Zwanzig :
22.9. 2011 23:59
“Heiliger Vater verursacht Ungläubigem
epileptischen Anfall.” Schlagzeile, die man in der morgigen BZ
vermutlich nicht lesen wird.
Seit Tagen schon ist jeder Gullideckel auf
dem Weg zur Mensa mit Metallstreifen versiegelt. In der
Hannoverschen Straße das Haus der Deutschen Bischofskonferenz, ein
Gebäude, das mir in all den Jahren nur aufgefallen ist, weil dort
für gewöhnlich sehr breithüftige Männer in hochunmodischen
Stoffhosen ein- und ausgehen und weiter nichts.
Jetzt die ganze Straße gesperrt, Polizei
winkt mich zur Seite, bei Subway kann man mit Mensacard nicht
zahlen, zurückrasen, Geld holen, essen, Mittagsschlaf fällt aus.
Dann Versuch, zwischen kreischenden und blinkenden Polizeikonvois
zur AOK durchzukommen, denn wenn man am Hirn operiert werden soll
und möglicherweise nur noch eine zweistellige Zahl von Tagen zu
leben hat, muß unbedingt ein Tag damit verbracht werden, sich ein
rosarotes Papier vom Arzt ausstellen zu lassen, das dann auf die
AOK-Geschäftsstelle gebracht und abgestempelt werden muß, wo
dreißig Leute in einem stickigen Wartesaal warten und
durcheinanderreden – Stimmen, Lichter, Piepsen, Baustellengeräusche
– nächster Anfall. Draußen auf einer Bank versuche ich zu
verstehen, was mir die Stimmen diesmal auf Englisch sagen. Papst
töten? Den Nachbarn? Mich? Grammatik zerschossen. Schließlich kommt
eine freundliche AOK-Mitarbeiterin mit dem gestempelten Papier zu
mir heraus.
Daß eine Gesellschaft es sich leisten kann,
eine Millionenstadt einen Tag lang lahmlegen zu lassen durch den
Besuch eines Mannes, der eine dem Glauben an den Osterhasen
vergleichbare Ideenkonstruktion als für erwachsene Menschen
angemessene Weltanschauung betrachtet, erstaunlich. Und herzlichen
Dank. In hundert Jahren kennt dich kein Mensch mehr, römischer
Irrer. Mich schon.
Wie Manie und Größenwahn sich zuverlässig
zurückmelden, wenn mir der Arsch auf Grundeis geht. Zwei Seiten
Beschimpfungen gelöscht wg. unoriginell.
23.9. 2011 16:35
Versuch eines ruhigen Tages. Keine Arbeit,
mittags Mensa, dann Schlaf. Dann Bumsmusik meines Nachbarn, dann
Anfall.
23.9. 2011 18:00
Kein Arzt erreichbar, Wochenende. Fußball.
Mitspieler Daniel (HNO) ruft einen befreundeten Intensivmediziner
an, der telefonisch zur Benzodiazepin-Erhöhung rät, da ich mit dem
Keppra praktisch an der Grenze bin.
Drei Tore geschossen, aber in der
Überzahlmannschaft. Keine Befriedigung. Immerhin: keine motorischen
Defizite.
24.9. 2011 13:32
Zum Nachbarn runter. Wie so oft öffnet er
nicht. Aber die Musik wird leiser. Als ich wieder oben bin, wieder
lauter. Ein, zwei Stunden kann ich mit Ohrstöpseln dasitzen, dann
tut der Kopf weh und ich muß flüchten vor den Stimmen, die sich an
den Rändern einnisten.
24.9. 2011 15:55
Thermoskanne eingepackt, Badehose, Goetz’
Klage, Rot und Schwarz.
Lieblingsgestalten der Weltliteratur: Julien
Sorel.
In der Nähe der Fennbrücke gibt es eine
Wiese, wo es ganz still ist, und eine Bank, wo man sitzen kann wie
alte Leute. In Ufernähe gebadet.
