
»Wunderbar!«, ruft er aus wie Cruella De Vil aus 101 Dalmatiner, als er sich im Spiegel bewundert. Da klingelt es.
»Schnell, setz dich hin, ich mach die Tür auf.« Ich flitze zur Korridortür und drücke auf, dann sprinte ich zurück in Marvins Zimmer und lasse mich auf seinen Schreibtischstuhl fallen. Es kann ganz schön spannend sein, darauf zu warten, dass jemand die Treppen bis zu uns in der 3. Etage hinaufkommt. Ich muss so aufpassen, dass ich nicht jetzt schon lache. Ob Lena den Schwindel wohl gleich bemerkt?
»Hallo!«, höre ich Lena rufen, als sie in der Korridortür steht. Ich tue so, als schreibe ich gerade etwas.
»Ich bin in meinem Zimmer«, höre ich Marvin mit verstellter Stimme sagen.
Lena geht durch den Flur in mein Zimmer.
»Hey, Meike, alles klar?«, fragt sie Marvin.
»Ja, klar, alles super und bei dir?«
»O mein Gott!«, höre ich als Nächstes und muss sofort anfangen zu lachen. Auch Marvin höre ich losprusten. Kurz drauf, als ich zur Tür meines Zimmers gehe, stimmt auch Lena mit ein. »O mein Gott!«, wiederholt sie nur und lacht. »Oje, o Mann, ich hab mich total erschrocken!«
Marvin und ich gucken uns mit breitem Grinsen an, wir hätten beide nicht gedacht, dass der Plan so gut funktioniert. »Ich dachte wirklich, du würdest dort sitzen, Meike«, sagt Lena kopfschüttelnd. »Marvin, ich meine du, er saß ja auch in seinem Zimmer am Schreibtisch, ich dachte echt, dass du er …« Sie zeigt abwechselnd auf mich und auf Marvin, der sie immer noch breit angrinst.
»Du hast total entsetzt ausgesehen«, sagt er.
»Ja, das war ich auch! Ich hab den Schock meines Lebens bekommen. Wie in einem Horrorfilm. Wenn jemand einer bekannten Person von hinten die Hand auf die Schulter legt, und dann dreht die sich plötzlich um und man schaut in ein ganz anderes Gesicht. Total gruselig, ihr Doofen, ihr!«
Marvin ist mein Bruder. Er gehört zu mir. Er gehört zu mir, wie Jonas zu Anna und Mama zu Papa gehört. Er ist zwei Jahre älter als ich, er ist MEIN großer Bruder, nicht Jonas’, nicht Annas und schon gar nicht Mamas oder Papas. Ich liebe meinen Bruder, wir spielen miteinander und wir streiten miteinander. Meistens spielen wir, und dabei entsteht der Zank, aber das macht nichts, das gehört dazu. Ich bin dreizehn und gehe aufs Gymnasium, mein Bruder besucht die Realschule. Er hat andere Freunde als ich und manche seiner Freunde finde ich doof. Ich habe viele Freundinnen und wir machen Mädchensachen, und mein Bruder macht mit seinen Freunden Jungensachen, da gibt es nun einmal nicht viele Gemeinsamkeiten. Ich finde das nicht schlimm. Nur weil er andere Freunde hat und mit denen mehr macht als mit mir, bleibt er ja immer noch mein Bruder – und das ist die Hauptsache.
Mama und Papa haben in letzter Zeit vermehrt Streit mit Marvin. Ich halte mich meist raus, bin sowieso lieber für mich, außer wenn ich mich vorher mit Marvin gestritten habe, dann versuche ich, ihm noch eins reinzuwürgen, oder wenn es vorher Zoff mit meinen Eltern gab, dann verteidige ich meinen Bruder.
