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Am Frühabend merke ich, daß ich um die Ernsthaftigkeit eines schwer begreiflichen Tages älter geworden bin. Ich sitze in meinem Arbeitszimmer und seufze. Wie soll ich die Freude über Sandras Heiratsantrag und die Enttäuschung über ihre schlechten Bilder miteinander vereinbaren? Vor vielen Wochen habe ich in einem der Bäume ein Eichhörnchen herumspringen sehen. Immer wieder schaue ich aus dem Fenster hinaus, aber das Eichhörnchen scheint auf Nimmerwiedersehen verschwunden zu sein. Im Haus gegenüber stellt sich eine Frau an ein offenes Fenster und putzt ihre Schuhe. Eine Weile schaue ich zu, dann rufe ich mich zur Ordnung: Mein Gott, was gibt es denn dabei zu sehen? Ich will nichts Bestimmtes sehen, ich will mich durch Sehen beruhigen, aber es klappt nicht. Ich höre zu, wie die nach Hause zurückkehrenden Mieter ihre Apparate anwerfen. Der junge Architekt, der mit mir auf der gleichen Etage wohnt, beruhigt sich beim Gepolter der Rolling Stones. Die Lehrerin über mir entspannt sich bei den süßlichen Harfenklängen von Vollenweider. Ich selbst schalte gegen 19.00 Uhr die Fernsehnachrichten ein. Die Informationen interessieren mich kaum, ich will nur das öffentliche Altern der Nachrichtensprecherinnen beobachten. Wenn eine Sprecherin ein paar Wochen keinen Dienst hatte und dann plötzlich wieder auf dem Schirm auftaucht, ist sie einerseits eine Spur bitterer, sich selbst aber auch ähnlicher geworden, eine geheimnisvolle Verschränkung, die mich tröstet. Wahrscheinlich wird man über lange Zeit nur langsam alt, dann aber sehr schnell. Nach den Nachrichten ruft Judith an und sagt mir, daß sie in Kürze vierzehn Tage Urlaub auf Mallorca machen wird. Ich habe ein günstiges Angebot erwischt und schnell zugegriffen, sagt sie und lacht. Ich bin daran gewöhnt, daß Judith im Sommer vierzehn Tage allein verreist. Es kommt ihr darauf an, zwei Wochen lang vollständig umsorgt zu werden. Sie will nur schlafen, lesen, essen, liegen, spazierengehen und nicht reden, nicht einkaufen, nicht nachdenken und keine Termine machen und keine Nachhilfeschüler sehen. Sonderbar ist, daß sich Judith wenig später ebenfalls um meine Zufriedenheit sorgt. Sie schlägt vor, ich soll im Stadtzentrum einen Schulungsraum mieten und permanent eigene Apokalypse-Veranstaltungen anbieten. Sie glaubt, es gibt in der Stadt einen ausreichend großen Markt für ein apokalyptisches Dauerangebot. Dann mußt du nicht mehr diese anstrengenden Seminare in Hotels machen, sagt sie.
Ich verspreche, mir den Vorschlag zu überlegen. Statt dessen denke ich fast permanent darüber nach, ob man mir ansieht, daß mir ein Heiratsantrag gemacht worden ist. Ich gebe zu, daß der Antrag meine Männlichkeit stärkt und meine Eitelkeit besänftigt. Vermutlich sieht man mir den Antrag nicht an, im Gegenteil. Mir ist schon öfter aufgefallen, daß fremde Männer ungläubige und unwirsche Züge annehmen, wenn sie mich an der Seite von Sandra oder Judith sehen. Ich kann deutlich erkennen, wie sie sich überlegen: Wie kommt dieser nervöse, im Gesicht grünlich-gelbe, im Nacken zu starke und im ganzen zu unelegante Mensch zu so einer schönen Frau? Ich würde diesen überheblichen Männern jetzt gerne sagen: Übrigens, ich bin ein Mann mit Heiratsantrag, und wenn sie dann blöd schauen, würde ich hinzufügen: Nein nein, nicht ich habe einer Frau einen Antrag gemacht, es ist umgekehrt, eine Frau hat mir die Ehre erwiesen. Oder wie soll man es sagen? Ich bin ein Mann, der geheiratet werden soll?! Nein, das wäre zu plump beziehungsweise mißverständlich beziehungsweise lächerlich. Im Augenblick schlendere ich durch die Elektroabteilung eines Kaufhauses. Neuerdings scheppert mein Fön und heult dabei ein wenig kränklich auf. Es macht mir nicht das geringste Vergnügen, an Hunderten von Geräten entlangzuschauen und mich nicht entscheiden zu können. Gibt es Föns überhaupt noch? Mein Haushalt ist weitgehend gerätefrei. Ich besitze nur ein Fax und einen kleinen Computer; es gibt keine High-Tech-Anlage, keine elektrische Zahnbürste, keine Waschmaschine, keine Kaffeemaschine, keinen Anrufbeantworter, nicht einmal einen elektrischen Rasierapparat. Im Augenblick starre ich auf kleine Handstaubsauger und denke an das mißratene Selbstporträt von Sandra. Ihr großmütiges Geschenk, die Rente, ist vielleicht zu mächtig für mich. Ich spüre das Gewicht von Sandras Besorgtheit auf mir. Die Bedeutung des Gewichts beeindruckt mich, aber sie macht mich unfrei. Ich kann nicht mehr unangefochten darüber nachdenken, welcher Frau beziehungsweise welchem Leben ich mich ausliefern soll. Es ist das Gefühl der gebrochenen Souveränität, das ich nicht hinnehmen kann.