24.9. 2011 21:45
Nächster Anfall trotz 20 mg Frisium. In der
Nacht erwacht mit der gestammelten Zeile “Weser, Unterweser” auf
den Lippen, keine Ahnung, ob Anfall oder nur Alptraum.
25.9. 2011 14:00
Je höher die Dosis, desto wackliger. Traue
mich nicht nach Hause wegen Nachbar und übernachte bei C.
Nachmittags kein Anfall, aber ständig die Ahnung einer Ahnung.
Zerrüttet mich.
25.9. 2011 15:30
Liege am Plötzensee am Strand in der Sonne.
C. und Lars stehen etwas abseits, und ich kann sehen, worüber sie
sprechen.
Joachim hat Sand zur Hälfte gelesen und
stellt die Frage, die ich mir auch schon lange gestellt habe: Was
ist denn das nun eigentlich? Der Verlag hat es mal Richtung
Thriller gelabelt, aber es ist ein weites Feld zwischen
Unterhaltungs-, Schund- und Gesellschaftsroman, von Thor Kunkel
bereits mäßig erfolgreich beackert.
26.9. 2011 07:57
Drei Minuten vor der Öffnung der Praxis am
Montagmorgen sitze ich bei Dr. Fünf vor der Tür. Sofort werden die
Schutzschilde hochgefahren: Keppra 3000, Frisium 30.
28.9. 2011 17:09
Leichtes Schwanken.
“Das sind die Löcher in der Kausalität. Es
ist der fehlende Übergang von Ursache zu Wirkung. An diesen Stellen
klafft das ganze Universum auf.” (Vogl-Interview zu Moby
Dick)
29.9. 2011 12:57
Musik. Gehe zum Nachbarn und schlage vor, ihn
umzubringen. Oder die Musik leiser zu drehen. Eine friedliche
Möglichkeit, eine unfriedliche. Biete an, wenn es am Geld liegen
sollte, ihm die teuersten, drahtlosesten, luxuriösesten Kopfhörer
zu schenken, die es gibt. Aber er will gar keine Kopfhörer. Die
störten auf dem Kopf, und er wolle einfach nur seine Bumsmusik
hören.
C. sagt, sie habe keine Lust, mich im
Gefängnis zu besuchen. Aber juristisch keine Gefahr, glaube ich,
maximal Klapse, und da ist es wenigstens ruhig. In den letzten
Tagen oft mit Sehnsucht an den kleinen ziegelummauerten Hof
gedacht, wo man mit freundlichen Irren Frühlingsblumen gucken,
Dostojewskij lesen und Tischtennis spielen konnte.
1.10. 2011 21:00
Die Sensation überwiegt die Konzeption, sagt
Julia über Leben und Blog und händigt mir den Schlüssel zu den
Räumen der Foucault-Gesellschaft aus, damit ich ungestört arbeiten
kann. Irgendeine obskure Soziologenvereinigung.
3.10. 2011 10:19
Letzte Nacht angekommen, Julia und ihre
Schwester kurz zu Besuch, Kathrin, fast wie Urlaub. Sitze jetzt im
Schaufenster in der Manteuffelstraße und arbeite. Lese Xenophon und
überlege, das bescheuerte Berkéwicz-Zitat in Sand durch ein ebenso
bescheuertes von Sokrates zu ersetzen.
Foucault und der andere philosophische
Jahrhundertmüll an den Wänden sagt mir wenig, aber die Dimension
der Teekanne spricht eine klare Sprache: Hier wird gedacht,
ordentlich gedacht, ein Denken in die richtige Richtung.
Zwei-Liter-Teekanne, Stövchen, Darjeeling der Teekampagne. So und
nicht anders geht Geist.
3.10. 2011 12:09
Allerdings auch ein ein wenig staubiger, wenn
nicht gar schmutziger Geist, wider den jetzt mit der Vampyrette mal
entschieden gegen angegangen werden muß.
3.10. 2011 13:33
Lese meine eigenen Dialoge und stelle fest,
daß ich das Mißverständnis für das Wesen der Kommunikation halte.
