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Die Wahrheit ist, daß ich Sandras Blumen bis jetzt nicht ein einziges Mal gegossen habe. Vermutlich sind viele von ihnen schon eingetrocknet. Das beste wird sein, ich ersetze die verdorrten Exemplare durch neue. Ich werde die Reste der abgestorbenen Blumen einpacken und in einem Blumengeschäft wieder auspacken und dazu sagen müssen: Geben Sie mir frische Exemplare dieser Blumen bitte – oder so ähnlich. Am Mittwoch nachmittag stecke ich die Schlüssel von Sandras Wohnung ein und mache mich auf den Weg. Die Menschen auf der Straße wirken heute wie übriggebliebene Comicfiguren. In einem Terrassencafé sitzt eine junge Frau mit schmutzigem T-Shirt, blauer Sonnenbrille und grünem Haar. Die Frau neben ihr trägt trotz der Hitze schwarze Ledersachen. Sie trinkt eine Flasche Milch in einem Zug halbleer und verstaut die Flasche dann wieder in einer Plastiktüte. Ein paar Jugendliche mit McDonald Kappen auf dem Kopf und Bierflaschen in der Hand taumeln eng an den Schaufenstern entlang und grölen: Im Himmel gibts kein Bier, drum trinken wir es hier. Neben dem Eingang des Gesundheitsamtes sind ein paar Edelstahlbänke aufgestellt worden. Ihr metallisches Grau und die eckige Form rufen in mir Ekelgefühle wach. Die Waschbetonplatten am Gesundheitsamt und die halbnackten, gegen sie gelehnten Männer passen plötzlich zusammen. An der Kreuzung Lindenstraße/Max-Beckmann-Straße steht ein Mann vor einem rechteckigen Stahlcontainer und verkauft Brathähnchen. Ich habe den Mann schon vorige Woche beobachtet. Täglich gegen fünfzehn Uhr fährt er in seinem Pkw vor und sucht für seinen Hähnchencontainer einen geeigneten Standplatz. Dann koppelt er den Container ab und parkt seinen Pkw ein paar Straßen weiter. Er öffnet die beiden vorderen Flügeltüren des Containers, und zum Vorschein kommen etwa achtzig ganze Hähnchen, fertig aufgespießt auf acht Drehspießen. Jetzt, am Spätnachmittag, verkauft er die meisten Hähnchen. Bis gegen 19.00 Uhr zieht starker Bratfettgeruch die Straßen hoch, gegen den offenbar niemand einschreitet. Gegen 19.30 Uhr schließt der Mann die Flügeltüren des Containers, bis er am nächsten Tag mit neuer Ladung zurückkehrt. Ich überquere die Kreuzung und biege in die Wupperstraße ein. Von fern sehe ich das rotbraune Haus, in dem Sandra wohnt. Ein junger Drogenabhängiger bleibt vor mir stehen und fragt nach dem Gesundheitsamt. Ich deute mit dem rechten Arm nach hinten und sage: Sie sehen doch die drei neuen Ekelstahlbänke, oder? Genau gegenüber befindet sich das Gesundheitsamt. Mit einem trüben Aufblick bedankt sich der Mann und zieht weiter.
