ACHT
Mit Hilfe einer Aufschlüsselung der Einnahmen kann ich herausfinden, was die Umstellung der Lieferzeit auf einen Tag bis jetzt gebracht hat. Vermutlich ist es für eine Bilanzierung noch zu früh, aber ich bin zuversichtlich. Eigendorff will gute Zahlen hören. Das Problem ist: Es gibt in unserer Branche keine wirklich neuen Kunden. Wer den Umsatz steigern will, muß der Konkurrenz die fehlenden Kunden abjagen, und das ist nur möglich mit einem attraktiveren Service, zum Beispiel mit einer Ein-Tag-Lieferfrist. Herr Tischer, ein junger Kollege, kommt neuerdings mit Rucksack ins Büro. Bei ihm sieht das besonders töricht aus, weil er unter dem Rucksack stets einen dunklen, glatten Anzug und ein weißes Hemd trägt. Herr Tischer stellt den Rucksack neben seinem Schreibtisch ab und rührt ihn bis zum Feierabend nicht an. Gegen halb zehn wird Frau Weiss von ihrer Tochter per Handy angerufen. Die Tochter will die Sachen nicht anziehen, die ihr die Mutter über den Stuhl gelegt hat. Frau Weiss zischt die Tochter scharf an und beendet dann das Gespräch. Heute kommen die Putzfrauen schon am frühen Nachmittag, weil sie sonst ihr Pensum nicht schaffen. Frau Kahlert wischt den Schreibtisch ab, an dem ich arbeite. Ich lehne mich zurück und warte. Frau Kahlert ist etwa zwanzig Jahre älter als ich. Ich ahne, daß sie es skandalös findet, daß eine so alte Frau den Schreibtisch eines noch jungen Mannes wischen muß. Ihre Kollegin (ich habe ihren Namen vergessen) redet ins Ungefähre und stopft dabei Büromüll in einen riesigen blauen Plastiksack, den sie hinter sich herzieht. Das Geräusch ihres Sprechens verschwindet im Knittern des Plastiksacks, so daß der Eindruck entsteht, auch ihr Reden sei Abfall. Gegen 15.00 Uhr bestellt mich Eigendorff in sein Büro. Er trägt sein konventionell ernstes Gesicht und bittet mich Platz zu nehmen.
Ich will es kurz machen, sagt er und legt eine Pause ein.
Dann sagt er: Sie sind am Donnerstag zuerst um 14.00 Uhr und dann noch einmal um 16.00 Uhr als Teilnehmer einer Demonstration beobachtet worden. Was Sie in Ihrer Freizeit machen, ist mir natürlich egal. Aber ich kann Sie nicht dafür bezahlen, daß Sie Ihre Arbeitszeit bei irgendwelchen Kundgebungen verbringen.
Ich will etwas sagen, aber er schneidet mir das Wort ab. Darüber müssen wir nicht diskutieren, sagt er.
Eigendorff wartet ein paar Sekunden. Ich will jetzt tatsächlich nichts sagen und starre auf den gläsernen Briefbeschwerer auf Eigendorffs Schreibtisch.
Dann sagt er: Sie müssen morgen nicht mehr zur Arbeit erscheinen. Sie sind hiermit fristlos entlassen. Wenn Sie wollen, können Sie gleich gehen. Meine Sekretärin schickt Ihnen die Papiere nach Hause. Für Ihren Lebensweg wünsche ich Ihnen alles Gute.