Anja
Dieses erste Hilfeplangespräch mit Frau Bast steckt mir jetzt noch in den Knochen. Alles hatte ich ihr vorher am Telefon erzählt: Marvins körperliches Unwohlsein dem Jugendamt gegenüber, denn Jugendamt bedeutete für Marvin fort von der Mutter und ins Kinderheim, fort von seiner Oma, die ihn aus dem Heim herausholte und sich später überfordert fühlte, also immer aus seiner gewohnten Umgebung herausgerissen zu werden. Brüche. Ich hatte Frau Bast auch erzählt, dass alle Angebote von unserer Seite, seine Mutter zu suchen, von Marvin abgewehrt worden waren. Gut, dachten wir, das hat dann Zeit, bis dieser Wunsch von ihm ausgeht. Und was fragt ihn diese Frau bei dem ersten Gespräch unvermittelt: »Möchtest du deine Mutter sehen?«
Ich sehe Marvin jetzt noch vor mir, abwechselnd rot und blass werdend, bis er zögernd antwortet: »Jjjja, vielleicht.« Dabei kannte Frau Bast den Aufenthaltsort von Marvins Mutter zu diesem Zeitpunkt nicht einmal.
Seit diesem Gespräch im Herbst geht alles schief. Vor dem Treffen mit Frau Bast hatte Marvin keinen einzigen Fünfer in seinem Versetzungszeugnis, danach, auf dem Halbjahreszeugnis, waren es neun! Neun Fünfer. In seinem Zimmer finde ich seitdem genau wie früher, als er gerade zu uns gekommen war, ständig kaputte Sachen. Zerbrochene Bleistifte und Lineale, zerfetzte Hefte, zerstörtes Spielzeug. Und er vernachlässigt seine Ratte Nelly, der er sonst viel Zärtlichkeit entgegenbrachte. Zu allem, was wir sagen, sagt er zwar ja, aber es scheint nichts wirklich zu ihm durchzudringen. Vor dem zweiten Hilfeplangespräch schreibe ich deshalb einen Brief an das Jugendamt zu Händen Frau Bast. Ich schildere die Situation und weise vorsichtig auf den Zusammenhang hin, den ich zwischen dem ersten Gespräch und Marvins Talfahrt sehe. Es kommt keine Antwort auf den Brief. Beim nächsten Termin im Amt meint Frau Bast ironisch zu ihren Kollegen: »Frau Abens ist ja der Ansicht, wir wären schuld an Marvins schlechten Schulleistungen. Ich denke, die Realschule war von Anfang an eine Überforderung für ihn. Was meinst du, Marvin?«
Marvin zuckt die Achseln, und ich bin sprachlos.
Meike
Diese Frau Bast hat sie doch nicht mehr alle. Die tut so, als wären wir gar nicht da. Frau Lange hat immer mit uns allen gesprochen. Aber Frau Bast will nur mit Marvin sprechen. Mama, Anna und ich sitzen auf dem Balkon und warten, während Frau Bast und ihre Kollegin mit Marvin in seinem Zimmer sind. Was wollen die überhaupt von ihm? Mama meint, das sei in Ordnung, die wollten eben auch mal allein mit ihm sprechen. Na, dann hätte ich zu Carina gehen können. Oder möchte Frau Bast später noch mit uns sprechen? Nee, von wegen.
»Wir sind jetzt fertig.« Marvin steht in der Balkontür. »Die wollen sich verabschieden.«
Ich sehe, wie erstaunt Mama ist.
»Sie wollen keinen Kaffee trinken?«, fragt sie.
Marvin zuckt die Schultern. »Weiß nicht.«
Mama steht auf und geht in die Wohnung. Marvin lässt sich auf die Bank fallen.
»Was wollten die denn?«, fragt Anna.
»Ach, wie’s mir so geht und so …« Marvin grinst schief, genauso wie immer, wenn er nicht wirklich weiß, was er sagen soll. »Weiß auch nicht, total überflüssig …«, murmelt er noch. Ich verstehe ihn kaum, ist mir jetzt aber auch egal, den Nachmittag kann man voll vergessen.