In Sandras Wohnung öffne ich die Fenster und lasse den muffigen Geruch abziehen. Die Blumen befinden sich in alarmierendem Zustand. Die meisten von ihnen dürften nicht mehr zu retten sein. Dennoch fange ich sofort an zu gießen. Ich nehme mir vor, bis zu Sandras Rückkehr die Blumen jeden Tag zu wässern. Erst am letzten Tag werde ich entscheiden, welche Blumen ich durch neue ersetzen werde und welche nicht. Nein, so lange darf ich nicht warten. Dann wird Sandra sofort bemerken, daß ich ihre Blumen gegen neue ausgetauscht habe. Die wenigen Blumen, die ich mit Namen kenne, sind ein paar Geranien und Alpenveilchen, die noch halbwegs passabel aussehen. Im Badezimmer entdecke ich drei von Sandras Bildern. Wollte sie sie vor mir verstecken? Auf dem Weg hierher habe ich mir wieder Sorgen gemacht, wie ich mich Sandras Hobby gegenüber verhalten soll. Ich habe mir Gedanken gemacht, warum so viele absolut talentlose Menschen sich ausgerechnet der Kunst zuwenden. Morgenthalers tote Mutter nahm bis ins hohe Alter Gesangsunterricht und hoffte auf eine späte Karriere als Opernsängerin! Sogar meine eigene Mutter war nicht frei von solchen Verirrungen. Am Ende meiner Schulzeit hielt auch sie sich für eine große Malerin. Unsere Abiturklasse fuhr nach Amsterdam und besuchte das dortige Van-Gogh-Museum. Ich kaufte ein paar Postkarten mit den berühmtesten Van-Gogh-Bildern und schenkte sie einen Tag später meiner Mutter. Zwei der Bilder malte sie ab, erkannte aber, daß ihre Abbilder mit den Originalen nichts zu tun hatten. Zur Begründung sagte sie: Wenn ich mit dem Malen so früh angefangen hätte wie van Gogh, könnte ich heute genausogut malen wie er. Ein paar Jahre später glaubte sie, sie könnte ein Fernsehspiel schreiben. Ich schimpfte damals im stillen auf den Süddeutschen Rundfunk, der einen unseligen Schreibwettbewerb für »unsere älteren Mitbürger« ausgerufen hatte. Meine Mutter kam nicht über die erste Seite hinaus. Schon nach zwei Tagen übergab sie mir die Sache, ich setzte mich hin und schrieb für sie ein Fernsehspiel, das nicht für die Produktion ausgewählt wurde. Zum Glück, muß ich heute denken, sonst hätte sich Mutter auch noch für eine Dramatikerin gehalten. Aber plötzlich, ich weiß nicht wie, gehört Sandra für mich nicht mehr zu den Problemfällen. Im Gegenteil, ich liebe Sandra jetzt sogar wegen ihrer treuherzigen Versuche, eine Künstlerin zu werden.
Ich kann nicht entscheiden, ob ich die Kakteen ebenfalls gießen soll oder nicht. Dafür werden die beiden halbhohen Staudengewächse reichlich mit Wasser versorgt. Nach einer halben Stunde schließe ich die Fenster, lasse die Rolläden herunter und berühre mit der Hand Sandras Kopfkissen. Ich hebe einen der Kissenzipfel in die Höhe und sehe Sandras Nachthemd, sorgfältig zusammengelegt wie das Nachthemd einer Siebenjährigen. Ich beuge mich über das Bett und atme den Geruch von Sandras Nachthemd ein, dann verlasse ich die Wohnung.
Unten, auf der Straße, entdecke ich Herrn Bausback, den Postfeind, jedoch leider ein paar Sekunden zu spät. Kurz vorher hat er mich gesehen und kommt sofort auf mich zu.
Stellen Sie sich vor, sagt er, ich habe an der Hauptpost gerade eine Ratte entlanghoppeln sehen!
Nein!
Doch! Und was für ein Riesending das war!
Und Sie, was haben Sie gemacht?
Ich bin der Ratte nachgelaufen, sagt Herr Bausback, weil ich sehen wollte, wohin sie verschwindet!
Ist sie in den Schalterraum gelaufen?
Soweit ist es noch nicht, sagt der Postfeind völlig ernst; sie ist unter einen riesigen Stein gekrochen.
Nicht unintelligent, lobe ich die Ratte.
Das finde ich auch, sagt Herr Bausback; ich habe eine Weile gewartet, ob sie wieder hervorkommen würde, aber sie tat mir den Gefallen leider nicht.
Und jetzt?
Morgen gehe ich wieder zur Hauptpost, aber diesmal mit Fotoapparat! sagt Bausback. Zum zweiten Mal nennt er den Grünstreifen um die Post herum das Rattengebiet. Er beschuldigt die Post der Begünstigung von Schädlingen und der Ausbreitung von Seuchen. Ich versuche, seine Erregung zu dämpfen, indem ich auf das Problem der Hitze aufmerksam mache.
Man riecht ja schon die Kanalisation, sage ich, das zieht die Ratten an.
Genau! Um so aufmerksamer müßte die Post sein!
Werden Sie der Post Ihre Beweisfotos schicken?
Das nützt nichts! ruft Bausback; die Post reagiert überhaupt nicht auf ihre Skandale. Ich werde zum Tagesanzeiger gehen und die Story verkaufen!
Oh! mache ich bewundernd; dann muß die Post handeln?
Dann fühlt sie sich in die Ecke gedrängt, sagt Bausback.
Wie eine Ratte, sage ich.
