EINS
Hoch oben in der Rundung des Breiten Turms von Threerivers, der südlichsten der drei Pelbarstädte am Heart-Fluß stand Bival, die Hände auf dem Rücken, und schaute über das Wasser. Ihre Augen wanderten über die Hügel und Bäume auf der Suche nach den ersten Herbstadlern, sie erblickte aber nur die letzten Geier, die im Sommer den Fluß bevölkerten. Hinter Bival saß schweigend Udge, die Protektorin und spielte mit Dardan, ihrer engsten Vertrauten, Querstein; drei andere saßen dabei, schauten zu und tranken heißen Tee.
Bival glaubte, zwischen den Bäumen am Westufer, einen halben Ayas oder mehr flußabwärts von der Stadt, etwas aufblitzen zu sehen und kniff die Augen zusammen, sah aber nichts mehr. Als sie den Blick weiter flußabwärts wandern ließ, erblickte sie ein kleines Boot, das den Fluß heraufkam. Es war noch zu weit weg, um Einzelheiten erkennen zu können.
Sie legte die Hand über die Augen. »Ich wünschte, wir hätten dieses Gerät, dieses Teleskop angenommen, das uns die Akademie von Pelbarigan angeboten hat«, überlegte sie. »Ein Boot nähert sich.«
Udge zog die Augenbrauen hoch. »Nur Geduld.
Du siehst es noch früh genug. Wir brauchen keine von diesen Neuerungen. So. Dieses Spiel macht man am besten ohne Ablenkungen. Dardan, ich biete deiner Protektorin Schach.« Udge schob ihren weißen Minister schräg über das Brett.
Dardan grunzte und studierte weiterhin das Brett, dann wehrte sie den Zug mit einem ihrer Männer ab.
Zur gleichen Zeit schauten am Westufer drei Peshtak-Kundschafter durch das Herbstlaub auf die Stadt.
Steelet, der älteste, ein etwas untersetzter Mann mit glattem Gesicht sagte: »Die ersten Kundschafter hatten recht. Ein seltsamer, schweinsbäuchig aussehender Ort. Hohe, geschwungene Mauern mit Terrassen.
Ein großer Wachturm. Drei weitere, sonderbar ge-formte Türme – sieht aus wie ein Schneckenhaus, oder wie eine Muschel. Aber noch seltsamer. Schaut euch diese Mauern an. Schweinische Diamantmuster.
Wieviele eierfressende Pelbar sind da drin?«
»Wer weiß? Nicht viele, glauben wir. Vielleicht keine fünfhundert. Aber mir gefällt die Sache nicht.
Vergiß nicht, was die Tantal in Nordwall erlebt haben.«*
Steelet spuckte aus. In diesem Augenblick kam ein vierter Mann leise durch den Wald gelaufen und schwenkte Ruhe heischend die Arme. Er schaufelte Erde und Sand auf das winzige Feuer – und auf die Fische, die daneben auf Stöcke gespießt waren.
»Ein Boot«, zischte er. »Mit einem Mann.« Er blieb auf den Knien und häufte weiter Erde auf und strich sie glatt, als Durc gedämpft fluchend versuchte, seinen Wels aus dem Durcheinander zu retten. Ein Wort von Steelet, und alle duckten sich und verhielten sich still. Ein stoffbezogenes Kanu mit leichter Ladung näherte sich dicht am Ufer, um den Strömungen der Fahrrinne zu entgehen. Ein schmächtiger, alter Mann
* Siehe 06/4151: »Die Zitadelle von Nordwall«. Im Kampf um die Pelbar-Stadt Nordwall hatten die belagernden Tantal wiederent-deckte Feuerwaffen eingesetzt, die den Pelbar unbekannt waren.
Trotzdem gelang es den technisch überlegenen Tantal nicht, die Zitadelle zu erobern.
ruderte es. Durc und Gnau spannten lautlos ihre Bogen und schlichen sich an das Ufergebüsch heran.