Es werden Fehler gemacht, und die Fehler führen zu allem. Man
könnte auch Zufälle sagen, aber das Wort Fehler ist mir lieber. Ich
halte den Roman für den Aufbewahrungsort des Falschen. Richtige
Theorien gehören in die Wissenschaft, im Roman ist Wahrheit
lächerlich. Das Unglück, die neurotische Persönlichkeit, das
falsche Weltbild, das falsche Leben. Das richtige Leben, das in den
Abgrund führt. Das Böse. Die Zeit.
5.10. 2011 21:59
Doku auf 3sat über André Rieder, psychisch
Kranker, der sich mit Hilfe von Exit in der Schweiz das Leben
nimmt. Wie zu erwarten, geht es ihm am besten von allen, Freunde
und Bekannte leiden. Kein schlechter, aber auch kein guter Film.
Das Entscheidende zeigen sie nicht.
In der anschließenden hochvernünftigen
Diskussion – hochvernünftig in dem Sinne, daß in der ganzen Runde
kein Trottel sitzt, was ich so im Fernsehen, glaube ich, überhaupt
noch nicht gesehen habe – fällt das Wort Voyeurismus. Den man hätte
vermeiden wollen. Vielleicht der einzige fragwürdige Satz. Denn
warum nicht hingucken?
Eine halbe Stunde soll er gekämpft haben mit
seinem Pentobarbital (falls es Pentobarbital war, nicht mal das
sagen sie). Wobei es kein Kampf gewesen sei, wie die Gegenseite
entgegnet, da von Beginn an bewußtlos. Die Frage, ob und inwieweit
im Rahmen wissenschaftlicher Studien da schon Hirnstrommessungen
etc. gemacht wurden, bleibt ausgespart.
5.10. 2011 22:19
Das Wort Pietät für mich immer eine ähnliche
Leerstelle gewesen wie Ehre oder Seele. Im Zusammenhang mit dem Tod
sowieso absurd. Auf die Gefühle der Angehörigen muß Rücksicht
genommen werden, klar, und sonst? Ist der Vorgang nicht mindestens
genauso interessant wie das umgekehrt oft so genannte Wunder des
Lebens?
Erinnerung an den
Mittelstufen-Geschichtsunterricht, Französische Revolution, die
Terrorherrschaft: Das ganz und gar Unfaßbare, Unmenschliche der
johlend, essend und strickend dem Schauspiel folgenden Masse.
Heute säße ich in der ersten Reihe, vermute
ich, und ich glaube nicht, daß es Unmenschlichkeit wäre, die mich
dazu triebe, sondern dasselbe, was mich in der neunten Klasse
uneingestandenermaßen auch schon beschäftigte: Die an Deutlichkeit
nichts zu wünschen übrig lassende Darstellung der unbegreiflichen
Nichtigkeit menschlicher Existenz. Im einen Moment belebte Materie,
im nächsten dasselbe, nur ohne Adjektiv.
Und Pietät mein Arsch. Wenn mit Lebenden
einmal so pietätvoll umgegangen würde wie mit Toten oder Sterbenden
oder wenigstens ein vergleichbares Gewese drum gemacht würde. Das
Schlimmste in den letzten Jahren für mich immer: Die
zusammengeschrumpelte, achtzig- oder neunzigjährige Frau zwischen
Chaussee- und Invalidenstraße, ein kleines Becherchen vor sich auf
dem Trottoir, durchaus nicht verwahrlost, keine mitgeführten
Plastiktüten, vermutlich nicht mal obdachlos. Entschließt sich zu
ihrer Tat, wenn ich das richtig sehe, nur sehr unregelmäßig und im
Abstand einiger Wochen, wenn das Hartz IV oder was auch immer
verbraucht ist.
Für gewöhnlich gebe ich Bettlern nichts, wenn
ich nicht Münzen direkt griffbereit habe, aber wegen dieser Frau
mußte ich schon zweihundert Meter zurücklaufen, die zieht mir
völlig den Stecker. Vor allem das Gesicht, wo man sieht:
unverschuldet, Altersarmut, Hölle.
