5. KAPITEL
Meike
Ich streite viel zu oft mit meiner Mutter. Ich habe keinen Bock auf meine Eltern und will am liebsten nur weg von ihnen. Gehe ich morgens zur Schule, ist es aber auch nicht besser. Ich hasse die Schule. Immer muss man alles können. Wer schlechte Noten hat, ist schlecht. Wenn ich mal eine Hausaufgabe nicht kann und nicht die Möglichkeit habe, sie mit Freunden zusammen zu erledigen, dann gehe ich am nächsten Tag lieber nicht in die Schule, als nachher ungewollt aufgerufen und vor allen bloßgestellt zu werden. Bin ich nicht in die Schule gegangen, weil ich meine Hausaufgaben nicht gemacht habe, verpasse ich Stoff und weiß noch weniger von dem, was verlangt wird. Ich kann dann auch die Hausaufgaben für den nächsten Tag nicht machen, weil ich nicht weiß, was wir aufbekommen haben oder weil mir die Unterlagen aus der Stunde fehlen, die zur Bearbeitung der Aufgaben notwendig wären. Ich kann also wieder nicht in die Schule.
Ich bekomme außerdem immer häufiger immer stärkere Kopfschmerzen. In den Prüfungszeiten ist es am schlimmsten. Es ist, als platze mein Kopf, und gleichzeitig drückt eine riesige Kraft meinen Schädel zusammen. So ein Gefühl, dass mein Kopf zugleich implodiert und explodiert. Ich kann mich nicht konzentrieren, wenn mein Kopf so schmerzt. Ich kann nicht zuhören, ich kann nicht lesen. Es ist sinnlos, in diesem Zustand zur Schule zu gehen. Daher bleibe ich zu Hause, lege mich hin oder mache irgendeinen Kleinkram, bei dem man nicht nachdenken muss, in der Hoffnung, dass diese Schmerzlawine vorübergeht. Erst seit Kurzem nehme ich manchmal Tabletten. Meine Mutter hatte das bisher abgelehnt. Sie meint, Tabletten seien nicht gut. Jugendliche würden heutzutage viel zu schnell Tabletten nehmen. Man könnte abhängig von denen werden. Dabei wirken die Tabletten oft gar nicht. Am schlimmsten ist es, wenn mich der Kopfschmerz müde macht. Dann lege ich mich aufs Bett und versuche zu schlafen. Ich bin dann unglaublich müde. Aber Schlafen kann ich nicht, wegen der Schmerzen. Das ist voll die Qual, wenn man müde ist ohne Ende, aber nicht schlafen kann, weil der Kopf so weh tut. Manchmal stelle ich mir vor, wie ich mit einem Bohrer meinen Schädel aufbohre. Wenn ich, je nachdem, wo es am Kopf am meisten weh tut, an Stellen meines Nackens drücke oder auch auf die Wangenknochen, in die Kuhle unter den Augen, dann fühlt es sich besser an. Es tut auch weh, aber anders. Dann denke ich, dass ich, wenn ich mir irgendeinen Bohrer oder eine Schraube in den Kopf rammen würde, die ganzen Schmerzen ablassen könnte. Doch das ist wahrscheinlich nicht weniger schmerzhaft. Wenn ich dann endlich eingeschlafen bin, ist es nach dem Aufwachen etwas besser. Manchmal kann ich den lieben langen Tag schlafen und die Nacht noch dazu. Ich schlafe gern. Schlafen ist, als wäre man tot. Nur, dass man leider wieder aufwacht. Aber das weiß ich ja nicht, während ich schlafe.
Meikes Tagebuch
Ich liege auf dem Rücken in meinem Bett. Es ist dunkel. Es ist spät. Ich kann nicht schlafen.
