ZWÖLF
In dieser Nacht schlief Gamwyn unruhig, da die Siveri alle Flöße zu einer Flottille zusammenbanden, einander zuriefen und unaufhörlich sangen, um ihre Flucht zu feiern. Gamwyns Gefühle rumorten in seinem Magen wie gärender Teig. Er war überglücklich, aber er hatte auch mit angesehen, wie die Tuscostadt im Fluß verschwand, mit vielen ihrer Menschen, ohne Zweifel auch dem Mädchen Daw, das ihm das Leben gerettet hatte. Die Zerstörung von Jaiyans baufälli-gem Schuppen war ein Unfall gewesen, aber hier galt das nicht. Hier hatte er darauf hingearbeitet. Gamwyn spürte, wie Entsetzen wie die Kälte der Nacht in ihm hochkroch. Er war schuld am Tod Hunderter von Menschen.
Angesichts der Dämmerung und der unverhohle-nen Freude der Siveri verspürte er jedoch Erleichterung. Nim blieb dicht bei Muse, der ernstlich verletzt war, aber lachte, während er immer wieder beschrieb, wie die Siveri in den Wachturm eingebrochen waren und drei verblüffte Nicfad aufspießten, als sie ihn be-drohten.
Als der Morgen kam, zog sich die Flottille wieder zwischen die überschwemmten Bäume am Ostufer zurück und die Sklaven schickten sich an, die Heimreise über Land anzutreten. Sie waren vom Entzug des Rauchs nervöser denn je, aber Nim und seine Männer drängten sie ständig weiter. Die Siveri wollten, daß Gamwyn sie begleitete, aber das lehnte er ab.
Er konnte es nicht erwarten, weiter flußabwärts zu fahren und die letzte Tuscosiedlung am Fluß zu passieren, solange noch Hochwasser herrschte. »Sie heißt High Tower«, sagte ein alter Siveri. »Sie liegt am Westufer. Sie ist nicht so groß wie U-Bend, aber es gibt eine Menge Nicfad dort. Du mußt sehr vorsichtig sein. Schleiche dich bei Nacht vorbei! Bleib zwischen den Bäumen am Ostufer!«
Bald schrien die Siveri, im Schlamm am Ufer stehend, Gamwyn ein Lebewohl zu, während er ein schmales Floß, vier Balken breit, wieder in die Strö-
mung hinausstakte. Sein Herz klopfte heftig vor Angst, aber er stellte seinen Entschluß nie in Frage.
Einmal drehte er sich um und sah, daß die Hauptma-sse der Siveri dem Fluß schon den Rücken gekehrt hatte und durch die grünenden Bäume und die wei-
ßen Frühlingsblüten nach Osten zog.
Gamwyn paddelte und stakte lässig, fischte unterwegs, ohne etwas zu fangen, bis er sich in der Abenddämmerung wieder in die Untiefen zurückar-beitete. Dann zog er einen großen Wels heraus, den er mit dem Messer, das Sagan ihm gegeben hatte, ausnahm und säuberte. Die Tusco hatten es ihm nie abgenommen, weil sie es für einen harmlosen Hals-schmuck hielten.
Gamwyn zog sein Floß auf den Strand und ging, um das Feuer zu verbergen, mit seinem Fisch einen halben Ayas vom Fluß weg. Er aß, soviel er konnte, den Rest trocknete er auf kleiner Flamme. Dann tastete er sich durch den dunklen Wald zum Fluß zu-rück. Er wußte, daß er noch weit von High Tower entfernt war, deshalb stakte er wieder in die Strö-
mung hinaus und ließ das Floß treiben. Er fühlte sich einsam und elend.
Nach einiger Zeit glaubte er, etwas zu hören – dann rief jemand, eine Frau. Es war ein Jammerlaut. Gamwyn legte sich flach auf sein Floß und verhielt sich still. Vielleicht hatte sich einer von den Siveri verirrt.
Nein. Er erkannte den verschliffenen Dialekt der Tusco. Mit leisen Ruderschlägen fuhr er näher heran.
