Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012

ZEHN

Ich sitze in der großen Empfangshalle der Klinik und schaue den Putzfrauen zu, die mit breiten Besen den Boden wischen und sich Mühe geben, die Patienten nicht anzuschauen. Es ist kurz nach zehn. Vor etwa einer Stunde habe ich meine Tabletten eingenommen. Gegen zwölf wird Traudel eintreffen und mit mir im Patienten-Casino zu Mittag essen. Sie wird mir frische Wäsche mitbringen, vermutlich ein neues Hemd und ein oder zwei Bücher. Wahrscheinlich wird sie mit halb verweintem Gesicht die Eingangshalle betreten und mit ein wenig starren Bewegungen auf mich zukommen. Es tut ihr inzwischen leid, daß sie mich hierhergebracht hat, wozu ich vorerst schweige. Die ausgepumpten, nahezu reglos in den Sesseln ruhenden Patienten empfinde ich als schön. Ich spüre das langsame Eindringen der Tablettensubstanzen in mein Blut. Wenn ich in den Spiegel schaue, komme ich mir unverhältnismäßig gealtert vor. Ich war immer der Meinung, daß uns nicht die Lebensjahre alt machen, sondern unsere Erlebnisse. Daß ich einmal in eine Klinik eingeliefert werde, hätte ich niemals für möglich gehalten. Jetzt merke ich, wie mich dieses Erlebnis alt macht. In der Regel führen die Tabletten zu einer gewissen inneren Erleichterung. Der Nachteil ist, daß ich mich gleichzeitig wie verschleiert fühle. Es ist, als würde ich in einer mit Watte ausgeschlagenen Schachtel sitzen. Kurz nach meiner Einlieferung hat mich ein Arzt gefragt: Hören Sie Stimmen? Nein, habe ich geantwortet, ich höre immer nur mich. Sie hören sich? fragte der Arzt. Ich rede mit mir oder ich rede an mich hin, sagte ich. Ach so, sagte der Arzt, reden Sie laut mit sich? Nein, antwortete ich, ich rede leise in meinem Inneren mit mir. Ich betrachte die depressiven, autistischen und schizoiden Patienten um mich herum. Mein Trost ist, daß ich ein weniger schlimmer Fall bin. Ich habe meinen Therapeuten gefragt, wie lange ich hierbleiben werde. Das kommt darauf an, wie Sie sich entwickeln, antwortete er ausweichend oder nicht ausweichend. Ich werde so tun, als sei ich sicher, daß ich bald wieder nach Hause darf. Die Patienten ringsum lesen Zeitungen oder schreiben Briefe. Ich halte mich sowenig wie möglich in den Innenräumen der Klinik auf, um anderen Patienten nach Möglichkeit keine Chance zu geben, Gerüchte über mich zu erfinden. Ich bin erst eine Woche hier und kenne doch schon viele der kleinen Diskriminierungen, die über den einen und anderen Patienten in Umlauf sind. Über eine stark zwanghafte Chefsekretärin wird gespöttelt, daß sie täglich ihre Jeans bügelt. Jetzt betrachte ich ihre Jeans und stelle fest, daß sie tatsächlich messerscharfe Bügelfalten hat. Ich weiß nicht, warum mich der Anblick der Bügelfalten an meine Angst vor zukünftiger Einsamkeit erinnert. Gestern, während des Mittagessens, habe ich angefangen, ein paar meiner älteren Frauengeschichten zu erzählen. Ich habe das nur getan, weil ich nicht als verlassener Einzelgänger erscheinen wollte. Plötzlich verwendete ich das sonst nicht von mir gebrauchte Wort Liebschaften. Wegen plötzlich eintretender Wortfremdheit redete ich dann nicht mehr weiter. Die Einsamkeit stößt zu in dem Augenblick, wenn ich eine angefangene Mitteilung nicht vollenden kann. Vielleicht ist es auch umgekehrt. Vor drei Tagen fragte mich der Therapeut, ob ich sagen könne, woran ich leide.

Ich leide an einer verlarvten Depression mit einer akuten Schamproblematik, sagte ich.

Der Therapeut war (vermutlich) verblüfft und schwieg. Ich weiß, sagte ich, daß der Patient, der sich als Fachmann seines Leidens präsentiert, für den Arzt ein Greuel ist. Der Therapeut schwieg weiter.

Ich glaube nicht, sagte ich, daß Sie es schwer mit mir haben werden. Meine Innenwelt ist nicht sehr geräumig. Man kann mich schnell durcheilen und dann feststellen: Außer ein paar Schuldgefühlen und ein bißchen Scham ist nicht viel da.

