Schade, dass der Krimi zu Ende ist?

Dann lesen Sie am besten gleich weiter: Ein Auszug aus Zum Sterben nach Kairo von Andrea Karimé.

Als Kairos Blut auf die Straße floss,

warf Hala einen Blick in fremde Betten,

sah Mina eine tote Katze vor der Haustür,

warf Philemon einen Blick in den leeren Morgen,

fiel Anastasia ein Stein auf das Herz.

Ich heiße Kairo und ich sage nichts mehr. Ich lausche lieber. Dem Wind zum Beispiel, wie er Dinge durch die Gegend trägt und sich im Staub verfängt. Der wilde Wind. Ich kenne euch alle. Und ich streife durch die vertrocknete Stadt oder fahre mit der Metro. Das kann ich jetzt endlich tun, früher hat man mich abgehalten. Vor allem meine Schwester. Nur einkaufen gehen, das ist mir erlaubt. Vor allem Brot. Das Brot, das mir meine Ehre raubte.

In der Metro kann ich einfach nur zuhören und beobachten. Wie die Eingänge Gesichter einsaugen und auswerfen wie ein Automat Münzen. Kein Gesicht sieht mich. Die Metrostation ist nicht in meinem Viertel. Schon lange ist eine in unserem Stadtteil geplant, eine, die uns mit dem Midan Tahrir verbinden soll, dem kranken Herzen Kairos, doch sie ist nicht gebaut worden. Immer noch muss man viele Schritte tun, um die Station zu erreichen. Ach, ich bin viel gelaufen in meinem Leben, unzählige schwere Schritte, vielleicht so viele wie Sterne am Himmel sind? Jeder Schritt ist nun ein Stern. Ja! Und wenn ich durch meine Straße gehe, ziehe ich eine Spur, ich leuchte, nur bin ich ein roter Engel. Und ich suche.

Seit ich ein Engel bin, besuche ich, wen ich will. Heute ist es die nette Lehrerin, die mir an der Straße des 26. Juli immer begegnet. Sie sagt jedes Mal: „Warum gehst du nicht mehr in die Schule?“

Die Lehrerin hat keine Ahnung vom Leben. Meine Schwester hat mich aus der Schule gerissen: „Ab heute gehst du mit mir Taschentücher verkaufen.“

Hefte und Stifte sind zu teuer. Ich beginne meiner Schwester zu helfen.

Das war vor sechs Jahren. Heute bin ich vierzehn.

Meine Schwester bestimmt mein Leben. Ich suche sie, sie ist eine kleine magere Hündin geworden, und sie läuft vor mir davon. Sie ist die Einzige, die das kann, denn die Dschinnija hat Macht über sie.

Meine Mutter hätte mir das niemals angetan. Sie hätte mich an ihr Herz gezogen, dort hätte ich mich ausruhen können.

Meine Schwester ist neidisch, aber sie kann doch sichergehen, dass im wirklichen Leben die Dschinnija immer zu spät ist. Heute ist die Dschinnija Anastasia gekommen. Sie hustet durch unser verschleiertes Viertel und fragt nach mir. Auf die Treppenabsätze spuckt sie krankes Wasser. Sieht sie denn nicht den großen Blutfleck auf der Straße? Es ist der Teufel gewesen. Ich muss sie warnen, denn nun ist er hinter ihr her.

Wie nach einer lustvollen Rauferei richteten Anastasia und der junge Mann ihre Kleider. Anastasia zog sich eine frische Bluse über und begann ihre Frisur erneut herzurichten.

„Was ist nun, brauchst du Geld? Ich hätte einen Auftrag für dich.“

Frisch toupiert trat sie in den Wohnraum.

Aber das Herz lässt sich nicht toupieren.

„Was für einen Auftrag?“

Von Ferne erklärte er ihr, was sie für ihn tun sollte, aber sie hatte das Gefühl, dass es nur die halbe Wahrheit war.

Er war aufgestanden, auf ihren winzigen Balkon gegangen und zündete sich nun eine Zigarette an. Er hielt ihr das Päckchen hin.

Anastasia fühlte sich, als hätte sie eine eiskalte, zähe Flüssigkeit geschluckt.

„Was für eine Behandlung?“

Sie begann ebenfalls zu rauchen, blieb aber mit der Zigarette dort stehen, wo sie war. Walid ging gar nicht auf ihre Frage ein.