Anja
Ich kann nicht mehr. Herrn Sänger, Marvins Klassenlehrer, geht es ähnlich. Er steht kurz vor der Pensionierung und wirft das Handtuch. Mit Tränen in den Augen gesteht er: »Das hätte ich nicht gedacht, dass ich das vor dem Ruhestand noch erleben muss. Marvin ist der erste und einzige Schüler, bei dem ich aufgebe. Ich weiß nicht mehr weiter.« Mir ist übel. Herr Sänger ist einer der verständnisvollsten und hilfsbereitesten Lehrer, die mir in der Schullaufbahn unserer vier Kinder begegnet sind.
Was ist mit Marvin bloß los? Nichts geht mehr, weder in der Schule noch zu Hause. Vom Jugendamt ist keine Hilfe zu erwarten. Im Gegenteil, Frau Bast ist generell für die Rückführung von Pflegekindern in ihre Kernfamilien, die Pflegefamilien interessieren sie nicht. Nur leider hat Marvins leibliche Mutter keinerlei Lebensperspektive und damit auch keine Möglichkeit, ihn bei sich aufzunehmen. Ich mache mir schreckliche Sorgen um die anderen Teile des völlig aus dem Gleichgewicht geratenen Familienmobiles. Ich wache schon mit Magendrücken auf, Karl hat Horror, nach der Arbeit nach Hause zu kommen, in der Erwartung immer neuer Katastrophenmeldungen. Die Großen verstehen die Situation nicht mehr, wenn sie uns besuchen, und Meike hält sich im Hintergrund, obwohl sie die Auseinandersetzungen zwischen Marvin und uns hundertprozentig mitbekommt. Was sollte sie auch machen? Sie liebt uns und ihren Bruder. Das Schlimmste ist, dass ich Marvin nichts mehr glauben kann. Das ist auch für Herrn Sänger das große Problem. Die Unwahrheit ist Marvins Schutzschild. Wenn er etwas angestellt hat, kommt es nur auf Umwegen ans Tageslicht und wiegt dann umso schwerer. Selbst sein engster Freund meldet sich nicht mehr bei uns. Mein Vertrauen ist dahin. Inzwischen geht es so weit, dass ich und Karl nicht mehr in Ruhe das Haus verlassen können, obwohl Marvin und Meike in einem Alter sind, wo andere Eltern selbstverständlich ausgehen. Seine Zerstörungswut macht uns Angst. Es ist kein Zustand mehr, weder für uns noch für ihn. Ich bin keine Psychologin, aber ich glaube, er ist mit unserer Art emotionaler Bindung überfordert. Er wirkt wie die berühmte Walnussschale, die auf dem Meer treibt. Ohne eigene Steuerung und ohne jede Bindung. Immer wieder versuche ich, mit Marvin zu reden, doch er weicht mir aus. Und dann frage ich ihn eines Abends, was mir schon seit einigen Wochen auf der Seele brennt.
»Kann es sein, dass du dich bei uns nicht mehr wohlfühlst?«
Marvin schaut mich schweigend an.
»Ich meine, du bist hier nicht im Gefängnis. Du bist freiwillig hier. Wenn du es nicht mehr aushältst, gibt es andere Möglichkeiten.«
Zum ersten Mal seit langer Zeit leuchten Marvins Augen. »Welche denn?«, fragt er.
»Du wirst sechzehn. Da gibt es die Möglichkeit des betreuten Wohnens.«
Marvin verlässt nicht wütend den Raum, sondern wendet sich mir interessiert zu. Ich muss schlucken. Die Bleikugel in meinem Magen wird nicht leichter. So wenig fühlt er sich bei uns zu Hause, dass er mit wehenden Fahnen davongeht? Ich versuche, meine Enttäuschung nicht zu zeigen.
»Es ist dort nicht wie auf Burg Schreckenstein«, erkläre ich, »aber auch nicht wie in einer Jugendherberge. Die meisten Jugendlichen in diesen Häusern haben ähnliche Schwierigkeiten wie du.«
Vielleicht ist es gerade dieser Umstand, der Marvin reizt.
