Vierunddreißig :
19.11. 2012 22:17
Themenwoche Sterben auf der ARD. Komplett
Enthirnte wie Margot Käßmann versuchen, ein freies Leben gelebt
habenden Menschen das Recht auf Freiheit im Tod zu bestreiten. Die
Position der Vernunft wie immer dünn besetzt. Ein Mann, der seine
alzheimerkranke Frau beim Suizid unterstützte, sitzt neben einer
Zumutung namens Kapuzinermönch Bruder Paulus, dem sein ihm das
Gesicht verwüstet habender zweistelliger IQ befiehlt, eine Stunde
lang mit zusammengekniffenen Augen angestrengtes Nachdenken
simulierend in die Runde zu schauen und seinen Vorredner
anzublaffen, warum er seiner Frau denn nicht gleich die Pulsadern
aufgeschnitten habe. Lang lebe Berlin-Mitte.
Nicht geladen wie immer einer, der das
Naheliegende erklärt, nämlich daß in einem zivilisierten Staat wie
Deutschland einem sterbewilligen Volljährigen in jeder Apotheke ein
Medikamentenpäckchen aus 2 Gramm Thiopental und 20 mg Pancuronium
ohne ärztliche Untersuchung, ohne bürokratische Hürden und vor
allem ohne Psychologengespräch – als sei ein Erwachsener, der
sterben will, ein quasi Verrückter, dessen Geist und Wille der
Begutachtung bedürfe – jederzeit zur Verfügung stehen muß.
19.11. 2012 22:45
An welche angesprochenen Medikamente man
übrigens weder mit Rezept noch sonst legal rankommt. Wer es darauf
anlegt, versucht, sich beizeiten mit einem Tierarzt gutzustellen
(mühsam) oder bricht gleich in die Praxis ein. Dort heißen die
Medikamente Eutha 77 bzw. mittlerweile Esconarkon, kleinste
Packungsgröße 100 ml, damit lassen sich größere Säugetiere ohne
Probleme einschläfern.Thiopental kann man sich selbst spritzen
(Narkose), Pancuronium muß von einer zweiten Person zugeführt
werden (Atemstillstand).
19.11. 2012 22:49
In meinem Freundes- und Bekanntenkreis
damals, als der Gedanke auftauchte, an Leuten, die mich ins
Jenseits befördern wollten, zum Glück sofort kein Mangel, an erster
Stelle meine Mutter. Klar.
19.11. 2012 22:53
Zeugnisverleihung und Abi-Ball vor dreißig
Jahren: Ich wollte eigentlich überhaupt nicht hin, und wenn dann
auch nur in meinem maximal komplettkaputten Lieblings-T-Shirt, und
auf keinen Fall wollte ich meine Eltern dabei haben (Spätpubertät),
ganzer Tag Diskussion, schließlich sagte meine Mutter den schönen
Satz: Ich hab dich da reingebracht, ich hol dich da auch wieder
raus. Da ließ sich nicht viel gegen sagen.
19.11. 2012 23:01
Wobei an die Medikamente, wie gesagt, gar
nicht ranzukommen war. An überhaupt nichts Sicheres. Nichts
Einfaches, nichts Hundertprozentiges. Erschießen ist in 76 bis 92
Prozent der Fälle tödlich, bei Schüssen in den Kopf liegt die Quote
noch etwas höher. Aber auch da überleben 3 bis 9 Prozent, und die
haben dann Hirnschäden und sind entstellt. Erhängen fühlt sich
schätzungsweise an, wie es aussieht, und hat wie die meisten
anderen Methoden den Nachteil, daß man Erfahrung damit bräuchte und
nur einen Versuch hat. Man kann aus dem zwölften Stock springen und
überleben. Man kann aus dem zwölften Stock springen und noch
dreißig Minuten als blutiger Matsch auf dem Trottoir die Passanten
erschrecken, und wenn man wochen- und monatelang durch das
Labyrinth geirrt ist auf der Suche nach dem sicheren Ausgang,
versteht man irgendwann, wie vollkommen vernünftige und
zurechnungsfähige Menschen auf die Idee kommen können, sich auf
eine ICE-Trasse zu stellen im vollen Bewußtsein, einen Lokführer
für den Rest seines Lebens zu traumatisieren.
25.11. 2012 5:50
Traum: Am See, wo wir immer Rollhockey
spielten, übe ich Double Kickflip, was sonst nur Bernd übte, dann
zurück Richtung Westtor, so schnell und schwebend wie damals, und
schon lange vor dem Erwachen weiß ich: Mehr Sport. Ich brauche mehr
Sport für meine Psyche, wo Fußball aus Gründen der Lebensgefahr
gerade gecancelt ist.
25.11. 2012 18:30
Spaziergang zum Plötzensee. Um den
Fastvollmond herum bricht die Wolkendecke auf. Erst von einer Bank
aus der Natur bei ihrer unangestrengten Nachbildung Deutscher
Romantik zugesehen, dann auf dem kleinen Weg, den wir im Sommer zum
Tegeler See fuhren, den Kanal runter bis zu der schmalen Brücke und
den Traversen, wo eine schöne Stelle ist.
