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Die Wahrheit ist, daß ich Sandras Blumen
bis jetzt nicht ein einziges Mal gegossen habe. Vermutlich sind
viele von ihnen schon eingetrocknet. Das beste wird sein, ich
ersetze die verdorrten Exemplare durch neue. Ich werde die Reste
der abgestorbenen Blumen einpacken und in einem Blumengeschäft
wieder auspacken und dazu sagen müssen: Geben Sie mir frische
Exemplare dieser Blumen bitte – oder so ähnlich. Am Mittwoch
nachmittag stecke ich die Schlüssel von Sandras Wohnung ein und
mache mich auf den Weg. Die Menschen auf der Straße wirken heute
wie übriggebliebene Comicfiguren. In einem Terrassencafé sitzt eine
junge Frau mit schmutzigem T-Shirt, blauer Sonnenbrille und grünem
Haar. Die Frau neben ihr trägt trotz der Hitze schwarze
Ledersachen. Sie trinkt eine Flasche Milch in einem Zug halbleer
und verstaut die Flasche dann wieder in einer Plastiktüte. Ein paar
Jugendliche mit McDonald Kappen auf dem Kopf und Bierflaschen in
der Hand taumeln eng an den Schaufenstern entlang und grölen: Im
Himmel gibts kein Bier, drum trinken wir es hier. Neben dem Eingang
des Gesundheitsamtes sind ein paar Edelstahlbänke aufgestellt
worden. Ihr metallisches Grau und die eckige Form rufen in mir
Ekelgefühle wach. Die Waschbetonplatten am Gesundheitsamt und die
halbnackten, gegen sie gelehnten Männer passen plötzlich zusammen.
An der Kreuzung Lindenstraße/Max-Beckmann-Straße steht ein Mann vor
einem rechteckigen Stahlcontainer und verkauft Brathähnchen. Ich
habe den Mann schon vorige Woche beobachtet. Täglich gegen fünfzehn
Uhr fährt er in seinem Pkw vor und sucht für seinen
Hähnchencontainer einen geeigneten Standplatz. Dann koppelt er den
Container ab und parkt seinen Pkw ein paar Straßen weiter. Er
öffnet die beiden vorderen Flügeltüren des Containers, und zum
Vorschein kommen etwa achtzig ganze Hähnchen, fertig aufgespießt
auf acht Drehspießen. Jetzt, am Spätnachmittag, verkauft er die
meisten Hähnchen. Bis gegen 19.00 Uhr zieht starker Bratfettgeruch
die Straßen hoch, gegen den offenbar niemand einschreitet. Gegen
19.30 Uhr schließt der Mann die Flügeltüren des Containers, bis er
am nächsten Tag mit neuer Ladung zurückkehrt. Ich überquere die
Kreuzung und biege in die Wupperstraße ein. Von fern sehe ich das
rotbraune Haus, in dem Sandra wohnt. Ein junger Drogenabhängiger
bleibt vor mir stehen und fragt nach dem Gesundheitsamt. Ich deute
mit dem rechten Arm nach hinten und sage: Sie sehen doch die drei
neuen Ekelstahlbänke, oder? Genau gegenüber befindet sich das
Gesundheitsamt. Mit einem trüben Aufblick bedankt sich der Mann und
zieht weiter.
