III Astronomie - Anderthalb Jahre zuvor
Sehr guten Morgen, Frau Lehrerin!
So stand es auf den Plakaten. Sie hingen im Potsdamer Hauptbahnhof. Keine Ahnung, wie lange schon. In den letzten Wochen war ich nirgendwo mehr hingefahren. Ich hatte im Wohnheimzimmer gehockt und für die Mündliche gebüffelt.
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Für nichts mehr hatte ich Augen gehabt, nur für meine Lehrbücher. Polly war auf Zehenspitzen durchs Zimmer geschlichen und hatte darauf verzichtet, Radio zu hören, um mich nicht zu stören. Während ich Musikgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts, Lineare Algebra und Didaktik paukte, hatte sie meinen Gürtel aus der Jacke gezogen, sich ans Fenster gesetzt und ihn stundenlang mit winzigen roten und schwarzen Knöpfen verziert. Jetzt war die Zeit der Stille endlich vorbei, die letzte mündliche Prüfung lag hinter mir.
Als ich aus dem Prüfungsraum kam, hatte Polly neben zwei anderen Prüflingen auf einem Stuhl gewartet, mit einem Schirm neben sich und einer einzelnen Sonnenblume in der Hand. Sowie sie mich sah, sprang sie auf und rief: „Überraschung!“ Sie griff in ihre Tasche und zog einen Piccolo und zwei Plastikgläser heraus. „Herzlichen Glückwunsch!“
Gleich als sie angefangen hatte, laut zu sprechen, hatten die anderen hochgeschaut.
„Komm, wir gehen“, sagte ich und zog Polly die Treppe zum Ausgang hinunter. Ich hörte noch, wie sie hinter uns anfingen zu reden, schnappte das Wort durchgeknallt auf oder meinten sie durchgefallen? Ich zog Polly noch schneller die Treppe hinunter.
„He, wir müssen anstoßen!“, protestierte sie.
Vor der Tür blieb ich endlich stehen und nahm Polly die Flasche aus der Hand. „Prost!“, sagte ich und goss ein. Wir nippten an dem Sekt und sahen durchs Eingangstor nach draußen. Niemand war unterwegs. Der Wind schleuderte Blätter hoch und klatschte sie gegen die Hausmauer.
Polly sagte: „Ich will noch nicht nach Hause. Ich kann die Bude gerade nicht mehr sehen. Alles riecht nach Prüfung.“ Sie schüttelte sich. „Wie wär’s mit …“ Sie überlegte.
„Shoppen in Berlin?“, fragte ich.
„Ja!“
Warum eigentlich nicht, hatte ich gedacht. Zum Spazierengehen war es viel zu ungemütlich. Und schließlich war heute ein besonderer Tag. Ich hatte den theoretischen Teil des Lehramtsstudiums geschafft! Und Polly kam sowieso viel zu selten raus. Es fühlten sich zu viele Leute von ihr gestört.
Die S-Bahn fuhr unter dem Sehr-Guten-Morgen-Frau-Lehrerin-Plakat ein. Wir fuhren nach Charlottenburg. Auf der Wilmersdorfer stürzte Polly in einen Handarbeitsladen, kaufte eine Rolle Silbergarn, ein Glas mit gemischten Pailletten und eine Klebepistole. Bei Woolworth erstand sie eine Tüte Muscheln.
„Cool“, sagte sie draußen. Ihre Augen glänzten. „Ich will mal was mit unseren Winterstiefeln ausprobieren. Findest du nicht auch, dass die ziemlich öde aussehen?“
„Sie sind genauso so, wie Winterstiefel sein sollten: warm.“
„Sie sind braun, Mila! Sie haben nicht mal eine Schnalle! Strunzlangweilig. – Ich hab mir gedacht, dass ein paar Muscheln und Pailletten am Umschlag ein bisschen Pep in die Sache bringen könnten.“
Der Wind riss am Schirm, Pollys Zöpfe flatterten und lösten sich auf, der Regen rann über ihre Stirn, doch sie lächelte. Die Menschen hetzten mit hochgeschlagenen Jackenkragen an uns vorbei. Wir stapften durch die Pfützen, spiegelten uns in den Schaufensterscheiben, und ich dachte: Wir haben’s geschafft. Ich bin Lehrerin!
Polly zerrte mich weiter, über die Wilmersdorfer zurück auf die Kantstraße, bis zu Humana. Sie sammelte diverse alte Armbanduhren zu fünfzig Cent das Stück in unseren Einkaufskorb und trug sie an die Kasse. Alte Herrenuhren, kitschige Damenuhren, Quarzuhren, deren Display tot war. Kinderuhren. Eine war wie ein Micky-Maus-Kopf geformt.