Der Therapeut machte sich jetzt Notizen.

Von Jugend an, sagte ich, leide ich an der Zwangsvorstellung, durch mein Wissen verschont zu sein; mein Unglück zeigt sich gerade darin, daß ich glaube, auch dies noch zu wissen.

Der Therapeut schien zu überlegen und sah aus dem Fenster.

Ich war jahrzehntelang auf ein besseres Leben vorbereitet, sagte ich, das aber nie eintrat. Sehr lange habe ich sentimental und melancholisch herumgejammert, bis ich endlich bemerkt habe: Es wird erwartet, daß der Mensch zu seinem Unglück ein bloß abwartendes Verhältnis hat.

Wieder machte sich der Therapeut einige Notizen.

Dann sagte ich: Ich habe Angst, den Verstand zu verlieren.

Vielleicht habe ich ihn schon verloren und bin deswegen hier. Jetzt fragte der Therapeut: Wie kommen Sie auf diese Idee?

Daraufhin erzählte ich ihm, wahrscheinlich zu ausführlich, die Sache mit der Bockwurst und der Brotscheibe, die er noch nicht kannte. Danach war die Therapie-Stunde zu Ende. Ich nahm meine Zeitung und mein Buch und verließ das Zimmer des Therapeuten.

Das Veilchenparfüm von Schwester Bianca in der Rezeption duftet bis zu mir herüber. Es könnte sein, daß ich Traudel auf Dauer nicht verzeihen kann. Ich fühle mich von ihr verraten. Verrat kann man nur ertragen, wenn man selbst derjenige ist, dem etwas verraten worden ist. Ist man dagegen das Opfer eines Verrats, kann man keinesfalls zu seinem Verräter zurückkehren. Der läppische Veilchenduft bringt mich auf den noch läppischeren Gedanken, daß ich mir möglicherweise eine neue Frau suchen muß. Dabei habe ich nicht die geringste Lust auf eine neue Frau. Vermutlich ziehe ich mich von den Demütigungen der Liebe zurück. Außerdem ist der periodisch auftauchende Gedanke an eine neue Frau ein entsetzliches Lebenslaufklischee, mit dem meine biografische Überheblichkeit nichts zu tun haben möchte. Obgleich in der Eingangshalle eine große Zahl bedrückter Menschen herumsitzt, ist das Allgemeine der Bedrückung kaum zu fassen. Das Bedrückende bedrückt jeden, das heißt das Bedrückende ist für jeden offenkundig in der Welt, gleichzeitig ist es wegen seiner Allgemeinheit belanglos und daher unsichtbar. Um zu wissen, was mit einem Menschen los ist, muß ich sein Gesicht nicht mehr anschauen. Ich habe immer schon vorher Mitleid. An diesen bösartig zugespitzten inneren Sentenzen bemerke ich meinen üblichen Drang, jede Situation jederzeit restlos zu durchschauen. Dabei will ich mich auch vom Delirium meiner Intelligenz befreien. Ich möchte nicht mehr ehrgeizig sein, das hat sich erledigt.