In Sandras Wohnung öffne ich die Fenster und
lasse den muffigen Geruch abziehen. Die Blumen befinden sich in
alarmierendem Zustand. Die meisten von ihnen dürften nicht mehr zu
retten sein. Dennoch fange ich sofort an zu gießen. Ich nehme mir
vor, bis zu Sandras Rückkehr die Blumen jeden Tag zu wässern. Erst
am letzten Tag werde ich entscheiden, welche Blumen ich durch neue
ersetzen werde und welche nicht. Nein, so lange darf ich nicht
warten. Dann wird Sandra sofort bemerken, daß ich ihre Blumen gegen
neue ausgetauscht habe. Die wenigen Blumen, die ich mit Namen
kenne, sind ein paar Geranien und Alpenveilchen, die noch halbwegs
passabel aussehen. Im Badezimmer entdecke ich drei von Sandras
Bildern. Wollte sie sie vor mir verstecken? Auf dem Weg hierher
habe ich mir wieder Sorgen gemacht, wie ich mich Sandras Hobby
gegenüber verhalten soll. Ich habe mir Gedanken gemacht, warum so
viele absolut talentlose Menschen sich ausgerechnet der Kunst
zuwenden. Morgenthalers tote Mutter nahm bis ins hohe Alter
Gesangsunterricht und hoffte auf eine späte Karriere als
Opernsängerin! Sogar meine eigene Mutter war nicht frei von solchen
Verirrungen. Am Ende meiner Schulzeit hielt auch sie sich für eine
große Malerin. Unsere Abiturklasse fuhr nach Amsterdam und besuchte
das dortige Van-Gogh-Museum. Ich kaufte ein paar Postkarten mit den
berühmtesten Van-Gogh-Bildern und schenkte sie einen Tag später
meiner Mutter. Zwei der Bilder malte sie ab, erkannte aber, daß
ihre Abbilder mit den Originalen nichts zu tun hatten. Zur
Begründung sagte sie: Wenn ich mit dem Malen so früh angefangen
hätte wie van Gogh, könnte ich heute genausogut malen wie er. Ein
paar Jahre später glaubte sie, sie könnte ein Fernsehspiel
schreiben. Ich schimpfte damals im stillen auf den Süddeutschen
Rundfunk, der einen unseligen Schreibwettbewerb für »unsere älteren
Mitbürger« ausgerufen hatte. Meine Mutter kam nicht über die erste
Seite hinaus. Schon nach zwei Tagen übergab sie mir die Sache, ich
setzte mich hin und schrieb für sie ein Fernsehspiel, das nicht für
die Produktion ausgewählt wurde. Zum Glück, muß ich heute denken,
sonst hätte sich Mutter auch noch für eine Dramatikerin gehalten.
Aber plötzlich, ich weiß nicht wie, gehört Sandra für mich nicht
mehr zu den Problemfällen. Im Gegenteil, ich liebe Sandra jetzt
sogar wegen ihrer treuherzigen Versuche, eine Künstlerin zu
werden.
Ich kann nicht entscheiden, ob ich die Kakteen
ebenfalls gießen soll oder nicht. Dafür werden die beiden halbhohen
Staudengewächse reichlich mit Wasser versorgt. Nach einer halben
Stunde schließe ich die Fenster, lasse die Rolläden herunter und
berühre mit der Hand Sandras Kopfkissen. Ich hebe einen der
Kissenzipfel in die Höhe und sehe Sandras Nachthemd, sorgfältig
zusammengelegt wie das Nachthemd einer Siebenjährigen. Ich beuge
mich über das Bett und atme den Geruch von Sandras Nachthemd ein,
dann verlasse ich die Wohnung.
Unten, auf der Straße, entdecke ich Herrn
Bausback, den Postfeind, jedoch leider ein paar Sekunden zu spät.
Kurz vorher hat er mich gesehen und kommt sofort auf mich zu.
Stellen Sie sich vor, sagt er, ich habe an der
Hauptpost gerade eine Ratte entlanghoppeln sehen!
Nein!
Doch! Und was für ein Riesending das war!
Und Sie, was haben Sie gemacht?
Ich bin der Ratte nachgelaufen, sagt Herr
Bausback, weil ich sehen wollte, wohin sie verschwindet!
Ist sie in den Schalterraum gelaufen?
Soweit ist es noch nicht, sagt der Postfeind
völlig ernst; sie ist unter einen riesigen Stein gekrochen.
Nicht unintelligent, lobe ich die Ratte.
Das finde ich auch, sagt Herr Bausback; ich
habe eine Weile gewartet, ob sie wieder hervorkommen würde, aber
sie tat mir den Gefallen leider nicht.
Und jetzt?
Morgen gehe ich wieder zur Hauptpost, aber
diesmal mit Fotoapparat! sagt Bausback. Zum zweiten Mal nennt er
den Grünstreifen um die Post herum das Rattengebiet. Er beschuldigt
die Post der Begünstigung von Schädlingen und der Ausbreitung von
Seuchen. Ich versuche, seine Erregung zu dämpfen, indem ich auf das
Problem der Hitze aufmerksam mache.
Man riecht ja schon die Kanalisation, sage ich,
das zieht die Ratten an.
Genau! Um so aufmerksamer müßte die Post
sein!
Werden Sie der Post Ihre Beweisfotos
schicken?
Das nützt nichts! ruft Bausback; die Post
reagiert überhaupt nicht auf ihre Skandale. Ich werde zum
Tagesanzeiger gehen und die Story verkaufen!
Oh! mache ich bewundernd; dann muß die Post
handeln?
Dann fühlt sie sich in die Ecke gedrängt, sagt
Bausback.
Wie eine Ratte, sage ich.