Mehr sagt Eigendorff nicht. Ich erhebe mich, verlasse ohne ein Wort das Büro und begebe mich an meinen Platz. Ich überlege tatsächlich, ob ich sofort gehen oder ob ich den Feierabend abwarten soll. Die nächste Frage ist, ob ich mich von den Kollegen verabschieden werde oder nicht. Wenn ich mich nicht täusche, sind sie derart betreten, daß ich momentweise vermute, sie haben schon länger von meiner Entlassung gewußt. So reglos wie eine Amsel im Winter sitze ich an meinem Schreibtisch. Natürlich war ich mit dieser Großwäscherei nie emotional verbunden. Ich mußte immer beide Augen zudrücken, daß ausgerechnet ich in einer derartigen Umgebung überlebte. Vermutlich deswegen bin ich jetzt viel weniger erschüttert, als die Kollegen annehmen. Überwältigt bin ich nur von meiner letzten Begegnung mit Eigendorff. Diese Ruck-Zuck-Abfertigung hätte ich ihm nicht zugetraut. Ich beschließe, den Rest des Nachmittags im Büro auszuhalten. Auf diese Weise hoffe ich verhindern zu können, mich von den Kollegen einzeln verabschieden zu müssen. Schon nach zehn Minuten merke ich, wie schwierig es für mich ist, ein Scheitern auf diesem niedrigen Niveau wirklich hinzunehmen. Die Überempfindlichkeit in mir weiß sich endlich im Recht und weiß nicht wohin. Ich schaue aus dem Fenster und betrachte zwei Hunde, die eng an einer Hauswand entlanglaufen und nicht aufschauen. Mein Blick schweift nach links zum Flachdach einer Auto-Garage. Dort liegt ein Stück Dachpappe, in das von Zeit zu Zeit der Wind hineinfährt. Die Dachpappe sieht dann aus wie ein dreivierteltoter Vogel, der immer gerade zum letzten Mal einen Flügel hebt und ihn dann kraftlos absinken läßt. Immer mal wieder habe ich mir, dieses Bild betrachtend, gesagt: Eines Tages wird eine Situation eintreten, in der dieses Stück Dachpappe ein symbolischer Darsteller deines Lebens wird. Jetzt ist das Klischee eingetreten, und ich muß ein bißchen kichern. Ich hätte nichts gegen ein anständiges mächtiges Gefühl, immerhin bin ich fristlos entlassen. Merkwürdig ist, daß mich kein Kollege wegen irgend etwas anspricht. Das verstärkt meinen Verdacht, daß sie alle Bescheid gewußt haben. Einer von ihnen hat mich offenbar beobachtet und verpfiffen. Vermutlich hatte Eigendorff einen Grundverdacht gegen mich und beauftragte jemanden mit meiner Observation. Aber eigentlich will ich nicht wissen, wer mir auf den Fersen war. Noch merkwürdiger ist, daß auch ich niemanden ansprechen will. Ich verstaue ein paar Kleinigkeiten, die sich in der Schublade meines Schreibtischs befinden, in einer Plastiktüte. In einem kleinen Umschlag finde ich ein einzelnes Schamhaar von Traudel, das ich vor langer Zeit hier deponiert habe. Ich weiß, daß mich das Schamhaar tröstet, und schiebe es mir in den Mund. Auch jetzt geht wieder ein Trost von ihm aus, den ich nicht beschreiben kann. Mit der Zunge schiebe ich das Schamhaar in der Mundhöhle hin und her und betrachte dabei das sich im Wind aufbäumende und dann niederstürzende Stück Dachpappe auf der Autogarage. Es ist erstaunlich (es ist nicht erstaunlich), daß die Bewegungen des Schamhaars und die Bewegungen der Dachpappe eine wunderbare Duldsamkeit in mir hervorrufen, in der ich den quälenden Tagesrest in der Großwäscherei großmütig überlebe. So pünktlich wie sonst selten – um 17.00 Uhr – erhebe ich mich, nicke einzelnen Kollegen kurz zu und verlasse das Büro. Ein einziger letzter Blick gilt meinem leergeräumten, jetzt verlassenen Schreibtisch.