Als sich das Kanu ihrem Versteck näherte, ertönte das klagende Erkennungshorn, langgezogen und wi-derhallend, von der Wache in Threerivers, und der Mann im Kanu nahm sein kurzes Stierhorn und erwiderte das Signal. Steelet legte den beiden Bogenschützen die Hand auf den Rücken, und die Peshtak kauerten sich zusammen und sahen zu, wie der Mann näherkam und flußaufwärts mit langen, trägen Ruderschlägen vorbeifuhr. Es war ein Sentani, fast zahnlos, aber kräftig mit muskulösen Armen. Steelet fluchte gedämpft. Dann flüsterte er: »Ich habe doch gesagt, ihr sollt kein Feuer anzünden.«
»Auch ein lumpiger Befehlsempfänger muß gelegentlich essen«, sagte Durc. Er kratzte Erdkrümel von seinem Wels. »Er hat das Feuer nicht gerochen. Es war klein und nur mit trockenem Sassafras geschürt.«
»Ich weiß nicht. Ich fand, er hat bei einem Schlag gezögert. Nun ja, vielleicht auch nicht. Sicherheits-halber werden wir nach Sonnenuntergang flußaufwärts ziehen. Stiergedärm. Es ist ohnehin sinnlos.
Selbst wenn wir diese Stadt einnähmen, wie lange könnten wir sie halten?«
»Wir könnten einen Vertrag machen.«
»Das ist keine gute Idee. Wir sollten es im Süden, weiter den Heart hinunter versuchen.«
»Sag das Annon. Und paß auf, wie ihm der Gedanke gefällt. Bei all den Lederrücken von Tusco.«
»Halt dein loses Maul, sonst stopfe ich dir diesen kratzigen Fisch hinein«, sagte Steelet und blickte sich um. Aber die drei anderen waren verstummt und beobachteten den Ruderer, wie er sein Ruder eintauchte und durchzog und auf die seltsame Stadt zufuhr, die im Dunst aufragte. Steelet beruhigte sich ebenfalls und richtete seinen Blick wie gebannt auf das wuch-tige Threerivers, als könne er es in sein Gedächtnis zwingen.
Als der alte Sentani endlich die Stadt erreicht hatte, empfingen ihn vier Gardisten an der steinernen An-legeplattform. Sie waren in braune Tuniken und Hosen mit engen Beinen gekleidet, die unter dem Knie mit gestreiften Stoffbändern geschnürt waren. An der linken Seite trugen sie lose herabhängende Kurzschwerter. »Ravell«, sagte der eine. »Es ist lange her.
Was bringst du? Ein leichtes Kanu. Bist du denn nicht zum Handeln gekommen?«
»Handeln? Doch«, sagte der Alte und streckte sich.
»Ich habe etwas für Bival. Es müßte die Reise wert sein.« Der jüngste Gardist drehte sich um und trabte zum kleinen Eingang der Stadt, um der Rätin Bescheid zu sagen, die den alten Händler von ihrem hohen Fenster aus endlich doch erkannt und schon den langen Abstieg zum Fluß angetreten hatte, um ihn zu begrüßen. Sie waren alte Bekannte. In der Vergangenheit hatte sie ihn oft gebeten, ihr Gegenstände von fremdartigem Aussehen mitzubringen. Er hatte es getan, obwohl er sich kaum vorstellen konnte, wo-zu, und sie hatte ihm erklärt, welch sonderbare Ähn-lichkeiten sie in voneinander verschiedenen Dingen sah – in Schlangenhäuten und Kiefernzapfen, Wein-reben und Schneckenhäusern. Aber immer blieb eine gewisse Zurückhaltung, eine Distanz zwischen ihnen erhalten.
Die Bewohner von Threerivers waren verschlosse-ne Leute. Während der jahrhundertelangen Feindseligkeiten mit den Außenstämmen waren die Pelbar traditionell hinter den hohen Mauern ihrer Städte geblieben, außer in den Friedenswochen. Anders als Pelbarigan und Nordwall, die anderen Pelbarstädte, hatten die Leute von Threerivers nicht mit der alten Gewohnheit gebrochen, andere auszuschließen, nicht einmal in den sechzehn Jahren, in denen seit der gro-
ßen Schlacht in Nordwall nun schon Frieden am Heart-Fluß herrschte.