Ich müßte jetzt die Kraft haben, mich von den Handstaubsaugern entschieden abzuwenden. Statt dessen erfaßt mich eine milde Lähmung, die mich seltsam matt und überdrüssig macht. Genau in diesen Augenblicken tritt hinter dem Regal mit den Kassettenrecordern Bettina hervor. Sie sieht mich, ihr Gesicht hellt sich auf, ihr Mund öffnet sich. Mit Bettina war ich in meiner frühen Jugend einige Jahre verheiratet. Mein Gesicht öffnet sich wahrscheinlich nicht. Obwohl unsere Geschichte schon sehr lange zurückliegt, hadere ich immer noch mit ihr. Bettinas Anblick belebt meine Hauptangst: daß ich aus einem momentanen Überschwang heraus eine falsche Lebensentscheidung treffe. Genau eine solche überstürzte Handlung wurde damals mein Unglück. Wir hatten uns in den siebziger Jahren, während der allgemeinen erotischen Anarchie, eilig kennengelernt und leider zu schnell geheiratet. Bettina saß in diesen Jahren häufig mit ihren Freundinnen in Cafés herum und rief mich von dort aus an. Ich solle kommen, sagte sie. In meiner damals noch vorhandenen Totalgutmütigkeit machte ich mich auf den Weg und saß zwanzig Minuten später an Bettinas Tisch. Und ließ mich von ihren Freundinnen anschauen und abfragen wie ein Esel. Sie erörterten in meiner Anwesenheit, ob Bettina zu gut für mich sei, ob ich mich in Kürze wieder von ihr zurückziehen werde, ob Bettina zu hübsch für mich sei oder ob ich nicht doch zu unerfahren in der Liebe sei und immer so weiter. Die Freundinnen lachten sogar ein bißchen über mich, weil ich mich gegen die Begutachterei nicht verwahrte. Aber jetzt steht Bettina lachend und lebensfroh vor mir und gibt mir die Hand.
Dir scheint es gutzugehen, sage ich ein bißchen lauernd.
Absolut, sagt Bettina.
Hast du einen neuen Job? frage ich.
Leider nicht, sagt Bettina, ich arbeite immer noch im Institut für Schockforschung, zur Zeit interviewe ich Überlebende von Tunnelbränden, Hochhauseinstürzen und Fährunglücken.
Ach Gott, mache ich, spaßig ist das nicht.
Nein.
Und warum bist du dann so munter?
Ich sags dir, sagt Bettina und lacht, ich heirate wieder.
Ohh!
Das hättest du mir nicht zugetraut, was?
Bist du immer noch liiert mit dem Druckluft-Experten?
Genau!
Glückwunsch! Seit wann kennt ihr euch?
Im Herbst sind es drei Jahre.
Das reicht als Grundlage, sage ich.
Bettina lacht.
Trotzdem muß ich was tun, um mein Konto auszugleichen, sagt sie. Was ich bei der Schockforschung verdiene, reicht gerade für die Miete und das Telefon.
Saniert dich der Druckluft-Mann nicht?
Schon, sagt Bettina, aber er sagt, er könne nicht mit einer Frau zusammenleben, die vollkommen von ihm abhängig ist.
Haha, mache ich, das kommt mir bekannt vor.
Jajaja, sagt Bettina.
Und? Hast du eine Idee?
Ich werde eine Zeitungs-Tauschzentrale gründen, sagt Bettina.
Was?
Du hast doch bestimmt schon die Leute beobachtet, die in Papiercontainern nach einer Zeitung suchen?
Ja.
Ein würdeloser Anblick! Ich werde ein kleines Büro eröffnen, wo Leute ihre ausgelesenen Zeitungen und Zeitschriften abgeben können. Die leihe ich dann gegen eine Gebühr an Rentner und Sozialhilfeempfänger aus.
Aha! mache ich mit geheuchelter Bewunderung.
Ich glaube, meine Idee wird einschlagen wie eine Granate, sagt Bettina.
Das kann gut sein, lüge ich.
Die Leute werden sich fragen: Warum gibt es ein solches Büro erst seit heute?
An dieser gut gewünschten, aber praktisch leeren Idee (kaum Umsatz, kein Gewinn) werde ich noch auf ihrem Sterbebett Bettinas hoffnungsloses Denken erkennen. Vor etwa zweiundzwanzig Jahren wollte sie Tonbänder mit modernen Romanen besprechen und sie (gegen Gebühr!) an Blinde, Arme und Alte ausleihen. Schon damals erkannte sie nicht, daß außer Gutmütigkeit nichts an ihrer Idee dran war. Immer scheitert es am banalen Geld! war damals ihr Lieblingsausruf. Seinerzeit habe ich versucht, Bettina darüber zu belehren, daß Geld nicht banal ist, ganz im Gegenteil. Natürlich ohne Erfolg. Bettina kann noch nicht einmal erkennen, daß ihre neueste Idee ihren alten Projekten stark ähnelt. Ich bin in Versuchung, Bettina zu fragen, wo sie das Geld für die Einrichtung ihres Büros hernehmen wird, aber dann fällt mir ein, daß mit derartigen Fragen vor mehr als dreißig Jahren unsere Ehekräche begonnen haben.