Es paßt zu diesem Tag, daß mir etwa zwanzig Minuten später in der Nähe der Paulskirche Marlene Poscher über den Weg läuft. Es hat keinen Sinn, sie zu grüßen, denn Marlene Poscher hat mich vergessen, was für mich eine Erleichterung sein sollte. Aber ich bin mir nicht ganz sicher, ob sie mich tatsächlich vergessen hat, und in dieser Ungewißheit liegt das peinigende Moment. Gegen Marlene Poscher habe ich mich vor etwa zwanzig Jahren unhöflich benommen. Damals saßen wir in einem geschichtsphilosophischen Seminar von Professor Schneidereit. Ich war schon fünfzehn Minuten vorher gekommen, als Marlene Poscher, die schon damals dauerbleich, häßlich, von klobigem Körperbau und fast unüberwindbar schüchtern war, den Raum betrat. Sie sah mich und grüßte mich auf so freundliche, charmante Art, daß es ihre übrigen Nachteile momentweise aufhob. Ich aber befand mich damals in einer entsetzlichen Phase der Selbsteinschüchterung, fühlte mich chancenlos, lebensfremd und im tiefsten Inneren talentlos und leer – und wurde ausgerechnet von der unattraktivsten Studentin des philosophischen Seminars begrüßt. Ich verwandelte mich in einen öffentlich herumliegenden Eisblock, grüßte nicht zurück, blickte sogar gepeinigt zur Seite. Leider fand ich auch später nicht die Kraft, auf Marlene Poscher zuzugehen und mein Fehlverhalten vergessen zu machen. Ich weiß nicht warum, bis heute nicht. Marlene Poscher sah mich nie mehr an und grüßte mich nie wieder. Seit ungefähr zwanzig Jahren habe ich das Bedürfnis nach einer Entschuldigung, die immer unmöglicher wird, je länger sie nicht geschieht. Mein Bedürfnis ist heute unnötig und lächerlich, weil Frau Poscher (so nenne ich sie in meinem Inneren) sich nicht mehr an mich erinnert. Oder sie erinnert sich doch und sagt jetzt zu sich selbst: Da kommt wieder diese Null von damals und wird immer nulliger, womit sie, am Tag meiner fristlosen Entlassung, nicht so ganz unrecht hätte. Frau Poscher geht an mir vorbei. Sie hat mich, wie erwartet, nicht wiedererkannt, oder sie hat mich, wie erwartet, wiedererkannt. Es zieht ein Schauder durch mich hindurch. Ich fühle mich erkannt, beschämt und hilfsbedürftig, aber ich kaufe mir nur eine Zeitung. Ich fühle mich privilegiert, weil mir niemand Vorwürfe macht. Wie wunderbar ist es, daß kein Mensch seine Schuld öffentlich zeigen muß. Wie entsetzlich ist es, daß jeder Mensch seine Schuld in seinem Inneren jeden Tag anschauen muß. Traudel wird, wenn ich heute abend von meiner Entlassung berichte, vermutlich kein Aufhebens machen. Mein geringes Betroffensein paßt zu der Nichtswürdigkeit des verlorenen Jobs. Trotzdem entspricht meine Wurschtigkeit nicht ganz den Tatsachen. Immerhin empfand ich in der Großwäscherei eine merkwürdige Geborgenheit, die meinen Hohn nicht verdient. Im Gegenteil; ich weiß, wie schwer ich mich damit tue, überhaupt Geborgenheit zu empfinden. Ich weiß nicht, warum in diesen Augenblicken der Beginn eines weiteren schrecklichen Erlebnisses meinen Tag verdüstert. Am oberen Ende einer Rolltreppe wird die Gestalt einer älteren Frau sichtbar. Sie stolpert und fällt hin. Ihre Einkaufstasche liegt einen Meter von ihr entfernt, ihre Brille ist unter den Körper geraten. Ich stürze auf die liegende Frau zu und will ihr aufhelfen. Im Eifer verliere ich für einen Augenblick die Übersicht und trete der Frau auf ihre am Boden liegende linke Hand. Die Frau schreit und beginnt zu weinen. Es gelingt mir, die Frau von hinten unter den Achseln zu fassen und hochzuziehen. Ein anderer Mann klopft der Frau den Straßenschmutz vom Rock. Haben Sie sich verletzt, fragt der Mann zweimal. Die Frau