Meike
Marvin wird gehen. Was soll ich dazu sagen? Wenn Mama, Papa und Marvin sich einig sind, dann wird das seine Gründe haben. Ich hinterfrage nicht, wieso Marvin fort will, einige Gründe sind offensichtlich.
Für mich steht fest, dass mein Bruder trotzdem mein Bruder bleibt. Wir werden uns treffen können und miteinander reden und etwas miteinander unternehmen, wenn wir es möchten. Das wird nicht ständig passieren, denn wir haben ja unterschiedliche Freunde und Interessen. Aber wenn wir einander brauchen, können wir uns bei dem anderen melden, Marvin bleibt in Köln, und wir wissen beide, wo wir uns finden.
Mein Bruder zieht aus und wird eigenständig, so wie ich eines Tages sicher auch, das ändert nichts an unserer Beziehung. Dass ich diese Sache voraussetze, verhindert, dass ich traurig über seinen Abschied bin. Es ist schließlich kein Abschied für immer.
Anja
Marvin packt seine Sachen, als ginge es in den Urlaub. Am Morgen des Umzugs beladen wir zusammen unseren Kombi. Dem Jungen scheint der Abschied leichtzufallen. Oder tut er nur so? Ich habe den ganzen Tag einen Kloß im Hals und muss mich ständig räuspern.
»Also, du weißt, dass du dich jederzeit melden kannst?«, frage ich, nachdem wir die letzte Kiste im Wagen verstaut haben.
»Ja.« Marvin nickt. Mehr sagt er nicht, und ich weiß auch nichts mehr zu sagen. Karl schweigt ebenfalls. Vielleicht sind solche Momente zum Schweigen da, aber mir fehlt dann immer etwas. Wenn man keine Worte wechselt, bleibt doch alles unklar. Warum habe ich nur immer das Bedürfnis, Schwierigkeiten durch Reden aufzulösen? Die Stille im Auto während der Fahrt bedrückt mich, und so bin ich erleichtert, als wir auf dem Parkplatz hinter dem Jugendheim ankommen, in dem Marvin von heute an leben wird. Jetzt gibt es wieder etwas zu tun. Auspacken, das Heim begutachten. Die Erzieher machen einen freundlichen und hilfsbereiten Eindruck. Marvin teilt das Zimmer mit einem Jugendlichen. Er bekommt Bett, Schrank und Tisch gezeigt, und wir machen uns ans Einräumen. Schließlich ist alles getan. »Du kommst zurecht?«, frage ich noch einmal. Und Marvin nickt. Steif umarmen wir uns. Karl klopft Marvin zum Abschied auf die Schulter. Marvin hat ein Gespräch mit der Gruppenleiterin, und wir verlassen das Haus.
Meike
Ich weiß nicht wirklich, wie ich es finden soll, dass Marvin ausgezogen ist. Ich kann gar nichts fühlen. Deshalb bin ich froh, dass unsere Ratten da sind. Vor allem Pollyanna, meine Ratte. Wenn ich in mein Zimmer komme, klettert sie sofort am Käfiggitter hoch, schaut mich mit ihren Knopfaugen an und blinzelt mit dem rechten Auge. Total süß. Es kommt mir immer vor, als blinzle sie mir tatsächlich zu, als stimme sie mir in all meinen Gedanken zu. Sie gibt mir recht.
Ich hole Polly aus dem Käfig und setz sie mir auf die Schulter. Polly schnuppert mir dann jedes Mal am Ohr, und dabei kitzeln mich ihre Schnurbarthaare, das ist ein angenehmes Gefühl. Als würde sie mir etwas zuflüstern. Wenn sie hin und her läuft und über mein Dekolleté von einer Schulter zur anderen klettert, hinterlässt sie ganz feine Kratzspuren, sonderlich angenehm ist das nicht, aber es sieht schön aus. Ihre Spuren auf meiner Haut zu haben, finde ich cool, die verblassen nur viel zu schnell.