»Du bist hässlich. Du bist hässlich. Du bist hässlich.«
»Ich weiß.«
»Du bist hässlich und scheiße, Meike, du bist hässlich und scheiße und wertlos.«
»Ich weiß es! Ich weiß es doch! Ich bin hässlich und scheiße und wertlos. Ich weiß es.«
»Dann handele danach, wenn du es weißt. Du bist hässlich, Meike, guck dich an, du bist ein hässliches Monster, du solltest nicht hier sein. Dich will niemand! Niemand! Du bist einfach zu nichts zu gebrauchen, du bist so nutzlos und hassenswert. Du solltest einfach verrecken.«
»Ich weiß es!«
Ich weiß, dass ich sterben sollte. Ich stimme dieser Hexe in meinem Kopf doch zu. Sie ist eine Hexe. Eine Hexe und der einzige Mensch, der mir die Wahrheit über mich sagt. »Ich weiß es, ich weiß es, ich weiß es«, schreie ich in meinem Kopf, ich schließe die Augen so fest ich kann und versuche, ihre Stimme zu übertönen.
Ich will schlafen! Tränen drücken sich zwischen meinen Augenlidern hervor und rinnen über die Wangen. Ich weine und zittere und mein Körper verkrampft sich. Ich atme nicht mehr. Ich weine nur. Mein Körper verklumpt zu einem Stein. Meine Kehle ist zu und ich atme nicht. Ich weine nur. Dann löst sich die Spannung. Plötzlich. Ich atme ganz tief ein. Ich atme schnell. So schnell ich kann. Nicht denken. Nicht denken. Mein Atmen wird laut und hektisch. Ich höre sie nicht mehr. Wie lange bleibt es ruhig? Ich beruhige mich ein wenig. Ich setze mich auf. Gehe zu meinem Tisch, öffne eine Schublade und hole die Rasierklingen heraus. Ich lege mich wieder ins Bett, auf den Rücken und blicke nach oben an die Decke. Eine Rasierklinge in der rechten Hand. Ich lege den linken Arm auf meinen Bauch. Ein Schnitt. Noch ein Schnitt. Noch ein Schnitt. Ein paar Schnitte. Blut. Ich spüre, wie die Decke immer wieder an meinem Arm kleben bleibt. Das reicht schon. Ich setze mich auf. Ich werfe die Rasierklinge neben mein Bett und greife nach dem Pullover. Ich ziehe ihn über. Ich drehe mich auf die Seite, die Wange auf meinen Händen und horche. Nichts. Endlich schlafen. Die Hexe ist ruhig. Jetzt kann ich schlafen. Bekenntnis ist der erste Schritt zur Besserung.
Anja
Nein. Bitte nicht. Das nicht. Ich fahre zur Hölle. Das nimmt den Boden weg, auf dem man steht. Fressen und Kotzen, ja, aber sich verletzen, nein, nein, das tut sie nicht. Ich kenne meine Tochter. Kenne ich sie wirklich?
Meike geht bis zum Äußersten.
Dabei war es nur ein Zufall. Die dunkelroten, wulstigen Streifen auf dem weißen Oberarm, daneben zwei hellere.
»Was ist das, Meike?«
Ich weiß, was es bedeutet. Aber ich möchte es nicht begreifen. So schlecht kann es dem eigenen Kind doch nicht gehen, dass es zu solchen Mitteln greift.
»Das geht dich gar nichts an!«
Ich versuche, die Ruhe zu bewahren, obwohl ich entsetzt bin. Ihre schöne weiße Haut. Ihre zarte, duftende Haut. Wie kann sie die … zerschneiden? Es tut mir körperlich weh. Mein Kind kam auf die Welt. Unversehrt zu seinem, zu unserem Glück, denn dieses Glück haben nicht alle Kinder und Eltern.
»Doch! Es geht mich etwas an!« Ich gebe mir eine feste Stimme, obwohl ich mich innerlich wie aufgelöst fühle. »Du bist mein Kind und du bist minderjährig. Wenn du dir schadest, geht es mich etwas an!«
Meike lacht. Es ist ein fremdes, überhebliches Lachen. »Das wollen wir mal sehen!«, spottet sie. »Was willst du denn dagegen machen? Den ganzen Tag neben mir herlaufen? Und nachts?«
Mir fällt nichts mehr ein. »Aber warum machst du das denn? Wie kannst du deine Haut zerschneiden? Andere sind froh über ihre glatte Haut oder sehnen sich danach, wenn es nicht so ist. Hab ich dir nicht von Kira erzählt, dem Mädchen mit den Brandnarben –«
»Das ist etwas ganz anderes!«, fällt mir Meike ins Wort.
