IV Irrtum - Fünf Jahre zuvor

Die Postbotin hatte etwas in den Briefkasten geworfen. Ich hatte es genau gesehen!

Ich stieß mich vom Fenster ab, rannte aus dem Zimmer die Treppe hinunter, nahm gleich mehrere Stufen auf einmal, flog durch den Korridor, schnappte mir den Briefkastenschlüssel an der Wand, bevor Ina es tat, und sprintete nach draußen.

Faber Lotto – Sie gewinnen immer!

Es ist Urlaubszeit! Fünf Tage Schwarzwald, vier Tage bezahlen!

Irgendwas von der Bank.

Und da, da war er! Der Brief von Tove Jansson! Ich stopfte die Werbung wieder in den Kasten, lief ins Haus, hängte den Schlüssel zurück und rannte wieder hinaus. Ich musste zu Polly!

Noch ehe ich aus dem Gartentor war, steckte Ina den Kopf aus dem Fenster und rief: „Wo willst du denn jetzt schon wieder hin?“

Das geht dich gar nichts an, dachte ich und tat einfach so, als hätte ich sie nicht gehört.

„Mila!“

Ich blieb stehen. „Ich geh kurz noch mal weg“, sagte ich.

„Um zwölf gibt’s Essen!“

Als ob ich das nicht wüsste. Es hätte ein Meteorit auf dem Hof landen, die Fußballweltmeisterschaft auf unserem Sportplatz stattfinden, es hätte auch Frösche regnen können – Punkt zwölf würde trotzdem das Essen auf dem Tisch stehen. Das war so sicher wie die Erbsensuppe am Montag, der Hering am Freitag und der Braten am Sonntag.

„Schon klar“, rief ich und ging davon, bevor sie noch auf die Idee käme, dass ich ihr beim Abwaschen helfen könnte.

Noch drei Monate, dann würde ich endlich weg sein von hier. Für immer. Als ich die Zusage für das Lehramtsstudium bekommen hatte, hatte ich geglaubt, dass mir diese letzten Monate leichter fallen würden. Aber das Gegenteil war passiert. Jeder Tag schien sich plötzlich endlos zu ziehen.

„Sau dich nicht wieder so ein!“

„Ich bin achtzehn, Ina, keine drei!“

Wenn alles gut lief, wenn dieser Brief von Tove Jansson das enthielt, was ich erhoffte, war ich nicht erst in drei Monaten, sondern schon in fünf Tagen weg.

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Den Winter über hatte Polly bei mir übernachtet, aber seit die Tage wärmer geworden waren, blieb sie wieder draußen. Ihre Laube am Weiher war von Schnee- und anhaltenden Regenfällen zerstört worden, deshalb war sie tiefer in den Wald gezogen, hatte einen alten, nicht mehr genutzten Hochsitz ausgebessert und mit Ästen getarnt.

Man musste genau wissen, wo man suchen musste. Ich sprintete die Forstwege entlang, bis ich vor dem Versteck stand. „Polly!“, rief ich nach oben. Ich atmete heftig, hielt mir die Seiten. „Polly!“

Nichts. Die Bäume ließen ihre Kronen schwanken, ein leiser Luftzug brachte die Farne zum Tänzeln, die Sonne zitterte auf den Stämmen. Vögel kreischten. Doch dann raschelte es plötzlich über mir, Zweige wurden beiseite geschoben, und Pollys Kopf schaute heraus. Sie sah verschlafen aus.

„Was’n los?“, fragte sie und gähnte.

„Post!“, rief ich aufgeregt und winkte mit dem Brief.