Dr. Treukirch (das ist mein Therapeut) ändert alle drei Tage die Zusammenstellung und die Dosierung meiner Tabletten. Vermutlich bin ich nur hier, damit die richtige Medikation herausgefunden werden kann. Manchmal dämpfen mich die Medikamente zu stark, an anderen Tagen werde ich innerlich flirrig und nervös. Im Augenblick fühle ich mich fast angstfrei und entspannt, obgleich ich dem Zusammentreffen mit Traudel mit Unbehagen entgegenblicke. Vermutlich wäre es sinnvoll, wenn ich vor dem Mittagessen noch eine Stunde lang spazierengehen würde. Aber ich bin heute zu faul und gleichzeitig (wegen Traudels Besuch) zu erregt. Außerdem reagiere ich auf die Kleinstadt am Fuße der Klinik nicht gelassen. Wenn ich an den Schaufenstern von Miedergeschäften, Optikern und netten Metzgereien vorübergehe, ergreift mich nach kurzer Zeit das Gefühl, ein Teil der Bedrückung der Menschen entsteht durch die verlogene Verharmlosung des Lebens in den Schaufenstern. Als ich Kind war, hingen in den Metzgereien der Länge nach geöffnete Tierkörper, aus denen unten das Blut heraustropfte. Es genügte ein Blick in das Schaufenster, und jeder wußte, es geht jeden Tag um Leben und Tod. Wenn ich die in Boutiquen verwandelten Metzgereien sehe, werde ich wütend, daß nicht alle Menschen gleichzeitig empört sind. Und doch weiß ich, daß mein Affekt dumm ist und eines erwachsenen Menschen unwürdig. Vom Nebentisch dringt ein Satz einer Patientin zu mir herüber: Ich bin zu schwach, um mir eine neue Wohnung zu suchen. Der Satz gefällt mir, ich schaue in das Gesicht der Frau, die ihn gesagt hat. Es ist Frau Dr. Petzold, eine Kunsterzieherin und gescheiterte Künstlerin, die an gelegentlichen paranoiden Schüben leidet. Sie gehört zu einer Gruppe von Patienten, die demnächst ein Rockkonzert (mit Tanz) besuchen will. Frau Dr. Petzold hat mich schon gefragt, ob ich mitgehen werde, ich habe mich (wie üblich) abwartend-zwiespältig verhalten. Wahrscheinlich werde ich nicht mitgehen. Mit populärer Musik kann ich nichts anfangen, im Gegenteil, ich halte sie für ein Symptom des verstümmelten Kleinbürgertums. Depressionen und Erlebnishysterie gehören zusammen, habe ich dieser Tage zu Frau Dr. Petzold gesagt und habe den Satz sofort bereut, weil er einen Teil meines Krankheitswissens verraten hat. Meine Verbindung zu Traudel hängt derzeit an einem seidenen Faden. Die Frau, mit der ich so lange zusammengelebt habe, verwandelt sich zur Zeit in einen sonderbaren Gast meines Lebens. In der Tiefe meiner Empfindung verharrt ein Groll, der taub und stumm ist und nicht mit sich reden lassen möchte. Wer einmal geliebt hat und immer noch liebt, der weiß auch, wie schwierig es war und wie lange es gedauert hat, sich für die Liebe überhaupt geeignet zu machen. Diese Liebesarbeit ist es, von der man im Schmerz bemerkt, daß man sie nicht so einfach wiederholen kann. Aus dem Schmerz geht eine Art Liebesarbeitsscheu hervor. Der Geschmerzte muß plötzlich fürchten, eine schwere Arbeit vielleicht doch umsonst getan zu haben. Es paßt mir nicht, daß ich so kurz vor dem Eintreffen von Traudel derart schwerwiegende Gedanken denke. Vermutlich deswegen überfallen mich jetzt Trauer und Bitterkeit. Ich versuche, ein paar schlichte Sätze zu denken, zum Beispiel diesen hier: Es sollte nicht nötig sein, daß um des Glückes willen ein solcher Kampf stattfindet.

Aber ich kann nicht absichtlich schlicht denken, ohne gleichzeitig an Übelkeit zu leiden. Weil ich mir nicht mehr anders zu helfen weiß, gehe ich nebenan ins Fernsehzimmer. Es gibt dort immer ein paar Hilflose, die sich schon morgens Filme über irgend etwas anschauen. Ich setze mich so, daß ich durch das Fenster hindurch den Haupteingang im Auge habe. Es läuft ein Tierfilm über das Leben der Gnus in Afrika. Sie schlurfen in großen Rudeln durch die Wüste und sind immerzu von ihren Todfeinden umgeben, von Löwen und Hyänen. Die Unbesorgtheit der Tiere rührt mich. Sie stehen herum, schauen ihren Feinden ins Auge und suchen Nahrung. Die Augenblicke, wenn ein Löwe einem Gnu an den Hals springt und mit diesem schwer atmend zu Boden geht, haben Ähnlichkeit mit dem erschöpften Niedersinken des männlichen Kopfes nach einem Orgasmus. Der Vergleich irritiert mich vier Sekunden lang, dann stößt er mich ab. Da sehe ich, wie Traudel durch den Haupteingang hereinschmerzt. Es ist erkennbar, daß sie unter starkem Druck steht, den ich nicht lindern werde, jedenfalls zunächst nicht. In den Augenblicken, als ich mich erhebe und in das Foyer hinausgehe, fühle ich mich vor den anderen Patienten privilegiert. Traudel erkennt mich und kommt mit lodernden Bewegungen auf mich zu. Sie trägt eine weiße Bluse und ihren cognacfarbenen Rock. Ihr dunkles, glatt herunterfallendes Haar wedelt leicht hin und her. Traudel sieht schön aus, sogar im Schmerz. Sie umarmt mich, was sie sonst nicht tut, wenn andere Menschen in der Nähe sind.

Ach, sagt sie.

Ja, sage ich.