Und du? Ziehst du immer noch mit der alten Apokalypse übers Land?! ruft Bettina aus.
Vermutlich denkt Bettina, ich werde mich gleich gegen den Hohn in ihrer Frage verwahren. Aber ich sage nur leise: Wahrscheinlich wird sich daran nichts ändern.
Das hört sich nicht sehr flott an, sagt Bettina.
Die Apokalypse ist nicht flott, sage ich.
Bettina ist die dritte Frau, die sich innerhalb weniger Tage um meine Zukunft sorgt. Offenbar erwecke ich zur Zeit den Eindruck der Bedürftigkeit. Eine kleine Unruhe flackert durch mein Bewußtsein. Im Augenblick weiß ich nicht, was ich sagen soll. Dicht neben uns geht ein junges Paar mit Kind vorbei. Gerade sagt die Mutter zum Kind: Wenn der Papa nein sagt, sage ich auch nein. Die Antwort trifft mich, als wäre ich das Kind. Jetzt weiß ich noch weniger, was ich zu Bettina sagen soll. Ich betrachte das verstummende Kind. Es hat keine Chance, gegen die verneinenden Eltern irgend etwas vorzubringen.
Bettina ruft aus: Es ist wie früher! Ich fühle genau den Augenblick, an dem du dich nicht mehr für mich interessierst!
Ich überlege, ob ich Bettina auf das verstummte Kind hinweisen soll, aber ich sage nur: Es tut mir leid!
Langweilen kann ich mich auch alleine, sagt Bettina, tschüß! Bis zum nächsten Mal!
Ich habe Lust, Bettina nachzurufen: Das kannst du gerade nicht, liebe Bettina, sich langweilen ist eine große Kunst!
Mit einer Geste starken weiblichen Triumphierens läßt Bettina mich stehen und verschwindet im Gewimmel der Passanten.
Drei Tage später bringe ich Judith zum Flughafen. Ich erschrecke, als ich vor den Abfertigungsschaltern die langen Schlangen mit sommerlich gekleideten Urlaubern sehe. Wieder frage ich mich, ob die Leute sich anders präsentieren würden, wenn sie wüßten, daß sie alle zu Karikaturen geworden sind. Oder ihre Lust besteht gerade darin, eine öffentlich wiedererkennbare Massenkarikatur geworden zu sein. Judith reiht sich tapfer in eine der Warteschlangen ein, ich werde sie bis zur Sperre begleiten. Ich weiß nicht genau, ob ich Mitleid mit den anderen oder Mitleid mit mir selbst habe. Es ist nicht möglich, Mitleid mit den anderen vom Selbstmitleid klar zu trennen. Die beiden Mitleide (kann man das sagen?) sind unauflöslich ineinander verschlungen. Sicher ist nur: Man kann kein Mitleid mit den anderen haben, ohne sich gleichzeitig selbst zu bemitleiden. Warum aber wird das Mitleid so stark diskriminiert? Es ist nichts anderes als eine soziale Einfühlung, ohne die wir nicht leben können. In diesen Augenblicken steigt eine Druckwelle in mir hoch und zieht durch meinen Oberkörper. Momentweise glaube ich, mein Brustkorb wird hart und eng. Fängt so ein Herzinfarkt an? Die Wände hier sind so glatt, daß ich mich nicht einmal irgendwo festhalten könnte. Die Druckwelle verschwindet, läßt aber einen halbminütigen Preßschmerz zurück, über den ich mit niemandem werde reden können. Altern kostet heimlich. Kurz vor den Sicherheitskontrollen wirft Judith die Arme um mich und küßt mich. Beim Küssen empfinde ich eindeutig Selbstmitleid. Ich wage mir kaum einzugestehen, daß der Reiz des Küssens nachläßt. Still und leise werde ich von meinen Erlebnissen verlassen. Judith merkt offenbar nicht (oder es ist ihr egal), daß mein Eifer beim Küssen nicht ganz echt ist. Trotzdem bin ich benommen und gerührt. Rührt die Rührung vom ältlichen Küssen her oder von der Freude darüber, daß ich doch keinen Herzinfarkt hatte oder habe? Judith verschwindet hinter der Sperre und wird von einer Sicherheitsbeamtin abgetastet. Wir winken uns, als wären wir ganz jung. Dann ist Judith für vierzehn Tage verschwunden.
