ACHTZEHN

Bival saß über ihre Lampe gebeugt und las das Manuskript, das Brudoer sorgfältig abgeschrieben hatte.

Wieder artikulierte Craydor, wie unsicher sie war: Ich zittere, wenn ich an die Unbeweglichkeit, die Ausschließlichkeit der Organisation dieser Gesellschaft denke. Ist alles ein Fehler? Hätte ich es je einführen sollen?

So, wie ich die menschliche Neigung kenne, Institutio-nen einzufrieren, bloße Vorgehensweisen zu letztendli-chen Wahrheiten zu verherrlichen, habe ich da bei dem Versuch, eine vollständig verteidigte, zum Wachstum fähige Gesellschaft zu schaffen, nicht einfach eine mit nicht zu beseitigenden Schranken eingemauert? Ich habe Vorschläge zur Veränderung und zum Wachstum gemacht, aber sie wurden nicht angenommen. Meine Worte über profane Dinge wurden als letzte Wahrheiten angesehen, obwohl ich nicht glaube, daß diese Worte von Aven offenbart wurden oder sich auch nur mit letzten Dinge befassen – nur mit gesellschaftlicher Organisation in dieser Zeit der Feindseligkeit. Ich lebe jetzt in meinen letzten Tagen in Qualen. Ich hoffe nur, daß künftige Ge-nerationen die Unabhängigen wie auch die Treuen um-fassen werden, und daß sich Threerivers entwickelt und verändert, ohne von unserer idealen Verehrung Avens abzugehen. Aber was ist, wenn es nicht so kommt? Ich bin mit Vernunft und Planung am Ende, jetzt kann ich nur noch beten.

Bival seufzte und blickte auf. Warret schlief fest nach einem Tag schwerer Arbeit, aber schon war genügend Sand in die rote Schale gelaufen, um den Pfosten zu kippen und die kleine Weckerglocke anschlagen zu lassen. Es war Zeit, daß er seinen Wachdienst antrat.

Sie schüttelte ihn sanft. Er wachte nicht auf. Sie rüttelte ein wenig fester. Er stöhnte, bewegte sich aber nicht. Da nahm sie sein Kurzschwert, schnallte es sich um und verließ den Raum, um für ihn die Wache zu übernehmen. Warret schlief weiter.

Als sie die Terrassen abschritt, bemerkte sie Misque in den Schatten nicht. Als Bival mit Warrets Runde fertig war und durch die obere Korridortür wieder eintrat, warf Misque hinter dem Wasserturm eine Nachricht, an ein Stück weißes Tuch gebunden, hinunter.

Von unten hörte sie ein leises Klicken, also schlich sie weg, die gewundene Treppe hinab in das ihr zuge-wiesene Zimmer. Ihre Hände waren vom Wasserheben und von der Gartenarbeit voller Blasen. Sie rieb sie mit Bohnenöl ein und kroch ins Bett zurück.

Am späten Vormittag erhielt Annon ihre Nachricht, er rollte sie auf und las: In zwei Wochen, bei Neumond, werde ich gleich nach Mitternacht zwei Strickleitern an der Vorderterrasse hinunterlassen. Sie gewöhnen sich hier langsam an mich, aber sie beobachten mich. In der Stadt gibt es hauptsächlich Frauen, weil viele Männer fort sind. Die meisten die hiergeblieben sind, sind alt. Denk an dein Versprechen, sie nicht zu töten. Sie sind recht freundlich zu mir. Ich glaube, du kannst die Stadt leicht einnehmen. Dann kannst du sie hinaustreiben. Bitte vergiß es nicht. Bitte gib acht auf Jaiyan und Jamin. Vergiß nicht, du hast es versprochen.

Misque

Annon schnaubte. »Ein schweineschnäuziges Trä-

nenherz. Na, wenigstens ist sie reingekommen. Wenigstens holt sie uns rein. Wir müssen ein paar Leitern machen. Mindestens zwanzig, und die mindestens fünfundzwanzig Armlängen lang. Ich glaube, diesmal kommen wir rein.« Er rieb seine Gesichtsmaske, um das Jucken darunter zu lindern. Dann streckte er die Hand aus, und Steelet schlug mit seiner dagegen. Beide Männer lachten.

Als Gamwyns Trupp endlich in Sicht der Siedlung U-Bend kam, konnte der Pelbarjunge nicht glauben, daß soviel Veränderung möglich war. Der ganze Strom floß jetzt endgültig durch die Lücke, die Gamwyn und seine Freunde eröffnet hatten. Das frühere Sklavenlager war eine Insel und der frühere Flußlauf ein mit Schwemmsand abgetrenntes Altwasser, ruhig und halb überwuchert.

Ehe sie bis auf einen halben Ayas herankamen, wurde der Pulk langsamer und einer der Atherer sagte: »Rauch. Ich rieche Rauch. Viel Rauch.« Dann roch Gamwyn es auch. Bald sahen sie einen schwarzen Fleck am Hügelabhang hinter der Stelle, wo sich früher die Kreise befunden hatten, auf dem Hochgelände östlich des Flusses. Von dort stieg immer noch ein wenig Rauch auf. Hier bewegten sich Gestalten, und als sich Gamwyns Expedition, weiterhin dicht am Westufer, näherte, kamen Leute ans Ufer herunter und riefen sie an. Gamwyns Pulk wurde langsamer. Bald stießen drei Leute in – wie Gamwyn erkannte – Handwer-kerkleidung, ein Boot ab und ruderten auf sie zu.