nimmt schon auf mich Rücksicht, untersucht nicht die von mir malträtierte Hand und sagt: Vielen Dank, Gott sei Dank nicht. Ich beneide den anderen Mann um seinen routinierten Umgang mit dem Unglück. Ich rede von den Rätseln des Ungeschicks und merke gleichzeitig, daß meine Formulierung treffend wäre, wenn sie in einem Buch auftauchte, aber jetzt, hier in der Wirklichkeit, als unpassend, wenn nicht als überheblich erscheint. Die Frau redet mit dem später hinzugetretenen Mann, nicht mit mir. Der Mann hebt die Brille der Frau vom Boden auf und stellt fest, daß die Brille halb zerbrochen ist. Die Frau nimmt auch die vermutlich unbrauchbar gewordene Brille entgegen und verstaut sie in der gleichfalls von dem anderen Mann aufgehobenen Tasche. Ich mache mir Vorwürfe, daß ich weder die Brille noch die Tasche aufgehoben habe. Diese ins Leere gehende Fürsorge ist ganz typisch für mich. Deswegen komme ich mir jetzt oberflächlich, halb zerfleddert und nichtswürdig vor. Mir paßt nicht, daß ich erschöpft und müde bin, obwohl ich nicht gearbeitet habe. Ich bin in keiner guten Heimkehr-Verfassung, aber ich habe genug von den Einzelheiten ringsum und mache mich auf den Weg. Traudel wird sofort merken, daß etwas nicht stimmt. Es steigt die Stimmung eines Schülers in mir hoch, der vor kurzem erfahren hat, daß er nicht versetzt wird. Es gefällt mir nicht, daß ich als Erwachsener bloß ein Schülergefühl zustande kriege. Ich habe insofern Glück, als Traudel noch nicht zu Hause ist, als ich die Wohnung aufschließe. Ich betrete das Wohnzimmer und sehe plötzlich meine noch immer auf dem Balkon hängende Hose. Im stillen lobe ich Traudel, weil sie sich in mein Hosenexperiment bis jetzt nicht eingemischt hat. Aber jetzt öffne ich die Balkontür und hole meine Hose in die Wohnung, bürste sie im Bad aus und hänge sie in den Kleiderschrank. Als Traudel die Wohnungstür öffnet, sitze ich in der Küche und schäle eine Birne. Traudel merkt sofort, daß etwas nicht stimmt. Wahrscheinlich liegt es daran, daß ich eine Birne schäle. Das mache ich sonst nie.
Traudel grüßt und fragt spitz in die Küche: Ist was passiert?
Ich versuche eine stumme Leugnung, aber sie mißlingt mir.
Traudel sagt: Soll ich raten?
Ist nicht nötig, sage ich jetzt doch, ich bin rausgeschmissen worden.
Oh, macht Traudel, das hatten wir noch nicht.
Ich versuche, so gut ich kann, die Entlassung herunterzuspielen, aber der Versuch mißlingt.
Ist es schlimm für dich?
Nöö, sage ich, es ist, als hätte ich einen Studentenjob verloren.
Aber es war doch schon eine halbe Lebensstellung, sagt Traudel.
Dazu schweige ich.
Warum haben sie dich gefeuert?
Ich habe den Job nur deswegen so lange ausgehalten, weil es leicht war, freie Zeit herauszuschinden.
Und dabei haben sie dich erwischt?
Ja.
Das Herumlungern bei der Demonstration werde ich nicht zugeben, überlege ich, aber Traudel fragt nicht weiter. Sie stellt ihre Einkaufstüten ab und packt die Sachen aus, mit denen sie gleich ein Abendbrot zubereiten wird.
Machst du dir Sorgen? fragt sie.
Nicht wirklich, sage ich, wenn ich von einer gewissen Grundsorge einmal absehe.
Grundsorge? Davon hast du nie gesprochen.
Von Zeit zu Zeit gehe ich immer mal wieder ins Philosophische Seminar und setze mich irgendwo hin. Und warte darauf, daß ein Akademischer Rat oder sonstwer auf mich zukommt und sagt: Gut, daß Sie gekommen sind. Wir wollten Sie sowieso anrufen. Wir würden Ihnen gerne eine Professur anbieten.
Ist das wahr? fragt Traudel.
Ja.
Das hast du mir nie gesagt.
Weil es mir peinlich ist, sage ich.
Und warum sagst du es jetzt?
Die Gelegenheit für Geständnisse ist günstig, sage ich.