Im schwachen, von vorüberziehenden Wolken immer wieder verdunkelten Mondschein sah er zwei Gestalten auf einem Floß aus Treibholz, die eine saß da und rief, die andere lag. Die sitzende beugte sich über sie und murmelte etwas. Gamwyn ruderte lautlos näher, ausgestreckt auf seinem Floß liegend, mit heftig klopfendem Herzen.
»Nein, Mutter, kein Essen. Ich kann nicht fischen.
Wir kommen nach High Tower. Keine Angst. Wir schaffen es.«
Es war Daw. Gamwyn war ganz sicher. Zuerst wollte er im Dunkeln unbemerkt vorbeifahren. Aber er verdankte ihr sein Leben. Sein Atem ging schnell vor Angst, aber schließlich rief er leise über das Wasser: »Daw!«
Sie stieß einen kleinen Schrei aus, richtete sich auf, verlor fast das Gleichgewicht und setzte sich wieder.
»Wer? Wer du? Im Namen von Roara, dem Geist der Geister, hilf uns!«
»Gamwyn. Ich bin der Pelbar. Der, den du am Brunnen gerettet hast.«
Daw hob die Hände an den Kopf, als Gamwyn sich aufsetzte und näher heranruderte. »Nein. Was willst du uns tun? Nein. Geh weg!«
»Tun? Nichts. Keine Angst. Ich habe ein wenig getrockneten Fisch.«
»Fisch?«
»Nicht so furchtbar viel. Genug, daß du und deine Mutter etwas essen können. Wir werden noch mehr fangen.«
Sie sagte nichts, als sein schmales Floß knirschend gegen das ihre stieß, das sich als Stück des weißen Turms herausstellte. Auf einer Seite waren immer noch einige Knochen befestigt.
Gamwyn nahm ein Seil und band die beiden Flöße lose zusammen. »Sind wir Freunde?« fragte er.
»Freunde?«
»Du wirst mir nicht schaden, oder?«
»Schaden? O nein. Wo hast du diesen Fisch?«
Gamwyn gab den beiden zu essen, dann brachte er das Doppelfloß zu den Untiefen am Ostufer. Daws Mutter lag da und bewegte sich kaum. Gamwyn legte seine beiden Angelleinen aus und durchsuchte Daw nach Waffen, obwohl sie schimpfte und sich wand, als er sie leise lachend abklopfte. Auch die ältere Frau durchsuchte er. Sie hatten nichts bei sich. Offenbar waren sie irgendwie mitgerissen worden, als der Fluß durchbrach und waren in dem Gerangel im Dunkeln mit ihrem Floß hochgekommen.
Die beiden jungen Leute sahen einander in der Dunkelheit an. »Ich werde dafür sorgen, daß ihr nach High Tower kommt, aber ihr dürft mich nicht wieder zum Sklaven machen.«
»Ich verspreche dir nichts. Es ist richtig, daß du dienst.«
»Daw«, ächzte die Frau. »Nicht jetzt. Er soll uns helfen.«
»Ich verstehe. Damit ihr mich später hereinlegen könnt«, sagte Gamwyn. »Das ist die Vorstellung des Komitees von Wahrheit. Nun, ich werde euch in jedem Fall helfen, weil ich es Daw schuldig bin. Aber ich muß weiter.«
»Weiter? Wohin?«
Gamwyn erzählte ihnen die ganze Geschichte mit der Muschel. Daws Mutter seufzte. »Du bist verrückt.
Es ist nur Zufall, daß du soweit gekommen bist.«
»Zufall? Vielleicht. Irgendwie habe ich die Vorstellung, Craydor weiß, daß ich auf diese Reise gehen würde. Mir ist klar, daß das albern ist. Aber es ist, als hätte sie es sich ausgedacht – daß jemand die Muschel holt. Jemand würde etwas tun. Der Jemand war zufällig ich.«
»Das ist religiöser Fanatismus, Junge. Er hat dich in die Sklaverei geführt und wird es wahrscheinlich wieder tun.«
»Fanatismus? Ist er schlimmer als der gesellschaftliche Fanatismus, für den ihr soviel übrig habt? Alle im Namen eines albernen Systems zu versklaven und brutal zu behandeln, weil ihr soviel Vertrauen dazu habt? Und dann eure Stadt da zu bauen, wo der Fluß sie unweigerlich eines Tages mit sich reißen mußte?«
Die alte Frau stöhnte wieder.