Anja
Merkwürdig. Es ist so ruhig in der Wohnung, seit Marvin ausgezogen ist, nur ich vibriere. Eine große Familie, das war immer mein Traum gewesen. Menschen, die einander vertrauen und sich wohlfühlen im gemeinsamen Raum. Aber ganz schön steinig und mit Ecken, Spitzen und Kanten gespickt ist dieser Weg. Es ist so schwierig zu erkennen, was andere wirklich wollen. Dabei habe ich es immer besser als meine Mutter machen wollen. Sie war berufstätig und ich fühlte mich oft einsam. Deshalb habe ich die Aufgaben für mein Studium, das ich neben Haushalt und Kindern absolvierte, am Abend erledigt, wenn die Kinder im Bett waren. Ich wollte für sie da sein.
Karl hat mich dabei unterstützt, er fand es richtig, dass ich neben Mutter- und Hausfrausein noch etwas für mich tue, aus meinen verschiedenen Talenten etwas mache. Merkwürdigerweise erlebe ich diese Großzügigkeit bis heute oft als Anforderung, noch mehr zu tun, und finde doch eigentlich, ich tue genug. Hin und wieder gehen mir deshalb die Nerven durch. Wenn die Kinder das mitbekommen, meinen sie, ich sei unglücklich. Das finde ich schlimm, ich kann ihnen nicht klarmachen, dass ich nicht unglücklich bin, denn alles, was ich tue, ist mir wichtig; es ist das, was ich will, aber manchmal ist es etwas viel. Vier Kinder und Studium, das war nicht einfach zu schultern, vor allem in Prüfungsphasen. Außerdem ist mir auch mein Schreiben wichtig. Ich schreibe seit ich dreizehn bin. Meine erste Geschichte war eine Abenteuergeschichte für meinen jüngeren Bruder. Er war begeistert, dass er und seine Freunde darin vorkamen.
Durch meine Scheidung und die zweiten Ehen meiner Eltern gibt es vier Eltern- und Stiefelternpaare; und meine Großmutter, die mir sehr viel bedeutet, lebt auch noch. Deshalb geht mir hin und wieder die Puste aus. Manchmal komme ich mir vor wie eine Reisende in Sachen Familienangelegenheiten. Aber was ist eine Beziehung ohne persönliche Begegnung?
Ob ich Marvin bald einmal wieder begegne? Warum konnten Karl und ich ihn nicht als ausgeglichenen jungen Menschen ins Leben entlassen, wie wir es uns einmal vorgestellt hatten? Marvin hat mir deutlich gezeigt, dass auch ich meine Grenzen habe. Eine wichtige Erfahrung, auf die ich vielleicht besser verzichtet hätte. Aber alle Kinder entwachsen einem, und man muss sie gehen lassen. Auch im Verhältnis zu Jonas herrscht zurzeit eine Fremdheit. Er hat sich sehr der Familie seiner Freundin angeschlossen. Da ich aber sehe, dass ihm das gut bekommt, denke ich, es muss richtig sein, auch wenn ich meine, dass wir uns zu selten sehen und unsere Gespräche merkwürdig steif verlaufen. Anna lebt mit Andreas zusammen, den sie als ihre große Liebe bezeichnet. Das mag sein, aber ich finde ihn unselbstständig und unzuverlässig. Anna macht alles, Ausbildung und Haushalt, und er kommt gar nicht in die Gänge. Anna sitzt heute häufiger mit mir bei einem Kaffee zusammen als früher. Sie erscheint mir überfordert zu sein, aber immer bekräftigt sie, dass alles gut sei. Und ich denke, Jonas, Anna und Meike waren so liebe Kinder, dass ich mich mit ihnen wie in Ferien und untätig gefühlt habe, trotz des Studiums. Weil ich mich seit meiner Jugend immer gern mit Kindern beschäftigt habe, nahmen wir dreimal die Woche ein Tageskind in Meikes Alter zu uns. Meike hatte noch keinen Kindergartenplatz, und die kleine Lara und sie verstanden sich auf Anhieb. In meiner Erinnerung gehört das Jahr mit den beiden Mädchen zu den schönsten Zeiten …