»Aber wieso? Wieso sind Unfallverletzungen und Verletzungen, die man sich selbst zufügt, etwas anderes?«
»Das verstehst du nicht!« Meike hat sich längst einen Pullover übergezogen.
»Aber ich will es verstehen! Lass uns darüber sprechen!«
»Nein!«
Meike geht in ihr Zimmer. Ich bleibe im Wohnzimmer und kann nicht einmal weinen.
Meike
Ich hätte nicht gedacht, dass es so viel bringt, sich zu ritzen. Ich hätte nicht gedacht, dass man dabei so viel Aggressionen rauslassen kann. Dieses heftige Verlangen, sich umzubringen, sich zu zerstückeln, sich zu bestrafen, sich selbst zu zeigen, wie sehr man sich hasst, wird durch ein paar kleine Schnitte immerhin erträglicher. Das ist erstaunlich. Und meine Mutter: Sie fragt, wieso ich das mache. Sie würde es niemals verstehen, dass ich mich dadurch für eine Weile nicht mehr so hässlich, überflüssig und schmutzig fühle. Wie soll sie es auch begreifen. Sie hasst sich selbst nicht. Wenn sie das tun würde, würde sie auch alles daransetzen, sich selbst zu zerstören.
Ich kann mich nicht töten, aber ich kann mich immerhin selbst verletzen. Wenn ich mir eingestehe, dass ich wertlos bin, dann kann ich die Stimmen in meinem Kopf besänftigen. »Bitte, da seht ihr es! Ich weiß, wie scheiße ich bin! Also haltet eure dummen Fressen!« Und dann sind sie ruhig, weil sie wissen, dass ich es selbst weiß.
Viele Menschen haben Essstörungen. In der siebten Klasse hielten Carina, Lena und ich ein Referat darüber. Wir fanden es alle drei unverständlich. Auch ich fand es damals unbegreiflich. Jetzt nicht mehr.
Es gibt auch viele Menschen, die sich ritzen. Damit konnte ich mehr anfangen, denn ich hatte bereits die Vorstellung, dass es mir Erleichterung verschaffen könnte. Ich muss meine Gefühle abreagieren. Und weil ich mich nicht traue aus dem Fenster zu springen und keine Waffe habe, um den Menschen draußen ihre Schädel wegzuschießen, habe ich es mit Rasierklingen versucht. Es fühlte sich gut an.
Dass meine Mutter das nicht versteht, ist mir gleichgültig. Aber dass sie mir vorwirft, ich verstümmle meinen Körper, finde ich dreist. Es ist mein Körper. Es ist ganz allein meine Sache, was ich mit meinem Körper mache. Und wenn nicht, dann soll sie die Welt ändern, damit ich mich nicht mehr ritzen muss. Mich wird sie nicht ändern können. Ich weiß sowieso nicht, was sie sich darauf einbildet, dass sie mich geboren hat. Meint sie, ich gehöre ihr? Das Einzige, was sie damit erreicht hat, ist, dass ein weiterer Mensch unzufrieden vor sich hinvegetiert. Und anstatt meine Unzufriedenheit zu sehen, macht sie mir Vorwürfe. Sie ist dumm. Erwachsene sind dumm. Die Menschheit ist dumm.
»Och, ihr wollt doch alle nur Aufmerksamkeit, ihr dummen kleinen Kinder. Ihr wollt doch nur Aufmerksamkeit.«
GENAU! Ihr habt es erfasst! Wir wollen Aufmerksamkeit! Wir wollen, dass ihr seht, wie es UNS geht, und wir wollen, dass IHR etwas verändert, weil auf UNS niemand hört. Hallo? Ist doch logisch. Ich befürchte, Erwachsene können nicht weit denken.