„Du weißt doch nicht mal, ob sie gehen“, sagte ich.
„Das ist völlig egal, ich brauche sie für … ich hab eben eine Idee. Lass dich überraschen!“ Sie sah auf meinen Gürtel. Mit den winzigen Knöpfen war mein Gürtel wirklich absolut individuell.
Draußen schnappte Polly sich mein Handy, hielt es sich wie ein Mikro vor den Mund und fing mitten in dem grauen, harten Regen zu singen an. I can see clearly now the rain is gone von Jimmy Cliff. Die Leute starrten uns an, nein, nicht mich, sondern Polly. Sie starrten, als hätte sie zwei Köpfe. Es war immer dasselbe. Aber wir wollten uns nicht die Laune davon verderben lassen. Nicht heute.
Als wir durchgefroren und durchnässt waren trotz des Schirms, suchten wir eine Kneipe.
„He, das ist ja behaglich!“, sagte Polly, als wir drin standen. Behaglich – so ein Wort verwendete nur Polly. Sie lachte, als wäre sie kurz vorm Ersticken, und ein ganzer Tisch drehte sich zu uns um. Es war definitiv nicht behaglich hier, es war eine dieser Eckkneipen, in denen man rauchen durfte. Fette Schwaden trieben behäbig durch die Luft.
„Wollen wir nicht lieber woanders hin?“, fragte ich.
„Quatsch, ist doch cool hier!“, sagte Polly. „Hat was von Abenteuer! Man fühlt sich wie mitten im Waldbrand.“
Noch mehr Tische musterten uns.
Ich wollte zu einem der hinteren, dunkleren Tische, gleich neben der Garderobe, aber Polly zog mich schon zu einem gut einsehbaren Fensterplatz. Eine Kellnerin näherte sich.
Sie sah aus, als könnte sie dringend eine Bluttransfusion gebrauchen. Sie hatte aschfahle Haut, hängende Unterlider und Flecken im Gesicht, und Polly flüsterte mir fasziniert zu: „Die sieht aus, als würde sie sich nachts in einen Vampir verwandeln.“
„Oder die Reste aus den Flaschen trinken“, flüsterte ich zurück.
„Was darf’s denn sein?“
„Zwei große Kakao mit Rum!“, sagte Polly. „Und zweimal Käsekuchen. – Oder willst du lieber Apfel?“
„Ich nehme auch Käse“, sagte ich zu der Kellnerin.
Als sie mich daraufhin mit einem Ausdruck anschaute, als wollten wir sie verarschen, fragte ich freundlich: „Sie haben doch Käsekuchen?“
„Natürlich!“, unterbrach Polly mich. „Hier steht’s doch: Hausgemachter Kä-se-ku-chen.“ Sie tippte dabei auf die Karte.
Sämtliche Tische hatten jetzt ihre Gespräche unterbrochen. Ich presste die Lippen aufeinander. Immer. Es war immer dasselbe. Egal, ob in der Disco oder im Supermarkt. Oder im Campus in Potsdam, wo wir wohnten. Dort konnte ich mit Polly nirgends mehr hin.
Solange sie nicht sprach, ging es. Aber kaum fing sie an zu reden, wurden die Leute nervös. Ich hatte gedacht, dass ich mich irgendwann daran gewöhnen würde. Es übersehen könnte. Aber ich konnte es nicht.
„Und Sahne für mich“, sagte Polly. „Bitte.“
Die Flecken am Hals der Kellnerin hatten sich verändert. Sie waren röter geworden, als würden sie glühen. Sie richtete ihren geäderten Blick auf mich. Sie sah Polly an, als wäre das hier tatsächlich ein heimlicher Rückzugsort für Vampire, und wir wären gerade mit lustigen Knoblauchgirlanden um den Hals hereinspaziert. „Ich denk mal, du gehst besser“, sagte sie. „Ich hab keene Lust auf so’n Scheiß!“
„Wieso?“, fragte Polly. „Was haben wir denn gemacht?“
„Bringen Sie doch einfach nur den Kakao“, sagte ich leise. „Danach sind wir auch schon weg.“
- - -
Sehr guten Morgen, Frau Lehrerin!
Als wir wieder in Potsdam ankamen, sprang mir erneut das Plakat ins Auge. Polly hatte die ganze Zeit nur schweigend aus dem Fenster gesehen. „Wer redet denn so, sehr guten Morgen?“, wollte ich sie aufmuntern, aber sie reagierte nicht. Schweigend lief sie neben mir her. Ihr hing die schrille Stimme der Kellnerin also auch noch im Nacken. Ich wollte sie abschütteln, doch diese Stimme saß fest.