Seit dem Abschied von Marvin komme ich manchmal aus dem Nachdenken nicht heraus, darum bin ich froh, als mich Conny, die Mutter von Meikes Klassenkameradin Lena und selbst Lehrerin, darauf aufmerksam macht, dass Quereinsteiger in Schulen gute Chancen haben. Englischlehrer etwa werden händeringend gesucht. Und durch mein Magisterstudium in den Fächern Englisch und Deutsch erfülle ich die Voraussetzung, um an Haupt- und Realschulen unterrichten zu dürfen. Eine pädagogische Ausbildung kann ich nebenbei in einem Zusatzseminar nachholen. Als ich nach dem Abendgymnasium mit meinem Studium anfing, hatte ich mir eingebildet, für das Lehramt schon viel zu alt zu sein, und deshalb auf Magister studiert. Sollte ich doch noch das Glück haben, als Lehrerin arbeiten zu können? Damit hätte ich nie gerechnet. Da ich als Achtzehnjährige nur Fachabitur hatte, war ich damals als Auszubildende im kaufmännischen Bereich gelandet, zur Zufriedenheit meiner Eltern. Erst später stellte sich heraus, dass ich mit meinem Schulabschluss an einer Fachhochschule hätte studieren können … Ach, all das ist Schnee von gestern. Jetzt bin ich aufgeregt, denn man hat mich an einer der Schulen, bei denen ich zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen war, angenommen.
Meike
Meine Mutter will Lehrerin werden. Das ist wunderbar, sie soll machen, was ihr guttut. Sie macht das viel zu selten. Und ab und zu, wenn sie sagt, sie mache alles nur noch so, wie es ihr passe und kümmere sich nicht mehr darum, was die anderen für Probleme haben, denke ich mir, ja, mach endlich was du willst. Aber sie kann nicht aus ihrer Haut. Sie erzählt von ihren Plänen, schwingt große Reden zur Selbstverwirklichung und verfällt dann doch wieder in den alten Trott und nimmt sich selbst zurück. Die Schuld dafür gibt sie uns, sie meint, dass wir das fordern würden, wir wollten, dass sie sich für uns aufopfert, aber in Wirklichkeit wollen wir alle, dass sie ihr Ding macht, sie soll zufrieden sein mit dem, was sie tut, auch wenn wir dann hintenanstehen und sicherlich mal meckern, weil man eben nicht gern entwöhnt wird. Aber wir würden darüber hinwegkommen. Nur sie nicht. Sie würde nicht darüber hinwegkommen, losgelassen zu haben, sie sperrt sich selbst in ein Gefängnis und behauptet dann, wir hätten sie dort hineingezwungen. Wenn sie nicht loslassen kann, wenn sie Angst davor hat, dass sie uns vernachlässigen oder verlieren könnte, nur weil sie einmal etwas für sich tut, dann kann ihr niemand helfen.
Ich bin froh, dass meine Mutter sich endlich traut, einen Schritt allein zu gehen, ohne vier Kinder und einen Mann bei der Hand mitzuführen. Natürlich ist meine Freude nicht ganz unegoistisch. Ich freue mich auf meine Ruhe, ich bin gern allein. Wenn meine Mutter als Lehrerin arbeiten geht, werde ich sicherlich mehr von dieser wunderbaren Stille haben, die mich mit mir allein lässt. Ich werde mehr von dieser Stille haben, von dieser Stille, die nicht fordert, die keine Erwartungen hat und mich nicht bewertet.
Anja
Marvin ist nicht mehr bei uns, aber die Sorgen um ihn sind geblieben. Immer mal wieder erreicht uns irrtümlich Post, die eigentlich an seinen Vormund, die Stadt Köln, hätte gehen müssen. Diesmal die Benachrichtigungen der Staatsanwaltschaft, weil Marvin in einem Laden CDs gestohlen haben soll. Was macht er nur? Dreht er jetzt völlig durch? Hätte er unter unserer Obhut Ähnliches angestellt? Ladendiebstahl ist ja kein seltenes Jugenddelikt. Wir können nichts tun, außer die Post weiterzuleiten.