»Ihr wollt doch nur Aufmerksamkeit.« Klingt nicht nach einem vollständigen Satz. Da müsste doch eine Begründung folgen oder nicht? So etwas wie: »Ihr wollt doch nur Aufmerksamkeit, weil …«
Ja, WEIL. Ich will nicht einfach NUR Aufmerksamkeit, ich will Aufmerksamkeit, WEIL! WEIL diese Scheißgesellschaft mich abfuckt, weil ich mich selbst abfucke, und WEIL ich will, dass ALLE das wissen. WEIL ich will, dass ALLE mal anfangen, sich Gedanken darüber zu machen, wie dumm die Gesellschaft ist. Dass sie sich Gedanken darüber machen, wie unnötig es ist, dass eine Gesellschaft in dieser Form existiert, in denen es so vielen Menschen zum Kotzen geht. Und ich will, dass alle Menschen, denen es zum Kotzen geht, alle, die es nur verdrängen, sich endlich die Aufmerksamkeit holen, die ihnen zusteht. Nicht weil sie einfach NUR Aufmerksamkeit wollen. Sondern WEIL sie wollen, dass sich etwas ändert. Aber nein, Erwachsene können nicht weit denken. Daher werde ich in dieser von dummen Erwachsenen dominierten Welt für immer ein Kind bleiben, das nur Aufmerksamkeit will. Grauenhafte Einsicht.
Anja
Sie hat es wieder getan. Ich sehe die frischen Wunden.
»Du hast gesagt, du wirst es lassen.«
»Ich habe gesagt, ich versuche es.«
»Aber warum musste es denn wieder sein? Was ist los mit dir?«
»Warum, warum … wenn ich mich nicht schneiden darf, muss ich eben kotzen, was ist dir lieber? Ich muss mich bestrafen. Alle Menschen sollten sich bestrafen.«
»Die Menschen sind nicht alle schlecht. Es gibt genug Gute.«
»Und was machen die aus ihrem Gutsein? Nichts. Die Welt bleibt, wie sie ist. Die Menschheit wird sich bald selbst ausrotten und das ist auch gut so! Die Natur ist in Ordnung, und bald wird sie das Experiment Mensch glücklich hinter sich gelassen haben.«
Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll.
Anna, Jonas und seine Freundin Marlin sprechen mich an. Vorsichtig, als wäre ich ein rohes Ei. »Mit Meike, das geht gar nicht, Mama. Siehst du nicht, wie dünn sie ist, und hast du mal ihre Arme angeguckt?«
»Ja, habe ich«, antworte ich. » Ja, ich bin mit Meike im Gespräch. Ja, manchmal kommt sie eine Weile zurecht.«
Anna spricht mit Meike. Ich weiß nicht, worüber genau. Sie sprechen bei geschlossener Zimmertür. Als Anna schließlich aus Meikes Zimmer kommt, macht sie einen hilflosen Eindruck. »Meike hört mir zu, aber ich glaube, es kommt nichts an.«
Jeden Morgen gehe ich mit dem Gefühl in die Schule, nicht wirklich für Meike da zu sein. Als sie wieder zu Hause bleibt und wieder Rasierklingen im Bad liegen, resigniere ich. Ich habe keine Wut und keine Trauer, ich sage mir: Das schaffst du nicht! Meike muss heraus aus dem Betrieb, der sie verrückt macht. Und als ich Meike vorschlage, es mit einem Klinikaufenthalt zu versuchen, geht sie sofort darauf ein.
»Ich komme so nicht weiter, also warum nicht?«
Beinahe vermeine ich Erleichterung zu spüren.