»Ich weiß nicht, ob wir warten sollen«, sagte Gamwyn. »Ich traue diesen Leuten nicht.«

»Nur drei Leute in einem Boot? Mit denen werden wir sicher fertig«, sagte Doon.

Als die Boote näherkamen, erkannte Gamwyn Ahks, in dessen Haus er sich von der Kälte des Brunnens erholt hatte. Das Tuscoboot legte sich längsseits.

»Habt ihr etwas zu essen?« rief ein Mann. »Wir haben nichts mehr. Sie haben alles genommen.«

»Wer?«

»Die Siveri. Vor zwei Nächten. Sie haben alles ge-brandschatzt, alle Nicfad getötet. Wir haben nichts.«

»Warum fischt ihr nicht?«

»Wir wissen nicht, wie man das macht. Wir haben keine Sklaven, keine Nicfad, fast kein Komitee mehr.

Der Rest von uns sind Bauarbeiter und Handwerker.«

»Wo ist Daw?« rief Gamwyn.

»Wer? Das Komiteemädchen? Die Dicke? Weiß ich nicht. Nie von High Tower zurückgekommen. So.

Könnt ihr uns zu essen geben? Wir bitten euch.«

Gamwyns Trupp besprach sich, dann errichteten sie ein Lager am Westufer, fischten und buken Teig-fladen aus Reismehl. Wie Gamwyn erfuhr, hatten die Tusco von U-Bend beschlossen, einen neuen Anfang zu machen. Als genügend Nicfad von den beiden Siedlungen zusammengekommen waren, hatten sie einen Sklavenraubzug ins Siveri-Gebiet ausgeschickt.

Zum erstenmal trafen sie auf organisierten Widerstand. Trotzdem gelang es ihnen, mit sechsundzwan-zig Sklaven zurückzukehren, aber nach weniger als zwei Wochen kamen ihnen die Siveri in großer Zahl nach und brannten die Tusco aus, töteten alle Nicfad und die meisten Komiteeangehörigen, die Handwerker und einige der Bürokraten verschonten sie. Den Tusco erging es schlecht, nur zweiundvierzig über-lebten. An diesem Abend baten sie Gamwyns Trupp darum, sich anschließen zu dürfen. Nach einigem Zögern stimmten die Reisenden zu.

Glücklicherweise hatten die Tusco genügend Boote von High Tower, um alle unterzubringen. Es waren zweiundzwanzig Männer, meist Bauarbeiter, neun Kinder und elf Frauen, mehrere davon ziemlich alt.

Gamwyn blieb ihnen gegenüber mißtrauisch, aber Samme war erheitert. »Auf nach Threerivers«, lachte er. »Der Verlorene sammelt alle seine Kinder. Ganz zu schweigen von den Hühnern.«

Am nächsten Morgen stießen sie ab, durch die Erschöpfung und den geschwächten Zustand der Tusco ein wenig am Vorwärtskommen gehindert. Bald ver-teilten sie die Angehörigen der einzelnen Völker gleichmäßig auf die Boote, so daß keines mehr zu langsam war. Nach einigen Stunden argwöhnischen Schweigens zu Anfang glaubte Gamwyn erste Anzeichen von beginnenden Freundschaften zwischen Atherern und Tusco wahrzunehmen.

Er bemerkte auch, daß der Sumach am Ufer immer röter wurde, je weiter sie nach Norden kamen. Sogar die Goldruten waren schon am Verblühen, und die Astern färbten die Waldränder blau. Er sorgte sich wegen des kühleren Wetters. Wie sollte Threerivers soviele Menschen den Winter hindurch ernähren? Einige würden nach Pelbarigan weiterfahren müssen, und selbst diese Stadt konnte in Schwierigkeiten kommen.

Nach einigen Tagen, in denen sie ruderten und zwei Ruhetagen zum Fischen und Jagen erreichten sie Jaiyans Station. Auch die war niedergebrannt worden, aber sie landeten, und Gamwyn rief mehrmals.

Samme blies in sein Muschelhorn. Endlich wagten sich neun alte Siveri aus den Wäldern. Sie begrüßten Gamwyn mit freudiger Erleichterung und erzählten von dem Überfall der Peshtak. Sie hatten sich verstecken können. Dann waren sie zurückgekehrt und hatten die anderen begraben.

»Wir sind hiergeblieben«, sagte ein alter Mann mit zitternder Stimme. »Sonst blieb uns nichts übrig. Wir sind einfach dageblieben. Sie haben Jaiyan und Jamin mitgenommen – und Misque.«

»Sie haben Misque mitgenommen?«

»Sie war nicht da, als wir zurückkamen. Wir waren im Fluß und haben uns versteckt.«

»Seid ihr sicher, daß sie sie nicht getötet haben?«

»Nicht hier. Wir haben uns überall umgesehen, aber sie nicht gefunden. So. Wie wäre es, wenn wir mit euch kommen? Hier ist es einsam, und bald wird es Winter.«

Samme lachte wieder. »Quetscht euch rein! Platz genug. Garn, auf wieviele Siedlungen treffen wir noch? Das wird eine Invasion.«

»Das ist die letzte. Außer, wir treffen einige Sentani. Oder ...«

»Oder was?«

»Wir treffen auf Peshtak. Aber das wäre das Ende der Reise für uns.«

»Peshtak?« fragte einer der Tusco. »Eine große Streitmacht?« Er machte ein besorgtes Gesicht.