Genau, sagt Bausback und muß endlich kurz lachen.
Viel Glück beim Tagesanzeiger!
Danke! ruft Bausback und entfernt sich.
Ohne Absicht bleibe ich eine Weile stehen und schaue ihm nach. Im Schaufenster einer Badezimmer-Boutique löst sich ein hinter der Scheibe befestigtes Plakat und liegt wenig später quer und unschön über den Auslagen. Schon überlege ich, ob das heruntergerutschte Plakat ein Hinweis für mein Leben sein soll, eine Erklärung, ein Fingerzeig oder eine Warnung, dieses oder jenes zu tun oder nicht zu tun. Wieso habe ich genau in den Augenblicken in das Schaufenster geschaut, als sich das Plakat löste? Ich muß meine Überempfänglichkeit für solche Details zurückdrängen. Aber wie? Ich betrachte im Schaufenster der Badeboutique die goldglänzenden Wasserhähne, die Blumenmuster auf den zierlichen Porzellanbecken, die zitronengelben Naturschwämme und empfinde die Fremdheit zwischen den Dingen und mir. Du wünschst dir nicht genug, du kaufst nicht schnell genug und du wirfst nicht schnell genug weg! Immer wieder brechen lange Konsumstockungen in dein Leben ein und trennen dich vom Denken der Mehrheit! Vermutlich hängt meine Nervosität auch mit meinen Schlafstörungen zusammen. Der Schlafmangel bringt tagsüber eine Stimmung hervor, in der ich manchmal möchte, daß mir jemand hilft. Aber dann bin ich froh, wenn es niemand versucht. Denn ich könnte nicht sagen, wobei mir zu helfen sei. Schon spüre ich wieder ein inneres Einsinken, ein zeitlupenartiges Umfallen, eine Auflösung meiner... meiner was? Ich kann (könnte) nicht sagen, was mich aufzulösen droht, und weil ich es nicht sagen kann, werde ich gerade noch ein bißchen weiter aufgelöst. Unentschlossen gehe ich in Richtung Hauptbahnhof. Ich muß unbedingt die Evangelische Akademie Sattlach anrufen und das Seminar zusagen. Außerdem muß ich auf einen Brief der Polizeifachschule in Hannover antworten. Der Direktor fragt an, ob ich einen Vortrag zum Thema Unruhenfrüherkennung, Gewaltdiagnostik und Sicherheitsprophylaxe halten würde. In einer Polizeifachschule habe ich noch nie einen Vortrag gehalten, ich will es im Grunde auch nicht. Sie wollen von dir wissen, wo und wann neue Unruhen ausbrechen. Als ob ich das wüßte! Aber ich werde den Vortrag halten. In gewisser Weise erregt mich die Anfrage. Unruhen, mit denen sogar die Polizei rechnet, treten mit Sicherheit auch ein. Darin liegt ein Indikator für die Richtigkeit meines apokalyptischen Ansatzes. Am Hansaplatz komme ich am Hochhaus der Humanitas-Versicherung vorbei. Dort, im Erdgeschoß, gut verborgen hinter einem Lamellen-Sichtschutz, sitzt mein ehemaliger Freund Henschel, der sich vor vielen Jahren aus verletzter Scham von mir abgewandt hat. Er ist Sachbearbeiter bei der Humanitas, seit mindestens zwanzig Jahren. Die Lamellen hinter der Scheibe seines Zimmers stehen günstig. Ich kann Henschel, während ich sehr langsam draußen vorübergehe, an seinem Schreibtisch sitzen sehen. Er blättert eine Akte durch und kommt niemals auf die Idee, daß ihn von draußen jemand anschaut, der ihn aus früheren Zeiten schätzt und in diesen Augenblicken seiner Jugend gedenkt. Das tue ich tatsächlich, heute sogar länger als sonst. Henschel hat vor mehr als zwanzig Jahren an einer Dissertation über das Anerkennungsproblem bei Hegel gearbeitet, mit der er bei Habermas promovieren wollte. Ich erinnere mich an seine Begeisterung, die fast immer so anfing: Ich muß meinen verehrten Vordenker Hegel kritisieren, weil er... Das klang eindrucksvoll und voller Zukunft, aber nach jahrelanger Arbeit verhedderte sich Henschel hoffnungslos in Hegels Metaphysik und Dialektik gleichzeitig. Er brach die Arbeit an der Dissertation ab und gab ein Jahr später sogar das Philosophiestudium auf. Aus der aufsteigenden Lebenslinie Hegel–Habermas–Henschel wurde das schlichte Eingeständnis Humanitas–Hansaplatz–Henschel, das mitzuteilen über seine Kräfte ging. Schon viel zu lange büßt er seine jugendlichen Höhenflüge hier in einem Erdgeschoß ab. Ich gedenke seines untergegangenen Übermuts und blicke dabei stumm und von hinten auf seinen reglosen Rücken.