„Du hast doch sonst nichts mehr zu tun.“

Er soll gehen und zwar sofort, dachte Anastasia und griff sich nervös ins Haar. Außerdem fühlte sie einen Druck im Magen, irgendetwas wollte da den Hals hoch.

„Mir geht es ausgezeichnet, danke, und jetzt geh bitte“, sagte sie mit fester Stimme und ließ vor Aufregung Asche auf den Boden fallen.

„Wir könnten zusammen sehr viel Geld machen.“

Es half nichts, sie musste sich übergeben, und zwar genau da, wo sie stand. Und die bittere Fontäne landete auf seinen italienischen Schuhen.

„Pass doch auf!“, rief er und verschwand in ihrem Bad.

Anastasia spürte, dass er sie in dunkle Geschäfte hatte hineinziehen wollen. Der Sex zwischen ihnen hatte die süße Fessel werden sollen, das ersehnte Zuckerbrot, das Bestechungsgeld. Aber Walid hatte sich geirrt. Der Sex bedeutete Anastasia nichts.

Seit diesem Vorfall wagte sie nicht mehr, nach Kairo zu fliegen.

Sie wollte nicht einmal wissen, welcher Art Walids Geschäfte genau waren. Anastasia verfluchte den Moment der Schwäche, in dem sie sich erlaubt hatte, die Kontrolle über ihr Verhalten zu verlieren.

Noch etwas anderes drohte kurze Zeit später, Kontrolle über ihr Herz zu gewinnen. Es wurde krank.

Am Tag danach bemerkte sie ein Ziehen in den Beinen, das sich den ganzen Tag über verschlimmerte. Abends hatte sie geschwollene Fesseln, schwer und dick wie mit Wasser gefüllte Luftballons. Über Nacht wurde es besser, aber auch am nächsten Tag schwollen die Fesseln wieder langsam und stetig an. Anastasia unterließ es allerdings, den Arzt aufzusuchen. Sie war es nicht gewohnt; als Apothekertochter hatte sie immer genügend Medikamente im Haus gehabt. Außerdem hätte jeder Mediziner ihr geraten, das Rauchen aufzugeben. Sie beschloss, es mit einem harntreibenden Tee zu versuchen.

Und sich in das, was man Altwerden nannte, zu ergeben.

Anastasia besuchte ihre Familie nicht mehr. Sie gab vor, einen der Flüge verpasst und einen anderen vergessen zu haben. Ihre Schwester Nadja begann sich Sorgen zu machen und fragte sie aus.

„Wie alt bist du? Wo wohnst du? Wie viel wiegst du? Wo bist du geboren?“

Offenkundig dachte Nadja, sie sei an Alzheimer erkrankt. Anastasia bemühte sich nicht, sie aufzuklären, beantwortete lediglich geduldig ihre Fragen.

Ein andermal gingen Nadjas Fragen in eine deutlich andere Richtung.

„Willst du nicht doch irgendwann heiraten? Hast du einen Freund? Wohnt noch jemand bei dir?“

„Was soll die Fragerei?“, rief sie aufgebracht ins Telefon, aber in Wahrheit beschlich sie die irrationale Angst, Nadja könnte etwas von ihrer kurzen falschen Leidenschaft gehört haben. Er war viel jünger als sie und hatte keine Heiratsabsichten – was unter ägyptischen Gesichtspunkten inakzeptabel war.

Etwa zu dem Zeitpunkt, als der Dauerhusten begann, schickte ihre Schwester ihren Sohn Philemon, der ein herzensguter, weicher Junge war, öfter zu ihr. Er war denkbar ungeeignet für den Spitzeldienst und beichtete sofort, dass seine Mutter ihn gebeten hatte, sie auszuhorchen.

Was ihm furchtbar leid tue.

„Ich weiß nicht, was sie hat, Tante Anastasia, du bist doch ganz in Ordnung. Nur zum Arzt solltest du mal gehen. Und das Rauchen …“

Anastasia war ihrem Neffen sehr dankbar, dass er sie so häufig besuchte, sie sprachen ägyptisch, was herrlich war, auch für ihn. Die Muttersprache ließ ihr Herz aufgehen, selbst wenn sie längst auf Deutsch träumte.