»Könnte sein. Wir wollen beten, daß es nicht dazu kommt.«

Aber die Peshtak waren in Threerivers. Misque hatte, wie versprochen, die Leitern heruntergelassen. Immer zwei Männer auf einmal waren hinaufgestiegen, mit zusätzlichen, zusammengerollten Strickleitern auf dem Rücken, die sie lautlos am Rand der Terrasse befestigten und hinunterfallen ließen. Misque hatte ihnen die Gardisten gezeigt, und die Peshtak waren lautlos davongeschlichen, um sie zu töten, aber als sie sich dem dritten Gardisten näherten, konnte der noch schreien und der Leibgardist der Protektorin rannte aus dem Breiten Turm, aber sie schossen ihm einen Pfeil in den Leib. Er stürzte ächzend zu Boden. Die Protektorin öffnete hinter ihm die Tür und schrie, konnte die Tür aber verrammeln. Gind, der den Pfeil-schaft in seinem Bauch umklammert hielt, hörte, wie sie die Türen schloß und verriegelte. Er zog den Atem ein und stieß einen langen Schrei aus, der abgeschnitten wurde, als ihm ein zweiter Pfeil in die Brust fuhr. Er rollte auf den Rücken und rührte sich nicht mehr.

»Du hast es versprochen!« zischte Misque, als Annon über die Mauer kam. Er schlug sie mit dem Handrücken ins Gesicht, daß sie niederstürzte, dann bückte er sich und zog sie hoch.

»So. Und jetzt sagst du uns, wie wir ins Herz dieser Stadt kommen.«

»Du hast versprochen, sie nicht zu töten.«

Annon packte sie an der Kehle. »Ich bringe dich auch um, auf der Stelle, wenn du es uns nicht sagst.«

Er ließ sie los, und sie sackte zusammen.

Drei Gardisten rannten die Treppe hinauf und hinaus auf die Terrasse, aber sie wurden sofort nieder-gemacht, und die Peshtak stürmten durch die Tür und die Treppe hinunter. Irgendwo ertönte mehrmals und langgezogen ein Horn. Die Pelbar waren also gewarnt. Es würde zum Kampf kommen. Vier dunkle Gestalten schossen aus einer Seitentür. Die Peshtak zogen ihre Schwerter und metzelten sie nieder.

»Alles alte Frauen«, sagte einer. Sie stürzten weiter.

Wieder ertönte das Horn, und als von oben Fackeln kamen, fanden die Peshtak den Weg von Steintüren versperrt. Sie ließen Rammböcke vom Ufer bringen, zogen sie herauf und begannen, auf das Mauerwerk einzurennen. Als sie durch die Räume ausschwärmten, die sie schon eingenommen hatten, fanden sie sie verlassen.

Annon ließ Misque holen. »So. Wie kommen wir weiter?«

»Ich ... davon weiß ich nichts. Ich wußte nicht, daß sie die Treppen absperren können.«

»Pah!« Annon stieß sie beiseite. Sein schwitzendes Gesicht brannte, aber er konnte es hinter der Maske nicht erreichen. »Dann werden wir alles zusammen-schlagen.«

Plötzlich glitt eine Mauer zur Seite, und vier Pel-barbogenschützen jagten Pfeile in die nächststehende Peshtakgruppe. Mit Gebrüll stürzte ein großer Trupp der Eindringlinge durch die Lücke und jagte die Pelbar eine gewundene Treppe hinunter, die offenbar schnell enger wurde. Endlich kam der Mann an der Spitze nicht mehr weiter. Die hinter ihm klemmten ihn ein. Er bekam Angst und schrie. Die Menge hörte ein Poltern, als das Steindach auf sie herunterbrach.

Die oben an der Treppe sahen nur herabgestürzte Steine.

Annon schrie vor Wut. Er hatte mindestens zwanzig Mann verloren. Dafür würden die Pelbar bezahlen, wenn er die Stadt eingenommen hatte. Er würde keinen am Leben lassen.

Aber am Morgen waren sie nur wenig vorangekommen. Die Peshtak am Rammbock waren völlig erschöpft. Sie hatten eine tiefe Delle geschlagen, aber das Mauerwerk hielt immer noch stand. Annon setzte eine neue Schicht ein. Er hatte jetzt seine ganze Bande, mehr als tausend Leute, über die Mauer herauf-geholt, und sie hielten den gesamten, oberen Teil der Stadt besetzt, bis auf den Breiten Turm, wo die Protektorin und Dardan Zuflucht gesucht hatten.