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Ich blieb stehen. Ich sah das Plakat richtig an, ließ es in mein Gefühl ein. Und plötzlich hatte ich diesen Gedanken. Diesen Gedanken, dass es in einer anderen Stadt vielleicht anders wäre. Dass die Leute … na ja … netter zu Polly wären.
„Wir können alles außer Hochdeutsch“, las Polly das Kleingedruckte auf dem Plakat. „Die haben wenigstens Humor“, sagte sie mit ernster Leichenbittermiene.
Die Entscheidung war schon gefallen. Ich würde mich in Baden-Württemberg um eine Referendarstelle als Musik- und Mathematiklehrerin bewerben.
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„Was soll das eigentlich heißen: K1, 5?“, fragte ich und studierte die Adresse der Schule auf dem Briefkopf. „Ich meine, du hast gesagt, die Wohnung liegt in der Nähe der Schule. Aber hier steht Johannes-Kepler-Schule, K1, 5.“
Der Zug summte. Draußen zischte Hildesheim vorbei. In drei Stunden würden wir in Mannheim ankommen. Die letzten Wochen waren mit Organisieren, Packen und Wohnungssuche dahingeflogen.
Als wir eingestiegen waren, hatten Polly und ich ein Zugabteil ganz für uns. Doch in Braunschweig hatte ein Typ die Glastür aufgeschoben, kurz etwas gemurmelt und dann seinen Rucksack auf einen freien Platz geworfen.
Er trug einen grobmaschigen Strickpullover in einem abschreckenden Ocker und ein Hemd darunter. Als wäre das nicht schlimm genug, zog er einen eselsohrigen Thriller aus dem Rucksack, auf dessen Cover blutige Hände über eine Glasscheibe tasteten. Als er anfing zu lesen, machte Polly übertriebene Gesten, wies erst auf die Glastür, dann auf das Cover, dann tat sie so, als würde sie sich erwürgen und wies mit großen Augen auf ihn. Ich hatte in mich hineingegrinst und mir noch einmal die Korrespondenz mit der Schule in Mannheim herausgenommen.
„Was hast du gesagt?“, fragte Polly und sah hoch. Sie hatte einen Reiseführer von Mannheim auf dem Schoß.
„Die Schule“, sagte ich und tippte auf den Umschlag, „hat keine richtige Adresse.“
Polly griff danach, warf einen Blick darauf und sagte: „Hier steht’s doch: „K1, 5.“
„Davon rede ich ja. Sieht aus wie’n Aktenzeichen!“
„Nein, es heißt, dass die Schule im K-Quadrat liegt“, sagte Polly nur und las weiter.
Der junge Mann hatte in dem Moment, in dem Polly angefangen hatte zu sprechen, aufgehört zu lesen. Sein Kopf war hochgezuckt, als hätte ihn etwas gebissen. Er sah Polly entgeistert an. Nicht schon wieder, dachte ich, beschloss aber, einfach so zu tun, als würde ich es nicht merken. Außerdem war meine Frage noch nicht beantwortet.
„Wie, du hast mir das schon erklärt?“, fragte ich.
„Als ich die Wohnung gefunden hab“, sagte Polly, ohne aufzusehen. „Da hab ich dir doch erklärt, dass sie ganz in der Nähe der K-Quadrate ist. In den Quadraten gibt’s keine Straßennamen.“
„Quadrate?“
Polly senkte den Reiseführer. „Mannheim ohne Quadrate wäre wie die Mecklenburgische Seenplatte ohne Seen“, sagte sie und hielt den Reiseführer hoch. Mannheim. Leben im Quadrat. Der Slogan stand fett auf dem Cover. „Es ist ein Buchstaben-Zahlen-System. Es funktioniert wie beim Schach. Das müsste dir als Mathematikerin doch gefallen“, erklärte sie. „Wenn ich dir sage: Ich zieh meinen Springer auf C3 – dann weißt du doch sofort, wo er steht, oder?“
„Aber wie klingt denn Ich wohne in C3?“, sagte ich, „Als würde man im Knast wohnen!“
„Oder in O2“, sagte Polly und kicherte. „Zu jedem Handyvertrag gibt’s eine Wohnung gratis dazu …“
Sie wollte weitersprechen, da platzte der Typ dazwischen. Ich hatte ihn fast vergessen. „Hal-lo?“ Er hatte den Thriller zugeklappt. Ich sah auf den Titel Ich bin dein Henker! Was Klamottengeschmack anging, stimmte das auf jeden Fall.
„Aber sonst ist alles okay mit dir?“, schnauzte er Polly an.
„Ja, danke, und selbst?“, fragte Polly freundlich zurück. Da schnappte er sich seine Jacke und den Rucksack und stürmte aus dem Abteil. Als wäre es voller Hornissen. Die Tür blieb offen. Auf dem Gang drehte er sich noch einmal um, und als er merkte, dass ich ihn beobachtete, stürzte er weiter, als säßen die Hornissen ihm schon im Nacken.