Trotz alledem gab es in der Stadt Menschen mit Phantasie, und einer davon war Bival, die die Händler immer genauestens befragte, wenn sie die Möglichkeit dazu hatte. Sie war sogar schon in Pelbarigan gewesen, betrachtete aber die Stadt als zu groß ge-wordenen, etwas kantigen, flegelhaften, geschäftigen Industrieort ohne ausreichende ästhetische Verfeine-rung.
Ravell war ein einsamer Händler, der den Heart-Fluß bis zum Tuscogebiet unten im Süden befuhr, sich mit den Tusco in der neutralen Zone weit unterhalb der Einmündung des Oh traf und mit ihnen handelte und Baumwolle, Reis und Tees aus dem Sü-
den mitbrachte. Als Bival ihm jedoch diesmal entge-genging, sah sie, daß er nichts dergleichen dabeihatte, sondern nur ein kleines Rindenkästchen, das er ihr entgegenstreckte.
Sie nahm es verblüfft und schaute ihn an. »Ravell.
Wie lange ist es her? Drei Jahre. Komm ins Besucher-zimmer und iß etwas! Was ist das? Ist das alles?«
»Es ist für dich. Es ist die Reise wert, glaube ich, wenn du es siehst«, sagte der alte Mann mit keuchend durch seine schlaffen Lippen gestoßenen Zischlauten. »Ich hatte Mühe genug, es zu bekommen«, fügte er hinzu. »Das wird kostspielig. Ich verlange sieben Wintertuniken dafür.«
Bival zog die Augenbrauen hoch. Aber als er später drinnen an seinem gesüßten Tee nuckelte, hob sie den Deckel des Kästchens und schob das Futter aus Ka-ninchenfell beiseite, und da sah sie eine fremdartige Muschelschale. Mit einem tiefen Atemzug nahm sie sie heraus. Es war offenbar ein genaues Vorbild für den Breiten Turm der Protektorin, eine symmetrische, spiralförmige Muschel, die das Zentrum der Stadt oberhalb der Terrassen krönte. Die Muschelschale war mit blauen Bändern zugebunden. Bival sah, daß man sie sehr sorgfältig gespalten hatte und daß die Bänder sie zusammenhielten. Vorsichtig löste sie sie und nahm die Muschel auseinander. Wieder atmete sie tief ein, als sie die inneren Trennwände der sich schön entfaltenden Spirale sah, jede einzelne genau plaziert, jede einzelne sanft gewölbt. Jetzt verstand sie die Raumaufteilung im Breiten Turm. Craydor, die vor mehr als dreihundert Jahren Threerivers entworfen hatte, hatte einfach nach einem solchen Modell gearbeitet. Erstaunlich.
Sie schaute zu Ravell auf, der schweigend dasaß und sie betrachtete. »Sie kommt vom südlichen Meer, dem bitteren Wasser unterhalb der Mündung des Heart«, sagte er.
»Du? Warst du dort?«
»Nein. Ich habe sie von den Tusco von U-Bend. Ich habe mich über die neutrale Zone hinausgewagt, oh-ne es eigentlich zu merken, und sie fingen mich und machten mich zum Sklaven. Drei Jahre habe ich dort verbracht. Aber Jaiyan hörte weiter flußaufwärts davon, und er sagte den Tuscohändlern, sie sollten mich lieber gehen lassen, sonst würden sie von den Sentani von Koorb etwas zu hören kriegen.«
»Und dann haben sie dir die Muschel gegeben?«
»Ich habe sie aus ihrem weißen Turm gestohlen.
Ich fand, das seien sie mir schon schuldig. Sie war ei-ne von ihren Kuriositäten, aber als ich sie sah, wußte ich, daß du sie würdest haben wollen.«
»Sieben Tuniken?«
»Sieben.«
»Du sollst sie haben. Komm morgen früh und hole sie dir!«
Der Sentani widersprach mit erhobenen Händen.