»Wenigstens haben wir einige Werte, etwas Moral«, fügte Gamwyn hinzu.
»Halt doch endlich den Mund!« sagte Daw.
Erschrocken schaute Gamwyn sie im Dunkeln an, konnte aber nur die Schräge ihrer gereizt hochgezogenen Schultern sehen. Er beugte sich hinüber, legte seine Wange an die ihre und hielt sie fest, so daß sie nicht zurückweichen konnte. »Entschuldige«, sagte er. »Wir wollen uns einfach ausruhen. Morgen früh können wir für deine Mutter eine Liege machen und besseres Essen besorgen.«
Das erwies sich wegen der Überschwemmung und des sumpfigen Flachlands als schwerer, als Gamwyn gedacht hatte. Es gelang ihm, an das Floß einen Balken anzufügen und ihn mit einer Ranke festzubinden.
Er baute eine Liege für die verletzte Frau, wozu er mehrmals in den Wald hineinwatete, um genügend altes Laub zum Auspolstern zu holen. Die Knöchelwurz stand tief unter Wasser, und obwohl er ein Stück vom Fluß entfernt ein paar Pilze und mehrere Stengel wilden Spargels fand, mußten sie hauptsächlich Fisch essen. Gamwyn wusch die Frau und schiente ihren Arm, der sichtlich gebrochen war. Sie lag teilnahmslos, gleichgültig da, mit glasigen, abwei-senden Augen, den Mund zu einem Strich verkniffen.
Daw war nicht sehr hilfreich.
Gamwyn sah, daß die alte Frau eher tief im Schock als gefährlich verletzt war. Er wußte, daß ihr ihre Welt entrissen worden war, und das war nicht so leicht zu heilen. »Ich werde dir eine Hymne vorsin-gen«, sagte er.
»Behalte deine dreckige Hymne für dich!« erwiderte die alte Frau schwächlich.
»Dann singe ich sie eben für mich«, sagte Gamwyn und sang leise alle vier Strophen der ›Hymne an den Frühling, das Zeichen der Erneuerung‹. Es brachte ihm nur schwachen Trost. Die beiden Frauen schwie-gen. Da verstummte auch Gamwyn. Er schaute hinaus auf den Fluß, der breit und bis auf die Bäume und die Balken, die auf den Fluten schwammen, leer dalag.
»Wir sollten weiterfahren«, murmelte er. Er stakte hinaus, hielt sich aber am Ostufer. Den ganzen Tag über sahen sie nichts, und an Gamwyns Leinen fing sich auch kein Fisch. Als sie am Abend ihr Lager auf-schlugen, holte er jedoch einen großen Karpfen heraus, den er wieder ein Stück vom Fluß entfernt briet, das Feuer entzündete er mit seinem Drillstab.
Als er den Fisch zum Floß zurückbrachte, schien etwas nicht in Ordnung. Daw saß da wie ein lebendes Bild. Ihre Mutter starrte nach oben und blinzelte nervös. »Was ist ...« begann Gamwyn, aber von hinten schoß ein Seil hervor und legte sich um seinen Hals.
Er drehte sich um und sah einen Nicfad, der das Seil festzog, aber nicht so, daß es ihn umgerissen hätte.
»Gib acht auf den Fisch, Sklave!« sagte der Nicfad grinsend. Gamwyn schrie auf und ließ ihn in das trü-
be Wasser fallen. Voller Wut riß der Mann ihn nieder und zerrte ihn durch Schlamm und Wasser, endlich zog er ihn am Seil hoch und erdrosselte ihn dabei fast.
»Mach das nicht noch einmal!« knurrte er. »Du hast in High Tower genug Schuld zu bezahlen.« Er ließ das Seil locker, und Gamwyn keuchte und rang nach Luft. Der Nicfad zerrte ihn zum Floß und warf ihn darauf.