„Was hab ich denn jetzt falsch gemacht?“, fragte Polly leise.
„Gar nichts.“
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Unsere Wohnung lag im Jungbusch. Der Vermieter, Tobias, war für ein Jahr in Australien. „Der Jungbusch ist ziemlich berüchtigt“, hatte Polly gesagt, als sie die Wohnung bei studenten-wg.de entdeckt hatte.
„Was soll das denn heißen, berüchtigt?“, hatte ich gefragt.
„Na ja, schäbig“, hatte Polly gesagt. „Und cool. So wie Kreuzberg in Berlin vielleicht. Berüchtigt eben.“
Jetzt, als ich den Koffer über die gerissenen Gehwege rollte, verstand ich, was Polly gemeint hatte. Die Gegend war unsaniert, die Fassaden bröckelten. Die Häuser trugen Graffiti: schmissige Kunstwerke, eine selbstsicher krakeelende Geheimschrift quer durch die Straßen und Gassen.
Ja, es war cool, im Jungbusch zu wohnen. Leerstehende Wohnungen gab es nicht. Was leerstand, wurde besetzt. Das Leben blühte, es gedieh in jeder Ritze, streute sich über- und unterirdisch aus. Was Parterre lag, wurde Kneipe oder Bar. Live-Musik war ein Markenzeichen des Viertels.
Unser Haus lag in der Hafenstraße. Es war ein Block aus Blech. Ich sah sofort, dass er sich im Sommer mit Hitze aufladen würde, bis man die Fensterbretter nicht mehr würde anfassen können. Im Winter würde man daran festfrieren. Das gefiel mir.
Den Schlüssel für die Wohnung sollte ich bei Sabine Rambart abholen. Es war die Wohnung im ersten Stock. Als ich dort klingelte, wartete Polly draußen vor der Haustür. Wir wollten kein Risiko eingehen.
Nach dem dritten Klingeln öffnete sich die Tür, und ein Beagle stürzte heraus, sprang um mich herum, als wäre ich eine Litfasssäule. Er beschnüffelte meine Beine, wedelte mit dem Schwanz, bekam sich vor Freude gar nicht mehr ein. „Mensch, Donna, jetzt lass doch mal!“ Ich sah auf. Ein etwa neunzehnjähriges, sehr blasses Mädchen bückte sich nach dem Beagle und reichte ihn an einen jungen Mann weiter, der ihr über die Schulter schaute. „Bring sie mal in die Wohnstube, da liegt ihre Decke“, sagte sie. Dann riss sie die Tür richtig auf, rief „Trara!“ und machte eine einladende Handbewegung in die Wohnung. Ich sagte nichts. Ich konnte nicht. Ich konnte sie nur anschauen. Sie war wunderschön.
Sie trug etwas Schwarzes, gründlich Zerrissenes mit lauter Riemen und Schnallen, und als sie lachte, bewegte sich der silberne Nagel in ihrer Oberlippe. Ihre langen, schwarzen Haare waren auf prachtvolle Art verlottert. Sie musste ewig gebraucht haben, bis sie so umwerfend verwahrlost aussah.
„Kommst du jetzt rein, oder wartest du hier auf den Bus?“, unterbrach sie meine Gedanken.
Erst jetzt nahm ich die Musik wahr, die aus der Wohnung kam, das Gläserklirren und Lachen.
„Ich … ich komme gar nicht zur Party“, sagte ich stockend. „Ich bin Mila … ich meine … Milana Helmholz.“
„Ach, du bist die, die bei Tobias einzieht!“, sagte sie fröhlich. „Hi, ich bin Bine.“ Sie hielt mir ihre Hand hin. Ihre Haut war weiß wie ein Waschbecken, das kann nicht natürlich sein, dachte ich, das musste geschminkt sein. Tiefschwarze Netzstulpen bedeckten das Handgelenk, jeder Finger war silberberingt. Ich drückte die Hand und erwartete, dass sie sich auflösen würde. Ihre Hand war warm und fest. „Kannst trotzdem reinkommen“, sagte das Mädchen, das Bine hieß und eher Desdemona hätte heißen müssen.
„Äh … vielleicht ein … anderes Mal“, sagte ich.
Bine grinste, drehte sich um und nahm einen Schlüsselbund von der Kommode. „Dritter Stock“, sagte sie. „Apartment 3/02. Der Astronomieraum. Die Tür rechts neben dem Felsen!“
„Was?“ Sie hätte auch in einer anderen Sprache reden können.
Da drehte jemand die Anlage so laut auf, dass die Wände zu vibrieren anfingen. Sie machte eine entschuldigende Geste, drehte sich um und rannte in den Lärm. Die Tür fiel ins Schloss.