Bin mit meiner Argumentation noch nicht ganz
am Stammtisch angekommen, aber die Unterkante wird schon
sichtbar.
6.10. 2011 15:30
Passig und Gärtner in meiner Küche zum
Lektorat. Die beiden verbünden sich sofort gegen mich, schon nach
kurzer Zeit führen sie mit 8:1 bei den Änderungen, gutes Zeichen,
daß ich wie in jeder Schlußkorrektur wieder versucht habe, die
alten und falschen von mir selbst längst mehrfach als falsch
erkannten Varianten in veränderter Form wieder einzubauen. Raus
damit, raus, alles raus.
Drin bleiben auf Wunsch des Autors
verschiedene Anachronismen, Unwahrscheinlichkeiten, eine Enallage.
Früher hätte mir alles vom fehlenden Komma bis zum Logikfehler
schlaflose Nächte beschert, ich hätte mindestens noch einen
Fluglotsenstreik eingebaut, um die drei fehlenden Tage, die
Michelle braucht, um dem Polen im Flugzeug begegnen zu können, zu
erklären. Aber heute: scheiß drauf.
Richtige Fehler, falsche Fehler. Wenn der 23.
August 1972 ein Dienstag war: Katastrophe. Wenn an diesem Tag die
Sonne schien, obwohl sie nicht schien: egal.
Moleskine, Inflektiv, Schnupperpreise, ja,
ja, ja. Alles egal. Mit einigem anderen haben sie mir den
Perfektionismus rausoperiert.
Viel größeres Problem: Daß die Handlung
keiner kapiert. Drei von fünf Lesern konnten den Amnestiker bisher
nicht identifizieren, was etwa ist, als verriete ein Krimi den
Mörder nicht. Das ist keine Absicht. Riesige Verschwörungstheorien
auffahren, Fäden ins Leere laufen lassen und am Ende keine Lösung
haben, ist nicht originell, nicht postmodern, sondern einzig und
allein ein mächtiger Schmerz im Arsch.
Wahnsinnig Mühe darauf verwendet, alles wie
ein Uhrwerk abschnurren zu lassen, aber Riesenproblem für jemanden,
der noch nie richtig geplottet hat: die Informationsdosierung. Was
sagt man dem Leser, um ihn auf die falsche Fährte zu locken, was
sagt man, damit er das Gegenteil von dem annimmt, was man ihm zu
insinuieren versucht, was sagt man am Ende überhaupt? Für Marcus
eine zehntausend Zeichen lange Inhaltsangabe verfaßt, damit er
durch den Dschungel findet.
Dafür neuer Witz: Die von Joachim
vorgeschlagene Primzahlenzerlegung in den letzten Kapiteln.
7.10. 2011 19:50
Nachmittags Rowohlt, Manuskript mit den
letzten drei übersehenen Fehlern persönlich zum Verlag gefahren.
Dort Gunnar Schmidt und zufällig auch Fest, den ich noch nicht
kannte. Lustiges Gespräch über die Sportsfreunde der Sperrtechnik.
Der Sohn ist Lockpicker.
Vom Verlag zum Fußball gerast und so gut
gespielt wie lange nicht.
8.10. 2011 15:07
Arbeitsfreier Tag. Schätzungsweise der erste
Tag seit zwanzig Monaten, an dem ich arbeiten könnte und es nicht
tue. Alles fertig. Foto und Klappenzitat abgestimmt, die Schrift
auf dem Cover wird noch ausgetauscht. Foto auf Wunsch des Autors
mit abgewandtem Blick.
Tee trinken, Stendhal lesen, bißchen Blog,
abwaschen, Wäsche machen, Staubsaugen.
Beim Aufräumen letztes Tagebuch entdeckt, das
der Vernichtungsaktion entgangen war, begonnen am 28. Mai 2004,
letzter Eintrag vom 17. Dezember 2009:
“Herrn Dames Aufzeichnungen von Reventlow.