Traudel lacht und umarmt mich. Dadurch löst sich die Anspannung. Ich bin froh, daß ich wenigstens eine Teilwahrheit gestanden habe. Ich habe so viele Probleme, daß ich praktisch jeden Tag Geständnisse machen könnte. Das lebensgeschichtlich tief sitzende Unbehagen, daß ich mich von der Philosophie, der Bildung und meiner Eitelkeit habe narren lassen, ist bis heute zwischen Traudel und mir nicht besprochen worden. Das noch viel tiefer sitzende Problem, daß ich inzwischen von meiner peinigenden Selbstüberschätzung weiß, ist praktisch unaussprechlich. Jedesmal, wenn ich es sagen will, würgt mich die Scham. Traudel gegenüber tue ich so, als wäre in mir ein bedeutender Philosoph verlorengegangen. Ich merke, daß Traudel sich in diese Versagung einfühlt und mitempfindet. Eine andere, mich ebenso stark bedrängende Sorge ist meine fundamentale Unruhe. Ich meine damit ganz wörtlich die Unmöglichkeit, längere Zeit einer Beschäftigung in einem Raum nachzugehen. Ich verhülle, oft mit erheblicher Anstrengung, daß ich es nirgendwo lange aushalte. Kaum bin ich im Büro, will ich wieder nach draußen. Bin ich endlich draußen, will ich zurück in einen geschlossenen Raum. Bei Traudel halte ich es oft nur aus, weil ich (gegen meinen Willen) lange fernsehe. Traudel sitzt dabei oder sitzt nicht mit dabei. Ich schaue mir fast alles an, was lange dauert, Boxkämpfe, Reitturniere, Diskussionen. Ich weiß von vielen Menschen, denen es ähnlich ergeht. Das Fernsehen nützt die Not der Menschen skrupellos aus. Meine Zwiespältigkeit macht mir das Fernsehen besonders verhaßt. Ich bin erst seit ungefähr einer Stunde zu Hause, und obwohl ich mich in unserer Wohnung aufhalte, komme ich mir vor wie in einem Altersheim und möchte fliehen. Wahrscheinlich schalte ich in Kürze den Fernsehapparat ein. Meine Unruhe richtet sich nicht gegen Traudel, sondern (vermutlich) gegen den Raum, in dem ich mich immer gerade aufhalte. Ich würde gern beschreiben können, was an den Räumen die Beklemmung auslöst. Bis jetzt bin ich in dieser Hinsicht erfolglos. Meine Denkkraft reicht nicht aus, die Beklemmung der Räume begrifflich zu fassen. Nichts ist grausamer als die Entdeckung, im entscheidenden Augenblick ein sprachloser Philosoph zu sein. Wie so oft packt mich dann die Sehnsucht nach grenzenlosem Unterwegssein, obwohl ich weiß, daß auch das Nomadenleben eine Schimäre ist. Was von all dem übrig bleibt, ist das hörbare Knistern verschlissener Illusionen; sie rascheln im Kopf wie zu oft benutztes Einwickelpapier.
Traudel bereitet einen Salat vor, der hübsch ausschaut und sehr gut schmecken wird. Außerdem hat sie zwei kleine Steaks zurechtgemacht, die sie in die Pfanne legen wird, wenn sie mit dem Salat fertig ist. Eigentlich wollte ich duschen, aber jetzt decke ich den Tisch. Ich nehme an, im Tischdecken drückt sich eine diffuse Dankbarkeit dafür aus, daß ich schon wieder um eine Diskussion meiner verkorksten beruflichen Lage herumgekommen bin. Ich weiß nicht, warum mir während des Tischdeckens Erinnerungen an meine Kindheit einfallen. Ich sehne mich plötzlich nach den damaligen Schuhgeschäften. Dabei entsteht momentweise das Gefühl, ich hätte eine schöne, harmonische Kindheit gehabt. In Wahrheit war es so, daß meine Mutter mit mir vor dem Kauf der neuen Schuhe die Kreditabteilung des Kaufhauses im obersten Stockwerk aufsuchen mußte. Dort legte man ihr einen Antrag für einen Kleinkredit vor. Ich saß auf der Seite auf einem Stuhl, wo noch andere Kinder warteten, deren Mütter ebenfalls Kreditanträge ausfüllten. Damit der Kleinkredit genehmigt werden konnte, mußte meine Mutter eine Verdienstbescheinigung