Genau, sagt Bausback und muß endlich kurz
lachen.
Viel Glück beim Tagesanzeiger!
Danke! ruft Bausback und entfernt sich.
Ohne Absicht bleibe ich eine Weile stehen und
schaue ihm nach. Im Schaufenster einer Badezimmer-Boutique löst
sich ein hinter der Scheibe befestigtes Plakat und liegt wenig
später quer und unschön über den Auslagen. Schon überlege ich, ob
das heruntergerutschte Plakat ein Hinweis für mein Leben sein soll,
eine Erklärung, ein Fingerzeig oder eine Warnung, dieses oder jenes
zu tun oder nicht zu tun. Wieso habe ich genau in den Augenblicken
in das Schaufenster geschaut, als sich das Plakat löste? Ich muß
meine Überempfänglichkeit für solche Details zurückdrängen. Aber
wie? Ich betrachte im Schaufenster der Badeboutique die
goldglänzenden Wasserhähne, die Blumenmuster auf den zierlichen
Porzellanbecken, die zitronengelben Naturschwämme und empfinde die
Fremdheit zwischen den Dingen und mir. Du wünschst dir nicht genug,
du kaufst nicht schnell genug und du wirfst nicht schnell genug
weg! Immer wieder brechen lange Konsumstockungen in dein Leben ein
und trennen dich vom Denken der Mehrheit! Vermutlich hängt meine
Nervosität auch mit meinen Schlafstörungen zusammen. Der
Schlafmangel bringt tagsüber eine Stimmung hervor, in der ich
manchmal möchte, daß mir jemand hilft. Aber dann bin ich froh, wenn
es niemand versucht. Denn ich könnte nicht sagen, wobei mir
zu helfen sei. Schon spüre ich wieder ein inneres Einsinken, ein
zeitlupenartiges Umfallen, eine Auflösung meiner... meiner was? Ich
kann (könnte) nicht sagen, was mich aufzulösen droht, und weil ich
es nicht sagen kann, werde ich gerade noch ein bißchen weiter
aufgelöst. Unentschlossen gehe ich in Richtung Hauptbahnhof. Ich
muß unbedingt die Evangelische Akademie Sattlach anrufen und das
Seminar zusagen. Außerdem muß ich auf einen Brief der
Polizeifachschule in Hannover antworten. Der Direktor fragt an, ob
ich einen Vortrag zum Thema Unruhenfrüherkennung, Gewaltdiagnostik
und Sicherheitsprophylaxe halten würde. In einer Polizeifachschule
habe ich noch nie einen Vortrag gehalten, ich will es im Grunde
auch nicht. Sie wollen von dir wissen, wo und wann neue Unruhen
ausbrechen. Als ob ich das wüßte! Aber ich werde den Vortrag
halten. In gewisser Weise erregt mich die Anfrage. Unruhen, mit
denen sogar die Polizei rechnet, treten mit Sicherheit auch ein.
Darin liegt ein Indikator für die Richtigkeit meines
apokalyptischen Ansatzes. Am Hansaplatz komme ich am Hochhaus der
Humanitas-Versicherung vorbei. Dort, im Erdgeschoß, gut verborgen
hinter einem Lamellen-Sichtschutz, sitzt mein ehemaliger Freund
Henschel, der sich vor vielen Jahren aus verletzter Scham von mir
abgewandt hat. Er ist Sachbearbeiter bei der Humanitas, seit
mindestens zwanzig Jahren. Die Lamellen hinter der Scheibe seines
Zimmers stehen günstig. Ich kann Henschel, während ich sehr langsam
draußen vorübergehe, an seinem Schreibtisch sitzen sehen. Er
blättert eine Akte durch und kommt niemals auf die Idee, daß ihn
von draußen jemand anschaut, der ihn aus früheren Zeiten schätzt
und in diesen Augenblicken seiner Jugend gedenkt. Das tue ich
tatsächlich, heute sogar länger als sonst. Henschel hat vor mehr
als zwanzig Jahren an einer Dissertation über das
Anerkennungsproblem bei Hegel gearbeitet, mit der er bei Habermas
promovieren wollte. Ich erinnere mich an seine Begeisterung, die
fast immer so anfing: Ich muß meinen verehrten Vordenker Hegel
kritisieren, weil er... Das klang eindrucksvoll und voller Zukunft,
aber nach jahrelanger Arbeit verhedderte sich Henschel hoffnungslos
in Hegels Metaphysik und Dialektik gleichzeitig. Er brach die
Arbeit an der Dissertation ab und gab ein Jahr später sogar das
Philosophiestudium auf. Aus der aufsteigenden Lebenslinie
Hegel–Habermas–Henschel wurde das schlichte Eingeständnis
Humanitas–Hansaplatz–Henschel, das mitzuteilen über seine Kräfte
ging. Schon viel zu lange büßt er seine jugendlichen Höhenflüge
hier in einem Erdgeschoß ab. Ich gedenke seines untergegangenen
Übermuts und blicke dabei stumm und von hinten auf seinen reglosen
Rücken.