Schöne Beschreibung des Kosmikerkreises zu Beginn, die
Aufbruchstimmung, das Mulmige der Gesellschaft. Die Libertinage,
die so fortgeschritten ist, daß sie sich selbst nicht erwähnenswert
findet und ohne jede Abgrenzung gegen ein Außen auskommt. Alles im
Netz zu Reventlow parallel gelesen, Fotos geguckt, Stationen ihres
Lebens, Husum, Kloster Preetz – Lesegefühl wie in meinen
Zwanzigern, wo ich zuletzt Heine, Dostojewskij, Storm auf diese
Weise las. Der Roman flaut ab gegen Ende, zerstreut sich ins
Tagebuchartige, aber die Melancholie der untergegangenen Bohème
rührt mich. Draußen erster Schnee liegengeblieben. Calvin auf
seinen Brief nach einem Jahr noch immer nicht geantwortet. Arbeit
hängt. Fühle mich wie eingesargt. Sehe niemanden. Nachts
Panik.”
Und ab in den Müll.
8.10. 2011 19:56
Auf dem Weg zu C. kleiner epileptischer
Anfall, fünf Minuten, steige nicht mal mehr vom Rad. Innovation:
Holms Stimme sagt Unterweser auf, im Chor dahinter Philipps
Stimme.
9.10. 2011 20:35
Mit Handschuhen und Mütze zum Plötzensee,
zwanzig Minuten gebadet. Lars und Marek dabei. Lange fröstelnd in
der Sonne, fast wie nach dem Schlittschuhlaufen früher. Steffi und
eine Kanne Heidelbeertee.
Die Zeitspanne, in der ich in die Zukunft
denke, oft keine zehn Sekunden mehr, teilweise regrediert auf den
Gemütszustand eines Fünfjährigen. Und nicht nur den Zustand, auch
das Benehmen. Da fahre ich mit dem Fahrrad das Nordufer entlang und
freue mich wie wahnsinnig über Bäume und Autos und Licht. Dann
taucht am Ende der Straße eine Kreuzung auf – und dann? Oh, ein
neuer Weg! Neue Bäume, neue Autos, neues Licht, welche Freude!
Weitere zehn Sekunden bis zur BEHALA Westhafen – und dann? Was
kommt dann? Und so geht das Schritt für Schritt.
10.10. 2011 7:30
Aufnahme im Virchow zum FET-PET. Bürokratie,
noch mehr Bürokratie, endloses Herumgeirre. Haus 3, Haus 2, dann in
den Fahrstuhl, in den 2. Stock, dann aus dem Fahrstuhl raus rechts,
da ist eine Sitzgruppe, da anmelden. Name, Karte, Geburtsdatum,
Größe, Gewicht, Vorbefunde. Wasser können Sie sich nehmen. Und da
gehen Sie jetzt mal zu den Radiologen auf der anderen Straßenseite.
Da lang. Nein, da lang. Den ganzen Tag.
Für jemanden mit Orientierungsschwäche ein
ziemliches Problem. Fünfmal hintereinander kriege ich erklärt, auf
welcher Seite des Fahrstuhls ich aussteigen muß, von wo aus gesehen
da rechts ist, zuletzt drückt man für mich schon mal den Knopf mit
der Doppel-0 und dreht mich an den Schultern in die richtige
Richtung. Guten Tag, Dr. J., guten Tag. Und da warten Sie jetzt
mal.
Wartebereich PET-CT
Radiologisches Zentrum
Feuerwehr!
Gefahrengruppe 1
Abklingraum mit Kühlzelle
01.01.25
31,41 m²
Entrauchung Anl. 9
Leichenkühlraum K-138
Scheibe einschlagen
Knopf tief drücken
Während die radioaktive Lösung in mich
reinläuft, macht die Ärztin mir Hoffnungen. Ich wedle imaginäre
Insekten von mir fort, nichts Hoffnungsmachendes, bitte, ich
verliere sonst das Gleichgewicht. Habe mich mit dem Elend
abgefunden und weiß, was es ist. Sieht ja jeder Laie.