ihres Ehemannes vorzeigen, die sie in ihrer Handtasche mitgebracht hatte. Die Kreditsachbearbeiterin nahm die Verdienstbescheinigung und rief die Lohnbuchhaltung der Firma an, bei der mein Vater arbeitete, um zu überprüfen, ob die Angaben der Verdienstbescheinigung der Wahrheit entsprachen. Das taten sie, aber damit war die Kreditsachbearbeiterin noch nicht zufriedengestellt. Sie verlangte jetzt meinen Vater zu sprechen; sie fragte ihn, ob es in Ordnung sei, daß seine Frau einen Kleinkredit aufnehme, um für mich ein Paar Schuhe zu kaufen. Ich war acht oder neun Jahre alt und verstand kaum, was sich ereignete, merkte mir aber die Details. Das heißt ich sah, daß meine Mutter sich schämte. Das Fräulein hinter dem Tresen überprüfte in ähnlicher Weise auch die Kreditangelegenheiten der anderen Frauen. Bis auf den heutigen Tag löst die Gruppenentblößung in der Kreditabteilung Schauer und Schrecken aus. Ich fühlte, daß ich mit meiner Mutter solidarisch war und ihre Scham zu teilen versuchte. Heute glaube ich, der Aufenthalt in der Kreditabteilung war überhaupt das erste Mal, daß mich die Scham in größerem Stil heimsuchte. Anders kann ich mir die Wiedererinnerung der Fülle der Einzelheiten nicht erklären. Als der Kleinkredit endlich genehmigt war, betraten wir die Kinderabteilung im Erdgeschoß. Der Schuhkauf war für Kinder damals eine Art Unterhaltung. Schon die kleinen, nach vorne hin abgeschrägten Hocker gefielen mir, auf die man seinen bestrumpften Fuß stellen mußte. Die Verkäuferin war eine Weile unterwegs, bis sie mit vier oder fünf Schuhschachteln auf dem Arm zurückkehrte und das Anprobieren begann. Sehr gut gefielen mir auch die armlangen Schuhlöffel der Verkäuferinnen. Wo sind die Schuhlöffel und die Schuhverkäuferinnen geblieben? In heutigen Schuhgeschäften muß sich jeder seine Schuhe selber aussuchen, sie irgendwo anprobieren und dann zu einer Aufsichtsfrau sagen: Die nehme ich. Damals drückten die Schuhverkäuferinnen mit dem Daumen vorne auf die Schuhkappen und prüften, ob die Schuhe nicht zu klein oder zu eng waren. In den feineren Schuhgeschäften gab es sogar Durchleuchtungsgeräte, in die man Fuß und Schuh hineinschob und dann auf einem Röntgenbild sehen konnte, ob die Schuhe paßten oder nicht. An der Kasse fragte eine sanfte Frau, ob man nicht Schuhcreme, Schuhspanner, Einlagen oder Socken brauche? Immer habe ich auf die Anschaffung weiteren Zubehörs gehofft, aber Mutter hatte auf dem kurzen Weg zur Kasse schlechte Laune bekommen. Schluß jetzt! Nichts mehr wird gekauft! sagte sie halblaut zu mir herunter. Zu mir! Als wäre ich schuld gewesen an der Anschaffung der Schuhe. Erst spät ging mir auf, daß ich tatsächlich schuld war. Wenn ich nicht gewesen wäre, hätte sie die Schuhe nicht kaufen müssen und hätte sich die Demütigung in der Kreditabteilung ersparen können. Durch die plötzliche Schroffheit der Mutter erschien mir der Schuhkauf wie eine Ausschweifung, die eigentlich nicht zu verantworten war. Durch die Einfühlung in die Mutter stieg in mir etwas empor, was bis heute sein Rätsel nicht verloren hat: die schuldhafte Freude. Ich mußte verheimlichen, daß ich das Leben nicht verstand. Um mich wieder schuldfrei freuen zu können, faßte ich meine Mutter an der Hand und streichelte sie. Oft war ich damit erfolgreich. Durch das Anfassen ihrer Hand war meine Bereitschaft, ihre Scham, ihre Melancholie und sogar ihren Ärger zu teilen, plötzlich öffentlich geworden. Meine Mutter war so stark gerührt, daß sie wieder freundlich wurde. Erst dadurch schien meine Freude genehmigt zu sein und ließ mein Kinderglück zwischen ihr und mir hin- und herströmen.