Während der Rückfahrt in die Stadt, in der S-Bahn, stelle ich mir die intensiven Proseminare vor, die ich über die sonderbare Verschwisterung des Mitleids mit dem Selbstmitleid angeboten hätte, wenn ich Philosophieprofessor oder Anthropologe geworden wäre. Aber leider bin ich nur ein Apokalyptiker, der seine Beobachtungen in engen Flughafenfluren macht, unbemerkt und unbezahlt. In der Nacht träume ich von meinem toten Vater. Das Telefon klingelt, ich nehme ab, am anderen Ende erkenne ich seine Stimme, an die ich mich im realen Leben nicht mehr erinnere. Röchelnd sagt mein Vater: Hilf mir, ich bin... hinten heruntergefallen... komm schnell, komm. Wo bist du denn? unterbreche ich. Frag nicht, sagt er, du mußt kommen... ich kann nicht... nicht... sofort. Aber wo bist du denn? frage ich wieder dazwischen. Du mußt kommen... sagt er... komm, los. Und wo finde ich dich? frage ich... sofort... ich komm nicht hoch... allein... sofort. Schon ist der Traum zu Ende, ich wache auf, schweißnaß, bestürzt, ratlos. Du mußt unbedingt dein Frauenproblem lösen, denke ich... unbedingt... sofort, sonst wirst du wie dein toter Vater bald sinnlos in der Nacht herumtelefonieren. Ich gehe in die Toilette und erinnere mich dort an meinen toten Vater. Abends saß er oft allein am Küchentisch und fing Fliegen. Meistens ließ er die Fliegen gleich wieder frei. Aber manchmal hielt er eine gefangene Fliege so lange im Dunkel seiner geschlossenen Hand, bis das Tier sichtbar geschwächt auf den Tisch fiel, wenn sich seine Hand wieder öffnete. Am Morgen beschließe ich, auf den Friedhof zu gehen und nach dem Grab meiner Eltern zu schauen. Es ist viele Jahre her, daß ich das Grab zuletzt gesehen habe. Obwohl mein Vater seit mehr als zwanzig Jahren tot ist, schäme ich mich noch immer für ihn. Schon beim Frühstück empört mich die so lange nachwirkende Ausstrahlung eines toten Vaters. Die Scham wird so stark, daß ich überlege, den Besuch auf dem Friedhof wieder zu streichen. Dabei habe ich mir immer gewünscht, daß es meinem Vater einmal bessergehen sollte als mir. Es ist nichts draus geworden, es geht mir eindeutig viel besser als ihm. Ich rechne damit, ein verlassenes, vielleicht heruntergekommenes Grab vorzufinden. Doch dann bin ich erstaunt. Das Grab ist nicht nur nicht vernachlässigt, sondern im Gegenteil gepflegt und mit frischen Blumen geschmückt. Blank und geputzt ragt der Grabstein in das Sonnenlicht. Es muß jemand geben, der das Grab heimlich pflegt. Ich habe keine Ahnung, wer das sein könnte. Wenn ich mich nicht irre, will ich es auch nicht wissen, obwohl mich die Tätigkeit des anonymen Fremden erleichtert. Ich will mich gerade wieder abwenden, da sehe ich zwischen den Grabsteinen das Gesicht Morgenthalers. Er ist gekämmt und rasiert und trägt ein Sakko und ein weißes Hemd mit Krawatte. Ich habe vergessen, ihn wegen der toten Möbel seiner Mutter anzurufen. Ich will mich hinter einem besonders breiten Familiengrabstein verstecken, da hat er mich schon entdeckt und kommt freudig aufgeräumt auf mich zu.
Ehh, wie gehts, sagt er, soll ich dir das Grab meiner Mutter zeigen?
Morgenthaler deutet auf ein frisch aufgeworfenes Rechteck mit Blumen und einem Holzkreuz. Offenbar hat er vergessen, daß ich ihm einen Anruf versprochen habe. Ich folge ihm ein paar Schritte, bis er vor dem Grab seiner Mutter stehenbleibt. Da liegt sie, sagt er, Elfriede Morgenthaler. Während er über das Sterben seiner Mutter redet, klingelt ein Handy in seiner Jackentasche. Er holt das Gerät heraus und spricht sofort. Mit der anderen Hand holt er eine Zigarette aus seiner Innentasche und zündet sie an. Morgenthalers Getue stößt mich ab, ich entferne mich von ihm, aber er hält mich zurück. Es gefällt mir, daß er schon zum zweiten Mal das Wort piepegalpiepe in sein Handy hineinspricht. Die meisten Menschen sagen nur: Das ist mir egal. Einige wenige sagen: Das ist mir piepegal. Nur Morgenthaler sagt: Das ist mir piepegalpiepe.
Warte, sagt er, es gibt etwas Neues!
Ich bleibe stehen.
Ich bin Empörten-Beauftragter der Delling-Werke geworden, stößt er hervor.
Du? frage ich.
Ja, ich, sagt er.
Allerhand, sage ich, gratuliere.
Von achtzig Bewerbern haben sie mich ausgewählt!
Phhuu! mache ich bewundernd.
Ich hab mal Sozialarbeit studiert, sagt er, das hat vermutlich den Ausschlag gegeben.
Ahh so, antworte ich.
Ich würde gern fragen, ob er die Malerei endgültig zur Seite gelegt hat, aber ich will ihn nicht beschämen. Er muß sich künftig mit den unzufriedenen Mitarbeitern der Delling-Werke so lange beschäftigen, bis sie einsehen, daß ihre Unzufriedenheit unangebracht ist. Wir gehen in Richtung Friedhofsausgang.
Meinem Vorgänger ist es gelungen, einen empörten Pförtner für den Naturschutz im Osten zu interessieren! Der Mann setzt sich jetzt dafür ein, daß die Fischotter dort in sauberen Flüssen überleben können!
Toll, sage ich.
Man muß empörten Menschen neue, sinnvolle Aufgaben geben, sagt Morgenthaler.