Nah an meinem Gesicht entringt sich ihr ein Schluchzen. Es ist offenkundig, daß sie Reue empfindet. Wieder werde ich an das wichtigste Gefühl meiner Kindheit erinnert: daß ich schon im Alter von neun Jahren mit den zukünftigen Katastrophen vertraut war. Mein Leben würde nur darin bestehen, das Eintreffen der Desaster ruhig abzuwarten und ihre Verschmelzung mit meinem Leben zu beobachten. Ich bin erschüttert und kann nicht richtig sprechen. Wir setzen uns ein bißchen absichtslos in zwei über Eck beieinanderstehende Sessel und schauen uns an. Traudel beruhigt sich langsam. Sie öffnet ihre Tragetasche und zeigt mir die für mich bestimmte Unterwäsche, Hemden, Taschentücher, Strümpfe. Ich nicke dankend mit dem Kopf und fasse die Unterwäsche an, was ich sonst nie tue.

Ich bringe die Sachen nachher in mein Zimmer, sage ich.

Traudel nickt ebenfalls. Auch sie kann noch nicht sprechen. Wir beobachten eine junge Besucherin mit Kleinkind. Sie sitzt in einem anderen Sessel und legt ihre Stöckelschuhe ab. Das Kind sagt fortlaufend Mama-Mama-Mama-Mama. Die Frau sagt, die Mama ist hier, das Kind sagt weiter Mama-Mama-Mama-Mama. Die Frau holt aus ihrer Handtasche einen Transistor heraus und schaltet Popmusik ein. Das Kind sagt in die Popmusik hinein Mama-Mama-Mama-Mama. Die Frau holt aus ihrer Handtasche einen Kinderhandfeger und gibt ihn dem Kind. Das Kind beginnt zu fegen und sagt Mama-Mama-Mama-Mama.

Gehen wir mal kurz auf das Zimmer, sage ich.

Traudel nickt.

Die Besichtigung des Zimmers fällt kurz und zunächst wortlos aus. Allerdings gibt es hier nicht viel zu besichtigen. Ein schlichtes Holzbett, ein Tisch mit zwei Stühlen, ein Waschbecken, ein Einbauschrank. Ich ordne die von Traudel mitgebrachten Sachen in die oberen Fächer des Schranks ein.

Soll ich die schmutzige Wäsche mitnehmen, fragt Traudel.

Es gibt hier einen hauseigenen Waschdienst, sage ich.

Es macht mir nichts aus, sagt Traudel und beginnt, meine schmutzige Wäsche in ihre Tasche zu stecken. Kurz darauf schluchzt sie erneut, umarmt mich und bittet um Verzeihung.

Es ist so schlimm geworden mit dir, sagt sie, ich wußte mir nicht mehr zu helfen.

Was ist schlimm geworden? frage ich.

Schon die Hose auf dem Balkon hat mich geschafft, sagt Traudel; als du einen Bekannten als Mitarbeiter deiner Schule vorgestellt hast; dann die Scheibe Brot! Ich war fix und fertig.

Traudel schluchzt.

Fühlst du dich jetzt besser?

Ja, sage ich.

Wir verlassen das Zimmer und gehen in Richtung Klinik-Casino. Im Fahrstuhl fällt kein Wort. Ich überlege tatsächlich, ob ich trotz ihres Verrats zu Traudel zurückkehren soll. Ich muß anerkennen, daß ich sie überfordert habe. Ich habe ihr die Begegnung mit einem Menschen zugemutet, der in seiner inneren Verrückung unerreichbar geworden war. Die Angst, die aus einer solchen Begegnung hervorgeht, ist genauso menschlich wie die Verrückung selber. Deswegen steht es mir nicht zu, Traudel wegen ihrer Angst bestrafen zu wollen. Man kann Angst nicht verurteilen. Sie ist kein Vergehen. Ich bin begeistert, wie tadellos meine Denkmaschine wieder arbeitet. Ich erkenne darin ein Zeichen für die Rückkehr meiner Gesundheit. Trotz meiner Einsicht behält das Gefühl meiner Verletztheit die Oberhand. Das Casino ist wie fast immer überfüllt. Wir reihen uns in die Schlange vor der Essensausgabe ein. Ich weiß bis kurz vor der Luke nicht, für welches Mittagessen ich mich entscheiden soll. Dann stoßen wir fast gleichzeitig die Worte Forelle blau mit Salzkartoffeln aus. Über die Beinahe-Gleichzeitigkeit müssen wir ein bißchen lachen und empfinden Verlegenheit über ihren dürftigen Grund. Mit den Tellern in der Hand warten wir, bis zwei Plätze frei werden. Ich setze mich nicht gerne an einen Tisch, an dem bereits andere Menschen essen, aber wir haben keine Wahl. Die Leute an unserem Tisch (ein Patient und zwei Besucher) reden und lachen laut. Viele Patienten essen schnell, um wieder verschwinden zu können. Wer mit essen fertig ist, muß seinen Teller selbst zur sogenannten Geschirrückgabe bringen. Dadurch entsteht ein fast ununterbrochener Küchenlärm. Das dauernde Herausziehen der Stühle unter den Tischen und das Zurückschieben der Stühle unter die Tische verursacht ein noch stärkeres Geräusch. Wir machen uns halb stumm über die Forelle her und schauen uns wartend an. Einer der Besucher läßt seine halb aufgegessene Mahlzeit am Tisch zurück. Die schnell erkaltenden, glasig gewordenen Kartoffeln bilden zusammen eine Art Mondlandschaft. Die losgelösten Forellenhautstücke glänzen wie ein kleines Silbermoor. Meine Aufmerksamkeit für das stehengebliebene Essen ist kein gutes Zeichen, aber ich weiß mir nicht anders zu helfen. Die Gabel, die auf dem Tellerrand aufliegt, fordert zur sofortigen Flucht auf. Die Flucht wäre sinnlos, weil ohne nachvollziehbaren Grund. Trotzdem stelle ich mir vor, ich würde fliehen und unterwegs von zwei Klinik-Angestellten wieder aufgegriffen. Sie würden mich fragen, warum ich geflohen bin, und ich würde antworten: Wegen der Gabel auf dem Tellerrand. Darüber muß ich jetzt ein wenig kichern.