Karl ist froh, etwas Konkretes unternehmen zu können. Er erkundigt sich bei unserer Krankenkasse, und unser Anliegen wird von Anfang an unterstützt. Der Haken an der Sache ist, dass die Kasse nicht mit der Klinik zusammenarbeitet, die uns von Meikes Therapeutin empfohlen wird. Und natürlich hätte ich Meike gern in einer Klinik untergebracht, die ehemalige Patienten als gut und hilfreich und mit geringer Rückfallquote beschreiben, aber die Kassen haben ihre bestimmten Vertragskliniken. Trotzdem freuen wir uns über das Engagement unseres Sachbearbeiters, denn es liegt Meike und uns am Herzen, dass es schnell geht. Nicht nur, weil der Klinikaufenthalt auf diese Weise die Oktoberferien einbezieht und damit die Zeit, die Meike in der Schule fehlt, verkürzt, sondern auch, weil Meike so schnell wie möglich weg will. Als der Entschluss gefasst ist, erscheint ihr jede Verzögerung unerträglich.
Meike
Ich bin erleichtert. Endlich komme ich hier raus. Endlich raus aus dem Leben. Ich muss mich dafür nicht einmal umbringen. Aber ich hoffe, dass es so wird, so, wie ich mir den Tod vorstelle. Ganz weit weg von der Gesellschaft. Das ist das Wichtigste. Ich bin für die anderen nicht mehr da, und sie sind es für mich auch nicht. Ich werde in einer weißen Kammer hocken und kann für mich allein sein. Niemand reißt die Tür auf und fragt, wie es mir geht, zumindest nicht, ohne vorher anzuklopfen. Ich muss morgens nicht mehr in die Schule, ich muss keine Hausaufgaben machen, keine Leistung erbringen, ich muss nicht dünn sein, weil mich niemand sieht. Niemanden wird interessieren, was ich tue. Niemand wird mitbekommen, was ich tue, und so kann mein Tun auch nicht als schlecht, unzulänglich und ungenügend abgestempelt werden. Ich stelle mir das oft vor. Allein in einer weißen Kammer. Sitzen und nichts machen. In Ruhe gelassen werden und vergessen, dass es da draußen eine Welt gibt, in der Menschen leben. Vergessen, dass es Menschen gibt. Menschen sind, abgesehen davon, dass sie schlecht für die Welt sind, auch schlecht füreinander. Menschen sind schlecht für mich. Ich hasse die Menschen. Sie lachen einen doch nur aus.
Meine Mutter meint immer, niemand könne allein sein. Niemand könne isoliert leben. Der Mensch sei ein Herdentier, und ganz allein würde er verrückt. Ich wäre so gern allein. Ich kann nicht MIT Menschen leben. Ich will, dass sie alle weg sind. Dass sie fortgehen und aufhören, mich anzustarren und mich zu bewerten. Denn ich weiß, wie sie mich bewerten würden, und das könnte ich nicht ertragen. Niemand kann es auf die leichte Schulter nehmen, wenn man ihm sagt, dass er nichts wert ist. Schon gar nicht dann, wenn er selbst weiß, dass damit nur die Wahrheit ausgesprochen wird. Ich will sie nicht, die Menschen um mich herum, die mit dem Finger auf einen zeigen und vor Ekel ihre Gesichter verziehen. Ich bin froh, dass ich jetzt gehen kann. Irgendwohin.
Ich bin meinen Eltern sogar dankbar. Ich glaube, ich war meinen Eltern noch nie so dankbar. Ich hätte nicht gedacht, dass sie sich so dafür ins Zeug legen, dass ich in diese Klinik komme. Ich hätte gedacht, es dauert viel länger. Jedenfalls bin ich ihnen umso dankbarer. Ich freue mich, dass ich das alles hier hinter mir lassen kann. Den ganzen Mist. Und wenn ich Glück habe, dann passiert vielleicht irgendein Wunder, und die Welt wird über die Zeit, in der ich weg bin, erträglicher.