Es beginnt fast zärtlich zu tröpfeln, ich drücke mich dichter gegen die Hauswände. Im Schutz einer überdachten Straßenbahnhaltestelle sitzt eine Frau auf einer Plastikbank und schimpft vor sich hin. Die Frau trägt einen altertümlichen Hut, wie er in der Nachkriegszeit eine Weile Mode war. Er hat die Form eines Topfs, an beiden Seiten ragen zwei dunkle Federchen hoch und flattern im lauen Wind. Ich setze mich neben die Frau, um ihr Schimpfen zu verstehen. Aber es ist nicht möglich. Das Schimpfen bleibt unverständlich. Es liegt am Gebiß der Frau, das ihr beim Sprechen immer wieder nach vorne rutscht. Ich stehe auf und gehe an ein paar betäubten Häusern vorbei, von denen es im Bahnhofsviertel noch viele gibt. Von diesen Häusern ist nur das Erdgeschoß bewohnt beziehungsweise belebt; schon der erste Stock ist nur noch halb bewohnt, und vom zweiten Stock an aufwärts beginnt eine zunehmende Verrottung. In einer der letzten Nächte ist mir ein winziges Stück von einem Schneidezahn abgebrochen. Jetzt fahre ich mit der Zungenspitze immerzu über die Bruchstelle. Ich rutsche mehr und mehr in einen Tageszustand hinein, den ich nicht schätze. Es ist die Verlangsamung des äußeren Lebens bei gleichbleibender innerer Eile. Vermutlich ist heute einer jener Tage, an denen viele Menschen glauben, sie hätten vielleicht Krebs. Wenn ich mich nicht täusche, läßt wenigstens das Getröpfel wieder nach.
Es öffnet sich die Straßenschlucht, sichtbar wird ein großer Platz beziehungsweise ein unbebautes Gelände. In der Mitte des Platzes steht ein Autoscooter und eine Bratwursthütte, rechts davon ein Süßigkeitenstand, links eine Wurfbude. Ein paar fliegende Händler, Inder und Arbeitslose laufen herum. Ich merke, daß meine inneren Beschreibungen nicht ganz der Wahrheit entsprechen, mich aber unterhalten. Vermutlich gibt es drei Möglichkeiten des Alterns: die Verzerrung, die Erhabenheit und die Melancholie, von denen ich wechselnd Gebrauch mache. Eine etwa Dreizehnjährige stakt in Stöckelschuhen über den staubigen Platz. Zwei der Inder haben sich Blazer mit Goldknöpfen angeschafft, die sie hier spazierenführen. Am besten gefällt mir der Lautsprecher der Wurfbude. Er ist mit einem blauen Plastiksack zugehängt beziehungsweise überstülpt. Unter der Plastikhülle dringt Schlagermusik leicht verzerrt, das heißt in angemessener Falschheit, hervor. Tagesgähner vermischen sich unmerklich mit Abendgähnern. Noch immer ist mir der entscheidende Schlag gegen die Monotonie dieses Nachmittags nicht geglückt. Am Rand des Platzes sehe ich einen mit roten und grünen Neonstäben erleuchteten Eingang einer Nachtbar. In einem kleinen Schaukasten betrachte ich die im Sonnenlicht gewellten Fotos einiger Stripteasetänzerinnen. Ich bin ein bißchen melancholisch und deswegen für Sexualkitsch zugänglicher als sonst. Aus der noch immer blendenden Tageshelle trete ich in das Halbdunkel der Nachtbar. Über ein paar rote Teppiche gerate ich in den Bühnenraum. Schwere Rumbamusik dröhnt durch das kleine Zuschauerrund. Links und rechts von mir sitzen einige abgedunkelte Persönlichkeiten und warten auf die nächste Darbietung. Eine Empfangsdame weist mir ein Tischchen zu. Eine Bardame beugt sich so tief über mich herab, daß ich in ihrem Haar gleichzeitig Rauch und Parfüm riechen kann. In ihrem Ausschnitt schaukelt an einem Goldkettchen ein Tigerzahn aus Plastik. Zuerst einmal das Übliche? fragt sie mich, ich nicke und bin ein bißchen gespannt, was das Übliche