Rückblende, Teil 9: Tanz der seligen Geister :
Bei Holm versuche ich als erstes,
herauszufinden, ob ich einen verrückten Eindruck mache und befrage
die Leute dazu, ergänze selbst, ich sei bis vor acht Sekunden noch
verrückt gewesen, jetzt aber nicht mehr.
Irritierend ist, daß niemand etwas von mir zu
erwarten scheint. Es herrscht eine der Auffindung der Weltformel
ganz unangemessene Atmosphäre. Alle stehen nur herum, haben Gläser
in der Hand und machen Smalltalk. Ich höre sie Sätze sagen, die ich
Sekundenbruchteile vor ihnen gedacht habe, ich spüre, welche Gesten
sie im nächsten Moment machen werden. Meine Gabe, in die Zukunft
sehen zu können, bestätigt sich glanzvoll, und mir fällt wieder
ein, daß ich meinen Text vorlesen muß. Ich rufe alle im Wohnzimmer
zusammen und nehme selbst am großen Tisch Platz. Meine
Vernunftinstanz landet einen letzten Treffer, indem ich bitte, die
Kinder aus dem Raum zu schicken. Ich kann noch erkennen, daß das,
was ich jetzt tun werde, nicht mehr jugendfrei ist. Aber es nicht
zu tun, ist mir unmöglich.
In meinem Moleskine suche ich nach dem Text.
Mir ist bewußt, daß ich ihn selbst noch nicht gesehen habe, ich
spüre aber auch, daß ich ihn quasi hinter meinem eigenen Rücken
aufgeschrieben habe, so daß er gleich auf wunderbare Weise vor
meinen Augen erscheinen wird.
Als es weder am Ende noch am Anfang noch in
der Mitte des Notizbuchs einen geeigneten Text gibt, weiß ich, daß
die Störinstanz ihn abermals vor mir verborgen hat. Habe ich die
Seiten wieder herausgerissen? Am wahrscheinlichsten scheint es mir,
daß der Text zu Hause auf meinem Rechner liegt in einer versteckten
Datei. Ich äußere diese Vermutung und verlange, sofort zu meinem
Rechner gebracht zu werden.
Niemand reagiert. Ich fange an zu schreien,
werfe das Moleskine durch den Raum, und was weiter geschieht, weiß
ich nicht. Einmal zwischendurch, ich glaube, ganz am Anfang, bitte
ich auch Holm, mich vor seinen Rechner zu setzen, damit ich in
Windeseile den Text wie an der Schnur aus mir herausschreiben kann.
Nach einigen weiteren vergeblichen Anläufen, den Text zu finden,
sehe ich irgendwann nach rechts zur Tür; dort stehen zwei
Sanitäter.
Das ist der schlimmste Moment, schlimmer als
alles andere zuvor. Beim Anblick der beiden Männer weiß ich, daß
nun eingetreten ist, was ich seit der Operation am meisten
gefürchtet habe, nämlich daß mein Hirn sich auflöst und meine
Persönlichkeit sich unkontrollierbar verändert; und ich weiß auch,
daß ich mir für diesen Fall von Anfang an ein bestimmtes Vorgehen
überlegt habe: Selbstmord, solange ich noch einen Rest von
Kontrolle habe über das Gemüse, das einmal meinen Namen trug. Ich
sehe die Walther PPK in meiner Hand, ich sehe sie in meinem
Mund.
In meiner Angst rede ich noch einmal auf die
Sanitäter ein, bitte sie, der Lesung beizuwohnen, unternehme einen
letzten Versuch, den Text zu finden, und lese schließlich etwas
vor, was ich mir nicht aufgeschrieben habe. Irgendwann sitze ich
neben C. und Passig hinten im Krankenwagen auf dem Weg zur
Notaufnahme.
Per Leo beschreibt den Abend später in einer
Mail an Jochen: “Wolfgang wurde nach etwa einer Stunde von zwei
Sanitätern in die Charité gebracht, vermutliches Ziel dort:
Psychiatrie. Sein Auftritt trug alle Züge eines Wahns, wobei
niemand sagen kann, ob das der Krankheit direkt (Tumorwachstum,
Serotoninspiegel usw.) oder indirekt (drei Nächte ohne Schlaf plus
Panik) geschuldet ist. Das Szenario: Wolfgang wollte uns einen Text
vorlesen, der u.a. die ‘Weltformel’ enthalten sollte, doch dazu kam
es nicht, weil er ihn nicht fand. In immer neuen Schleifen
behauptete er, er müsse den Text auf seinem Rechner gelöscht haben,
also sei er im Papierkorb noch zu finden, dann wieder, daß er im
mitgebrachten Notizbuch sei, in dem er wie wild blätterte. Über die
tatsächlichen Schleifentexte legte er immer wieder einen Metatext,
in dem er uns genau, aber völlig unverständlich instruierte, was
wir zu tun hätten, falls er in Schleifen feststecke. Die
Verzweiflung darüber, daß der ‘Text’ für ihn unmißverständlich
‘da’, aber nicht ‘auffindbar’ war, führte zu Wutausbrüchen mit
lauten Beschimpfungen (‘Ihr Arschlöcher! Er steht hier drin!’),
Bodenwälzen usw. Seinem Abstransport stimmte er selber zu, erbat
sich von den Sanis aber noch eine Minute, um den Text, den er
endlich gefunden zu haben behauptete, vorzulesen. So weit ich mich
erinnere, lautete er: ‘Alles ist richtig. Alles ist richtig. Alles
ist richtig. Die Welt ist eine Schleife. Das Leben ist das Leben,
und das Nichts ist das Nichts.’ Dann der Abgang. Nach letzten
Meldungen war er im Wartebereich der Notaufnahme ruhig. Wir warten
jetzt ab, wie sich die Dinge entwickeln und beraten dann über ein
etwaiges Betreuungsszenario. Schließlich ist alles denkbar: vom
offenen Wahnsinn über eine heilsame Mütze Schlaf, die ihn wieder zu
sich bringt.”
Im Wartesaal der Notaufnahme an der Charité
zeige ich C. und Passig die Bilder und Notizen in meinem Moleskine,
von denen ich mich in diesem Moment schon wieder distanziere. Dann
werde ich von einer Neurologin mit Verdacht auf Manie in Richtung
Psychiatrie geschoben.
An die Nacht habe ich keine Erinnerung. Am
nächsten Morgen holen Kirk und Julia mich ab und begleiten mich
nach Hause. Es geht mir jetzt sehr viel besser, ich habe eine
Zyprexa bekommen, und beim Frühstück versuche ich, meinen Freunden
noch einmal zu erklären, was es mit den Ereignissen am Vorabend auf
sich hatte. Mir kommt die Idee, auf meinem Rechner nachzusehen, ob
dort nicht tatsächlich der von mir
geschriebene und vor mir selbst verborgene Text irgendwo
herumliegt. Auf den ersten Blick ist nichts zu entdecken, weder im
Papierkorb noch unter den üblichen Speicherplätzen. Erst Kirks
Vorschlag, in Word nach den zuletzt bearbeiteten Dateien zu gucken,
führt zu der Anzeige einer Datei mit dem sonderbaren Titel Tanz der
seligen Geister, und ich falle vor Schreck rückwärts auf den Boden.
Ich erwarte jetzt nicht wirklich die Weltformel, aber zumindest den
Text meines Lebens. Es öffnet sich eine Datei, die mir vor kurzem
jemand geschickt hatte, mit einer Geschichte von Alice Munro.