Ihr Husten wurde immer schlimmer und dazu plagten sie immer größere Ängste. Sie wusste nicht, wovor, ahnte aber, dass sie mit Walid zu tun hatten. Nachts wachte sie schweißgebadet auf und hörte ihr Herz rasen. Wieder und wieder träumte sie von seinem kalten Blick.

Philemon drängte sie schließlich, einen befreundeten Arzt aufzusuchen.

„Es ist das Herz“, sagte der Mediziner bedauernd, verschrieb ihr starke Medikamente, empfahl eine Kur und regelmäßige Kontrolluntersuchungen. Von einem Kairobesuch riet er ihr ab.

Nun hatte sie der Schwester gegenüber eine noch bessere Ausrede.

Eine Kur kam überhaupt nicht in Frage.Die Vorstellung, sich in eins dieser Gesundheitszentren einsperren zu lasen und mit dem Rauchen aufhören zu müssen, lösten bei Anastasia neue Ängste aus.

Die Medikamente beschwichtigten das schlimmste Symptom, die Angst. Doch das reichte nicht.

Der Herzinfarkt erreichte sie auf der Treppe zu ihrer Wohnung. Mit letzter Kraft schaffte sie es, einen Notarztwagen zu rufen.

Sie sah Walid nur von weitem. Vor einem Ärztehaus am Neumarkt stand er und suchend schaute er umher. Anastasia schloss die Augen, um zu überprüfen, dass sie sich nicht täuschte. Doch beim Wiederöffnen musste sie feststellen, dass er wirklich dort stand.

Sie zündete sich eine Zigarette an. War er wegen seiner schmutzigen Geschäfte in Deutschland? Hatte er eine andere Verbündete gefunden? Eine Araberin? Wenn ja, kannte Anastasia sie mit Sicherheit.

Sie warf die Zigarette weg und eilte in die Bibliothek gegenüber, er durfte sie nicht sehen, und an der Art, wie die Bilder vor ihren Augen schwankten, nur ganz leicht, wusste sie, dass sie bald scheußliche Gewissheit haben würde. In ihrer Brust stolperte das Herz mit schweren Schritten aufwärts. Anastasia dachte für einen kurzen Moment an den Herzinfarkt und die damit verbundenen Strapazen. Sie setzte sich in eine versteckte Ecke im Zeitungsraum, tat so, als würde sie lesen, und schloss die Augen wieder.

Ihr Herz war wie in einem Käfig; sie bekam kaum Luft.

Dann begann sie zu sehen. Und das, was sie da voraussah, war grauenhaft.

Ein blutiges Verbrechen.

Anastasia unterdrückte einen Schrei und versuchte die Lider zu öffnen, doch es war nicht möglich.

Der Tatort war Kairo. Das Opfer ein Mädchen. Blut.

Irgendwann, es schien eine Ewigkeit zu sein, wurden ihre Lider leichter. Und es ging vorbei. Sie verfluchte ihre Hellsichtigkeit. Ihr war hundeübel geworden. Sie öffnete die Augen und schaute sich um.

Sie war nicht in Ägypten, und wie ein Pfeil schoss die Erkenntnis in ihr Hirn, dass Walid es auch nicht war. Dafür gab es nur zwei Erklärungen:

Er hatte das Verbrechen bereits begangen.

Oder er würde es noch begehen.

Das durfte nicht geschehen. Anastasia musste das verhindern.

Nein, nicht sie, jemand anders musste es für sie tun, denn Anastasia wusste, dass sie einen Kairobesuch eventuell nicht überleben würde.

Doch wie? Sollte sie ihre Schwester anrufen, ihr von der Vorhersehung berichten und von der ganzen Geschichte mit Walid? Das war unmöglich, Nadja würde nichts mit diesen Dingen zu tun haben wollen, auch wenn sie, Anastasia, ihr von all ihren Vorhersehungen erzählt hätte. Es war ein sehr schöner Abend gewesen, kurz nach dem Tod ihres Vaters. Aber Nadja hatte sie dennoch nur ungläubig angeschaut. Nadja kam nicht in Frage, überhaupt konnte es niemand aus Kairo sein.