»Ich muß heute nacht in der Stadt bleiben.«
»In der Stadt? Das wird hier nie so gehandhabt. Du weißt es.«
»Nicht weit im Süden habe ich schwach ein Feuer gerochen. Kurz ehe das Horn ertönte, erhaschte ich einen Blick auf Männer in den Büschen, sie waren bewaffnet und beobachteten mich. Ich war froh um dieses Horn.«
»Männer? Was für Männer?«
Ravell zuckte die Achseln und streckte die Hände aus. »Ich weiß nur, daß es Männer waren, die nicht gesehen werden wollten. Ich habe einen Bogen gesehen, klein und doppelt gekrümmt.«
Der in der Nähe stehende Gardist hörte dieses Gespräch und sagte: »Ich sehe keinen Grund, warum er nicht in der Stadt bleiben sollte, Südrätin. Wenn du gestattest, werde ich den Gardehauptmann fragen.«
Sie neigte den Kopf, und der Mann ging. Dann gab sie dem Alten die Muschel zurück, und er legte sie vorsichtig wieder in das Kästchen. »Bis morgen früh dann?« Sie streckte die Handfläche aus, und beide be-rührten sich zum Zeichen des Einverständnisses und des Abschieds. Dann drehte sie sich um und ging.
Später kramte Bival in dem kleinen Zimmer mit den Steinwänden, das sie mit ihrem Gatten teilte, in einem Korbkasten herum, während sie fragte: »Wo sind die Zettel, die wir gespart haben?«
»Nicht in diesem Kasten. Schau auf dem umran-deten Fach nach! Warum fragst du?«
»Ich brauche sie.«
»Du? Du brauchst sie? Ich habe sie mit meiner Ne-benarbeit verdient. Was brauchen wir denn?«
»Wir? Das ist zu wichtig, um kleinlich zu sein, Warret. Etwas höchst Erstaunliches ist passiert. Ravell, der Sentanihändler hat mir eine wunderbare Muschel gebracht – das Modell für den Breiten Turm. Ich hatte schon vermutet, daß Craydor ein richtiges Modell hatte. Es sieht ihr ähnlich. Seit Jahren versuche ich, Craydors Entwürfe zu verstehen. Das ist ein Schlüssel.«
»Aber ich habe die Zettel für eine Pellute gespart.
Seit drei Jahren. Jetzt hatte ich fast genug. Meine Ne-benarbeit ...«
Bival richtete sich auf und seufzte. »Warret, ich will einfach nicht darüber streiten! Das ist zu erniedrigend. Auch du wirst von dieser Sache profitieren. Du mußt einfach Vertrauen zu meinem Urteil haben.
Und damit Schluß!«
Warret starrte sie an. »Schluß? Einfach so? Ja, es ist Schluß!« Er fing an, seine Kleidung von seinen Fä-
chern herunterzuräumen.
Bival runzelte die Stirn. »Was soll das jetzt? Noch mehr Widerstand? Wirst du nie lernen, wo dein Platz ist?«
Warret antwortete nicht, sondern fuhr fort, seine Kleidung zu einem Bündel zusammenzurollen.
»Du hast einen Eheeid geschworen. Einen Pel-bareid. Willst du ihn einfach wegwerfen? Du hast dich bereit erklärt, zu gehorchen. Niemand hat gesagt, daß das immer leicht sein würde.«
»Ich erfülle meinen Eid nur aus größerer Entfernung.« Er wandte sich zur Tür. Sie stellte sich ihm in den Weg. Er blieb einfach passiv stehen.
»Und jetzt wirst du diese Sachen wieder in die Fä-
cher zurücklegen!«
Er drehte sich um, stellte das Bündel ab und stopfte alles in ein Fach.
»Sei doch nicht kindisch! Falte die Sachen, wie es sich gehört!«
»Mir gefallen sie so.«
»Ich werde dafür sorgen, daß man dich zum Wasserheben abstellt!« Warret antwortete nicht, sondern blieb einfach auf einem Fleck stehen. Sie wurde es schließlich müde, ihn anzustarren und machte sich wieder auf die Suche nach den Zetteln. Er rührte keinen Finger. Mit einem gereizten Seufzer zählte sie die Zettel durch, legte zwei zurück in den Weidenkorb, in dem sie sie gefunden hatte, und ging dann, um gegen die übrigen sieben Tuniken einzutauschen.