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„Dritter Stock“, sagte ich. „Sie hat Astronomieraum gesagt. Keine Ahnung, was das sollte.“
„Ganz einfach“, sagte Polly im Eingang. „Das hier war mal ’ne Schule.“ Sie wies auf eine Schulklingel, eine große Schelle aus Metall, die eingerostet über der Haustür hing. „Und hier hat mal ein Aufseher oder so was gesessen.“ Ihr Blick ging auf ein Fensterchen, eine Art Pförtnerloge. Ich stellte mir vor, wie das Fenster mal geblitzt hatte. Jetzt war es mit Hanuta-Aufklebern von Fußballern übersät.
Eine Schule. War das ein gutes Zeichen? Automatisch dachte ich an die Schule in K1, 5. Was würde mich dort erwarten? Wie wäre wohl mein Mentor oder meine Mentorin? Ich hatte schon Horrorstorys gehört. Würden die Schüler mich mögen? Die Kollegen?
„Los jetzt“, sagte Polly. „Ich hatte nicht vor, hier zu übernachten!“ Sie griff nach dem Koffer und gemeinsam schleppten wir ihn die drei Stockwerke hoch.
Die ehemaligen Klassenzimmer waren zu Wohnungen umgebaut worden. Zu Apartments, wie die blasse Bine gesagt hatte.
Apartments. Der Name war das Modernste daran. Neben den Wohnungstüren hingen noch die Plastikschildchen von damals, einst weiß, jetzt grau und von haarfeinen Rissen durchzogen, die in schwarzen Buchstaben den Namen des Klassenraums bekannt gaben: Physikkabinett. Werkraum. Lehrerzimmer.
Im dritten Stock gab es zwei Türen nebeneinander. Vor der, die zum Deutschraum führte, lag ein monströser Felsbrocken.
„Pappmachee“, sagte Polly und hob einen an. „Na ja, warum nicht? Briefmarkensammeln ist ja auch inzwischen die totale Mottenkiste. Stell dir dagegen mal vor, jemand sagt dir: Du-hu, ich hab da eine tolle Sammlung Felsbrocken zu Hause …“
„Da schmelz ich dann natürlich sofort dahin“, sagte ich und fummelte mit dem Schlüssel an unserer Tür herum. Polly entzifferte das Namensschildchen unter der Klingel nebenan. „B. Flössow“, flüsterte sie. „B? Wofür das wohl steht – B wie Bund der Brockenbesitzer? Bündnis der Bärenbändiger oder Bereich der Bühnenbildner?“
Dann war unsere Tür offen.
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Polly wendete sich sofort von der Nachbarstür ab und stürzte an mir vorbei in die Wohnung. Als Erstes lief sie zum Fenster. Der Blick ging auf den Rhein, auf zwei Kräne, die wie mit Mäulern in den Himmel griffen, und eine Berglandschaft aus Containern. Moosgrüne Evergreens, Hapag Lloyds in staubigem Orange und blau-weiße Samskips.
„Klasse!“, rief sie. „Einfach Klasse!“
Ich rollte den Koffer in eine Ecke und sah mich um. Ein kleiner geweißter Würfel mit Kochnische. Ein rotes Plüschsofa, ein Kokosteppich, marokkanische Lampen.
„Gemütlich“, sagte ich. Nach dem Studentenwohnheim in Potsdam würde dies unser erstes eigenes Zuhause werden.
Das Wohnheim. Zimmer 12. Das letzte im Gang. Ganz am Anfang, als wir gerade eingezogen waren, hatten die Studenten in unserem Gang noch gelacht, wenn ich mit Polly in die Küche ging, um dort, so wie alle anderen auch, Nudelsuppe zu kochen oder Spiegeleier zu braten. Sie hatten gelacht, als hätte ich einen originellen Witz gemacht.
Aber nach und nach verstummten sie. Dann wichen sie uns aus. Irgendwann hatte Polly aufgehört, das Zimmer zu verlassen. Sie kam nur noch in dringenden Fällen heraus.
Eines Nachts hatte jemand mit rotem Permanentmarker FREAKSHOW auf unsere Tür gekrakelt. Das Zeug ließ sich einfach nicht abschrubben. Aber sie hatten Polly zumindest nie an den Hausmeister verpfiffen. Obwohl sie ohne Erlaubnis bei mir wohnte. Trotzdem hatte ich immer Angst, es könnte herauskommen. Und Polly auch.