Das Einarbeiten in den Schuldienst lenkt mich zum Glück ab: Neben meinen Fächern Deutsch und Englisch unterrichte ich Geschichte, Erdkunde, Schwimmen, Sport und Physik. Es ist an der Hauptschule nicht ungewöhnlich, dass man eingesetzt wird, wo Mangel herrscht. Aber die Vorbereitung, vor allem in den Fächern, die ich fachfremd gebe, ist sehr anstrengend.
Mit den Schülern komme ich klar, auch wenn einige Härtefälle dabei sind. Kinder, die ständig aufspringen und herumlaufen im Unterricht. Kinder, die nicht einmal die Ahnung von Ordnung haben. Kinder, die sich gegenseitig mit Worten verletzen und prügeln. Die Erfahrungen mit Marvin haben mich vorbereitet. Oder ist es nur der gefühlsmäßige Abstand, der mir den Umgang mit den Jugendlichen in der Schule erleichtert? Ja, ich glaube, das Berufsleben gibt Abstand zu häuslichen Problemen. Für eine Weile ist man in einer anderen Welt. Und so anstrengend es ist, es zehrt nicht so an der inneren Substanz wie die Auseinandersetzungen mit denen, die man liebt. Wenn ein Schüler lügt, gehe ich sachlich damit um. Wenn mich ein Familienmitglied belügt, bin ich schwer getroffen. Ehrlichkeit ist für mich die Basis des Zusammenlebens. Und Vertrauen. Vertrauen bedingt Ehrlichkeit. Also, warum verstehen die anderen nicht, wie wichtig es ist, ehrlich zu sein? In dieser Beziehung habe ich vor allem die Pubertät unterschätzt. Bis Anna zwölf, nein, bestimmt vierzehn war, hatten wir eine wunderbare Mutter-Tochter-Beziehung. Eine befreundete Psychologin meinte, das sei ungesund. Ein Mädchen muss sich von der Mutter abnabeln. Okay, aber wie sieht denn das in der Praxis aus? Keine Ahnung. Anna ist meine ältere und damit erste Tochter. Da habe ich zum Beispiel nicht sofort bemerkt, wie es im Gymnasium bergab ging. Sicher habe ich diese und jene schlechte Note mitbekommen, aber wenn ich mich mit Anna unterhalten habe, hat sie mich immer überzeugt, dass sie das noch hinkriegt. Die Lehrer haben uns leider erst spät informiert. Ich glaube, die waren selbst überrascht. Na ja, Annas Umweg über die Realschule bis zur Fachhochschulreife auf einem anderen Gymnasium war die Rettung. Aber die Phase mit ihr hat mir gezeigt, dass man in der Pubertät auf alles gefasst sein muss, auch darauf, dass Kinder einen anlügen, die vorher sehr wahrheitsliebend waren. Ich muss zugeben, mit der Wahrheit nehme ich es sehr genau. Bei Lügen könnte ich ausrasten.
Wie es nun bei Meike wird, kann ich nicht einschätzen. Sie hat sehr strenge Prinzipien. Sie verachtet Jugendliche, die trinken und rauchen. Aber das hat Anna mit vierzehn auch noch getan, und später hat sie selbst damit angefangen. Außerdem findet Meike sich selbst schrecklich, da kann ich sagen, was ich will. Jetzt hat sie ihr wunderbares hellblondes Haar schwarz gefärbt. Das war ein Schock. Aber wenn Meike dadurch zufriedener wird … und im Kontrast zu ihren hellen Augen sieht es interessant aus.