»Was ist mit unserem Essen?« fragte Daw. »Er brachte uns Essen.« Der Nicfad sagte nichts, sondern schob das Floß hinaus in den dunkler werdenden Fluß. »Was ist mit Essen? Wir müssen essen«, sagte Daw hartnäckig.
»Hinlegen, Komiteefrau!« sagte der Mann grob.
»Ich weiß nicht, wieviel Freunde dieses Mörders hier in der Gegend sind. Wenn wir die ganze Nacht rudern, müßten wir morgen früh bei Tagesanbruch High Tower erreichen. Dann seid ihr in Sicherheit.
Dort gibt's genug zu essen. Und die gerechte Strafe für diesen Mörder.«
»Mörder? Gamwyn? Er hat uns geholfen.«
»Er ist einer von ihnen, den Mördern. Du wirst sehen. Was sagt die andere Komiteefrau?«
»Feßle ihn, Daw!« sagte die Mutter. »Der Nicfad hat recht.«
Daw fesselte Gamwyn, aber nicht brutal. Während sie die letzten Knoten festzog, beugte sie sich dicht über ihn. Er konnte ihren warmen Atem spüren und ihre kleine feste Brust an seiner Schulter fühlen. »So«, sagte sie. »Er ist genug gefesselt.« Sie rückte von ihm ab. Gamwyn wußte, daß sie Mitleid mit ihm hatte, aber plötzlich fand er sie genauso abstoßend wie die anderen. Es war alles so jämmerlich.
Mitten in der Nacht begann es zu regnen, in Schauern, mit viel Wind und gelegentlichen Blitzen. Der Nicfad sagte nichts, ruderte unermüdlich weiter. Daw legte sich nieder. Sie berührte Gamwyn mit ihrem Fuß, ließ ihn neben seinem Bein liegen. Er sprach die ganze Nacht kein Wort. Was meinte der Nicfad? Welche Schuld sollte er in High Tower wie bezahlen?
Der Morgen dämmerte grau und ungemütlich. Es war noch nicht ganz taghell geworden, als sie um ei-ne Biegung fuhren und der Nicfad sagte: »Komiteefrau, vor uns liegt High Tower. Dort werden sie sich um dich kümmern. Und um das Mädchen. Und diesen mörderischen Sklaven.«
Als sie sich der Anlegestelle näherten, nahm sie ein Trupp in schwarzes Leder gekleideter Nicfad in Empfang. Gamwyn wurde hochgerissen und auf die Skla-venquartiere zugestoßen, die nahe am Fluß lagen. Als er aufschaute, sah er den Turm, voller weißer Knochen wie der von U-Bend, aber viel größer. Er stand auf höherem Gelände, ein Stück vom Fluß entfernt.
Wieder schauten die Siveri teilnahmslos von ihrer Arbeit auf, als die Nicfad Gamwyn mit Stößen und Püffen in den Raum am Fuß einer der Wach türme trieben. Er wurde ins Innere gestoßen, die Tür schloß sich hinter ihm. Erschöpft und hungrig lag er im schmutzigen Stroh. Gegen Sonnenhochstand riß ein Nicfadführer die Tür auf, starrte zu ihm herein und knallte sie wieder zu. Wieder kamen Wind und Regen, dann schien ein wenig die Sonne.
Gamwyn versuchte zu beten, zuerst vergebens, weil er so hungrig und durstig war und Angst hatte, aber dann beruhigte er sich mit leise gesungenen Pel-barhymnen. Er war immer noch wütend auf sich selbst, weil er so dumm gewesen war und Daw und ihrer Mutter hatte helfen wollen. Aber er fand immer noch, das sei er ihnen schuldig gewesen.
Nachdem es wieder dunkel geworden war, hörte Gamwyn draußen Geräusche, und die Tür öffnete sich knirschend. Er schaute auf und sah einen Trupp Nicfad. Man riß ihn hoch und führte ihn hinaus zum Fluß. Als er sich in wilder Angst umschaute, stellte er fest, daß anscheinend die gesamte Bevölkerung anwesend war und in Reih und Glied das Ufer säumte.