Kurz vor Morgengrauen hatte sich Gind, der Leibgardist der Protektorin, langsam und lautlos um den Breiten Turm herum zu den Käfigen der Botenvögel geschleppt. Er riß eine Ecke seines Dienstplans ab, machte Daumenabdrücke mit seinem eigenen Blut darauf und band das Papier sorgfältig einem Vogel ans Bein. Dann ließ er den Vogel frei, aber der flatterte in der Dunkelheit nur ziellos umher, setzte sich auf das Dach seines Käfigs und gurrte leise und verzweifelt. Erst als es dämmerte und sich einige Peshtak näherten, flog er weg. Die Peshtak hielten das nicht für wichtig und warfen nur einen kurzen, verächtlichen Blick in Ginds starre, tote Augen. Einer spuckte ihm ins Gesicht. Er starrte ungerührt weiter ins Leere, während die Taube zweimal aufgeregt flatternd krei-ste und sich dann auf den Weg nach Pelbarigan machte.

Nachdem eine weitere Gruppe von Annons Männern in eine Mauerfalle geraten war, ging Annon langsamer vor und baute ein Balkengerüst über den Köpfen derer, die das Mauerwerk zu durchbrechen versuchten. Endlich hatten sie ein Loch in die Absperrung des Hauptgangs gerammt, zwängten sich durch die verzahnte Quermauer, rückten vor und er-oberten eine weitere Ebene – nur um zu erleben, wie erneut ein Dach auf die Köpfe von vierzehn Männern herabstürzte und sie zerquetschte. Vor sich fanden sie den Korridor wieder blockiert. Sie verlegten das Ge-rüst nach vorne und machten sich mit wilder Entschlossenheit von neuem an die Arbeit. Als die Nacht einbrach, waren sie nur wenig vorangekommen. Aber Annon sagte: »Wir holen sie da raus und bringen auch noch den letzten pelbarischen Schweinearsch um. Es dauert nur seine Zeit.«

Er rief Misque und versuchte, mehr Informationen aus ihr herauszubekommen, aber sie konnte ihm wenig sagen, was er nicht schon wußte. Sie war zwar offensichtlich fähig, die Anlage der Stadt zu erklären, wußte aber nichts vom Fallensystem! Annon traute ihr nicht. Er ließ sie in einen Lagerraum werfen und bewachen. Sie lag am Boden und weinte, weil sie wußte, daß Annon jetzt Jaiyan und seinen Sohn töten würde, wenn es ihm paßte.

Brudoer erforschte schon seit einiger Zeit die Höhlen und hatte von der Invasion nichts bemerkt, bis ihm, als er sich den Weg durch einen Mauertunnel suchte, auffiel, daß eine der Mauerfallen ausgelöst worden war. Er hörte ein schwaches Hämmern und Klopfen und betrat die eigentliche Stadt durch einen Gehei-meingang in einem unbenutzten Raum. Misque hörte im Dunkeln hinter sich etwas knirschen. Plötzlich erschien in der Mauer eine Lampe, als Brudoer ein Stück Mauerwerk beiseiteschob. Sie kauerte sich zusammen, wußte nicht, was da vor sich ging. Der Junge glitt in den Raum und schob den Stein an seinen Platz zurück, dann kroch er über den Boden.

Die Lampe warf einen schwachen Lichtschein auf sein Gesicht. »Gamwyn«, keuchte Misque.

Brudoer schnellte ein langes Messer heraus. Er trat zu ihr. »Wer bist du?«

»Misque. Du bist nicht Gamwyn. Du mußt sein Bruder sein. Er sagte, er hätte einen Bruder.«

»Was geht hier vor?«

»Die Peshtak sind in der Stadt.«

»Die Peshtak! Wie sind sie hereingekommen?«

»Ich habe sie eingelassen«, flüsterte Misque schluchzend.

»Du hast – was? «

Ein Licht flammte auf. »He! Was ist los?« fragte der Peshtak-Wächter. In einem Atemzug hatte er sein Schwert geschwungen, Misque warf sich dazwischen und fing mit ihrem Unterarm den Streich ab, der für Brudoer bestimmt war, schrie aber auf, als das Schwert in ihr Fleisch biß. Der Peshtak stieß sie beiseite, aber da rannte ihm Brudoer sein Messer durch den Hals. Er stürzte gurgelnd zu Boden.

Der Junge schloß die Tür, dann beugte er sich zu dem Mädchen, das sich vor Schmerzen wand, aber im Korridor näherten sich Schritte, daher zerrte er zuerst Misque, dann den toten Peshtak durch die Lücke in der Steinmauer, ging zurück, wischte die Blutspritzer weg, glitt selbst durch die Lücke, fügte den Stein wieder in die Mauer und befestigte ihn.

»Ahhhh, ahhhh«, stöhnte Misque.

»Keine Angst. Ich kümmere mich um dich. Ich glaube, dein Arm ist gebrochen. Kannst du gehen?«

»Ja. Ja. Ein wenig.«

»Gamwyn. Wie geht es Gamwyn?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe ihn seit letzten Winter nicht mehr gesehen. Mein Arm. Mein Arm.«

»Komm!« Brudoer führte sie durch die Mauergän-ge langsam und vorsichtig nach unten. Schließlich fiel sie in Ohnmacht, und er mußte sie in die größte Kammer nach unten tragen, dort badete er die Wunde und verband sie.