Da kletterte sie die Leiter herunter. Unten reckte sie sich, rieb sich die Augen. „Ich könnt’n Kaffee vertragen“, sagte sie. „Ich hab die halbe Nacht wach gelegen und auf die Hirsche gewartet.“ Sie setzte sich neben mich auf den Waldboden. „Na los“, sagte sie, „zeig her.“

Ich riss den Umschlag auf, dann lasen wir, was Tove Jansson geschrieben hatte. Als ich den Brief wieder zusammenfaltete, sagte Polly: „Sieht so aus, als wäre das unser erster gemeinsamer Urlaub!“

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Wir hatten die Anzeige die Woche zuvor entdeckt. In der Zeitung. Eigentlich war ich auf der Suche nach einem Ferienjob gewesen. Nicht, weil ich Geld brauchte – ich hatte ein bisschen was von Ma geerbt, das würde fürs Studium reichen –, sondern weil ich möglichst weit von Carsten und Ina weg sein wollte. Seit ich das Abi in der Tasche hatte – seit einem Monat –, hatte ich frei. Aber frei, das hieß, dass ich von morgens bis abends mit Ina und Carsten zusammen sein musste. Es hieß, mit Ina in der Küche zu stehen und bis zu den Ellbogen in einer Schüssel Hackfleisch zu hängen, Fleischfladen zu braten und sie zu Burgern weiterzuverarbeiten. Mexican Burger mit Tacosauce, Oriental Burger mit Kreuzkümmel und Zimt und Burger der Woche. Es hieß, mit Carsten den Saal auszufegen und die Klos zu putzen. Es stand mir bis zum Hals. Lieber wollte ich irgendwo an einem Fließband Etiketten auf Gurkengläser kleben.

Ich hatte die Anzeigen überflogen: Callcenter, Callcenter, Pizzafahrer, Begleitservice, Prospektverteiler, wieder Callcenter …

Wenn man auf der Suche nach etwas Bestimmtem ist, geraten einem die Dinge am Wegrand oft aus dem Blick. Pollys Finger aber flog auf die Anzeige zu, die nicht dahingehörte. Weil es kein wirklicher „Job“ war. Es war eher so etwas wie … ein Geschenk.

Dringend zuverlässige Person für Haushütung und Gartenpflege in Schweden gesucht. Juli/August. Kost und Unterkunft frei.

Wenn ich gewusst hätte, was passieren würde, wenn ich auch nur die leiseste Ahnung gehabt hätte, dass wir dabei waren, in ein Unglück hineinzuschlittern, hätte ich Pollys Fingerzeig ignoriert und hätte die nächsten Wochen, ohne zu murren, die Klos vom Anker geschrubbt, stundenlang, mit Klorix und nackten Händen, bis mir die Finger geblutet hätten.

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„So weit kommt’s noch!“, sagte Ina beim Mittagessen. „Du allein in Schweden!“ Wir saßen draußen im Biergarten am Stammtisch, damit Ina im Blick hatte, ob ein Gast kam.

„Da ist doch nichts dabei“, sagte ich. Dass ich gar nicht allein fahren wollte, verriet ich natürlich nicht.

„Na ja“, sagte Carsten zu Ina, „irgendwie versteh ich sie. Es hat was, einfach so ins Blaue hinauszufahren. Weißt du nicht mehr, diese Motorradtour, wo wir uns kennengelernt haben? Drei Wochen Amerika! Wir haben nie gewusst, wo wir am Abend pennen.“

„Damals war das anders“, sagte Ina. „Außerdem waren wir zu acht.“

„Also, das Einzige, was ich seltsam finde, ist, dass der sein Haus für lau überlässt“, sagte Carsten. „Da stinkt doch was …“

„Es ist ja nicht umsonst“, sagte ich. „Ich passe schließlich auf das Haus auf, damit keiner einbricht und so. Ich gieße den Garten. Außerdem …“, und jetzt spielte ich meinen Trumpf aus, „… außerdem wollt ihr doch immer, dass ich selbstständig werde.“

Ina zögerte kurz. Dann sagte sie: „Mitten im Sommergeschäft geht das aber nicht. Da bleibt die ganze Arbeit an mir hängen. Jetzt ist Ferienzeit, du weißt, was das heißt!“

„Stell doch Jenny ein. Die sucht nach ’nem Ferienjob.“

„Ich weiß nicht …“

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Vorräte seien genug im Haus, hatte Tove Jansson geschrieben, und im Garten solle ich ernten, was da wüchse. Der Schlüssel sei in der Kiepe vor der Hintertür, unter dem Holz.

Das alles klang nach etwas Urwüchsigem, nach etwas, was nicht angemalt, mit Leuchtmitteln und kleinen Flaggen versehen war; es klang nach etwas, was ich vermisste, von dem ich aber nicht gemerkt hatte, wann genau es verloren gegangen war.