Sagst du mir, warum du lachst? fragt Traudel.

Am liebsten würde ich meine Forelle samt Kartoffeln an die Wand schmeißen, sage ich.

Traudel flüstert zurück: Ich auch.

Warum tun wir es nicht? frage ich.

Wenn du es tun würdest, sagt Traudel, würden sie dich für immer hierbehalten, und das kannst nicht einmal du wollen.

Das stimmt, sage ich, aber wenn du es auch tun würdest, würden sie vielleicht auch dich hierbehalten, und das wäre doch nicht schlecht, oder?

Wir lachen und spintisieren noch ein bißchen darüber, was passieren würde, wenn wir jetzt aufstehen und kurz nacheinander, wie bei einem sportlichen Wettbewerb, unser Essen gegen die Wand schmeißen würden. Immerhin gelingt uns dadurch eine Distanz zur unmittelbaren Unerträglichkeit. Wenn ich mich nicht täusche, ist Traudel ein bißchen beglückt, weil wir durch unsere Alberei einen Zipfel von unserer früheren Unbeschwertheit wiedererlangen. Nach dem Mittagessen machen wir einen kleinen Spaziergang in die Umgebung. Ich sehe viele Mitpatienten, deren Leiden ich Traudel erkläre. Für einen Kaffee reicht unsere Zeit nicht mehr, weil ich um 16.00 Uhr eine Therapiestunde habe. Traudel geht noch einmal mit mir ins Zimmer. Aus Verlegenheit zeige ich ihr die Tabletten, die ich täglich einnehme. Traudel faßt mich an und drängt sich an mich heran. Ich habe, glaube ich, noch niemals das Angebot einer Frau zurückgewiesen. Traudel neigt nachmittags nicht zu erotischen Handlungen, aber sie nimmt an, daß ich sexuell ausgehungert bin, womit sie recht hat. Als sie den Schlüssel meines Zimmers umdreht, ist klar, daß sie mir einen quasi ehemäßigen Samariterdienst erweisen will. Aber meine Verletztheit sträubt sich dagegen, sich so schnell niederlieben zu lassen, schon gar nicht zum Sonderpreis einer fixen Besuchssexualität. Als Folge meiner Klinik-Einweisung hat sich zwischen Traudel und mir eine Art Schmerzwaage eingependelt. Jeder legt in seine Waagschale den Schmerz, sich am Lebensglück des anderen vergangen zu haben. Wessen Vergehen wiegt heute schwerer? Derzeit glaube ich, Traudel hat ihre Schale überladen. Ich sollte Traudel nicht zu sehr mit meiner Erkrankung ängstigen. Ich knöpfe Traudel die Bluse, die sie sich schon geöffnet hatte, wieder zu. Daraufhin nimmt sie ihre Sachen an sich. Ich will sie runterbringen ins Foyer, aber sie sagt, daß sie schon alleine hinausfindet, und verläßt sichtbar gekränkt das Zimmer.

In der Therapiestunde kann ich nicht mit mir einig werden, ob ich über den mißglückten Abschied von Traudel sprechen soll oder nicht. Weil ich zu lange schweige, fordert mich Dr. Treukirch auf, über Melancholie zu sprechen, was mir schwerfällt.