Misque murmelte leise: »Gamwyn? Laß mich nicht allein, Gamwyn. Du wirst deine Muschel niemals finden. Du kommst nie durch das Tuscogebiet. Bleib bei uns! Bleib bei mir!«

Brudoer schaute sie im flackernden Licht der Lampe an. »Noch mehr Elend«, dachte er.

Der größte Teil der Pelbar war im Gerichtssaal versammelt und wappnete sich für das Ende. »Hört zu!«

sagte Warret. »Sie sind an der letzten Barriere vor uns. Danach gibt es nur noch zwei, hinter die wir uns zurückziehen können. In der ersten Ebene ist eine, und dann in den unteren Ebenen. Eingeschlossen sind wir auf jeden Fall schon jetzt. Wir können viele von ihnen mit den Fallen töten, aber mit der Zeit kriegen sie uns.«

»Aber was sollen wir denn tun?« fragte eine alte Frau.

»Wir werden gegen sie kämpfen, jede Armlänge verteidigen«, sagte Pion. »Jede Armlänge.«

»Wenn sie ohnehin siegen, sollten wir aufgeben.

Vielleicht lassen sie Gnade walten«, sagte die gleiche alte Frau. Mehrere andere stimmten ihr zu.

»Ihr könnt ja aufgeben, wenn ihr wollt«, sagte Bival. »Einige von uns werden es nicht tun. Ihr werdet nur früher sterben. Jetzt können wir ihnen nur noch zeigen, daß sie für das, was sie tun, bezahlen müssen.

Wir können alle Fallen stellen, so daß sie weiterhin sterben, auch wenn sie uns alle erledigt haben.«

»Das ist die Stimme der Grausamkeit«, sagte ein anderes Familienoberhaupt. »Aven würde das nicht tun.«

Sie hörten rennende Schritte auf den Treppen. Zwei Gardisten erschienen. »Wir müssen weg von hier«, rief der eine. »Sie haben die Absperrung fast durch-brochen.« Alle standen auf und eilten durch den Südausgang hinaus. »Lauft!« sagte eine Gardistin und wischte sich den Schweiß aus den Augen. »Wir bedrängen sie, wenn sie durchkommen.«

»Ihr kommt mit!« sagte Warret. Die Gardistin wollte zur Treppe zurück, aber Ason nahm sie am Arm, zerrte sie durch die Tür und brummte: »Wir wollen die Absperrung herunterlassen. Ihr würdet in der Falle sitzen.«

»Es ist meine Pflicht«, stieß sie rasselnd hervor.

Ason achtete nicht darauf, sondern zerrte sie mit zusammengebissenen Zähnen weiter. Von hinten kam das erste Triumphgebrüll der durchbrechenden Peshtak.

Die Eindringlinge zwängten sich durch die obere Lücke und warteten, bis eine Gruppe von sechzehn Leuten beisammen war, dann gingen sie mit aufge-legten Pfeilen die Treppe hinunter. Plötzlich kippte der Boden unter ihnen weg, und sie stürzten in eine Grube. Der Boden schwenkte wieder zurück. Alles war so schnell gegangen, daß kein einziger Schrei ertönte. Auch die nächste Gruppe von Männern stürzte in die Falle, aber die nachfolgenden sahen sie und überbrückten den Spalt mit Stangen. Als sie die Treppenfalle nach unten schwenkten und hinein-leuchteten, sahen sie, daß die Männer unten alle aufgespießt waren. Als Annon davon hörte, schlug er mit der Faust gegen die Mauer.

In diesem Augenblick kam ein Mann die Treppe herunter und verkündete: »Kommandant Annon, Misque ist verschwunden.«

Der Peshtakanführer stieß einen Wutschrei aus und drehte sich ruckartig um. Seine Gesichtsmaske löste sich und fiel mit leichtem Klatschen zu Boden. Er bückte sich, um sie aufzuheben, die Männer um ihn herum sahen seinen mit rohem Fleisch überzogenen Schädel unverhüllt. So abgebrüht sie auch waren, bei diesem Anblick erstarrten sie vor Entsetzen. Annon setzte die Maske wieder auf. Ein kurzes Schweigen folgte. »Wartet nur«, sagte Annon. »Ihr werdet noch alle so aussehen. Das gehört dazu, wenn man ein Peshtak ist. So. Und jetzt nehmen wir jeden Schrank und jede Truhe in diesem Pfuhl auseinander und tö-

ten jeden Pelbar, jede Maus, jede Schabe darin. Bewegt euch, ihr Schweineschnauzen!«

Die Peshtak gingen vorsichtig zu Werke, denn sie wußten jetzt, daß ihnen die Stadt selbst mit ihren Fallen im Inneren auflauerte. Sie brauchten einen ganzen Tag, um Breschen in die nächsten Absperrun-gen zu schlagen, und kaum hatten sie eine überwun-den, sahen sie wieder eine vor sich.

»Sie führt anscheinend zu den untersten Ebenen der Stadt, Kommandant«, berichtete ein Mann Annon. »Ich glaube, jetzt haben wir sie.«

Von der Mauer darüber erscholl ein langes Hornsi-gnal. Die Peshtak-Posten hatten zwei große Schiffe voll mit Gardisten gesehen, die von Pelbarigan kamen. »Laßt sie nur kommen!« sagte ein Truppführer.