Als sie später mit den schweren Kleidungsstücken zurückkehrte, war weder Warret da, noch sein Klei-derbündel. Bival ließ sich nachdenklich auf ihr Bett fallen und strich mit der Hand über die Tuniken. Ihr Mann würde ihr schon noch rechtgeben. Sie sah voraus, daß sie durch die Muschel an Macht gewinnen würde. Davon würde auch er profitieren, ob er wollte oder nicht.
Inzwischen ging auf der anderen Seite des Flusses ein Trupp Gardisten zu der von Ravell beschriebenen Stelle und fand das erloschene Feuer der Peshtak-Kundschafter. Bei Fackelschein suchten sie das Ge-lände ab, entdeckten aber nur ein paar vereinzelte Spuren, die ihnen nichts verrieten.
Als sie abzogen, bemerkte mehrere hundert Armlängen entfernt in einem Dickicht Steelet, der Anführer der Peshtak: »Ich hatte recht. Der Alte hat doch etwas gesehen. Stiergedärm über ihn! Über dich auch, Durc! Morgen beobachten wir noch weiter, dann kehren wir an den Oh zurück. Diese Stadt könnte eine Lösung für uns sein, aber ich zweifle daran. Dieses schweinische Gelände ist viel zu flach und offen. Ich brauche Berge, wo ich mich verstecken kann.«
Als Bival am Morgen erwachte, war ihr Gatte noch immer nicht zurückgekehrt. Sie nahm sich vor zu be-antragen, daß man ihn zum Wasserheben abstellte.
Threerivers hob nämlich immer noch sein gesamtes Wasser von unterirdischen Quellen bis zum Spiralturm hoch über die Stadt hinauf. Von da floß es hinunter in alle Baderäume und Küchen wie auch in die geschwungenen Terrassengärten, die sich stufenförmig um die südliche Hälfte des Stadtdaches wölbten, in anmutigen Schwüngen nach unten abfielen und während der ganzen Wachstumssaison dicht be-pflanzt waren.
Unten wartete Ravell ungeduldig auf Bival. Wegen der Fremden wollte er einen ganzen Tag und eine Nacht hindurch rudern, um möglichst viel Abstand zwischen sich und Threerivers zu legen. »Ich kehre nach Koorb zurück«, sagte er, als die Südrätin kam.
»Ich habe für eine Weile genug vom Handeln, glaube ich, vielleicht sogar für immer.« Er lächelte zahnlos und reichte ihr das Kästchen. Sie war so begierig danach, daß sie sich kaum richtig von ihm verabschiedete.
Als der Gardist Ravell hinausließ, grinste er. »Ich glaube, sie freut sich«, bemerkte er und schenkte dem Händler einen kleinen, für die Reise in Korb einge-flochtenen Keramikkrug mit Honig. Sie verabschiedeten sich durch Aneinanderdrücken der Handflä-
chen, und der Gardist half dem Alten, sein Kanu in die Strömung zu schieben. Sie lächelten einander ein letztes Mal zu. Dann überflog Ravell mit den Augen das Westufer, tauchte sein Ruder mit tiefen, kräftigen Schlägen ins Wasser und fuhr in die Fahrrinne hinaus.
Bival konnte ihre Ungeduld fast nicht bezähmen.
Schließlich blieb sie hoch oben auf der Wendeltreppe zum Breiten Turm auf einem Absatz stehen. Sie wollte sich die Muschel einmal ganz genau ansehen, ehe sie sie der Protektorin zeigte. Sie stellte das Kästchen auf ein breites Fenstersims, wo die aufgehende Sonne es beleuchten konnte. Sie löste die Verschnürungen, legte die beiden Muschelhälften ausge-breitet hin und stand bald in die Betrachtung ihrer Form verloren da.