Es beginnt fast zärtlich zu tröpfeln, ich
drücke mich dichter gegen die Hauswände. Im Schutz einer
überdachten Straßenbahnhaltestelle sitzt eine Frau auf einer
Plastikbank und schimpft vor sich hin. Die Frau trägt einen
altertümlichen Hut, wie er in der Nachkriegszeit eine Weile Mode
war. Er hat die Form eines Topfs, an beiden Seiten ragen zwei
dunkle Federchen hoch und flattern im lauen Wind. Ich setze mich
neben die Frau, um ihr Schimpfen zu verstehen. Aber es ist nicht
möglich. Das Schimpfen bleibt unverständlich. Es liegt am Gebiß der
Frau, das ihr beim Sprechen immer wieder nach vorne rutscht. Ich
stehe auf und gehe an ein paar betäubten Häusern vorbei, von denen
es im Bahnhofsviertel noch viele gibt. Von diesen Häusern ist nur
das Erdgeschoß bewohnt beziehungsweise belebt; schon der erste
Stock ist nur noch halb bewohnt, und vom zweiten Stock an aufwärts
beginnt eine zunehmende Verrottung. In einer der letzten Nächte ist
mir ein winziges Stück von einem Schneidezahn abgebrochen. Jetzt
fahre ich mit der Zungenspitze immerzu über die Bruchstelle. Ich
rutsche mehr und mehr in einen Tageszustand hinein, den ich nicht
schätze. Es ist die Verlangsamung des äußeren Lebens bei
gleichbleibender innerer Eile. Vermutlich ist heute einer jener
Tage, an denen viele Menschen glauben, sie hätten vielleicht Krebs.
Wenn ich mich nicht täusche, läßt wenigstens das Getröpfel wieder
nach.
Es öffnet sich die Straßenschlucht, sichtbar
wird ein großer Platz beziehungsweise ein unbebautes Gelände. In
der Mitte des Platzes steht ein Autoscooter und eine
Bratwursthütte, rechts davon ein Süßigkeitenstand, links eine
Wurfbude. Ein paar fliegende Händler, Inder und Arbeitslose laufen
herum. Ich merke, daß meine inneren Beschreibungen nicht ganz der
Wahrheit entsprechen, mich aber unterhalten. Vermutlich gibt es
drei Möglichkeiten des Alterns: die Verzerrung, die Erhabenheit und
die Melancholie, von denen ich wechselnd Gebrauch mache. Eine etwa
Dreizehnjährige stakt in Stöckelschuhen über den staubigen Platz.
Zwei der Inder haben sich Blazer mit Goldknöpfen angeschafft, die
sie hier spazierenführen. Am besten gefällt mir der Lautsprecher
der Wurfbude. Er ist mit einem blauen Plastiksack zugehängt
beziehungsweise überstülpt. Unter der Plastikhülle dringt
Schlagermusik leicht verzerrt, das heißt in angemessener
Falschheit, hervor. Tagesgähner vermischen sich unmerklich mit
Abendgähnern. Noch immer ist mir der entscheidende Schlag gegen die
Monotonie dieses Nachmittags nicht geglückt. Am Rand des Platzes
sehe ich einen mit roten und grünen Neonstäben erleuchteten Eingang
einer Nachtbar. In einem kleinen Schaukasten betrachte ich die im
Sonnenlicht gewellten Fotos einiger Stripteasetänzerinnen. Ich bin
ein bißchen melancholisch und deswegen für Sexualkitsch
zugänglicher als sonst. Aus der noch immer blendenden Tageshelle
trete ich in das Halbdunkel der Nachtbar. Über ein paar rote
Teppiche gerate ich in den Bühnenraum. Schwere Rumbamusik dröhnt
durch das kleine Zuschauerrund. Links und rechts von mir sitzen
einige abgedunkelte Persönlichkeiten und warten auf die nächste
Darbietung. Eine Empfangsdame weist mir ein Tischchen zu. Eine
Bardame beugt sich so tief über mich herab, daß ich in ihrem Haar
gleichzeitig Rauch und Parfüm riechen kann. In ihrem Ausschnitt
schaukelt an einem Goldkettchen ein Tigerzahn aus Plastik. Zuerst
einmal das Übliche? fragt sie mich, ich nicke und bin ein bißchen
gespannt, was das Übliche ist. Der Raum verdunkelt sich, die Bühne
wird hell. Im Lautsprecher wird Pippi Langstrumpf angekündigt.