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„Hallihallo, ich bin Ihr Mentor!“
Ein Mann in Jeans und mit sorgfältig verwuscheltem Haar kam im Lehrerzimmer auf mich zu. „Jens Klare.“ Eine Mentholwolke begleitete ihn. Offenbar benutzte er Mundspray. „Wir zwei werden also in den nächsten Monaten miteinander arbeiten“, wirbelte mir ein neuer minzehaltiger Satz entgegen. Die Zähne, die sein Lächeln enthüllte, wirkten so weiß und makellos, dass ich nur mit Mühe den Blick losreißen konnte. Zähne wie aus der Kukident-Werbung. „Unsere Schüler beißen nicht, Frau Helmholz. – Darf ich vielleicht Milana sagen?“ Er hielt mir die Hand hin. „Also, ich bin Jens.“ Wieder dieses puderzuckerweiße Lächeln.
Ich nickte überrumpelt und ließ es zu, dass er meine Hand nahm und schüttelte.
„Na prima, dann mal los“, sagte er, und ich konnte gerade noch verhindern, dass er mir die Tasche abnahm. „Ab ins Krisengebiet 9b.“
Er ging mit mir den Korridor entlang, und sobald ein Schüler uns entgegenkam und ihn grüßte, rief er zurück: „Moinsenius, Kevin!“ oder „Aloha, Lena!“ oder „Tachchen, Tachchen, ihr drei!“
Das war ja nicht zum Aushalten. Dieser Jens war mindestens Ende vierzig, trug ein T-Shirt, auf dem Kermit als Surfer abgebildet war, und – was viel schrecklicher war – er schien wahnsinnig stolz auf seinen auf jugendlich getrimmten Tonfall zu sein. Es war dieser Tonfall, den ich selbst früher immer gehasst hatte. Fehlte nur noch, dass er Schalömchen sagte. Ob andere Mentoren auch so waren?
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Wir traten in den Klassenraum. Fünfundzwanzig Neuntklässler schrien durcheinander, kabbelten sich, hörten Musik übers Handy. Mein Herz schlug einen Tick schneller.
„Hi Folks!“, rief Jens Klare. „Jetzt fahrt mal die Lautstärke runter! Piano, piano!“
Ich sah meinen Mentor betreten von der Seite an. Jetzt setzte er sich halb auf den Lehrertisch, und während alle sich auf ihre Plätze verzogen, sagte er jovial: „Leute, ich will euch jemanden vorstellen.“
Alle schauten mich an. Ein paar Jungs grinsten. Ich fühlte mich wie ein Jux auf Beinen. Die meisten verzogen keine Miene. Nur zwei Mädchen lächelten mich schüchtern an. Eine trug ein Kopftuch, hatte aber wie zum Trotz ihre Brauen in einem feurigen Zickzackmuster rasiert. Die andere hatte mausblondes Haar, und sie trug es wie ich zehn Jahre zuvor: glatt herunterhängend. Diese unentschlossene Länge, weil Ina mir nicht erlaubt hatte, es richtig abschneiden zu lassen, genau bis zur Schulter, weder lang noch kurz. Ich lächelte zurück.
„Also“, sagte Jens Klare. „Das hier ist Frau Helmholz, die neue Referendarin!“ Er warf sein glattweißes Lächeln in meine Richtung.
Ich trat automatisch einen Schritt nach vorn, als hätte er mich angestupst.
„Guten Morgen“, sagte ich.
„Is schon längst Mittag!“, brüllte ein schwarzhaariger Junge aus der dritten Reihe zurück. Die Klasse reagierte mit Gelächter.
„Nicht so, Kenan“, rief Klare vom Tisch. „Klar?“
„Klar, Herr Klare“, rief der Junge, der Kenan hieß, und wurde wieder mit ein paar Kicherern belohnt. „Ich wollt’s nur gesagt haben.“
Ich musste darauf reagieren, damit sie mich ernst nahmen, aber ich konnte nicht. Ich fühlte mich plötzlich wie eine Schauspielerin, die auf der Bühne feststellt, dass das Stück, das gerade gespielt wird, nicht das ist, was sie gelernt hat. Dabei hatte ich mich doch vorbereitet!
„Also, ich werde euch dieses Halbjahr in Musik unterrichten“, sagte ich. Ich bemühte mich um einen Tonfall, der sich nicht anbiederte. Nicht zu jovial, sagte ich mir. Aber auch nicht zu ernst. Doch im Vergleich zu Jens Klare, der auf dem Tisch sitzend mit dem Fuß wippte, als würde er einen Song hören, fühlte ich mich automatisch steif und altjüngferlich. „Bevor ich aber selbst unterrichte, werde ich den Unterricht ein paar Wochen lang von der letzten Reihe aus beobachten.“
„Wie … und dafür gibt’s Geld?“, rief Kenans Banknachbar. „Fürs Rumhocken? Da werd ich auch Lehrer!“
Kenan fing brüllend an zu lachen und versetzte seinem Nachbarn einen anerkennenden Boxhieb gegen die Schulter. Jens Klare reagierte nicht darauf. Ich merkte, dass ich langsam ärgerlich wurde, beschloss aber, dass Streit die falsche Art war, eine Freundschaft mit der Klasse zu beginnen, und ging steif durch den Raum zu meinem Platz. Mein Stuhl stand ganz hinten, fast in der Ecke. Als ich mich setzte, kam ich mir einen Moment lang so vor, als müsste ich eine Strafe abbüßen.