Und das ist es dann auch. Also zweite
GBM-OP.
Dann zurück zur Anmeldung, dann in die
Kardiologie. Noch an ungefähr fünf weiteren Stellen Name, Alter,
Größe, Gewicht und Vorbefunde. Zwei Stunden Wartezeit vor der
Anästhesie, wir streiken gerade. Vielleicht wollen Sie da drüben
was essen? Und in die Diagnostik müssen Sie auch noch: Alkohol,
Zigaretten, Ernährung, Einkommen, ledig oder nicht? Alter, Gewicht
und Größe nicht vergessen. Alles streng durchanonymisiert, wir
erforschen nur, wie die Lebensumstände den postoperativen Verlauf
beeinflussen. Und ob die Höllenbürokratie der präoperativen Phase
den auf irgendwelchen mit August-Macke-Bildern zugekleisterten
Krankenhausfluren halbtot hängenden Patienten in irgendeiner Weise
schwächt, erforschen wir dann vielleicht in der nächsten
Studie.
Es ist eine ganz sonderbare Verzahnung von
hochmoderner Supertechnologie, Windows-98-Rechnern und einer aus
dem 19. Jh. stammenden Buchenholzzettelkastenverwaltung, die einen
in jeder Sekunde in den Wahnsinn treibt.
Schon mal Drogen genommen? “Nein” kann ich
guten Gewissens nicht ankreuzen. Sofort spuckt der Rechner tausend
Folgefragen aus, die erforschen wollen, wie sehr ich meinen
Angehörigen mit meiner unkontrollierten Kokssucht auf die Nerven
falle, was ich dagegen zu unternehmen gedenke und wie meine
Einstellung zu frischem Obst ist. Bitte schieben Sie den Regler auf
eine Zahl zwischen 1 und 5.
Name: Wolfgang Herrndorf
Größe: 183
Gewicht: 80
Status: ledig
Geschlecht: männlich
Einkommmen: riesig
Alles gewissenhaft verschlüsselt unter der
Kennziffer GG4674. Wenn man mir bitte mal bei nächster Gelegenheit
einen Chip mit meinen persönlichen Daten unter die Haut schießen
könnte.
Zurück in der Anästhesie beantworte ich die
Fragen nach Größe, Alter und Gewicht zum letzten Mal für heute.
Dann versuche ich den Weg zur Station allein zurückzufinden. Man
darf sich von den häßlichen roten Bildern nicht täuschen lassen,
richtig sind die häßlichen orangen.
OP-Termin nächster Mittwoch. Und jetzt nach
Hause.
11.10. 2011 13:46
Noch einmal das seltsame immer wieder und
m.E. immer gleich während des Anfalls im Kopf herumgehende Lied
durch Aufschreiben festzumachen versucht:
under while längst
sonder surprised
Von Klang und Rhythmus her nicht weit
entfernt von “An der Weser, Unterweser”. Aber keine Ahnung. Ich
krieg’s nicht raus.
Falls doch nochmal irgendwas wie “Jesus
Christus hat die Welt erlöst” erkennbar wird, melde ich mich
wieder.
12.10. 2011 14:44
Tschick jetzt Schullektüre auf Costa Rica,
Bilder einer blauuniformierten Klasse, die unter Palmen sitzt und
liegt und liest.
In Baden-Württemberg dagegen läuft der
Buchverkauf so schleppend, daß jugendliche Straftäter zur Lektüre
verurteilt werden müssen: Buch kaufen, lesen, fünfseitige
handschriftliche Inhaltsangabe, und falls das nicht klappt, “kann
ich bis zu vier Wochen Ungehorsamsarrest verhängen”. Richter
Hamann, Amtsgericht Reutlingen.
Unglaublich gelacht beim FAZ-Interview.
Monika Kunz? Wer ist Monika Kunz? Mußte ich mir erstmal von
Cornelius erklären lassen.