Ich bin so sehr mit meiner Trauer verwachsen, sage ich, daß ich nicht gewohnt bin, über diese Verbrüderung zu sprechen.

Jetzt schweigt Dr. Treukirch lange.

Ich wundere mich, sage ich, warum meine Melancholie und der Rest der Welt so gut zueinander passen. Anders gesagt, ich staune darüber, daß die meisten Menschen meine Melancholie angemessen finden. Die Melancholie der Verhältnisse ist doch nicht auf die Bestätigung meiner kleinen Seele angewiesen.

Danach entsteht eine noch längere Pause.

Nach einigen Minuten belastet mich das Gefühl, ich sei an der Pause schuld, was gewiß nicht zutrifft. Dennoch erzähle ich eine törichte Geschichte, die ich als Kind erfunden habe. Eines Tages kam ich vom Einkaufen nach Hause und habe meiner Mutter gegenüber behauptet, daß ich in der Metzgerei diffamiert worden sei. Eine Verkäuferin hat mich einen kleinen Wurstzipfel genannt, sagte ich, und dann darüber gelacht. Ich fühlte mich verhöhnt und habe so schnell wie möglich die Metzgerei verlassen. Meine Mutter war erbost und kündigte an, sie werde die Verkäuferin zurechtweisen. Ich hatte eine Weile zu tun, sie von ihrer Absicht abzubringen. Ich verglich die Diskriminierung mit den Schmähungen, die ich aus der Schule kannte. Dort nannte man mich Schafsauge oder Holzwurm oder Spreißel. Auch ich beteiligte mich an der Schmähung der anderen Schüler, sagte ich damals zu meiner Mutter und jetzt zu meinem Therapeuten, und wir fanden es damals nicht sonderbar, daß die gegenseitig sich Schmähenden ein paar Minuten später wieder friedlich beisammensaßen und miteinander spielten. So ist es auch mit der Wurstverkäuferin! sagte ich altklug zu meiner verblüfften Mutter. Sie stehen den ganzen Tag in ihrer schrecklichen Metzgerei, und sie müßten zuweilen ihre Kunden verunglimpfen, damit sie wenigstens ein bißchen Unterhaltung hätten. Meine Mutter fand mich erstaunlich reif und weitsichtig und ließ daraufhin von einer Zurechtweisung der Verkäuferin ab. Endgültig erledigt war die Geschichte, als ich ein paar Tage später erklärte, daß die Verkäuferin ihre Schmähung nicht wiederholte und auch nicht über mich gelacht hätte.

An dieser Stelle sagte Dr. Treukirch: Zwischen der erfundenen Diskriminierung und der Brotscheibengeschichte besteht eine gewisse Ähnlichkeit.

Aber die Sache mit der Brotscheibe ist nicht erfunden, sage ich.

Das meine ich auch nicht, sagt Dr. Treukirch; sondern ich meine, daß es sich bei beiden Vorgängen um Aussetzungen handelt, um Selbstaussetzungen sozusagen, verstehen Sie?

Ich schweige und überlege, obwohl ich nicht weiß, was ich überlegen soll. Deswegen schaue ich meiner Hand dabei zu, wie sie sich in den Schacht zwischen Sitzfläche und der Seitenpolsterung meines Sessels einschiebt.

Wichtig ist nicht die Ähnlichkeit, sagt Dr. Treukirch; wichtig ist auch nicht, ob es sich wirklich um Selbstaussetzungen handelt, vergessen Sie bitte das Wort. Wichtig ist, was wir noch nicht wissen; wichtig ist, was die beiden Handlungen bedeuten, was Sie mit ihnen eigentlich sagen wollen.

Ich schweige, ziehe meine Hand aus dem Polsterschacht des Sessels und betrachte die Rötungen, die durch das Eingeklemmtsein der Hand entstanden sind. Ich weiß nicht, ob ich zugeben darf, daß ich Dr. Treukirch verstanden habe. Gleichzeitig will ich das Gefühl einer Entblößung zurückweisen; es ist, als hätte ich mein Geheimnis verloren.

Dann sagt Dr. Treukirch: Aber wir müssen an diesem Punkt nicht sofort weiterkommen; wir können beim nächsten Mal versuchen, hier anzuknüpfen.