Anastasia erhob sich schwerfällig vom Stuhl und lief zum Eingang der Bücherei. Mit letzter Kraft schleppte sie sich in ihre nahe gelegene Wohnung und legte sich aufs Sofa. Kleine Blitze schossen vor ihren Augen vorbei. Es war lächerlich. Sie hatte den Schneid und die Ehre, ein Menschenleben zu retten. Sie war keine Heldin, aber das Bild des blutenden Mädchens ließ sie nicht mehr los. Nachdem sie ihr Spray genommen und ihr Herz sich beruhigt hatte, überlegte sie mit mehr Besonnenheit.

Wer wollte in der nächsten Zeit nach Kairo fahren? Es musste jemand sein, der unauffällig genug war, um diese Aufgabe zu übernehmen. Und karitativ genug.

Erst am Abend fiel es ihr ein. Sie suchte die Telefonnummer einer Studentin heraus, die dringend Ägyptisch lernen wollte, bevor sie nach Kairo fuhr. Anastasia hatte überlegt, ob sie nicht doch mit dem Unterrichten anfangen sollte, jetzt, wo sie auch ihre letzten Aufträge beim Radio verloren hatte. Dann hatte sie die Idee wieder verworfen, aber den kleinen Zettel, den sie vom schwarzen Brett im Café Goldmund abgerissen hatte, behalten.

Es meldete sich eine Frau namens Sal, und sie verabredeten sich für den nächsten Tag. Doch das Gespräch verlief anders, als Anastasia es sich vorgestellt hatte. Statt ihr zu helfen, reagierte Sal geradezu hysterisch auf Anastasias Erscheinen und auf ihre Bitte, in Kairo nach dem Mädchen zu suchen, bevor ein Unglück geschähe.

Anastasia war irritiert. Sah sie so heruntergekommen aus? Machte sie der Studentin Angst?

„Sie sind eine Betrügerin, verschwinden Sie oder ich hole die Polizei!“, schrie Sal.

So schnell sie geglaubt hatte, eine Lösung gefunden zu haben, so schnell fand sie sich wieder auf der Straße. Allerdings schlauer als zuvor.

Niemand würde die Verantwortung, die auf ihren Schultern lastete, von dort hinunterstoßen, geschweige denn sich selbst aufbürden.

Sie, Anastasia, musste nach Kairo zu fliegen, ob sie wollte oder nicht.

Die Warnungen ihres Arztes, nicht zu fliegen, hallten ihr im Ohr, als sie zum Friseur ging und sich gegen ihren eigenen Geschmack die Haare blond färben ließ. Dann kaufte sie neue Kleider. Sie beschloss, von nun an eine Jeans zu tragen, in die sie einen braunen Rollkragenpulli stopfte. Auch der Schmuck sollte dezent sein, genau wie bei ihrer deutschen Nachbarin. Kleine hässliche Goldringe im Ohr und eine Kunstperlenkette über dem Pulli.

Nur die hauchdünnen Goldreifen am Arm konnte sie nicht lassen.

Üblicherweise wohnte sie bei ihrer Schwester in Mohandissin und konnte daher problemlos über die Brücke des 26. Juli nach Zamalek laufen. Dort mietete sie sich diesmal für eine Woche in ein Hotel ein. Weder ihrer Schwester noch sonst jemandem hatte sie von ihrem Besuch erzählt. Das, was sie zu tun hatte, musste geheim bleiben. Sie nahm ein Taxi und fuhr zu einem Teehaus, in dem hauptsächlich Touristen verkehrten.

Um Kulsum sang dort aus den Boxen von den Wassern des Nils, den die Kairoer ihr Meer nennen. Anastasia trank einen Milchkaffee und blätterte in der Tageszeitung. Gerade wollte sie sie weglegen, als ihr Blick auf die Überschrift eines kleinen Artikels fiel.

Mädchen auf offener Straße verblutet. Arzt gesucht.

Anastasia wusste sofort, dass es das Mädchen war. Und das Schlimmste: Sie es hätte verhindern können.

Das, was sie jetzt noch tun konnte, war jämmerlich. Sie musste für Gerechtigkeit sorgen. Sie musste die Wahrheit, die in ihrem Inneren hauste, ans Licht bringen. Musste Walids Nummer herausbekommen und ihn zur Rede stellen.

Davon würde das Mädchen allerdings nicht mehr lebendig werden.

Walid zog mit zwei Fingern seine Haare nach hinten, als Anastasia ihm den Zeitungsausschnitt unter die Nase hielt.

Was zum Teufel wollte sie hier?