Es strömt manchmal bis heute. Ich bin durch die Erinnerung guter Laune geworden, was sich zum Beispiel darin ausdrückt, daß ich die beiden schon ausgelegten Papierservietten wieder entferne und durch festlich weiße Stoffservietten ersetze. Außerdem stelle ich zwei Weingläser auf und öffne in der Küche eine Flasche Wein. Traudel braucht noch eine Weile, so daß ich jetzt doch noch dusche und frische Unterwäsche anziehe. Beim Abendessen will ich Traudel von der Scham in der Kreditabteilung erzählen, aber dann kommt doch alles ganz anders. Ich will über der Unterwäsche den Bademantel tragen, fasse aber versehentlich nach meinem schwarzen Wintermantel (er hängt an der Garderobe neben dem Bademantel), ziehe ihn über und setze mich in diesem an den Abendbrottisch. Traudel schaut mich halb verwirrt und halb entsetzt an und fragt dann: Willst du noch einmal weg oder was?
Ich erhebe mich, gehe um den Tisch herum, legen einen Arm um Traudels Schultern – und merke dabei, daß ich zwar frisch geduscht, aber im Wintermantel am Tisch sitze.
Oh! stoße ich einfallslos hervor, lege den Mantel ab und schlüpfe in den Bademantel. Ich rede undeutlich über meine Verwirrtheit, die mir Traudel (dieses Gefühl habe ich) nicht recht abnehmen will.
So etwas merkt man doch, sagt sie.
Ich pflichte ihr bei und habe dennoch keine weiterführenden Erklärungen. So senkt sich ein Schatten über unseren schön gedeckten Tisch, nein, kein Schatten, sondern vielleicht etwas Bösartigeres, ein Moment der Unverstehbarkeit, dem wir (jeder für sich) stumm und abgesondert nachsinnen müssen. Ich strenge mich an, liebenswürdig zu erscheinen und irgendwelche Schnurren aus meinem Leben zu erzählen, aber ich komme nicht gegen das Gespenst an, das an diesem Abend nicht von unserem Tisch weichen will.
Drei Tage später reicht mir Traudel einen kleinen Zeitungsausschnitt, ein Stellenangebot. Eine Wohnungsbaugesellschaft sucht einen Allrounder für die »Bereiche Haus, Garten, Keller, Garagen, Heizung, Hofreinigung«. Kenntnisse »im Bereich Hausverwaltung erwünscht, aber nicht Bedingung«. Ein Elektriker und ein Installateur stehen ganztägig zur Verfügung. »Sie haben zunächst circa dreihundert Wohneinheiten mit einem jährlichen Zuwachs von rund 100 Einheiten zu betreuen. Führerschein Kl. II unerläßlich. Richten Sie Ihre Bewerbung bitte an ...«
Der Zeitungsausschnitt belastet mein Gemüt. Es sieht aus, als hätte Traudel Angst, ich könnte auf Dauer arbeitslos bleiben wollen, vielleicht ein bißchen mit Absicht, weil sie genügend Geld verdient. Vielleicht ist es auch nur das Wort Allrounder, von dem eine Verfinsterung ausgeht. Hinter Allrounder verbirgt sich ein Handlanger, den man früher Hausmeister genannt hat, und das wäre die schlichteste Lösung, die mir das Schicksal zuweisen kann. Ich stecke den Zeitungsausschnitt ein und stelle mich an das Fenster unseres Hofzimmers. Ich will nur einem kleinen Insekt dabei zuschauen, wie es langsam in diagonaler Richtung die Fensterscheibe überquert. In der rechten unteren Fensterecke angekommen, läuft es nach oben weiter, immer an der Innenseite des Rahmens entlang. In der oberen Fensterecke verharrt das Tier und regt sich nicht mehr.
Wie ein Mensch! denke ich begeistert. Man legt lange Strecken zurück, bis man erkennt, weiteres Umhergehen wird ergebnislos bleiben, also läßt man sich nieder und ersetzt das Umhergehen durch Umherschauen. Nach einer Weile betrachte ich erregte Amseln, die an Mülltonnen entlanghüpfen und sich gegenseitig verfolgen oder nach Nahrung suchen. Immer wieder stellen Mieter große Kartons neben den Mülltonnen ab, die von der Müllabfuhr nicht entsorgt werden. Die Mieter sind verpflichtet, die Kartons selbst zu zerkleinern und die Kartonstücke in die Papiertonne zu stecken. Erst nach etwa einer Minute merke ich, daß ich soeben den Gedanken eines Allrounders gedacht habe. Ich hebe den Blick und betrachte den merkwürdig gelben Abendhimmel.