»Die kommen hier auch nicht leichter herein als wir.«

Während sie noch zusahen, löste sich von einem Schiff ein kleines Boot, und drei Männer kamen ans Ufer. Einer war ein Peshtak, er kam über das Vorfeld zur Mauer und schaute herauf. »Laßt mich ein!« rief er. »Ich bin Osel. Die Pelbar wollen euch ein Angebot machen.« Sie warfen ihm eine Strickleiter zu, und er stieg langsam herauf und schwang sich schwer atmend über die Mauer.

Er setzte sich und keuchte. »Bin nicht mehr in Form. Ich war im Gefängnis.«

»Was ist das für ein Angebot?«

»Die Pelbar sagen, sie können unsere Krankheit heilen. Und verhindern, daß sie ausbricht. Sie sagen, das geben sie uns, wenn wir die Leute von Threerivers am Leben lassen.«

Der Truppführer spuckte aus. »Wir werden es Annon sagen.« Er schnippte mit den Fingern) und ein Posten setzte sich in Trab. »Wieso glaubst du diesen Quatsch?«

»Ich hatte die Krankheit. Die ersten Anzeichen.

Genau hier. Jetzt nicht mehr. Alles ist weggegangen.

Ich glaube, sie sind wirklich in der Lage dazu. Es würde sich für uns lohnen. Wir könnten später wie-derkommen und die Stadt einnehmen.«

»Weißt du, was für stierbäuchige Schwierigkeiten wir hatten?«

»Ich kann es mir vorstellen. Trotzdem würde es sich lohnen. Du hast die Krankheit nicht. Das sehe ich. Du weißt nicht, wie das ist.«

Als der Posten Annon berichtete, was geschehen war, dachte der Kommandant nach. Er war ratlos.

Dann ließ er Osel kommen und hörte ihn an. Er schüttelte den Kopf. »Das ist irgendein Trick. Wir sind zu weit gegangen. Wir haben zu viele Männer verloren. Und ich. Was ist mit meinem Gesicht – mit Leuten wie mir? Können sie mir mein Gesicht zu-rückgeben? Und allen anderen?«

Die Männer um ihn hielten sich zurück, und Annon spürte, daß sie nicht seiner Meinung waren.

»Ich soll also zurückgehen und ihnen das sagen?«

fragte Osel.

»Du bleibst hier bei uns!«

»Ich habe versprochen, zurückzukommen.«

»Getrocknete Schweinshaut! Sollen sie doch daran ersticken!«

»Sie sagten, wenn ich nicht zurückkomme, würden sie jeden herunterschießen, der sich auf den Mauern blicken läßt.«

»Das können sie nicht.«

Osel berichtete in groben Zügen von der Niederla-ge seiner Bande im Winter.

Darauf sagte ein Mann: »Annon, das lohnt sich. Es wäre mehr wert als alles, was wir erreichen könnten ...«

Er verstummte und griff sich an den Leib, in dem Annons Kurzschwert steckte. Die übrigen wichen zu-rück, als Annon, von seinen beiden Leibwächtern flankiert, das Schwert herausriß und es an den Bein-kleidern des Opfers abwischte. »So«, sagte er. »Und jetzt erobern wir den Rest der Stadt!«

Als die Sonne ziegelrot über dem Fluß unterging, lehnte sich Ahroe auf die Schiffsreling und sagte: »Red kommt also nicht zurück. Eigentlich dachte ich, er würde kommen.«

»Vielleicht haben sie ihn daran gehindert.«

»Vielleicht. Die untere Ebene ist immer noch in unserer Hand. Seht ihr die Signale?«

»Und das Fundament darunter ebenfalls, Gardehauptmann.«

»Was ist dort?«

»Gefängniszellen, Eis, eine Wassergrube, Pilzkultur, Lagerräume.«

»Was hatten sie dort doch für Schwierigkeiten!«

»Und die haben sie noch, Gardehauptmann. Jetzt ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis die Peshtak ganz Threerivers eingenommen haben.«

»So unnötig.« Ahroe strich sich das Haar aus dem Gesicht, die Tränen standen ihr in den Augen. »Wir können immer noch beten. Vielleicht geschieht etwas.«

Im Inneren schlugen die Peshtak schließlich eine Bresche in die Absperrung der unteren Ebene, und den Pelbar blieb als Zuflucht nur noch das Fundament der Stadt. Als sie sich hier zum letzten Gefecht sammelten, hörten sie hinter sich ein Klopfen. Sie drehten sich um. »Sind sie da auch?« fragte eine Frau.

»Nein. Das kommt von den Zellen.« Warret entfernte sich im Laufschritt und fand Brudoer, der durch das Türgitter der vierten Zelle schaute und mit dem Griff seines langen Messers gegen die Bretter schlug.

Warret zog die schwere Tür auf. »Bru. Wie kommst du hierher?«

»Keine Zeit. Schnell! Hol aller her! Wir können von hier aus in die Tunnel hinaus.«

»Tunnel?«

»Keine Zeit. Du wirst schon sehen. Hol die anderen!«

Innerhalb von wenigen Augenblicken kamen die Pelbar hintereinander in die Zelle und krochen durch das Loch in den kleinen Raum und die Tunnel dahinter. Sie waren verblüfft und trauten ihren Augen nicht.