„Das warst du!“, sagte sie.

„Was war ich?“

Zuerst hatte er sie überhaupt nicht erkannt. Die Haare hatte sie blond gefärbt, die Augen waren gespenstisch eingefallen und die Falten waren mit Make-up gefüllt wie mit Kitt. Wann hatte er sie zuletzt gesehen? Sie und ihre letzten Feuer? War ihm denn da gar nicht aufgefallen, wie alt sie aussah? Jetzt umgab sie ein Hauch von Asche. An ihren Armen klimperten dünne Goldreifen, die alles, was sie sagte, dramatisch unterstrichen.

Sie hustete und begann in ihrer Handtasche nach etwas zu suchen. Dann zog sie ein rotes Spray hervor. Nitrospray, registrierte Walid.

Es schien schlecht um sie zu stehen.

„Das Mädchen: Du hast sie verstümmelt und getötet.“

Sie saßen in ihrem Hotelzimmer um einen klapprigen Tisch herum und tranken Kaffee. Walid ließ bei dem Wort „verstümmelt“ die Tasse auf den Teller fallen. Seine Kinnlade fiel herunter.

„Bist du verrückt geworden? Ich weiß nicht, wovon du sprichst.“

„Du bist ein Mörder. Das Mädchen ist verblutet.“

Er sah, wie Anastasia die Arme auf den Sessel stützte, damit das Atmen leichter würde. Sie war schwer krank. Aber ihre Anschuldigungen waren lächerlich. Selbst wenn er derjenige gewesen wäre, woher hätte sie das wissen sollen?

Trotzdem spürte er etwas wie Schweiß auf der Haut. Nur klebriger. Er nahm den Zeitungsausschnitt unter die Lupe.

„Du musst verrückt sein, Walid. Wozu hast du studiert, die Schule besucht?“

Sein Stuhl begann zu schwanken.

Irgendwann hatte es ja so kommen müssen. Viele starben daran. Er hatte das bisher allerdings noch nicht erlebt. Verdammt, die Kuh hatte recht. Oder?

Der Ort stimmte nicht. Kein Mädchen aus Kairo! Das wäre viel zu gefährlich gewesen.

Die Polizei geht davon aus, dass die Beschneidung in Kairo stattgefunden hat. Auch wird vermutet, dass ein Arzt den Eingriff vorgenommen hat. Der Vater will von dem Eingriff nichts gewusst haben.

„Meine älteste Tochter hat sich um solche Dinge gekümmert. Sie hat die Kleine umgebracht!“ Doch die Schwester des Opfers ist spurlos verschwunden. Der Vater wurde vorläufig verhaftet.

„Walid, ich werde der Polizei von dir erzählen. Es sei denn, du übernimmst das selbst. Wie du weißt, ist das strafmildernd.“

Jetzt erst verstand er, was sie wirklich wollte. Seine Hände zitterten.

„Willst du Geld?“

„Du gibst es also zu?“

„Nein! Also willst du Geld?“

Wieder kramte sie in ihrer Handtasche nach dem Spray. Dabei fiel eine Tablettenschachtel heraus. Clopidogrel. Sie muss einen Herzinfarkt gehabt haben, dachte Walid.

„Ich möchte, dass du dich selbst anzeigst, du Schwein.“

Das Zittern verstärkte sich, doch dann wurde er ruhig. Wahnsinnig ruhig. Er schaute sich um. Was tat er hier?

Plötzlich hustete sie wieder, begleitet von pfeifendem Atem.

Er lachte.

„Ich soll ein Mädchen umgebracht haben? Du träumst, Anastasia.“

Sie hustete stärker und ihr Gesicht lief rot an. Das war das Symptom, vielleicht hatte er Glück.

„Ich will nicht, dass noch ein Mädchen sterben muss. Ich habe schon viel zu lange gewartet.“

Wieder hustete sie. Ihr Atem war röchelnd. Sie stand auf und schenkte sich Wasser ein.

Am nächsten Tag lief Anastasia über die Straße des 26. Juli, um sich etwas Obst zu besorgen und einen Tee in ihrem Lieblingsbuchladen zu trinken.

„Anastasia?“

Es war ein spitzer Schrei aus einem Auto heraus. Ihre Schwester hatte sie trotz ihrer Verkleidung erkannt.