Genau.
In vierzehn Tagen mach’ ich übrigens ein großes Fest!
Weil du Empörten-Beauftragter geworden bist?
Das muß gefeiert werden, sagt Morgenthaler, du bist eingeladen!
Vielen Dank, sage ich; wer kommt zu deinem Fest?
Ein paar Leute aus der Firma, alte Empörte sozusagen, die schon seit Jahren nicht mehr über die Stränge geschlagen haben, aber auch alte Bekannte. Deine Exfrau habe ich auch eingeladen.
Will sie kommen?
Natürlich! Sie will übrigens wieder heiraten, weißt du es schon?
Das ist vermutlich das Beste für sie, sage ich.
Wir verlassen den Friedhof. Morgenthaler redet begeistert über seine neuen Aufgaben. In der Nähe der Kreuzung Ritterstraße/Ludwig-Erhard-Allee trennen wir uns. Es ist halb zwölf, ich habe Hunger. Ich weiß nicht, ob ich zu Morgenthalers Fest gehen soll. Menschenansammlungen, selbst kleine, bekommen mir nicht mehr. Vor dem Schaufenster eines Fischgeschäfts bleibe ich stehen. Die Fischverkäuferin links geht zur Fischverkäuferin rechts und beginnt, dieser den Nacken zu massieren. Die Frauen finden es spaßig, daß ihnen von draußen ein Mann zuschaut. Während der ganzen Zeit bleibt das Geschäft leer. Wenn ich mich nicht täusche (ich werde mich täuschen), habe ich drei Möglichkeiten: 1. Ich werde Sandra gegenüber einen zunehmend störrischen älteren Mann spielen, der seiner verquasten Individualität zuliebe Heirat und Rente ausschlägt. 2. Ich bin feige und werde Sandra heiraten, weil ich mir die Rente nicht entgehen lassen kann. Judith kann ich die Heirat eingestehen, weil es Judith egal ist, ob ich verheiratet bin oder nicht. 3. Ich werde Judith heiraten, Sandra die Heirat aber verschweigen und die alten (gegenwärtigen) Verhältnisse fortsetzen. Ich würde gerne jemanden um Rat fragen, aber es gibt in meinem Leben niemanden, der für mein Problem kompetent genug wäre. Ich habe mich bereits getäuscht. Wenn Sandra (oder Judith) eines Tages entdeckt, daß es die je andere Frau gibt, werde ich als gewöhnlicher triebhafter Mann dastehen. Diese Enthüllung werde ich vielleicht gerade noch hinnehmen können. Wenn aber dann auch noch herauskommt, daß ich die eine (oder andere) heimlich geheiratet habe, werde ich ein krummer Hund sein, ein niedriger Frauenbetrüger, den man von morgens bis abends beschimpfen kann. Ein solcher Mann will ich keineswegs werden. Das heißt, ich darf keine von beiden heiraten. Zu meinen säuerlichen Überlegungen paßt jetzt recht gut ein Fischbrötchen. Aber die beiden Fischverkäuferinnen machen sich inzwischen über mich lustig. Ich wende mich ab und gehe nach Hause. Aus vielen Bürohäusern entströmt ekelhafter Tiefgaragengeruch. Eine verwirrte Frau, die ich in dieser Gegend schon öfter gesehen habe, hüpft die Straßenbahnschienen entlang. Sie trägt immer dieselbe sackartige Hose und eine Art Trainingsjacke, vermutlich der Tagesdreß einer Anstalt. Ich nehme an, die Frau benutzt die Straßenbahnschienen als Wegweiser zurück ins Heim. Auch dann, wenn ich Zeit habe, fühle ich mich neuerdings eilig. Die Eile ist ganz überflüssig und enthüllt in ihrer Falschheit, daß sie nicht meinem Tag, sondern meinem ganzen Leben gilt. Ich komme an einem eleganten Süßwarengeschäft vorbei. Die hohen Preise erschrecken mich. Ein kleines Cellophanbeutelchen mit Trüffeln kostet ein halbes Vermögen. Ich habe in letzter Zeit sehr gut verdient, ich könnte mir mehrere Beutel mit Trüffeln kaufen. Aber ich empfinde kaum Eßlust und noch weniger Kauflust. Im Gegenteil, mir fällt meine letzte Konsum-Depression ein, die sich immer noch nicht ganz aufgelöst hat. Es ist schon eine Weile her, daß plötzlich die Schallplattenspieler und die Schallplatten verschwanden und durch CD-Player und CDs ersetzt wurden. Es war, als würde mir zur Unzeit etwas Liebgewordenes weggenommen werden. Noch dazu fühlte ich in der Auswechslung der Waren die Aufforderung, mit den weggeschafften Schallplatten am besten gleich selbst zu verschwinden. Ich verschwand damals nicht, ich widersetzte mich und wurde dabei vermutlich ein bißchen seltsam. Kaum habe ich die Wohnung betreten (ohne Fischbrötchen, ohne Trüffel), klingelt das Telefon. Am Apparat ist Sandra.
Ist etwas passiert? frage ich, weil es ungewöhnlich ist, daß Sandra so früh am Tag anruft.
Ja... ach... gewissermaßen, sagt Sandra. Meine Schwester hat mich angerufen, morgen früh wird sie geschieden.