Sie hörte nicht, wie Gamwyn und Brudoer, die Zwillinge, über ihr mit Säcken voller Müll und Wä-
sche, die sie in den Räumen der Protektorin und im Gemeinschaftsraum des Rates gesammelt hatten, die Treppe heruntergepoltert kamen. Die Jungen waren vierzehn Jahre alt, unausgefüllt, voller Energie und damit beschäftigt, einander kichernd und Ärger vor-täuschend zu schubsen. Als sie um die Biegung zum Treppenabsatz kamen, schwang Brudoer seinen Sack, und Gamwyn, der ihm ausweichen wollte, sprang zurück und prallte gegen Bival. Sie taumelte. Mit einem heftigen Atemzug sah sie, wie die beiden Muschelhälften wie Flügel ohne Vogel vom Herbstwind erfaßt wurden, stürzten, sich drehten, schwebten, an der letzten Terrassenwand hängenblieben, zerbra-chen, als weiße Flocken über den Rand der hohen Stadtmauer weiterstürzten und immer kleiner wurden. Sie wirbelte herum.
Die Jungen standen betäubt und stumm da. Mit einem unartikulierten Schrei schlug sie mit ihrer schweren, beringten Hand nach Gamwyn und riß ihm die rechte Backe auf. Sie prügelte weiter auf ihn ein, während er kreischte und taumelte und sich seine roten Hände vor sein blutüberströmtes Gesicht hielt.
Nach einem Augenblick des Schocks riß sich Brudoer den Gürtel herunter und schlug mit der schweren Schnalle in schnellen, wütenden Hieben nach Bival, ohne sich zu überlegen, welch entsetzliche Tat er, ein Knabe, da an einer führenden Persönlichkeit der Stadt beging.
Sie drehte sich blitzschnell zu Brudoer herum, hielt die Hände hoch und wollte den Gürtel fassen. Gamwyn sank auf den Steinboden. Bival erwischte schließlich den Gürtel, riß daran und warf Brudoer um, gerade als zwei Gardisten atemlos die Wendeltreppe heraufgelaufen kamen. Einer packte Brudoer, der sich immer noch wehrte und schrie: »Laß mich los, du Fischgesicht! Sieh dir meinen Bruder an! Ich bring sie um! Laß ...« Der Gardist hielt ihm mit dem Unterarm den Mund zu.
»Südrätin ...«, begann er.
Bival wollte wieder nach Brudoer schlagen, aber der Gardist drehte sich um und deckte den Jungen mit seinem Körper. Bival blutete an Kopf und Händen. »Sperrt sie ein!« sagte sie knapp. »Sie haben mich angegriffen. Und du, Brudoer, nach allem, was ich für dich mit deinem armen, langsamen Gehirn getan habe. Abschaum! Was bin ich doch für eine Närrin! Einen Mörder Mathematik lehren zu wollen.
Jetzt sperr sie ein, Gardist, sofort! Ich muß ins Krankenrevier.« Ohne ein weiteres Wort stieg sie die Treppe hinunter und ließ die beiden völlig verdutz-ten Gardisten mit dem Jungen stehen.
»Was ist passiert?« fragte der eine.
»Ich weiß nicht. Ich weiß nicht. Ich bin in sie hin-eingerannt«, murmelte Gamwyn und hielt sich die blutende Wange. »Es tut mir leid. Gütige Aven, Brud, was hast du getan?«
Brudoer konnte nicht antworten. Der zweite Gardist hielt ihm immer noch den Arm vor das Gesicht.
Als der Junge versuchte, ihn zu beißen, verstärkte er seinen Griff in grausamer Weise, bis Brudoer aufhör-te, sich zu wehren. Weitere Gardisten trafen ein, und Brudoer wurde die Treppe hinuntergebracht. Zwei Männer knieten neben Gamwyn nieder und sagten: »Nimm die Hand weg! Wir tun dir nicht weh. Komm jetzt! Nimm die Hand weg!« Als er es schließlich tat, quoll dahinter Blut hervor, und der Gardist keuchte leise. »Kannst du gehen?« fragte er.