Hysterisch zog Nadja sie in den Wagen und brachte sie zu sich nach Hause.

„Ich wusste, dass du krank bist, ich wusste es!“

Ihre Schwester bestand darauf, noch einmal nach Zamalek zu fahren, um sich um das Gepäck der Schwester zu kümmern und die Hotelrechnung zu zahlen.

Anastasia legte sich schlafen. Einige Stunden später wurde sie von einem Klingeln geweckt.

Walid spürte den Keim der Erleichterung, als er vom Tode Anastasias hörte. Gerade noch rechtzeitig. Heute war der dritte Tag. Sie musste wahnsinnig gewesen sein, ihm nachzustellen.

Damals hatte ihn das erregt, diese Irrationalität, dieses leise, hohe, irre Lachen. Er hatte sie haben wollen, ganz. Und dabei störte es ihn nicht, dass sie älter als er war. Ganz im Gegenteil. Verdammt, er hatte sich selbst nicht verstanden, damals.

Etwas störte ihn an seinen Gedanken. Ah, er war dabei, zu Mittag zu essen. Wie war das Lamm in seinen Mund gekommen?

Sich selbst hatte er vormachen wollen, dass er es nur aus beruflichen Gründen mit ihr getrieben hatte. Er war sich damals so sicher gewesen, dass sie mitmachen würde. Stattdessen war er bei ihr sofort unten durch gewesen.

Immer packte er es falsch an. Nur die Eingriffe klappten wie am Schnürchen. Sifri hatte ihm damals angeboten, in seiner Praxis mitzuarbeiten, auch ohne Abschluss.

Das Lamm schmeckte vorzüglich. Plötzlich schien er Schreie zu hören, doch welche? Es war scheußlich, wenn die Mädchen wach wurden. Er musste dann immer sehen, dass er Land gewann.

Anastasia war also tot.

Was für Walid von Vorteil war. Doch da war etwas, was ihn zutiefst beunruhigte. Konnte es sein, dass Anastasia noch am Leben gewesen wäre, wenn er nicht die Tabletten entwendet hätte? Hatte er nicht gehofft, dass sie der Schock darüber töten würde? Töten? Nein, gewiss nicht. Er hatte nicht wirklich dran geglaubt. Ihr Angst einjagen wollte er. Sie konnte sich das Zeug in jeder Apotheke bestellen. Was hatte sie sich dabei gedacht, ihn zu verdächtigen? Zugegeben, er hatte das Mädchen beschnitten. Aber dennoch war es eine Frechheit, was diese Frau sich herausgenommen hatte. Gedemütigt hatte sie ihn. Strafmildernd. Unverschämtheit!

Doch nun konnte sie ihn nicht mehr anzeigen. Sein Schwager hatte den Tod festgestellt. Außer ein paar blonden Haaren war ihm nichts aufgefallen.

Tot. Nicht ermordet. Und trotzdem quälten ihn seine Schuldgefühle.

Hala Habidi war gerade beim Besichtigen eines Büroraums in Ehrenfeld, als ihr Handy klingelte. Nummer unterdrückt. Vielleicht unverhoffte Kundschaft, dachte Hala, die gern fremde Betten observierte. Zumindest von außen. Der Ausblick des Raums war sehr gut. Die Elstern wilderten in der Weide auf dem Hof, die Äste sahen aus wie Verlängerungen ihrer Federn, eine grüne Königin. Ein idealer Tag eigentlich, um sich in ein Café zu setzten und vorbeilaufende Kölner in Hektik zu beobachten. Aber sie brauchte das Büro dringend. Seit einiger Zeit hatte Hala Habidi Fälle zugetragen bekommen: „Kannst du nicht mal meine Freundin …?“ „Ich glaube, er betrügt mich.“

Hala liebte das Schnüffeln. Schon von jeher. Nie würde sie vergessen, wie sie einmal als Kind in einem Pornoheft des Vaters dessen Schwager erkannt hatte, in einer ihr unerklärlichen Pose, nackt, mit schmerzverzerrtem Gesicht. Was hatte das zu bedeuten? Es hatte tagelang Hausarrest gegeben und unter Androhung schlimmster Strafen hatte man ihr das Versprechen abgerungen, nie ein Sterbenswörtchen darüber zu verlieren. Aber gelauscht hatte sie. „Ein Schwein“, sagte ihre Mutter, „der kommt nicht mehr in unser Haus.“ Hala wusste, wer gemeint war. Ihr netter Onkel Brahim, der schon häufiger von Mama beschimpft worden war. Mal war er ein Schwein, mal ein Hammel. Und auf keinen Fall ihr Bruder. Hala fand das gemein, denn sie mochte den Onkel. Nur, dass er seine kleine Tochter, Halas Cousine, an einen Freund in den Libanon verschenkt hat, störte sie dann doch. Das war auch eine ihrer Aufgaben. Verschwundenes Leben wieder auffinden.