Oh, mache ich.
Ihr Mann will das Sorgerecht für das Kind, und sie hat große Angst, daß er es auch kriegt. Sie heult schon den ganzen Tag.
Ach, sage ich.
Sie hat mich gefragt, ob ich nicht ein paar Tage zu ihr kommen kann.
Und das wirst du auch tun, sage ich.
Ja. Ich werde am Spätnachmittag fahren, damit ich morgen früh bei der Verhandlung dabeisein kann.
Klar, sage ich.
Ich habe mir eine Woche Urlaub genommen, sagt Sandra.
Soll ich dich zum Bahnhof bringen?
Das ist nicht nötig, aber es wäre schön, wenn du gleich vorbeikommen könntest, dann hätten wir noch eine gute Stunde für uns. Außerdem will ich dir die Schlüssel geben, wegen Blumengießen und so. Kannst du kommen?
Natürlich, sage ich.
Gleich?
In fünfzehn Minuten bin ich da.
Ich bleibe noch eine Weile still neben dem Telefon sitzen. Es ist richtig Sommer geworden. Jetzt ärgere ich mich, daß ich keine Trüffeln gekauft habe. Ich könnte sie Sandra für die Bahnfahrt mitbringen. In den Hinterhöfen ringsum lassen viele Leute die Fenster offen. Fast immer hört man laute Musik und lautes Palaver. Andere grillen auf ihren Balkonen, man muß die Fenster schließen, wenn man nicht in Bratwurstgeruch eingehüllt werden möchte. Im Sommer wird man viel stärker vergesellschaftet als im Winter. In meiner Wohnung ist es so still, daß ich sogar das sanfte Flackern des Zündflämmchens im Gasofen der Küche hören kann. Wie leise du lebst! sage ich zu mir selber und schließe das Fenster. Nach etwa einer Minute wird mir klar, daß ich ab morgen, wenn auch Sandra weg sein wird, eine Art Konflikturlaub haben werde. Ich ziehe meine Jacke über und verlasse die stille Wohnung.
Sandra empfängt mich im Unterrock. Auf dem kleinen Tisch im Wohnzimmer stehen zwei Gläser und eine Flasche Wein, ein paar Oliven und Käsewürfel. Im stillen bin ich froh, daß Sandra alle ihre Bilder weggeräumt hat. Sandra redet über die fürchterliche Ehe ihrer Schwester und ihre Angst, daß sie das Kind verliert. Wir trinken Wein, ich höre zu und schaue zu dem geöffneten Koffer, der auf dem Sofa liegt. Sandra gibt mir die Zweitschlüssel für ihre Wohnung und sagt, daß ich jeden zweiten Tag die Blumen gießen muß, am besten abends. Ich frage mich, ob Sandra schon ein bißchen beleidigt ist, weil ich auf den Heiratsantrag noch nicht reagiert habe. Sandra ist frisch geduscht, ihr Körper riecht nach Spargel und Lauch. Sie gießt mir das Glas noch einmal voll und küßt mich. Soll ich mich heiraten lassen, frage ich mich während des Küssens. Warum bin ich eigentlich nicht ein bißchen dankbar? Ich habe keinen Krieg miterleben müssen, ich habe nie gehungert, ich habe nie Gewalt kennengelernt, ich habe einen von mir geschätzten Beruf, ich liebe zwei Frauen, von denen die eine jetzt in eindeutiger Weise um mich herumschwirrt, aber warum leide ich fast immer an inneren idiosynkratischen Hysterien, das heißt, warum brauche ich gar keine wirkliche Not, um mich fast immer in Not zu befinden? Mir fehlt eigentlich nur... ja, was eigentlich? Sandra zieht sich mit einer einzigen Bewegung den Unterrock über den Kopf und wirft den Schlüpfer in Richtung Koffer. Sie wartet liebevoll, bis ich soweit bin. Ich werde bedächtig, umständlich, langsam, ich altere. Sandra spreizt die Beine und besteigt die beiden Weinkistchen im Türrahmen. Ich brauche ein bißchen lange, Sandra kommt von den Weinkistchen wieder herunter und lutscht mir das Geschlecht. Danach steigt sie erneut auf die Weinkisten und drückt ihren Hintern ein wenig in die Höhe, so daß ich leicht in sie eindringen kann. Ich denke an Judith. Sie würde den Eifer dieses Weibchens, das sich so zielgenau um das Gelingen eines Schnellbeischlafs vor Reisebeginn kümmert, weder verstehen noch billigen. Während des Vögelns empfindet Sandra so starke Lust, daß sie zwischendurch ein bißchen weinen muß. Ich vermute, sie weint wegen einer zukünftigen Katastrophe; ihr Unbewußtes ist sicher, daß sie verlassen werden wird. Nach drei Minuten taumelt sie geschwächt von den Weinkistchen herunter und hängt sich schluchzend an mich. Mein Gott, wie mich das mitnimmt, sagt sie und legt sich nackt auf das Bett.
Was nimmt dich mit? frage ich.
Daß ich ein paar Tage von dir weg muß, sagt Sandra.
Ach so, mache ich.
Versprichst du mir, daß du zum Arzt gehst?
Warum?
Wegen deiner Krampfadern, sagt Sandra.
Ach, mache ich.