ist. Der Raum verdunkelt sich, die Bühne wird hell. Im Lautsprecher wird Pippi Langstrumpf angekündigt. Draußen donnert eine Straßenbahn vorüber und erschüttert momentweise das ganze Haus. Halbnackte Frauen erscheinen und verschwinden zwischen Vorhängen. Es erregt mich ein bißchen, daß ich nicht weiß, was in den Séparées geschieht. Die Bardame stellt das Übliche vor mir ab, ein Bier und einen Cognac. Pippi Langstrumpf springt auf die Bühne. Sie ist fast nackt, hat gemalte Sommersprossen im Gesicht, trägt einen Schulranzen und Pippi-Langstrumpf-Zöpfchen. Sie umarmt den Kopf eines Pferdchens aus Pappmaché. In der Mitte der Bühne steht ein Pferdesattel mit Knauf. Pippi Langstrumpf, das Schulmädchen, zeigt seinen Traum, das Reiten. Pippi Langstrumpf steigt auf den Sattel, und zwar so, daß der Knauf seine Funktion als Penisnachbildung enthüllt. Pippi Langstrumpf setzt sich auf den Penisknauf und reitet los. Eine Weile geht es gut, dann merkt Pippi Langstrumpf, daß etwas nicht stimmt. Aber sie ist schon zu schwach, um das Pferd zu zügeln, das Verhängnis nimmt seinen Lauf. Es dauert eine knappe Minute, dann stürzt Pippi Langstrumpf halb entzückt und halb ohnmächtig vom Pferdesattel, der bloß umgebogene Gummiknauf schnellt wieder hoch. Pippi Langstrumpf liegt stöhnend neben dem Sattel, Schluß, der Vorhang fällt, schütterer Beifall von etwa sieben Männern. Ich trinke die Bierflasche halbleer, dann gehe ich auf die Toilette. Im Vorraum mache ich einen Fehler und lese zwei der handgeschriebenen Zeilen, mit denen Männer die Toilettenwände vollgekritzelt haben: Bei den Jungen kommt es schnell, bei den Alten eventuell. Ich habe mir eingebildet, ich könnte hier meine Verwirrung über die Enderektion verlieren. Jetzt, nach dem Toilettenreim, kehrt der schon für verschwunden gehaltene Schreck zurück. Im Dunkel des Korridors zwischen Toilette und Zuschauerraum nehme ich eines der dort abgestellten Weingläser und verberge es unter meinem Sakko. Ich brauche keine Weingläser, ich habe genug davon. In angegriffenen Situationen hilft mir das Mitnehmen von kleinen oder nicht so kleinen Gegenständen, die inneren Übergriffe meiner Überforderung auszuhalten. Es ist mir klar, was mit mir los ist, nur hilft mir die Klarheit nicht. Vor etwa vierzehn Tagen habe ich in einem anderen Lokal, durch dessen Räume ich nur hindurchgeschlendert bin, eine große weiße Stoffserviette mitgenommen. Sie liegt jetzt zu Hause bei mir neben dem Fernsehapparat, unbenutzt. Ich wische mir die Hände weiterhin mit Papiertaschentüchern ab, um die weiße Stoffserviette zu schonen. Mein linkes Knie schmerzt. Vielleicht brauche ich viel schneller, als ich denken mag, einen Gehstock. Es ist ganz leicht, ein Weinglas unter meinem Sakko zu verstecken. Ich kann das Glas mit der rechten Armbeuge einklemmen und mit der linken Hand einen Cognac trinken. Ich zahle bei der Bardame mit dem Tigerzahn im Ausschnitt, eine Minute später bin ich draußen. Ich empfinde Vergnügen dabei, während des Heimwegs darauf zu achten, nicht aus Versehen gegen eine Mauer oder gegen einen Pfosten zu prallen. Wenn die Verletzungsgefahr nicht so groß wäre, würde mich auch ein kleiner Unfall entzücken. Dann könnte ich mit eigenen Ohren hören, wie mein gläsernes Herz zerbirst. Damit ich schneller zu Hause bin, nehme ich die Abkürzung durch die Wiesengrundstraße und die Zellerstraße. Ich komme an der chemischen Reinigung BLITZ vorbei, in deren Schaufenster eine schöne elektrische