Hala hatte eine untrügliche Nase für das, was sie nicht wissen sollte. Geheimnisse. Sofern sie eines witterte, kam eine Neugierde in Gang, die geradezu übernatürliche Formen annahm. So war das immer gewesen. Zum Leidwesen ihrer Eltern, Kollegen und schließlich auch Freundinnen.

Nichts konnte man vor ihr verbergen, kein Weihnachtsgeschenk, keinen Versicherungsbetrug, keinen unbedeutenden Seitensprung.

Deswegen war es für Hala auch besser gewesen, wieder allein zu sein.

Mit der Liebe hatte sie abgeschlossen, zumindest hatte sie sich das nach der letzten Katastrophe vorgenommen. Hier und da eine ungefährliche heiße Liebschaft, dagegen war nichts einzuwenden. Zumal sie sich dafür nicht besonders anstrengen musste. Die Liebschaften flatterten ihr zu wie die Amseln ihrem Balkon. Obwohl nicht das zu holen war, was sie suchten. Nicht dass Hala besonders hübsch gewesen wäre. Wenn sie genau überlegte, sah sie aus wie hunderte andere Frauen auch. Kurzhaarfrisur, ansehnliche dunkle Augen, sportliche Kleidung. Nur war sie vielleicht ein wenig größer, und alles, was an durchschnittlichen Frauen grau und gelb und rosa war, war an ihr milchkaffeebraun. Mehr nicht. Hala achtete peinlich darauf, sich nicht zu verlieben. Nach zwei, drei Treffen brach sie den Kontakt ab. Bisher war ihr das blendend gelungen, worauf sie stolz war.

„Hier ist Philemon aus dem Zentrum.“

Ah, einer von unserer Fakultät, würde ihre Kollegin sagen.

Unsereiner. Die Elstern kreischten sehr laut. Blasiertes Vogelvieh.

„Einen Moment, bitte“, sagte Hala zu dem Vermieter.

„Ich muss dich sprechen. Können wir uns in einem Café treffen?“

Ich wüsste eigentlich nicht, wieso, dachte Hala irritiert, doch irgendetwas ließ sie unsinnig nicken.

Das, was er Zentrum nannte, war das Rubicon, ein Treffpunkt und Beratungszentrum, in dem sie kürzlich den aus Ägypten stammenden Philemon kennengelernt hatte. Er hatte einen Vortrag über die Lage der Homosexuellen in Ägypten gehalten und sie danach angesprochen. Er war ein feiner Pinkel. Ein Ingenieur. Zu fein, meinte Hala.

Eigenartige Stimmung, die durchs Telefon kletterte. Hala sagte ja. Dieser Anruf hat ungeahnte Konsequenzen, dachte sie plötzlich. In einer halben Stunde im Goldmund. Vorher fiel der Blick wieder ins Büro. Es war passend, aber zu teuer. Hala hatte sich zwar entschlossen, ihr geregeltes Berufsleben aufzugeben und ihre bisher unterdrückte Neigung zum Schnüffeln voll auszuleben. Nur Geld war keins vorhanden. Also musste ein billigeres Büro her.

In diesem Augenblick fiel Regen auf die Äste ihrer Überlegungen und Fragen, ertränkte sie fast und gab dann auch noch vor, ihnen Gutes zu tun. Unfreundliche Wasser!

Im Café sprach Philemon leise, als hätte er Angst, dass ihn jemand hören könnte.

„Meine Tante Anastasia ist tot. Angeblich an Herzversagen gestorben.“

Hala bestellte Hähnchenkeule, obwohl sie wusste, dass sie sich bei deren Ankunft für den Genuss eines vom Teller ragenden gebräunten Tierbeins schämen würde. Auf dem Tisch lagen in metallischer Rüstung Pillen von Philemon.