Nichts ach, sagt Sandra, ich möchte, daß du zum Arzt gehst, während ich bei meiner Schwester bin; versprichst du mir das?
Na schön, sage ich.
Ich bringe Sandra das Weinglas ans Bett und warte auf die intimen Augenblicke, wenn Sandra zu einem Taschentuch greift und sich den Samen zwischen den Beinen abfängt. Sie liegt auf dem Rücken, ihre Beine sind übereinandergeschlagen. Wie ein Kind bewegt sie ihre Zehen und schaut sich dabei zu. Besonders beeindrucken mich ihre rot gewordenen Liebesohren, die wunderbar über ihren weißen Schultern leuchten. Jetzt sind die Augenblicke da: Sandra faßt sich mit einem Taschentuch zwischen die Schenkel und schaut dann mit rätselhaft mürrischen Blicken auf meinen Samen. Seit Jahren möchte ich wissen, woher diese plötzliche Liebesmürrischkeit kommt, aber ich wage nicht zu fragen. Obwohl Sandra ein paar Jahre jünger ist als Judith, ist ihre Haut mürber und hefiger als die Haut von Judith. Auch ist Sandra in den letzten Jahren fülliger geworden, Judith dagegen noch magerer und sehniger. Sandras Brüste fallen auseinander wie die Augenpartien einer zu breiten Maske. Seit langer Zeit bin ich nicht befremdet von Sandras ausladender Körperlichkeit. Sie stützt sich auf, um an das seitlich stehende Weinglas heranzukommen. Durch die Drehung des Körpers legt sich ihr Bauch in ein paar übereinandergeschichtete Wülste. Wenn auf der vorderen Ausbuchtung einer der Wülste nicht eine Brustwarze erkennbar wäre, würde ich nicht wissen, daß es sich dabei um eine jetzt schräg liegende Frauenbrust handelt. Der Anblick stößt mich nicht ab. Erotische Anziehung ist es immer weniger, warum ich mich diesem Körper nähern möchte. Welche Gründe sind es dann? Ich gehe nur mit Unterhemd und Unterhose bekleidet an Sandra vorüber. Ich spüre, genauso mürrisch wie auf meinen Samen schaut sie jetzt von hinten auf meine Krampfadern. Auch Sandra ist offenbar nicht befremdet von meinem Anblick.
Wir ziehen uns an. Wir haben Zeit vertrödelt, Sandra telefoniert ein Taxi herbei. Ich frage, ob ich nur die Balkonblumen oder auch die Blumen in der Wohnung gießen soll. Alle Blumen, sagt Sandra. Im Treppenhaus gibt sie mir ein Zettelchen mit der Adresse des Arztes, zu dem ich gehen soll. Drei Minuten später fährt das Taxi heran. Sandra steigt überhastet ein. Ich bleibe am Straßenrand zurück und winke ihr nach.
Während ich winke, steigt eine Angst in mir hoch. Es ist die Angst, daß mein Wunsch nach Ordnung (eine Frau, eine Liebe, eine Wohnung, eine Klarheit) sowohl die gegenwärtige als auch alle zukünftigen Ordnungen zerstören wird. An manchen Tagen fühle ich den Schmerz deutlicher; offenbar ist heute so ein Tag. Viele zerzauste und abgewirtschaftete Leute gehen an mir vorbei. Ein leicht angetrunkener Mann mittleren Alters kommt auf mich zu. Hallo, wie gehts! ruft er aus und gibt mir die Hand. Ich erinnere mich nicht an den Mann, ich kenne ihn nicht. Von Steffan, sagt der Mann, hast du Steffan auch vergessen? Ich kenne keinen Steffan, es ist mir peinlich. Der Mann läßt mich stehen, er überquert die Straße, ich schaue ihm nach, vielleicht erinnert mich sein Gang an irgend etwas. Dann sehe ich, daß er auf einen anderen Fremden zugeht, ihn anspricht und ihm ebenfalls die Hand reicht. Auch der neue Fremde zuckt mit den Schultern, auch er weiß von nichts. Mein Gott, er ist verrückt, nicht ich, denke ich unangemessen erleichtert. Wieder habe ich ein bißchen Angst vor Morgenthalers Party. Ich werde viel zuviel reden und auch noch voller Eifer. Schon nach einer Stunde werde ich mir total unauthentisch vorkommen. Ich lese und höre immer wieder, daß die Menschen heute ein multiples Ich haben und daß es völlig normal ist, wenn wir heute ein anderes Ich haben als gestern und vorgestern. Insofern müßte ich mich über meine Nichtauthentizität nicht beunruhigen. Das Problem ist nur, daß ich die vielen Ichs gar nicht haben möchte, im Gegenteil. Ich beharre darauf, daß ich heute genau derjenige bin, der ich schon gestern war und der ich übermorgen wieder sein werde. Ich strenge mich manchmal sogar an, mir selbst möglichst geschlossen und widerspruchsfrei zu erscheinen. Aber sobald ich längere Zeit auf einer Party bin, vergesse ich meine Prinzipien und vertrete Meinungen, die nicht die meinen sind, und betone nebensächliche Aspekte meines Lebens bis an die Grenze zur Peinlichkeit. Am persönlichsten, das heißt am geschlossensten, bin ich, wenn ich wie jetzt eine Straße entlanggehe und nur mir selbst einleuchten möchte. Leider befinde ich mich viel zu selten in diesen beglückenden Einsamkeiten. Auch die gerade durch mich hindurchziehende Unangefochtenheit geht in diesen Augenblicken schon wieder zu Ende, weil zwischen einem Steh-Café und einem Wollgeschäft der Ekelreferent Dr. Blaul auf mich zukommt und mich begrüßt. Dr. Blaul ist gut gelaunt, vielleicht hat er endlich einen Betrieb gefunden, den er für seine Idee des Ekelurlaubs hat gewinnen können.