Draußen donnert eine Straßenbahn vorüber und erschüttert
momentweise das ganze Haus. Halbnackte Frauen erscheinen und
verschwinden zwischen Vorhängen. Es erregt mich ein bißchen, daß
ich nicht weiß, was in den Séparées geschieht. Die Bardame stellt
das Übliche vor mir ab, ein Bier und einen Cognac. Pippi
Langstrumpf springt auf die Bühne. Sie ist fast nackt, hat gemalte
Sommersprossen im Gesicht, trägt einen Schulranzen und
Pippi-Langstrumpf-Zöpfchen. Sie umarmt den Kopf eines Pferdchens
aus Pappmaché. In der Mitte der Bühne steht ein Pferdesattel mit
Knauf. Pippi Langstrumpf, das Schulmädchen, zeigt seinen Traum, das
Reiten. Pippi Langstrumpf steigt auf den Sattel, und zwar so, daß
der Knauf seine Funktion als Penisnachbildung enthüllt. Pippi
Langstrumpf setzt sich auf den Penisknauf und reitet los. Eine
Weile geht es gut, dann merkt Pippi Langstrumpf, daß etwas nicht
stimmt. Aber sie ist schon zu schwach, um das Pferd zu zügeln, das
Verhängnis nimmt seinen Lauf. Es dauert eine knappe Minute, dann
stürzt Pippi Langstrumpf halb entzückt und halb ohnmächtig vom
Pferdesattel, der bloß umgebogene Gummiknauf schnellt wieder hoch.
Pippi Langstrumpf liegt stöhnend neben dem Sattel, Schluß, der
Vorhang fällt, schütterer Beifall von etwa sieben Männern. Ich
trinke die Bierflasche halbleer, dann gehe ich auf die Toilette. Im
Vorraum mache ich einen Fehler und lese zwei der handgeschriebenen
Zeilen, mit denen Männer die Toilettenwände vollgekritzelt haben:
Bei den Jungen kommt es schnell, bei den Alten eventuell. Ich habe
mir eingebildet, ich könnte hier meine Verwirrung über die
Enderektion verlieren. Jetzt, nach dem Toilettenreim, kehrt der
schon für verschwunden gehaltene Schreck zurück. Im Dunkel des
Korridors zwischen Toilette und Zuschauerraum nehme ich eines der
dort abgestellten Weingläser und verberge es unter meinem Sakko.
Ich brauche keine Weingläser, ich habe genug davon. In
angegriffenen Situationen hilft mir das Mitnehmen von kleinen oder
nicht so kleinen Gegenständen, die inneren Übergriffe meiner
Überforderung auszuhalten. Es ist mir klar, was mit mir los ist,
nur hilft mir die Klarheit nicht. Vor etwa vierzehn Tagen habe ich
in einem anderen Lokal, durch dessen Räume ich nur
hindurchgeschlendert bin, eine große weiße Stoffserviette
mitgenommen. Sie liegt jetzt zu Hause bei mir neben dem
Fernsehapparat, unbenutzt. Ich wische mir die Hände weiterhin mit
Papiertaschentüchern ab, um die weiße Stoffserviette zu schonen.