Dr. Treukirch erhebt sich und gibt mir die Hand. Die Stunde ist zu Ende, ich verlasse das Zimmer des Therapeuten. Es überschwemmt mich der Eindruck, in den Augenblicken meiner größten Ratlosigkeit restlos durchschaut worden zu sein. Deswegen rutsche ich jetzt in eine Art inneren Vandalismus hinein, der mir seit meiner Kindheit vertraut ist. Ich möchte jetzt etwas stehlen, etwas zerstören oder jemanden beschimpfen. Ich gehe zurück in das Foyer, setze mich in einen Sessel und warte ab, bis sich meine Gefühle von selbst gegen andere eintauschen. Im Grunde war schon der innere Vandalismus meiner Kindheit eine Selbstaussetzung. Als ich neun Jahre alt war, habe ich fast den Verstand verloren, weil ich zu lange von mir selbst getrennt war. Damals lief ich völlig verstummt und verlassen ganze Nachmittage in der Stadt umher, um den Abstand zwischen mir und mir zu verkleinern. Frau Gschill, eine Autistin, geht vorüber und erinnert mich daran, daß heute abend ein Rockkonzert stattfindet. Etwas Peinlicheres als ein Rockkonzert in der Provinz kann ich mir im Augenblick nicht vorstellen. Eine ältere Besucherin betritt den Empfangsraum. Sie führt einen kleinen Hund an der Leine. Nach ein paar Metern fällt der Frau die Leine aus der Hand. Der Hund läuft, die Leine neben sich herziehend, im Foyer umher. Danach kehrt der Hund freiwillig zu der Frau zurück. Fast alle Patienten schauen dem kleinen Schauspiel dankbar zu. Die Frau bückt sich und nimmt die Leine wieder in die Hand.

Gegen 20.00 Uhr sammelt sich im Foyer eine Gruppe von zuerst sechs, dann acht Patienten, um das Rockkonzert einer mir unbekannten Rockband namens THE TAIFUNS zu besuchen. Von den Patienten sind mir fünf unbekannt, drei kenne ich oberflächlich vom Mittagessen und von Spaziergängen. Das Konzert findet außerhalb in der Sporthalle der Gemeinde statt. Schon auf dem Weg dorthin komme ich mir unpassend vor. Ich schäme mich wegen meines fortgeschrittenen Alters. Dr. Adrian, einem ebenfalls älteren Patienten, scheint es ähnlich zu gehen. Wir schließen uns locker zusammen und bilden gemeinsam eine kleine Verhöhnergruppe. Die Patientenband LAST EXIT macht einen Abendausflug, sagt Dr. Adrian und lacht spöttisch. Was immer wir tun, sagt Dr. Adrian, es findet immer dasselbe statt, die Verwandlung von normalem Leben in formalisiertes Leben. Wir gehen an einem Musikaliengeschäft vorbei, in dessen Schaufenster stark verbilligte Gitarren ausgestellt sind. Dr. Adrian und ich erzählen einander, daß wir in unserer Jugend Gitarristen hatten werden wollen, was zwischen uns eine gewisse Gemeinschaftlichkeit hervorbringt. Ich betrachte einen älteren Bauern, der einen Feldweg entlanggeht. Der Mann trägt ein rundes Brot unterm linken Arm. Es gefällt mir die Art, wie sich der Bauer das Brot eng an den Körper drückt, so daß Brotlaib und Menschenleib plötzlich zusammengehörig erscheinen. Ich will Dr. Adrian auf den Mann aufmerksam machen, aber dann sagt Dr. Adrian: Die abendländische Rationalität ist noch lange nicht auf dem Höhepunkt ihrer Melancholie angekommen. Ich stimme zu, obwohl ich nicht genau weiß, wovon Dr. Adrian spricht. Auch unter den anderen Patienten sind leise Unterhaltungen entstanden. Ich frage mich, warum ich an einen Bildungsangeber geraten bin. Ich möchte mich von ihm lösen, aber ich weiß nicht, wie ich das anstellen soll. Zwischendurch will ich zu Dr. Adrian immer wieder sagen: Suchen Sie sich einen anderen, ich bin zu alt für Ihre kleinstädtische Wichtigtuerei. Die Wahrheit ist: Ich bin selbst ein Bildungsangeber. Nur deswegen fallen mir andere Bildungsangeber sofort auf. Wir betreten einen großen Saal, der ringsum mit schwarzen Stoffgardinen ausgeschlagen ist; wahrscheinlich, damit man die Sport- und Klettergeräte an den Wänden nicht sieht. Die Halle ist nicht einmal zur Hälfte gefüllt, was mir angenehm ist. An einer Theke gibt es Bier, Wein, Wasser und Apfelsaft. Auf den Eintrittskarten ist »freie Platzwahl« angekündigt. Das bedeutet, daß jeder mit einer Flasche oder einem Glas in der Hand irgendwo herumstehen darf. Vorne, erhöht auf einer Bühne, stehen die TAIFUNS. Zwei dicke Frauen spielen Gitarre (die eine singt dazu), drei magere Frauen spielen Schlagzeug, Baß und Saxophon. Schon nach kurzer Zeit breitet sich der Geruch nach Bier und Schweiß aus. Der Abend hat offenbar keine Struktur, denkt der Bildungsangeber in mir. Zum Glück kann ich den Satz für mich behalten. Meine Bildungsverschwiegenheit ist mein einziger Vorteil gegenüber den konventionellen Angebern. Die meisten Besucher trinken, nur wenige tanzen. Ich bin froh, daß Dr. Adrian von mir gewichen ist. Wenn ich es recht sehe, tanzt er mit Frau Nowak, einer Borderlinerin. Von Zeit zu Zeit dreht sich die Sängerin der TAIFUNS um und schaut sich die hintere Bühnenwand an. Ich betrachte ihren Rücken, und dabei fällt mir meine Mutter ein, wenn sie sich, als ich Kind war, von mir abgewandt hatte und den Raum verließ. Die Sängerin dreht sich wieder um und zeigt ihr verdrossenes Gesicht, ebenfalls wie meine Mutter. Ich stelle mir vor, meine Mutter wäre Gitarrespielerin und Sängerin geworden und hätte abends das Haus verlassen, um ihre Auftritte zu absolvieren. Ich male mir aus, ich wäre ihr gefolgt und hätte gesehen, daß sie als Frontfrau einer Popgruppe eine faszinierende Frau gewesen wäre. Wie komme ich nur dazu, mir derartig übertriebene Hoffnungen zu machen! Denn ich hätte natürlich entdecken müssen, daß sie auch als Gitarrespielerin und Sängerin genau das gleiche öde Huhn gewesen wäre wie zu Hause auch. Ich wäre fassungslos gewesen und wäre auf dem Heimweg in ein Weinen ausgebrochen.