Schließlich schob Brudoer den quadratischen Stein zurück und klammerte ihn fest. Als er sich umdrehte, sah er, daß Bival ihn anstarrte. Mit einem kleinen Schrei umarmte sie ihn und sagte: »Es tut mir leid. Es tut mir leid. Was sollen wir jetzt tun?«

Brudoer drängte sich nach vorne durch und führte sie alle in den kleinen Raum, wo er Misque zurückgelassen hatte.

Die Ursana beschäftigte sich sofort mit ihrem Arm.

Andere waren wütend, denn sie wußten jetzt, daß Misque sie verraten hatte.

»Tut ihr nichts!« sagte Brudoer. »Wenn sie den Hieb nicht abgefangen hätte, wärt ihr jetzt alle da drin und würdet auf euren Tod warten.«

»Wenn sie sie nicht hereingelassen hätte, lägen wir alle sicher in unseren Betten«, entgegnete eine Frau trocken.

»Genug«, sagte Brudoer. »Wenn ihr hier heraus-wollt, bringe ich euch heraus. Aber nur, wenn ihr euch um sie kümmert. Sie kennt Gamwyn. Sie hat ihm geholfen. Mir genügt das.«

»Mir auch«, sagte Pion. »Komm, Sohn, wir sollten aufbrechen, ehe es hell wird.«

Während Brudoer die Gruppe durch die Tunnel führte, glitt Osel hoch oben über die Mauer. Bald hörten die Pelbar auf dem Fluß das Platschen, als er zum Schiff schwamm, dann kletterte er über die Seitenwand herauf. »Sie sind nicht einverstanden«, keuchte er. »Ich glaube, einige möchten schon. Aber Annon nicht. Er ist wütend. Er hat da drin zuviele Männer verloren. Und seine Krankheit ist schon zu weit fortgeschritten.«

»Warum bist du dann gekommen?«

»Ich habe es versprochen. Und ich habe Angst. In dieser Stadt riecht es überall nach Tod.«

Im Innern flüsterte Brudoer mit seinem Vater und bat ihn, die Pelbar über das Feld zum Fluß zu führen. Er wollte als letzter folgen. Es war wichtig. Ason mußte bei ihm bleiben.

Brudoer hatte einige Zeit vorher einen Seitengang zur Außenmauer gefunden. Den hatte er studiert.

Craydors Leute hatten ihn gut geplant. Man mußte zwei große Steine hinausschieben, dann brauchte man nur noch die Verblendung wegzustoßen. Sogar zwei Brechstangen hatten sie dagelassen. Mit viel Mühe schoben Brudoer und Ason die Steine weg.

Dann stieß Ason mit einer Stange die Verblendung hinaus. Pion kroch nach draußen. Als er nach oben schaute, sah er, daß sie sich unterhalb des Wasserturms befanden.

Die Peshtak konnten auf diese Seite nicht viele Bogenschützen stellen. Er begann, die Familienoberhäupter durch das Loch herauszuheben. Alle waren bedrückt und still. Ganz schwach hörten sie die Peshtak gegen die letzte verzahnte Absperrung hämmern. Die Pelbar sammelten sich schweigend an der Mauer. Dann führte Pion sie über das Feld. Die Peshtak erblickten die Flüchtlinge erst, als über hundert schon ein gutes Stück auf dem Weg zum Fluß zurückgelegt hatten. Ein Posten blies in sein Horn.

Eine Feuerwolke spritzte aus einem der Schiffe und der Posten wurde mit Schrot aus einer Pelbarkanone durchsiebt. Als weitere Peshtak zu den Mauern stürzten, fingen die Pelbar auf dem Feld zu laufen an, und von den Schiffen blitzte Kanonenfeuer auf.

Bald wurden kleine Boote voller Gewehrschützen zu Wasser gelassen, und die Peshtak mußten sich vor ihrem Streufeuer von den Mauern und Schießscharten zurückziehen. Als der erste Peshtak durch die letzte Absperrung gerutscht war, wußte Annon, daß es zu spät war, und daß die Pelbar irgendwie entkommen waren. Aber wenigstens die Stadt hatte er erobert.

Brudoer verließ sie als letzter. »Jetzt!« schrie er Ason zu. »Steck die Stange da hinein und heble diesen Stein heraus!«

Ohne zu überlegen tat der riesige Mann, was der Junge verlangte. Der Stein gab nicht nach. Ason warf ächzend seinen ganzen, massigen Körper gegen die Stange. Der Stein rutschte, drehte sich, löste sich knirschend. Einen langen Augenblick geschah gar nichts; dann spaltete ein scharfer Riß den Stein darüber. Die Mauer ließ ein leise mahlendes Geräusch hören, und es regnete Splitt, als Brudoer und Ason über das Feld rannten. Brudoer stürzte, ein Pfeil steckte in seinem Bein. Ason riß ihn hoch, stützte ihn und stolperte weiter.

Hinter ihnen knirschte die Mauer wieder. Weitere Bruchstücke spritzten herunter. Dann verschob sich das Diamantmuster. In einer Reihe prasselten die Verblendsteine herunter wie umfallende Spielfiguren.