Anja
Ich habe wieder Hoffnung. Frau Bayer findet es auch gut, dass Meike stationäre Unterstützung erfährt. Vor allem ist es wichtig, dass sie aus dem System, das sie bedrückt, herauskommt. Die Schule ist wie Gift. Meike sieht den Klinikaufenthalt immerhin als Chance. Sie kann sich nicht wirklich vorstellen, dass er ihr hilft, aber sie will es versuchen, und darüber bin ich froh. Vielleicht können ihr die Ärzte und Therapeuten helfen. Ich bin mir mit Karl einig, dass wir viel zu lange versucht haben, immer alles allein zu schaffen. Meine Freundin sagt auch: »Man hat euch nie angemerkt, wie anstrengend alles für euch ist, auch damals mit Marvin nicht. Ihr müsst auch etwas sagen. Ihr wirkt immer so stark.«
Und jetzt versuchen wir es endlich mithilfe von außen. Wir fahren mehr als fünfhundert Kilometer gegen Südosten. Als wir ankommen, wird mir schwer ums Herz. Es ist erst Oktober, aber hier ist es schon etliche Grad kälter als im Rheinland. Aber es ist nicht nur das Klima, das mich frösteln lässt. Der Klinikbau sieht kühl und abweisend aus. Natürlich tue ich zuversichtlich, und Meike scheint erfüllt von vorsichtiger Erwartung. Sie will alles richtig machen. Und ich muss schlucken. Dieses brüllende, zornige Kind, eigentlich wollte sie immer nur alles richtig machen. Sie war so ein liebes Kleinkind. Und auch später noch erfüllten sie Mitgefühl und Hilfsbereitschaft. Einmal spazierte ich mit ihr eine Straße in unserem Viertel entlang, da rief ein Kind aus einem offenen Fenster: »Meike ist das liebste Kind vom Kindergarten!« Daran muss ich denken, als wir die Klinik betreten. Die Empfangsschwester ist freundlich. Sie führt uns in die erste Etage, in Meikes Zimmer. Meike schaut sich um. Als wir allein sind, drapiert sie sofort den Stofftiger aufs Bett, den wir als Glücksbringer an der Raststätte erstanden haben. »Ich werde Bilder aufstellen«, sagt sie.
Meike
Die Klinik ist schön. Sie ist anders, als ich es erwartet habe. Sie wirkt nicht so, wie man sich eine Psychoklinik vorstellt. Und wahrscheinlich ist sie strenggenommen keine. Es ist eine psychosomatische Klinik. Hier werden Leute behandelt, deren körperliche Probleme den Geist angreifen oder deren geistige Probleme dem Körper zusetzen. Ich bin wohl ein Kandidat für Fall Nummer zwei. Ja. Es sieht ganz anders aus als gedacht. Viel freundlicher. Klar, ist alles mehr oder weniger weiß. Aber gar nicht so krass steril, wie man sich das vielleicht vorstellt. Es sieht alles bewohnt aus. Wahrscheinlich wollen die das auch so, damit man sich wohlfühlt.
Mein Zimmer gefällt mir. Es ist groß. Mit einem Bett, einem Tisch am Fenster und einem Schrank. Ich habe sogar ein eigenes Bad, mit Dusche und Toilette. Das finde ich super. Ich hätte keine Lust, ständig mit anderen Leuten in Kontakt zu kommen, nur weil ich duschen will oder auf die Toilette muss.
Meinen Eltern scheint es hier auch zu gefallen. Wahrscheinlich hatten sie Angst, ihr Kind würde in eine Art Zelle gesperrt, mit Gitterstäben … Knastatmosphäre. Mit einer Luke, durch die das Essen geschoben wird. Sie wirken erleichtert, jetzt wo sie feststellen, dass es anscheinend nicht so ist. Mir wäre das gleichgültig gewesen. Mein Blick wandert an dem künstlichen Bach hinter dem Haus entlang, über den eine schmale Brücke führt. Die Büsche und Bäume am Ufer sind teilweise schon orange gefärbt, während andere noch saftig grün erscheinen. Ich freu mich darauf, an dem Tisch am Fenster zu sitzen und allein zu sein, zu zeichnen, schreiben, basteln, Musik zu hören.