Aber Meike wird nicht zufriedener mit sich. Ich kenne das. Ich selbst fand mich auch hässlich in dem Alter. Bei Anna war es auch nicht anders. Wüsste ich doch bloß, wie man ein Mädchen vor diesem Schmerz bewahrt. Ich kann alle Vorzüge aufzählen, ich kann sagen, du bist wunderbar, so wie du bist. Meike glaubt mir nicht. Meine Eltern haben mir nie gesagt, dass ich in Ordnung bin, so wie ich bin. Meine Mutter half mir nicht mit dem Frausein. Bis zur Pubertät wollte ich immer ein Junge sein, der Übergang war nicht so einfach. Ich habe meine Mutter bewundert und gedacht, da komm ich sowieso nie heran. Für meinen Vater war ich die größte Enttäuschung, das hat er mir gesagt, als ich neunzehn war, da saß ich gerade mit meinem damaligen Verlobten in meinem Zimmer. Also habe ich gedacht, wenn ich meinen Kindern vermittele, dass ich sie mag, so wie sie sind, müssten sie eine andere Art Selbstbewusstsein aufbauen als ich zu meiner Zeit. Aber so einfach ist das nicht. Sie gehen durch die gleiche Hölle und ich verstehe nicht wieso. Warum ist es leichter, meinen Schülern und Schülerinnen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen als meinen eigenen Kindern?
Meike
Lange schwarze Haare! Zugegebenermaßen sind meine Haare nicht pechschwarz, denn eine Packung Tönungsmittel war wohl doch nicht ausreichend für meine Haarlänge. Aber das macht nichts, sie sind nun immerhin eher schwarz als irgendetwas anderes, und das reicht mir. Meine Mitschüler fragen, wieso ich meine Haare gefärbt habe und scheinen es weniger gut zu finden. Was geht die das an, was ich mit meinen Haaren mache? Und warum machen die sich bloß alle über eine Haarfarbe solche Gedanken? Nach spätestens sechs Wochen sind meine Haare ohnehin wieder blond. Auch meine Mutter war gegen diese Aktion. Aber ich habe gar kein Interesse daran, mir immer wieder sagen zu lassen, wie ich mich kleiden, schminken oder mit welcher Haarfarbe ich herumrennen soll. Ich verstehe nicht, weswegen Eltern sich immer einmischen müssen und einen nicht einfach machen lassen können. Meine Mutter hat mich in diese dämliche Welt gepresst und will nun weiterhin über mich bestimmen? Dann hätte sie mich in ihrem Bauch behalten müssen.
Die Frage nach dem Warum nervt mich am meisten. Sie ist so unglaublich überflüssig.
»Warum willst du deine schönen blonden Haare schwarz färben?«
»Na, ich will es nun mal.«
»Ja, aber warum denn?«
Meine Güte! Warum ist die Banane krumm? Was soll der Quatsch, wenn ich etwas will, ist der Grund, warum ich es will, irrelevant! Das geht niemanden etwas an. Selbst wenn es ein Scheißgrund wäre, selbst wenn ich sagen würde: »Na ja, weil ich Satanistin werden will«, dann würde das nichts an der Tatsache ändern, dass es mein Wille ist.
Ich will weder Satanist noch Grufti noch sonst etwas werden. Ich mag Schwarz, ich mag keine Klischees, aber ich mag Schwarz. Ich möchte nicht mit Menschen in eine Schublade gesteckt werden, die meinen, sie würden sich von der Gesellschaft abgrenzen, und dann plötzlich, siehe da, selbst eine Gesellschaft bilden. Eine Gesellschaft mit vielleicht anderen, aber ebenso dämlichen Normen und Werten. Ich will in gar keine Kackgesellschaft, ich will nur meine Ruhe. Und wenn ich mir meine Haare schwarz töne, weil ich es schön finde, und ich dabei den wunderbaren Nebeneffekt genießen darf, dass die anderen anfangen zu denken, ich wolle mich von ihnen abgrenzen und mich daher von selbst in Frieden lassen, dann nehme ich das dankend hin. Dumme kleine Gesellschaft, ich belächle dich.