Der Brief war lang, aber er wirkte irgendwie gehetzt, wie in letzter Minute geschrieben. Er hatte auch eine Karte mitgeschickt, und auf einem Extrazettel fand ich die Wegbeschreibung, die Telefonnummer und die Adresse des Hauses. Der Name des Ortes, Nästeviken, war unterstrichen und in sauberer Druckschrift geschrieben, als wollte er hundertprozentig sichergehen, dass ich ihn auch fände.

In der Nacht vor unserer Abreise ging Polly nicht zurück in den Wald, sondern blieb bei mir. Unten dröhnte Diskomusik. Ich hörte, wie unzählige Leute aus den Nachbardörfern mit Motorrädern, Mopeds und Fahrrädern angefahren kamen, wie Autotüren zuflogen, wie sie sich lauthals begrüßten. Garantiert waren auch welche aus meiner Abiklasse dabei.

Ina stand jetzt am Einlass, kassierte Eintritt und kontrollierte die Taschen, während Carsten alle Hände voll damit zu tun hatte, literweise Bier auszuschenken. Ich hätte eigentlich auch dort unten sein müssen. Am Einlass zu stehen, war meine Aufgabe, während Ina sonst die Gläser einsammelte und abwusch. Aber das machte Jenny heute. Ich musste am nächsten Morgen sehr zeitig aufstehen.

Während also die drei da unten wirbelten, lagen Polly und ich in meinem Zimmer auf dem Boden, die Karte vor uns ausgebreitet, und studierten den Weg zum Dorf. Hin und wieder stand ich auf und stopfte noch etwas in meinen schon prall gepackten Rucksack.

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Der Wind war frisch wie Pfefferminze, der Himmel hell und vibrierend. Die Fähre hieß Stena Line und hatte sogar ein Casino an Bord. Jetzt schien sie das Meer aufzureißen. Jeder Meter, den wir durchpflügen, dachte ich, ist ein Meter näher an Schweden. Ich musste die ganze Zeit aufpassen, vor Freude nicht einfach loszukreischen. Es war nicht zu fassen! Noch einmal kniff ich mich in den Arm, um mich zu vergewissern, dass es wirklich stimmte: Ich saß nicht in der Küche bei Ina, musste mir nicht ihr stumpfsinniges Gequatsche anhören, während ich stundenlang Paprika, Tomaten, Zwiebeln und Gurken für die Burger klein schnitt. Ich war auch nicht mit Carsten im Hof, um ihm dabei zu helfen, das Garagentor zu streichen. Diese blöde Garage war seine neueste Idee gewesen. Sie bot Platz für zwei Autos oder vier Motorräder und war für die Urlauber gedacht, die in den beiden neu errichteten „Fremdenzimmern“ übernachteten. Eins davon war Mas ehemaliges Zimmer. Ina hatte es gelb gestrichen und Kiefernmöbel hineingestellt. Nein, es war noch nicht einmal ganz Mittag, aber ich stand schon mit Polly an Deck, wir beugten uns weit über die Reling, und ich ließ meine Hand mit dem ausgestreckten Mittelfinger in die Richtung fliegen, wo ich Schönewalde vermutete. Ich war sie los! Ich war sie endlich, endlich los!

In Malmö nahmen wir einen Bus. Ich hatte so etwas noch nie gemacht, ich war noch nie weiter weg gewesen, außer zu Klassenfahrten. Carsten und Ina hatten ständig versucht, mich zum Wegfahren zu animieren, Ina hatte davon geredet, dass ich ein Auslandsjahr in einer Highschool in Amerika machen sollte, dass es gut wäre für mein Selbstbewusstsein, mein Englisch und so weiter. Aber je mehr sie auf mich eingeredet hatten, umso unbeweglicher war ich geworden. Ich hatte mir vorgestellt, ein Stein zu sein, riesig wie ein Findling, der seit dem Ende der Eiszeit schwer und reglos im Weg lag. Irgendwann hatten sie sich daran gewöhnt.

Ich sah aus dem Busfenster, und auf der Straße, auf den neben uns rauschenden Autos und den Bäumen lag ein Schimmer – heckenrosenfarbenes, schwedisches Licht, das alles zu bedecken schien.