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Schon nach vier Wochen hatten Polly und ich unsere Rituale. Eins davon war: samstags ins Orion zu gehen.
Nicht nur Polly freute sich darauf, lackierte sich die Nägel und föhnte sich und mir trällernd die Haare – auch ich selbst war froh, mal etwas anderes zu sehen als das Klassenzimmer.
Wir zogen hohe, schwarze Schuhe an, deren Spitzen Polly mit Textillack flammendrot eingefärbt hatte, malten uns Silber auf die Lider, flatterten durch die Wohnung wie aufgeregte Papageien.
Als wir die Wohnungstür öffneten, fielen uns zwei neue Felsbrocken ins Auge.
„Vielleicht soll hier Prometheus gedreht werden?“, überlegte Polly. „Auf dem Ding soll er angekettet werden, und der Adler frisst seine Leber!“ Sie warf sich auf den größten Brocken und schlug dann um sich, als würde sie von einem Schwarm Adler angegriffen.
„Wenn schon, dann der Bussard. Wegen dem B.“ Ich schloss die Tür ab. „Lass den Scheiß!“, sagte ich, als Polly mit ihrem Gezappel die gelben Gummistiefel umwarf, die immer auf der Schwelle standen. Gelb, mit einem orangen Rand. Wozu brauchte man Gummistiefel in der Stadt? Ich stellte sie wieder ordentlich hin. Dabei fiel mein Blick erneut auf das Namensschild.
B. Flössow. Polly war von den künstlichen Brocken fasziniert, mir gefiel das B. Manchmal frage ich mich, ob alles passierte wäre, wenn anstelle des Bs einfach nur Beata dagestanden hätte oder Bernd. Das B war geheimnisvoll. Es ließ sich mit allem füllen.
Wir bekamen B nicht zu Gesicht. Aus irgendeinem Grund liefen wir uns nie über den Weg. Anfangs hatte mich das gewundert. Dann nicht mehr. So wie zwei Uhren in weit voneinander entfernten Ländern zwar in verschiedenen Stunden, aber dennoch im selben Takt ticken, so tickte auch unser Leben auf zwei parallelen Bahnen. Wir lebten unsichtbar nebeneinander her, und es machte mir Spaß, auf die Geräusche in der Wohnung nebenan zu lauschen.
Was uns auffiel: B bekam oft Besuch. Mädchen im Alter meiner Schülerinnen, manchmal ein Junge, wie ich mit einem Blick durch den Spion feststellte. Zweimal die Woche kam einer die Treppe hoch, klopfte an Bs Tür, und sobald der Summer ertönte, griff er oder sie nach den Gummistiefeln und verschwand in der Wohnung. Kurz darauf ging in der Wohnung das Radio an. Faszinierend.
Wenn der Besuch gegangen war, standen die Stiefel wieder auf der Schwelle. War B eine Frau oder ein Mann? Wie alt war er oder sie? Was waren das für Schüler? Wieso trugen sie die Stiefel hinein und wieder hinaus? B war ein Rätsel für mich.
Während Polly sich also täglich fragte, wozu die Felsbrocken wohl da seien, bereitete es mir Vergnügen, mir nebenan ein Gesicht vorzustellen, das sich an dem einen Tag vor dem Spiegel rasierte und am anderen die Nägel lackierte.
Wir stöckelten an den Brocken vorbei, die drei Stockwerke hinunter, durch die Eingangstür auf die Straße. Das Orion lag nur fünf Minuten entfernt, und wir hatten uns von Anfang an auf eine Regel geeinigt. Wir wollten keine schiefen Blicke mehr riskieren, kein Getuschel oder gar Hausverbot. Polly sollte nicht reden. Was auch geschah: Polly würde den Mund halten und mich reden lassen.
Wir stießen die Tür auf und betraten die Bar. Es war eine Saloontür, die zischend auf- und zuschwang. Wir hatten schon unseren Stammplatz. Es war ein Zweiertisch in unmittelbarer Nähe zum Klavier.