Eisenbahnanlage zu sehen ist. Das heißt, so schön ist sie auch wieder nicht. Die Kanten des Tunnels sind abgestoßen, von den Tannenbäumen hat sich das Sägemehl teilweise gelöst und an den Sperrholz-Häuschen werden braune Leimstellen sichtbar. Auf einem kleinen Schildchen ist zu lesen, daß die Anlage 1500,– Euro kostet. Das ist ein viel zu hoher Preis für eine derartig ältliche Bastlerarbeit. Ich kann nicht widerstehen, mich eine Weile vor das Schaufenster zu stellen. Denn ich spekuliere darauf, daß der Besitzer der chemischen Reinigung, der vermutlich auch der Besitzer der Eisenbahnanlage ist, aus seinem Hinterzimmer hervortritt und die Anlage für mich einschaltet. Der Besitzer kann seinerseits nicht widerstehen, in mir einen Kaufinteressenten für seine Anlage zu vermuten. Genauso geschieht es. Schon eine Viertelminute später tritt der Mann nach vorne an den Rand der Anlage und läßt einen Personenzug und einen Güterzug gegenläufig zwei weite Schienenovale umfahren. Es ist ein starkes Bild, den Mann dicht neben mehreren Stapeln frisch gereinigter Hemden (links am Rand der Anlage) und mehreren Stapeln ebenfalls frisch gereinigter Kittel und Blusen (rechts der Anlage) stehen zu sehen und ihm dabei zuzuschauen, wie er bittend hofft, daß ich seinen schäbig gewordenen Kindertraum kaufe. Mir entgeht nicht, daß meine müde gewordene Ratlosigkeit in die Anlage und sogar in ihren Besitzer einfließt. Mein Frauenproblem springt auf eine der beiden Loks auf und läßt sich jetzt lustig im Oval herumfahren. Mein gequältes Ich spürt eine gewisse Erleichterung. Eine auf einer Lok und noch dazu in einem Schaufenster herumgefahrene Melancholie ist eben gleich etwas Appetitliches. Vermutlich springt irgendein Problem des Besitzers auf die andere Lok auf, und schon fahren zwei wahrscheinlich sehr verschiedene Männerwunden durch den Mief einer chemischen Reinigung und dürfen dabei momentweise vergessen, wie schwierig sie sind. Gleichzeitig wird mir der Mann hinter der Scheibe zunehmend unangenehm. Ich sehe seinem Gesicht an, wie sehr sich seine Vorstellung verfestigt, daß ich gleich seinen Laden betrete und die Anlage kaufe. Oder er kommt womöglich selbst auf die Straße heraus und bittet mich in sein Geschäft. Ich müßte ihm dann mühsam auseinandersetzen, daß die entlastende Wirkung der elektrischen Eisenbahn, wenn die Anlage erst einmal in meiner Wohnung steht, sofort verschwindet. Das würde der Mann vermutlich nicht begreifen. Schon seinem fürchterlichen Pullover sehe ich an, daß er denkt, eine elektrische Eisenbahn ist nichts weiter als eine elektrische Eisenbahn. In ein paar unbeobachteten Augenblicken (der Besitzer geht zur Theke zurück, weil er das Telefon abnehmen muß) bin ich verschwunden. Ich bedaure, daß ich die Entdeckung meines Verschwindens auf dem Gesicht des Mannes nicht beobachten kann. Von hier aus ist es nicht weit bis zu meiner Wohnung. Ich gehe in mein Arbeitszimmer und stelle das Weinglas ab. Undeutlich fühle ich, daß ich mich an diesem Nachmittag selbst erniedrigt habe. Ich kämpfe gegen dieses Gefühl an, indem ich am Telefon sowohl das Herbstseminar bei der Evangelischen Akademie als auch den Vortrag bei der Polizeifachschule zusage. Obwohl sie beide nicht da sind, kann ich Sandra und Judith in meiner Wohnung umhergehen sehen; dadurch weicht meine Angst zurück, ich könnte sie verlieren. Endlich, in der Stille meines Arbeitszimmers, erkenne ich die Macht meiner alten Sehnsucht, die nicht teilen will.