Mein linkes Knie schmerzt. Vielleicht brauche ich viel schneller,
als ich denken mag, einen Gehstock. Es ist ganz leicht, ein
Weinglas unter meinem Sakko zu verstecken. Ich kann das Glas mit
der rechten Armbeuge einklemmen und mit der linken Hand einen
Cognac trinken. Ich zahle bei der Bardame mit dem Tigerzahn im
Ausschnitt, eine Minute später bin ich draußen. Ich empfinde
Vergnügen dabei, während des Heimwegs darauf zu achten, nicht aus
Versehen gegen eine Mauer oder gegen einen Pfosten zu prallen. Wenn
die Verletzungsgefahr nicht so groß wäre, würde mich auch ein
kleiner Unfall entzücken. Dann könnte ich mit eigenen Ohren hören,
wie mein gläsernes Herz zerbirst. Damit ich schneller zu Hause bin,
nehme ich die Abkürzung durch die Wiesengrundstraße und die
Zellerstraße. Ich komme an der chemischen Reinigung BLITZ vorbei,
in deren Schaufenster eine schöne elektrische Eisenbahnanlage zu
sehen ist. Das heißt, so schön ist sie auch wieder nicht. Die
Kanten des Tunnels sind abgestoßen, von den Tannenbäumen hat sich
das Sägemehl teilweise gelöst und an den Sperrholz-Häuschen werden
braune Leimstellen sichtbar. Auf einem kleinen Schildchen ist zu
lesen, daß die Anlage 1500,– Euro kostet. Das ist ein viel zu hoher
Preis für eine derartig ältliche Bastlerarbeit. Ich kann nicht
widerstehen, mich eine Weile vor das Schaufenster zu stellen. Denn
ich spekuliere darauf, daß der Besitzer der chemischen Reinigung,
der vermutlich auch der Besitzer der Eisenbahnanlage ist, aus
seinem Hinterzimmer hervortritt und die Anlage für mich
einschaltet. Der Besitzer kann seinerseits nicht widerstehen, in
mir einen Kaufinteressenten für seine Anlage zu vermuten. Genauso
geschieht es. Schon eine Viertelminute später tritt der Mann nach
vorne an den Rand der Anlage und läßt einen Personenzug und einen
Güterzug gegenläufig zwei weite Schienenovale umfahren. Es ist ein
starkes Bild, den Mann dicht neben mehreren Stapeln frisch
gereinigter Hemden (links am Rand der Anlage) und mehreren Stapeln
ebenfalls frisch gereinigter Kittel und Blusen (rechts der Anlage)
stehen zu sehen und ihm dabei zuzuschauen, wie er bittend hofft,
daß ich seinen schäbig gewordenen Kindertraum kaufe. Mir entgeht
nicht, daß meine müde gewordene Ratlosigkeit in die Anlage und
sogar in ihren Besitzer einfließt. Mein Frauenproblem springt auf
eine der beiden Loks auf und läßt sich jetzt lustig im Oval
herumfahren. Mein gequältes Ich spürt eine gewisse Erleichterung.
Eine auf einer Lok und noch dazu in einem Schaufenster
herumgefahrene Melancholie ist eben gleich etwas Appetitliches.
Vermutlich springt irgendein Problem des Besitzers auf die andere
Lok auf, und schon fahren zwei wahrscheinlich sehr verschiedene
Männerwunden durch den Mief einer chemischen Reinigung und dürfen
dabei momentweise vergessen, wie schwierig sie sind. Gleichzeitig
wird mir der Mann hinter der Scheibe zunehmend unangenehm. Ich sehe
seinem Gesicht an, wie sehr sich seine Vorstellung verfestigt, daß
ich gleich seinen Laden betrete und die Anlage kaufe. Oder er kommt
womöglich selbst auf die Straße heraus und bittet mich in sein
Geschäft. Ich müßte ihm dann mühsam auseinandersetzen, daß die
entlastende Wirkung der elektrischen Eisenbahn, wenn die Anlage
erst einmal in meiner Wohnung steht, sofort verschwindet. Das würde
der Mann vermutlich nicht begreifen. Schon seinem fürchterlichen
Pullover sehe ich an, daß er denkt, eine elektrische Eisenbahn ist
nichts weiter als eine elektrische Eisenbahn. In ein paar
unbeobachteten Augenblicken (der Besitzer geht zur Theke zurück,
weil er das Telefon abnehmen muß) bin ich verschwunden. Ich
bedaure, daß ich die Entdeckung meines Verschwindens auf dem
Gesicht des Mannes nicht beobachten kann. Von hier aus ist es nicht
weit bis zu meiner Wohnung. Ich gehe in mein Arbeitszimmer und
stelle das Weinglas ab. Undeutlich fühle ich, daß ich mich an
diesem Nachmittag selbst erniedrigt habe. Ich kämpfe gegen dieses
Gefühl an, indem ich am Telefon sowohl das Herbstseminar bei der
Evangelischen Akademie als auch den Vortrag bei der
Polizeifachschule zusage. Obwohl sie beide nicht da sind, kann ich
Sandra und Judith in meiner Wohnung umhergehen sehen; dadurch
weicht meine Angst zurück, ich könnte sie verlieren. Endlich, in
der Stille meines Arbeitszimmers, erkenne ich die Macht meiner
alten Sehnsucht, die nicht teilen will.