Rock me, singt die Sängerin, aber man glaubt ihr nicht, daß sie gerockt werden will. Sie bewegt sich mäßig in den roten, gelben und blauen Spotlights und zeigt dabei ihre Hüften, ihre Haut und ihren Ledergürtel. Ich tanze mit Frau Gschill, der Autistin, worauf ich mich besser nicht eingelassen hätte. Sie versucht schon nach kurzer Zeit, mich zu küssen. Ich komme mir eher geleckt als geküßt vor, was Frau Gschill nicht zu stören scheint. Ich bin natürlich, wie fast immer, selbst schuld. Ich hatte mir mit Frau Gschill ein kleines Abenteuer ausgedacht. Ich habe schon lange keinen Intimbesuch mehr gehabt. Es gibt eine Kliniksexualität, wie es eine Urlaubssexualität und eine Fasnachtssexualität gibt; sie entsteht nur durch die vorübergehende Alltagsferne der Menschen. Aber Frau Gschill hat offenkundig kein Empfinden dafür, daß unsere Annäherung total mißlingt. Schlagartig begreife ich, was Autismus ist. Frau Gschill lebt ganz und gar auf sich selbst bezogen. Sie bemerkt kaum, daß es ein anderer Mensch ist, mit dem sie tanzt, und es ist ihr gleich, daß dieser andere Mensch (ich) ihren Nikotinschlund nicht ertragen kann. Ich glotze Frau Gschill an, wie man jeden anglotzt, dessen Erkrankung plötzlich klar wird. Ich behaupte, daß ich dringend aufs Klo muß, was Frau Gschill ebenfalls nicht irritiert. Immerhin gelingt mir auf diese Weise die Flucht. Wenig später stehe ich wieder neben Dr. Adrian, der vom Plan seiner Frühverrentung spricht. Das Allerwichtigste ist, sagt er, man muß zwei Ärzte finden, die bescheinigen, daß man arbeitsunfähig geworden ist. Mit glücklichem Gesicht betont Dr. Adrian, daß er zwei solche Ärzte gefunden hat. Anfangs kommt mir das Thema Frühverrentung so belanglos vor, daß ich das Rockkonzert verlassen möchte. Aber dann beginne ich mich zu fragen, ob Frühverrentung nicht auch für mich eine Möglichkeit ist. So gesehen könnte der Aufenthalt in der Klinik meinem Leben eine entscheidende Wende geben. Dr. Treukirch wird sicher bereit sein, mir eine der erwünschten Bescheinigungen auszustellen. Neugierig lausche ich den Details von Dr. Adrians Plan.