Er deutet auf das Steh-Café und fragt, ob wir nicht eine Tasse Kaffee miteinander trinken sollen. Ich bin unschlüssig, aber ich entdecke im Schaufenster des Steh-Cafés ein Sonderangebot mit Fönen. Die Anschaffung eines Föns vor einigen Tagen ist gescheitert, weil ich kurz vorher Bettina getroffen habe und es zwischen uns zu einer peinigenden Szene kam. Ich nicke und betrete mit Dr. Blaul das Steh-Café. Wir tragen unsere Tassen an einen der Tische. Der Ekelreferent macht mich auf den unappetitlichen Zustand der Tassen aufmerksam. Sie haben vom vielen Gebrauch Abschürfungen und Risse davongetragen. Unsere beider Tassen haben überdies an den Innenseiten mehrere graue Stellen, die die ohnehin offen zutage liegende Schlampigkeit des Steh-Cafés auch in den Details verraten. Dr. Blaul deutet auf die Tassen und fragt, ob ich nicht auch ein bißchen Ekel empfinde.
Oh, mache ich, eigentlich nicht.
Aha, macht Dr. Blaul, Sie sind ekelresistent wie die meisten modernen Menschen.
Soweit würde ich nicht gehen, sage ich und will hinzufügen: Mir reicht mein eigener Ekel, aber ich unterdrücke die zweite Hälfte des Satzes.
Denn der Anblick der Föne erinnert mich an das Zusammentreffen mit Bettina. Vor etwas mehr als fünfundzwanzig Jahren, zu Beginn unserer Ehe, habe ich mir nicht vorstellen können, daß unsere Liebe zueinander jemals gestört werden oder gar aufhören könnte. Zu unserem Liebesspiel gehörte, daß sich Bettina hinlegte, die Beine öffnete und ich mich mit dem Mund über ihr Geschlecht beugte. Ich hatte das wonnige Gefühl eines Kindes (dieses Bild fiel mir damals oft ein), das mit nicht nachlassender Lust eine längst leere Schale mit Schokoladenpudding oder Eis noch einmal und noch einmal leerte. Eines Tages war es soweit: Unser Sexualleben ekelte mich. Es war so, daß Bettinas Geschlecht, während es auf seinen Höhepunkt hinzitterte, mehr und mehr Feuchtigkeit hervorbrachte, bis meine Lust in ihr Gegenteil umschlug, und zwar immer öfter, ehe Bettina ihren Orgasmus erreicht hatte. Ich kann nicht ausdrücken, wie sehr mich die überraschende Wende in der Empfindung erschreckte und verwirrte. Ich konnte nicht mehr anders, ich mußte auf diesen Teil unserer Intimität mehr und mehr verzichten. Dr. Blaul redet jetzt über die innere Betäubung des Ekelgefühls, von der ich nicht sage, daß sie mir weder damals noch später gelang. Bettina schaute mich immer öfter ratlos an, sie wartete auf eine Erklärung, die ich nicht geben mochte. Ich konnte ja nicht sagen: Die Menge deiner Sämigkeit überfordert mich – oder so ähnlich. Das plötzliche Besudelungsgefühl inmitten des Entzückens war unaufhebbar für immer. Die Heimsuchung des Ekels zerstückelte mein Vergnügen vor meinen Augen, sie verschloß mir den Mund und verwandelte meinen früheren Eifer in eine Erinnerung an eine vergangene Lust. Noch heute erschauere ich über die unerhörte Verstecktheit unseres Unglücks, noch immer überwältigt mich die Tragödie der Scham, die mich damals und heute vorübergehend stumm werden läßt.
Sie sind ein höflicher Mensch, sagt Dr. Blaul, Sie wollen sich nicht in den Ekel eines kleinen Steh-Cafés einmischen.
Nein nein, sage ich, ich denke nur über Ihre These nach, daß die meisten modernen Menschen ekelresistent sind.
Dr. Blaul lacht. Die These gilt nur für den minimalen gewöhnlichen Tagesekel, sagt er.
Ach so, mache ich.
Mit dem kleinen Ekel leben wir, sagt er, den großen können wir nicht fassen.
Mit einem kleinen Aufkommen von Tagesekel trinken wir unsere Tassen leer und bringen sie zur Theke zurück. An der Tür fällt mir ein, daß ich mir hier einen neuen Fön kaufen will. Ich verabschiede mich von Dr. Blaul und kehre noch einmal in das Steh-Café zurück. Eine Verkäuferin packt mir einen Fön ein, ich zahle und gehe. Das Päckchen in der Hand hilft mir, die Erinnerung an die Scham zu überwinden und mich wieder ins Leben hineinzuschieben.