Drei Stunden später stiegen wir in Lennartsfors aus. Nästeviken hatte keine Haltestelle.

Polly holte die Karte aus dem Rucksack und führte mich durch den Wald. Sie verlief sich kein einziges Mal, obwohl der Weg sieben Kilometer lang war, ein schmaler Pfad, der sich durch Kiefern und wilden Farn wand, durch das stark duftende Herz des Waldes. Polly lief vor mir her, sie hätte den Weg garantiert auch im Dunkeln gefunden, Wälder waren ihr Zuhause. Der Rucksack lastete, der Riemen schnitt ins Fleisch, doch Polly war aufgeregt wie ein Schwarm Schmetterlinge und trieb mich an.

Der Hang, als wir aus dem Wald traten. Und das Dorf, so stotterig über diesen Hang verteilt.

Dorf war für Nästeviken im Grunde eine unpassende Bezeichnung. Es bestand aus kaum mehr als einer Handvoll Gehöften. Ein jedes hatte etwas Verwischtes an sich, etwas Hastiges. Ein jedes sah aus wie kurz in Farbe getunkt und eilig hin- und hergeschwenkt, damit es schneller trocknete. Die Dächer wirkten wie über die Mauern geworfen und die Schornsteine wie schnell hineingedrückt.

„Vielleicht war es früher mal eine geschlossene Siedlung gewesen“, sagte Polly, „und dann sind die Häuser vor einer Gefahr aufgeschreckt und in alle Richtungen davongespritzt!“ Ja, genau so sah das Dorf aus. Als ob die Häuser sich nach einer hastigen Flucht einzeln unter die Krüppelkiefern gehockt und beschlossen hätten, von nun an in dieser weit verstreuten Form zu verharren.

Und dann sahen wir unser Haus. Nein, das Haus von Tove Jansson. Es lag so, dass es aufs Wasser wies, genau wie er beschrieben hatte.

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Wenn man sich verliebt, dann kann das langsam passieren, ein behutsames Kennenlernen. Als würde man an zwei Enden einer Hundertmeterbahn stehen und sich Tag für Tag einen Schritt näher kommen.

Und es kann etwas Jähes sein. Ein heftiger Schlag vor die Brust, der einen zu Boden wirft.

Ich hatte mich verliebt. Etwas in mir ging für den Bruchteil einer Sekunde zu Boden, als ich das Haus zum ersten Mal sah.

Es stand ganz oben am Hang. Am weitesten von allen anderen Häusern entfernt. Es war schäbig, vom Wetter verbraucht. Im Gegensatz zu den anderen Häusern jedoch, die sich in die Kuhlen und Senken des Hangs pressten und allesamt etwas Geducktes ausstrahlten, war unseres mutig. Behauptete Polly. Schließlich hatte es sich als Einziges so ungeschützt mitten auf die Spitze gestellt.

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Die Zeit in Tove Janssons Haus war bis zu dem schrecklichen Irrtum unsere glücklichste.

Nästeviken war von Menschen bewohnt, deren gegenseitiger Respekt darin zu bestehen schien, einander nicht unnötig zur Kenntnis zu nehmen. Wir bekamen niemanden zu Gesicht, aber sie mussten da sein. An kühlen Tagen stiegen dünne Rauchfäden aus den Schornsteinen auf. Hin und wieder kreischte eine Kreissäge. Und nachts hörten wir Hunde heulen. Immer nur einen, niemals mehrere zusammen. Selbst die Hunde, sagte Polly, scheinen sich an die heimliche Abmachung zu halten, einander nicht zu antworten.

Die Zurückhaltung der Nachbarn war ein unerwartetes Glück. Polly musste kein Reißaus nehmen, sobald ein Geräusch sich näherte, so wie Zuhause, wenn Ina oder Carsten die Treppe hochkamen. Wir waren die ganze Zeit zusammen. Keiner sah uns schief an, es kümmerte sich einfach niemand um uns. Dieses wackelige Haus, der wuchernde Garten, der Hunger der Natur überall – es war, als würde ich etwas zurückbekommen.