13.10. 2011 14:30
Acht oder neun Grad, Sonne scheint, gebadet.
Lars und Julia schaffen es bis zum anderen Ufer.
15.10. 2011 12:02
“Middlesex hat viele postmoderne Elemente; es
gibt viele Signale, dass die Geschichte vom Erzähler erfunden wird,
aber kein unmissverständliches Bekenntnis zum Realismus. Die
Liebeshandlung ist in viel höherem Maß ein realistischer Roman, hat
aber einen dekonstruktivistischen Subtext. Aber ich bin gern ein
Rekonstruktivist, wenn das bedeutet, dass ich immer noch
Geschichten darüber schreibe, wie Menschen heute leben und fühlen.”
Sagt Jeffrey Eugenides. Und fährt fort: “Wenn Rekonstruktivist
hingegen einen Autor meint, der so tut, als hätte es das 20.
Jahrhundert nicht gegeben, dann will ich keiner sein. Ich will den
narrativen Pool des 19. Jahrhunderts zurück, aber nicht das 19.
Jahrhundert.”
Im Gegensatz zu mir hat er vermutlich
studiert. Aber Signale, daß die Geschichte vom Erzähler erfunden
wird – Wahnsinn. Was werden sie als nächstes herausfinden?
16.10. 2011 14:45
Eine Sache, die ich trotz hundertmaliger
Stendhal-Lektüre wieder vergessen hatte: Die Travis-Bickle-Szene,
der Bischof von Agde segnet den Spiegel. Zur Zeit des späten
Goethe, unvorstellbar.
18.10. 2011 12:45
Mit der schweren Tasche auf dem Fahrrad ins
Virchow-Klinikum. MRT für die OP, dann Vierbettzimmer. Der links
fragt, ob ich auch ein Bier will, der gegenüber gibt für den Rest
des Tages das Fernsehprogramm telefonisch an seine Frau durch.
Liege nur rum, kann nichts machen.
19.10. 2011 11:00
Auf Tag und Uhrzeit genau folgt der ersten OP
nach zwanzig Monaten die zweite. Wieder kein Beruhigungsmittel,
bitte, ich will das sehen, die Gesichter, die Lampe, die Maske auf
meinem Gesicht. Tief atmen.
Dann ist die Maske weg, und es sieht aus wie
auf dem Jahrmarkt. Großes Gepiepse und Geblinke und Gerenne. Die
Intensivstation, wie sich rausstellt, ist überbelegt, das hier
nennt sich Aufwachzimmer. Die ganze Nacht über, die in Wahrheit ein
Nachmittag ist, bin ich damit beschäftigt, vorübereilende Pfleger
und Schwestern um Wasser anzubetteln. Immer wieder die Frage, ob
ich wisse, wo ich sei. Einmal sage ich Buchenwald, aber der Witz
zündet nicht richtig.
Ein Weißbekittelter meldet, es sei alles
wunschgemäß verlaufen, dann tauchen der Reihe nach C., Kathrin und
ein (wie sich später erweist) eingebildeter Cornelius auf, die sich
abwechselnd als meine Lebensgefährten vorstellen, um eingelassen zu
werden.
C. möchte nicht mit einem Hut verwechselt
werden, Kathrin hat eine Pappschachtel im Arm, deren Inhalt sie mir
nicht zeigt. Und jetzt vielleicht noch mal Wasser, bitte?
In der SZ wird später stehen, Passig habe die
Bronzefigur uninspiriert entgegengenommen, und auf die Frage
irgendeines Radios, ob dies der richtige Zeitpunkt für die
Verleihung gewesen sei, weiß sie nichts zu sagen.
“Letztes Jahr”, erklärt sie, “als der Preis
verliehen wurde, gab es Tschick noch nicht. Nächstes Jahr, wenn der
Preis verliehen wird, wird es den Autor wahrscheinlich nicht mehr
geben … insofern, ja, geradezu der ideale Moment. Aber das ist mir
wie immer erst eine Minute später eingefallen.”