Man führte Gamwyn zu einer Plattform in der Nä-
he des Flusses. Als er sich umschaute, sah er Reihen von Sklaven. Hinter ihnen stand eine Reihe Nicfad mit gespreizten Beinen, Stöcke in den Händen. Hinter den Nicfad standen die Arbeiter. Als Gamwyn, während man ihn weiterzerrte, über sie hinwegschaute, sah er, daß sich überall am Turm Gesichter drängten, die alle zu ihm herunterschauten. Eine plötzliche Woge der Angst machte ihn schwach. Was hatten sie vor? Hinter dem Turm brodelten und kochten dunkle Wolken an einem seltsam gelb leuchtenden Himmel.
Einige der Wolken hingen herunter wie schwere, dunkle Trauben. Der Wind frischte auf, und ein Re-genschauer zog vorbei.
Gamwyn wurde mit Tritten und Stößen auf eine Plattform hinaufbefördert. Dort stand ein primitiver Tisch mit einem Balken am westlichen Ende. Plötzlich begriff Gamwyn, daß sie die Absicht hatten, ihm als Strafe für die Flucht den Fuß abzuschneiden. Er wehrte und wand sich, aber der Nicfad zog einfach das Seil um seinen Hals fester. Man zwang ihn auf den Tisch hinauf, acht entschlossene Nicfad hielten ihn fest, sein Knöchel lag über der Rundung des Balkens.
Ein Komiteemann sprach mit einem großen Megaphon vom Turm, jeder seiner Sätze wurde von einem Nicfadführer mit einem Megaphon, der gleich hinter den Siverisklaven auf einer Plattform stand, wiederholt.
»Leute von High Tower«, begann der Komiteemann. »Hier seht ihr die schlimmste Art eines gesellschaftlichen Schurken. Er nützte die Katastrophe in U-Bend für sich aus, blieb nicht, um zu helfen, sondern nahm die Gelegenheit wahr, um zu entfliehen.
Er ist also verantwortlich für viel Elend. Es ist nur richtig, daß er streng bestraft wird. Aber wir wollen, wie gewohnt, Gnade walten lassen und nur die gerechte Strafe für Flucht verhängen – Abschlagen eines Fußes. Später bekommt der Sklave die Chance, durch harte Arbeit Wiedergutmachung zu leisten.«
Der Mann redete weiter, aber Gamwyn hörte nicht mehr zu. Er kämpfte verbissen, aber es nützte nichts.
Es war, als risse sein Geist auf. Alles das war unwirklich. Er glaubte zu sehen, wie am Himmel eine Muschel entstand. Nein, es war nicht die richtige. Sie war säulenförmig wie die Schalen einiger Landschnecken, wie die Wasserwirbel, die sich auf jeder Seite eines Ruderschlags in den Fluß bohren.
»Es ist nicht die richtige«, schrie er heraus. Der Nicfad starrte ihn mit zusammengebissenen Zähnen an. Der Komiteemann schwafelte weiter, der Nicfad leierte ihm seine Phrasen nach, während der Wind immer stärker wurde.
Plötzlich kam Gamwyn wieder zu sich und beobachtete entsetzt, wie die Muschel zu einem Tornado wurde, der hüpfend und sich drehend näherkam und immer dunkler wurde. Der Sturm raste von hinten aus Westen und Süden heran, und weil alle auf Gamwyn schauten, sah niemand das Unwetter. Seine Geschwindigkeit schien sich zu steigern. Endlich hörte Gamwyn den Komiteemann sagen: »Hat der Gefangene ein Wort der Entschuldigung oder der Reue vorzubringen, ehe wir die Strafe vollziehen?«
Die Wiederholung des Nicfad ging fast im Brausen des Windes unter.
Gamwyn zappelte in den Armen des Nicfad und schrie: »Ich rufe alle Götter des Himmels im Zorn und ohne Gnade auf euch herab, denn ihr kennt weder Mitleid noch Gerechtigkeit!«
Das Brausen des Windes wurde noch stärker, und ein neuer Laut wurde deutlich darin hörbar, ein ununterbrochenes Röhren, das alles Sprechen übertönte.