Plötzlich stürzte die ganze Mauer ein und fiel mit gewaltigem Krachen nach außen. Der Wasserturm neigte sich, drehte sich und brach durch die oberen Terrassen. Im ersten Morgenlicht löste sich die hohe Nordmauer der Stadt auf und stürzte mit tiefem Poltern nach außen. Danach fiel die ganze Stadt in an-haltendem Donner nach innen und begrub die gesamte Invasionstruppe der Peshtak unter Tonnen herabstürzenden Gesteins und wallendem Staub.

Als die beiden das Ufer erreichten, setzte Ason Brudoer ab. »Gütige, leidende Aven, Brudoer. Du hast die ganze Stadt eingerissen. Alles. Jetzt haben wir nichts mehr.« Er schrie vor Verzweiflung und Fassungslosigkeit.

»Auch keine Peshtak mehr«, sagte Bival neben seiner Schulter. Sie lachte hysterisch. »Ich kann es nicht glauben. Ich kann es nicht glauben.«

Brudoer lag auf dem Boden, das Gesicht verzerrt, weil die Pfeilwunde schmerzte. »Craydor hat sie so gebaut«, keuchte er. »Craydor wollte, daß sie einstürzte, wenn es sein mußte.«

»Die Protektorin hatte recht!« kreischte Cilia schrill.

»Man hätte dich totpeitschen sollen!« Sie wollte auf Brudoer losgehen, aber ein Gewehrlauf aus Pelbarigan versperrte ihr den Weg. »Verschwinde!« schrie sie die Gardistin an.

»Wenn du noch viel sagst, stecken wir dich zu den Kartoffeln in die Bilge«, drohte Ahroe. »Er hat euch alle soeben gerettet, und euch gefällt das nicht einmal. Und jetzt alles in die Boote! Wir werden auf den Schiffen über alles nachdenken. Vielleicht sind noch ein paar von den tollwütigen Stinktieren in der Gegend.«

Aber als es heller wurde, lag die Stadt still da, ein großer Haufen von Gesteinstrümmern, durch die sich eine steile Pyramide nach oben erhob, nahe an ihrer Spitze lag Craydors Grabmal. Und ganz am Rand ruhte schwankend der Breite Turm. Bival lehnte sich sinnend an die Reling. »Wieder so einer von Craydors Scherzen«, sagte sie zu Pion. »Sie sagte einmal, die Stadt würde erst fallen, wenn sie aus ihr fortginge.

Das hat sie getan.« Bival lachte wehmütig.

»Weit ist sie nicht gegangen«, bemerkte Rotag.

Während sie noch hinsahen, schwang die Haupttür des Breiten Turms auf. Man sah eine winzige Gestalt darin. Die Tür schloß sich wieder, und dabei schien der Breite Turm ein wenig zu schaukeln, dann glitt er polternd an der Seite der Pyramide hinunter in das Geröll an ihrem Fuß.

»Erstaunlich, daß er noch intakt ist«, sagte Bival.

Sie sah die Gardistin über das Feld zum Turm laufen.

»Ich denke mir, wenn man nicht die Spitze von der Pyramide abgeschnitten hätte, wäre er immer noch da oben.«

Als die Gardisten den Breiten Turm erreichten, der schräg stand, aber immer noch unversehrt war, schwang die Tür erneut auf, und Dardan stand da, zitternd und zerschlagen. Die Gardisten hoben sie herunter und traten ins Innere. Alles lag durcheinander, alle Möbel waren an einem Ende des Raumes zu-sammengeschoben. Mittendrin saß Udge in ihrem Lieblingsstuhl, eine zerbrochene Tasse in der Hand.

Ein Gardist rutschte über den Fußboden und hob einen Tisch von ihrem Schoß.

»Alles in Ordnung?« erkundigte er sich.

»Sprichst du mit mir?«

Der Gardist blickte sich um. »Ich sehe sonst nie-manden. Soll ich dir helfen, rauszukommen?«

»Protektorin! Protektorin!« kreischte sie ihn an.

»Hat man in Pelbarigan keine Manieren mehr?«

»Kann sein. Aber Pelbarigan gibt es noch. Willst du herauskommen? Oder möchtest du lieber hierbleiben? Wir könnten ein paar Seile an dem Ding hier festmachen und es auf das Feld hinunterziehen. Dann kannst du für dich selbst Protektorin sein.«

»Wie kannst ... wie kannst du so mit mir reden? Es ist völlig unglaublich. Wo sind meine Leibgardisten?«

»Deine Leibgardisten? Alle tot. Alle tot, sagt man.«

Udge kämpfte sich hoch und ging, rutschte und kroch mit Hilfe der Gardisten den abschüssigen Fuß-

boden hinauf. Sie hatte vorher nicht einmal hinausge-schaut. Als sie jetzt ins Sonnenlicht trat und um sich blickte und auf die Trümmer starrte, die einmal die unvergleichlich schöne Stadt Threerivers gewesen war, begann sie zu schreien und schlug mit der Faust gegen den steinernen Türrahmen. Die Gardisten standen geduldig daneben.

Dardan blickte von unten zu ihr hoch. »Es hat keinen Sinn, Udge. Jetzt ist alles kaputt. Komm herunter!

Sie haben uns heiße Suppe versprochen. Wenn du Brudoer sein Armband zurückgibst.«