Blase gelaufen.
28.11. 2012 13:00
Wirkung der PCV-Chemo im MRT nicht erkennbar,
Progredienz wie gewohnt. Das vor 16 Monate beschriebene, vier mal
vier Zentimeter große möglicherweise Strahlenschaden,
möglicherweise niedriggradiger Tumor seiende Gebilde hat sich nun
in Hochgradiges verwandelt, mindestens Astrozytom Grad III. Zweiter
Versuch, bei der Krankenkasse Avastin zu beantragen.
1.12. 2012 8:17
Es schneit, es schneit, es schneit, es
schneit, Schnee! Leuchtend hebt sich die Sonne über der Fennbrücke
hinauf.
3.12. 2012 10:00
Dr. Badakhshi, kein regulärer Arzttermin,
will nur mal gucken, wie es dem dreimal operierten, zweimal
bestrahlten Hirn und dem dazugehörigen Patienten geht. Gut geht es
dem. Jedenfalls besser, als die Bilder erwarten lassen: gut.
6. 12. 2012 5:50
Keine Morgengymnastik, um die Schneewehen auf
der Terrasse nicht zu zerstören. Ich muß nachdenken, wie lange es
her ist, daß ich in der Psychiatrie vor Sonnenaufgang vorm Fenster
des Gemeinschaftsraums meiner Schneebegeisterung freien Lauf ließ,
fünf Uhr morgens, neben mir eine Schwester, die mich, so
nachsichtig, wie sie mich behandelte, offenbar für geisteskrank
hielt.
Die kleinen Schlingpflanzen, die sich mit
winzigen Saugnäpfen am Fensterrahmen festhielten und aussahen wie
Invasion from Outer Space – und die grüne Kuppel da rechts, was ist
das? Kirche, Ministerium oder Naturkundemuseum? Wußte sie auch
nicht. Zwei Jahre und neun Monate.
8.12. 2012 20:01
Winterfutter in die Jacke geknöpft, die ich
1992 mit Arbeitshose und Käppi zusammen auf der Post bekam,
Hilfsarbeiter, Zugverladung. Seitdem die Jacke Jahr für Jahr
getragen, jeden Sommer, jeden Winter. Zwanzig Mal habe ich das
Futter im Frühjahr rausgeknöpft und zwanzig Mal im Winter wieder
rein. Sensationelle Qualität, begrabt meine Jacke an der Biegung
des Flusses.
9.12. 2012 12:17
Es schneit von unten nach oben, der Kanal ist
verschwunden.
10.12. 2012 18:01
Mit Elina auf beschneiten Wegen unter den
dick beschneiten Bäumen, es staubt auf unsere Mützen und Gesichter,
am See und den Kanal entlang wieder bis zu der Mauer aus
übermannsgroßen Traversen, zwischen denen hindurch man auf ein im
Schnee noch fremder und nicht von dieser Welt wirkendes, weites
Gelände dahinter sieht, dunkel waldumstanden, Weiß, aus dem
ockerfarbenes Gras rausbüschelt, das Jenseits. Elina trägt
Sommerschuhe, ich Stiefel, von denen rechts und links die Sohlen
abgefallen sind, wir kehren um. Zwei Stunden lang keinem einzigen
Menschen begegnet, erst an der Föhrer Straße ein Mann mit
Hund.
13.12. 2012 18:50
Mit C. durch die Rehberge, wegen Epilepsie
meistenteils schweigend. Ein Kleinwagen parkt, Tür auf, Schäferhund
raus. C. stellt sich zwischen mich und den Hund, er zerreißt ihre
Hose und zerfetzt ihre Jacke. Als ein Schatten nach meinen Füßen
faßt und in meinem Sichtfeldausfall hochspringt, lasse ich mich
fallen und liege da wie ein Insekt auf dem Rücken im Schnee, bis es
vorbei ist. Austausch von Telefonnummern und ein Berliner, der
seinen Hund böser Hund nennt, sehr böser Hund.
15.12. 2012 18:30
Das Verfallsdatum auf dem beim Kaiser’s
gekauften Ciabatta zum Aufbacken ist der 17. Februar.
17.12. 2012 18:00
C. angeschrien, weshalb nochmal, weiß nicht,
vergessen, wegen nichts. Ich verändere mich. Normal, findet Dr.
Vier, Gereiztheit, aber so bin ich nicht, und ich will derselbe
sein bis zum Ende. Mit geübter Handbewegung holt der Arzt eine
Packung Kleenex von unterm Tisch hinauf.
19.12. 2012 16:53
Dr. Badakhshi hat mit den Neurochirurgen und
anderen Hirnleuten nochmal eine Konferenz anberaumt. Avastin, ja,
engmaschig kontrollieren, hinten links könnte auch ein viertes Mal
operiert werden. Und ein drittes Mal bestrahlt.