Wir fühlten uns mit jedem Tag wohler. Genossen die frische, scharfe Morgenluft, wenn wir auf der Veranda frühstückten. Genossen auch die Mittage im Garten, unter dem wolkigen Dach aus Knöterich und wildem Wein. Die Abende am See, glitzernd wie Blattgold. Blitzende Lichtreflexe auf Pollys Armen, sie streckte sie aus, lachte, die Funken hüpften ihr ins Haar.

Bleib bei mir, dachte ich. Bleib bei mir, und nichts wird jemals schief gehen. Und im Hintergrund meines Kopfs, funkelnd wie der See, flirrte und schwang ein Gedanke: Alles Unheil ist ohne dich, es kommt nicht bis zu dir, weil es dich nicht kennt. Niemand kennt dich.

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Der Tag des Irrtums fiel in einen plötzlichen Wetterwechsel. Da waren wir schon über einen Monat dort. Es war der dritte August. Einige Tage zuvor hatte es zu regnen begonnen, und es hörte nicht auf.

An jenem Morgen erwachte ich fröstelnd und sah in den feinen Niesel hinaus. Ich drückte das Fenster zu. Polly schlief noch, die Decke bis unter die Nasenspitze gezogen, und ich stand leise auf und machte ein paar Kniebeugen, um warm zu werden.

Dann stellte ich mich mit der Kaffeetasse in die offene Haustür und sah aufs Wasser. Über die Veranda wehte feuchtes Laub vom Vorjahr. Alle Blüten waren zu, die Bäume tropften. Ich ging mit der Tasse in der Hand durch das nasse Gras hinunter zum Ufer. Die Luft war satt von Feuchtigkeit und legte sich wie ein Schleier aufs Gesicht.

Irgendwas war mit dem See. Er schien ein Stückchen gesunken zu sein, obwohl das nicht sein konnte. Er hatte am Rand große Steine entblößt. Wie Zähne, dachte ich. Außerdem benahm er sich wie das Meer. Er rauschte, und die Wellen zogen schnell und grau vorbei.

All dies erinnerte mich an eine Traumlandschaft, dachte ich. Und plötzlich war es da: dieses eigenartige Gefühl, die Situation schon einmal erlebt zu haben. Irgendwann, ganz früher. Oder nein, dachte ich: umgekehrt. Als würde ich alles erst später erleben. Mir war kühl, ich drehte mich um und ging zum Haus zurück. Vorher lief ich jedoch noch einmal zum Anbau hinüber, drückte die Tür auf.

Der Anbau war ein kleiner Verschlag, in dem Regale mit Einweckgläsern, der Rasenmäher und Gartengeräte standen. Und ein merkwürdiges Gerät, das aus zwei Metallbehältern bestand mit Ventile und Schläuchen daran. Einer stand auf eisernen Stelzen, der andere auf dem Boden, und beide waren durch ein Rohr miteinander verbunden. Eine Art Einweckmaschine, vermutete ich.

Ich griff nach einem gelben Stoffbündel, das Polly vor ein paar Tagen entdeckt hatte, klemmte es unter den Arm und verschloss dann die Tür wieder.

Der Tag erholte sich nicht von der Erkältung, dumpf und grau und klamm verlief er, und die leise, belanglose Musik aus dem Radio passte dazu. Sie passte zu Tove Janssons Haus, unserem Haus, denn sie machte alles deutlicher. Sie gab dem dürftigen Teppich und den müden Tapeten eine seltsame Tiefe und Farbigkeit. Sie hob die vom Rauch geschwärzten Ecken des Zimmers hervor und hellte das altersstumpfe, erstickte Blau des schweren Tongeschirrs auf, das im Küchenbord stand. Sogar das Knistern im Kamin schien körperhafter zu werden.

Wir blieben den ganzen Tag drin. Polly hatte sich das gelbe Stoffbündel vorgenommen. Sie wollte Vorhänge daraus nähen. Sie setzte sich neben mich, während ich uns Feuer im Kamin machte, das Bewegungen an die Wände warf, Schatten und helle Glutfinger. Feuer am dritten August, dachte ich.

Mit der Dämmerung war es nebelig geworden. Der Nebel kam aus dem See und stieg langsam bis zu uns hoch. Wir hängten die Vorhänge in der Küche auf. Gelb.