Während einer der Nicfad nach seiner Axt griff, um das Urteil zu vollstrecken, schaute ein anderer zufällig nach Westen. Er ließ Gamwyns Bein fahren und schrie, darauf drehten sich die anderen um, während der schwarze Rüssel des Tornado die letzten fünfzig Armlängen auf den Turm zuraste. Die Zuschauer drehten sich um und schrien gellend, und Gamwyn stand auf, für einen Augenblick frei, während der schwarze Trichter mit seinem Fuß im Bogen in den Turm fuhr und ihn in Stücke riß. Holz, Knochen und Menschen flogen auf, wurden durch die Reihen der Arbeiter geschleudert und wieder hochgehoben, während das abschüssige Gelände vom Turm weg auf den Fluß zurutschte.
Gamwyn schaute gar nicht hin. Er hatte sich den Strick vom Hals gestreift und sprang von der Plattform, als der Wirbel den Turm erfaßte. Er rannte auf den Fluß zu, spürte, wie der Tornado über ihn hin-wegging und ihn in den Schlamm warf, wo Trümmer auf ihn niederprasselten, dann jagte der Sturm brüllend hinaus über das wirbelnde, kochende Wasser.
Ein Nicfad wollte nach Gamwyn greifen, doch der wand sich los, hörte ein sonderbares Gurgeln, drehte sich um und sah, wie der Mann von einem langen Splitter aufgespießt wurde. Gamwyn taumelte das Ufer hinunter und hinaus in den Fluß und schwamm zu einem der Boote, die vertäut im Wasser auf-und abhüpften und eintauchten. Erst als er sich über das Dollbord in das eine hineingerollt hatte, drehte er sich um. Durch den starken Regen konnte er sehen, daß der Turm verschwunden und der Abhang überfüllt war mit liegenden, kriechenden, laufenden Menschen. Gamwyn tauchte ein Paddel ein und fuhr flußabwärts.
Ein Nicfadpfeil bohrte sich ins Boot, aber als Gamwyn sich noch einmal umdrehte, sah er, wie ein Siveri einen Pfahl schwang und den Schützen fällte. Ganz nahe hörte er einen Schrei und sah zwei kleine Gestalten in verzweifelter Anstrengung auf sich zu-schwimmen. Die eine war ein Mädchen. Er hielt inne.
War es Daw? Nein. Beide trugen die grobe Kleidung der Tuscosklaven. Der Junge erreichte das Boot zuerst, und Gamwyn zog ihn über die Seite herein. Sofort griff der Junge nach dem Paddel, und als Gamwyn die Handgelenke des Mädchens gepackt hatte, begann der Fremde in langen Schlägen zu rudern.
Das Mädchen war überraschend gelenkig und kam mit Gamwyns Hilfe in einem Schwung über die Seite ins Boot. Sie stürzte sich auf das zweite Paddel. Der Junge rückte zur Seite, und Gamwyn blieb nur als Fahrgast sitzen, während die beiden gemeinsam in die Strömung hinaus und durch den Sturm flußab-wärts ruderten.
Gamwyn schaute zurück. Niemand folgte ihnen.
Einer Ohnmacht nahe, ließ er sich auf den Boden des Bootes sinken, sah verschwommen, wie die beiden schweigend und gleichmäßig ruderten, mit einem grimmigen und verzweifelten Ausdruck auf ihren jungen Gesichtern. Gamwyn zog sich hoch und schaute sich um, als sie die erste Biegung erreichten.
Der Regen hatte nachgelassen, aber verwehte Tropfen und Dunst verhüllten alles hinter ihnen. Die beiden Ruderer ruhten sich mit heftig wogendem Brustkorb aus und ließen das Boot treiben. Eine Zeitlang sagte niemand etwas. Die beiden blickten Gamwyn ängstlich an, aber der legte sich einfach zutiefst erleichtert zurück und genoß den Regen, der über sein Gesicht strömte.