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Mitten in der Nacht rüttelte Polly mich wach.

„Da ist etwas!“

Ich saß sofort aufrecht im Bett und lauschte. Von draußen war nur das Geräusch von Regen zu hören. Es wispelte und tröpfelte.

„Da!“, sagte Polly, und da hörte ich es auch. Geräusche aus dem Anbau. Ein Klappern, dann fiel etwas um. Irgendwas wurde zur Seite gerollt, und auf einmal: Klirren. Als würden Flaschen gegeneinander stoßen.

„Das ist kein Tier“, flüsterte Polly.

Dann hörten wir die Schritte. Wir hörten, wie sie vom Anbau zu unserem Haus herüberkamen, hörten, wie sich jemand an der Tür zu schaffen machte.

Mein Herz schlug plötzlich überall. In den Fingerspitzen, den Lippen, auf der Kopfhaut. Ich musste an Carsten denken. An Ina. Ich musste an den Nachmittag in Halbreich denken, den ich vergessen wollte, diesen Nachmittag, als ich … als sie mich …

„Hast du abgeschlossen?“, flüsterte Polly.

Ich schüttelte entsetzt den Kopf. Natürlich hatte ich nicht abgeschlossen. Warum auch? Hier gab es nichts. Nur unser Haus. Aber dort, wo nie jemand unterwegs war, gab es auch niemanden, der einem helfen konnte.

„Oh, Scheiße“, sagte Polly und glitt aus dem Bett.

Als sie das Zimmer verließ, flüsterte ich panisch: „Geh nicht weg, geh nicht!“

„Ich geh nicht weg!“

Ich saß wie erstarrt. Konnte mich nicht rühren, konnte nicht einmal richtig atmen. Ich sah Carsten vor mir. Carsten in meinem Augenwinkel, der im Licht des Blitzes am Weiher stand, ich sah, wie er sich bewegte, während Ina mit mir redete.

Dann hörte ich das Geräusch. Ein Krachen und Poltern und dann Pollys Stimme: „Verpiss dich! Ich knall dich ab!“ Und da ließ die Betäubung meine Glieder endlich los. Ich sprang auf. Ich rannte die Treppen runter und schrie: „Polly? Bist du okay? Polly!“

Am Fuß der Treppe war sie. Sie beugte sich über einen Typen, der am Boden lag. Sie zog ihm etwas aus der Hosentasche, und dann stand sie einfach nur da. Starrte auf den regungslosen Körper. Schließlich hob sie den Kopf, sah mich an.

Überall waren Scherben, so viele Scherben. Und der Geruch von Alkohol. Irgendwas Hartes. Branntwein? Aus einer Wunde an seinem Kopf drang Blut. Nicht viel Blut, nur ein Rinnsal. Doch wo die Wunde war, stimmte etwas mit seiner Kopfform nicht, sie war irgendwie unnormal. Wie ein eingedrückter Joghurtbecher, dachte ich. In Pollys Hand sah ich den Henkel des Krugs, aus dem wir morgens immer Kaffee getrunken hatten. Es war ein schwerer, irdener Krug gewesen. Mir war schlecht.

„Ist er …“, flüsterte ich.

Polly antwortete nicht. Aus ihren aufgerissenen Augen rannen Tränen. Ich lief hinüber, ging in Hocke und legte die Finger auf sein Handgelenk. Die Haut war warm, aber ich fühlte nichts, keinen Puls. Ich kam wieder hoch und nahm Polly vorsichtig das Portemonnaie aus der Hand, das sie ihm aus der Hosentasche gezogen hatte. Ich holte den Ausweis heraus. Ich sah lange darauf, dann sagte ich: „Es ist … Tove Jansson.“

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Die folgenden Stunden sind neblig in meiner Erinnerung. Neblig wie dieser Tag. Ab und zu sehe ich etwas aus dem Dunst auftauchen: Polly, wie sie zum See geht. Wie sie mit der leisen Nachricht zurückkommt, da läge ein Kanu. Das Kanu, mit dem Tove Jansson hierher gekommen war. Mich, wie ich zum Ufer gehe und Steine einsammle, Steine wie Reißzähne. Uns, wie wir das Boot so weit wie möglich hinausziehen und dann mit den Steinen versenken. Ich sehe mich, wie ich in den Anbau gehe.

Der Rasenmäher war nicht mehr dort, wo er am Morgen noch gestanden hatte. Er war zur Seite weggeschoben, und dort war eine Luke. Sie stand offen wie ein Auge.

Ich leuchtete mit der Taschenlampe hinein, eine Wendeltreppe führte nach unten.

Spiral Cellars Ltd. hatte ich auf einer kleinen, silbernen Plakette entziffert, die auf der ersten Stufe dieser Wendeltreppe angebracht war. Es war ein Vorratsbunker. Tove Janssons Alkoholschrank. Er führte etwa zwei Meter in die Tiefe, und an den Wänden standen Regale, in denen hunderte Flaschen lagerten. Flaschen ohne Etiketten.

War Tove Jansson zurückgekommen, Nachschub zu holen? Hatte er noch etwas aus dem Haus gebraucht und war deshalb hineingeschlichen? Oder hatte er es tatsächlich auf uns abgesehen? Wieso hatte er nicht auf sich aufmerksam gemacht? Wieso war er auf dem Weg nach oben gewesen, wo wir schliefen? Und warum hatten wir die Polizei nicht gerufen?

Wir hatten Tove Jansson in Mülltüten gewickelt und ihn durch den Garten zu dem Anbau gezogen. Hatten ihn vorsichtig in das Loch des Bunkers hinabgelassen. Flaschen waren dabei aus den Wandregalen gefallen. Wir hatten den Läufer aus dem Korridor geholt und ihn über der Luke ausgerollt, hatten den Werkzeugschrank verrückt, bis er direkt über der Luke stand. Polly hatte das Notizbuch, das Tove Jansson bei sich gehabt hatte und in dem unsere Adresse gestanden hatte, im Kamin verbrannt. Und dann hatten wir das Haus geputzt. Hatten es gereinigt, vollkommen von unserer Anwesenheit gesäubert.

Wieso? Wieso hatten wir niemanden geholt? Es war ja ein Irrtum gewesen. Polly hatte sich nur gewehrt. Aber Tove Jansson war tot.

„Er hat mich nicht angegriffen“, sagte sie immer wieder in jener Nacht. „Er hat nur sein Haus betreten und ist durch den Korridor zur Treppe geschlichen. Er hat irgendetwas gesucht. Er hat mich nicht angegriffen. Und wenn er mich nicht angegriffen hat, dann war es auch keine Notwehr, Mila. Ich hab … ich hab ihn einfach umgebracht.“

Als die Sonne aufging, war Tove Jansson verschwunden. Das Haus war lupenrein, bis in den letzten Winkel. Als wir gingen, legten wir den Schlüssel in die Kiepe.

S

Jedes Jahr am dritten August wachten wir mit einem Gefühl von Kälte, Regen und Trauer auf. Ich glaube, wir beide haben über die Jahre versucht, das Licht vor und hinter diesem Ereignis zu löschen, und so sind nun Strecken davor und danach in Dunkel getaucht, doch der dritte August selbst, dieser Bereich in unserer Erinnerung, der den Anbau beherbergte, war hell ausgeleuchtet, ein Licht, das sich weder löschen noch dimmen ließ.

Am Anfang, als wir gerade ins Studentenwohnheim eingezogen waren, riefen wir jeden Tag Tove Janssons Nummer an. Wochenlang. Hörten auf das Freizeichen. Ein Telefon, das ins Leere klingelte. Irgendwann hatten wir aufgehört anzurufen.

Wir redeten nicht darüber, aber ich wusste, dass auch Polly sich fragte, ob jemand Tove Jansson vermisste. Ob sie ihn schon gefunden hatten. Ob sie ihn überhaupt suchten.

Als wir am zweiten Jahrestag dieses schrecklichen dritten Augusts wieder die Nummer wählten, was wir von da an jedes Jahr taten, kam kein Freizeichen mehr, sondern eine automatische Stimme, die mit freundlicher Bestimmtheit verkündete: „The number you have dialed is not available. Please try again!“