Jeden Samstag saß dieselbe Frau am Klavier. Von den Rufen der Barbesucher wussten wir inzwischen, dass sie Gudrun hieß. Sie trug gewagte Kleider, die viel Bein zeigten und ihre Hüften und Oberweite betonten. Sie sah verlebt aus, ihre Schönheit war aufgebraucht, zerschlissen, aber ihr Mund war stets in einem heftigen Rot geschminkt, und die Augen hatte sie mit Kajal so umrandet, dass es aussah, als würde sie einen aus schwarzen Fensterrahmen anschauen. Immer nach drei Songs stand sie auf, ging an die Bar und zündete sich eine dünne, dunkle Zigarette an, die sie stehend rauchte. Jetzt stand sie noch gegen das Klavier gelehnt und nippte an einem Drink in einem schlanken Glas. Sie war fantastisch. Sie hatte den selbstbewussten, abgerissenen Charme der ganzen Gegend.
Der Typ hinter der Bar gefiel mir nicht. Er hieß Paul und war offenbar der Chef hier, und selbst wenn er alle Hände voll zu tun hatte, Bier auszuschenken, ließ er Gudrun nicht aus den Augen. In seinem Kopf schien eine Uhr zu ticken, denn obwohl es gerade mal fünf vor acht war, ließ er ihr nicht mal die Zeit für den Drink. Er kam ans Klavier, nahm ihr das Glas aus der Hand und machte eine unmissverständliche Geste hin zum Klavierhocker.
Ich sah, wie Gudrun zu einer Antwort ansetzte, es dann aber doch sein ließ. Sie schaute ins Publikum, ihr Blick blieb an uns hängen, sie lächelte und setzte sich. Dann klappte sie den Deckel hoch und fing an. Über dem Klavier hing eine Diskokugel. Sie drehte sich langsam und warf winzige, farbige Lichtstücke über die Tische und Gläser.
Nach einer Weile schob Polly mir einen Zettel hin. Ich musste schon grinsen, bevor ich wusste, was da stand. Polly kommentierte wieder einmal Gudruns Kleiderfarbe. Denn obwohl ihre Kleider raffiniert geschnitten waren und wie eine zweite Haut saßen, war die Farbe immer scheußlich. Auch heute. In diesem pampigen Dunkelbraun hätte jedenfalls niemand gut ausgesehen, nicht einmal Keira Knightley, die wahrscheinlich auch einen Scheuerlappen tragen konnte, ohne ihre Elfenhaftigkeit zu verlieren.
Ich warf unauffällig einen Blick auf den Zettel. Und hier ein weiteres Stück aus der Erfolgsserie „Blinde Designer“ – Modell: Soße. – Jetzt mal im Ernst, diese Farbe steht doch höchstens einem Schweinebraten. Gudrun sollte Rot tragen!
Gudrun spielte und begann dann zu singen. Cry Me a River von Ella Fitzgerald, sie fing immer mit diesem Lied an. Fing an, den Raum mit ihrer verrauchten, traurigen Stimme zu füllen, nein, nicht nur den Raum, sondern diesen ganzen, großen Abend, der durch die Fenster hereinströmte, uns, einfach alles. Now you say you’re lonely … Hin und wieder sah sie auf, sah zu unserem Tisch, als würden wir uns kennen, als wären wir Freunde. Now you say you love me … and just to prove you do … come on and cry me a river … I cried a river over you … Wir saßen jeden Samstag bis nach Mitternacht dort, nippten an unseren Drinks, lauschten und funkelten, während um uns herum die Bar vibrierte.
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„Also, ihr kennt mich ja jetzt schon von den letzten Stunden“, begann ich.
Ich versuchte, selbstsicher und locker zu wirken. Nicht zu locker, nicht zu selbstsicher, rief ich mir die Ratschläge für die erste Unterrichtsstunde ins Gedächtnis.
Vor mir saßen dieselben fünfundzwanzig Fünfzehnjährigen, bei denen ich seit Wochen hospitierte. Sie beobachteten mich ganz genau. Jens Klare lehnte locker am Lehrertisch und verströmte den Duft intensiver Zahnpflege und eines Aftershaves, das man auch als Raumspray verwenden könnte. Er sah so aus wie immer: als würde er gleich fotografiert werden. Er war der Einzige in diesem Raum, der lächelte. Es beruhigte mich ganz und gar nicht.
„Ab heute werde ich euch unterrichten.“
Kenan verdrehte die Augen, stöhnte laut und legte den Kopf demonstrativ auf den Tisch. „Bald haben wir nur noch Weiber an der Schule!“
„Na na, Kenan“, sagte Klare, dann stieß er sich vom Tisch ab und lief durch das Klassenzimmer nach hinten. „Macht mir keine Schande!“ Sein Schritt war federnd, als wollte er gleich lossprinten. Automatisch warf ich einen Blick auf seine Schuhe. Sneakers von Nike. Natürlich. „Ich zähl auf euch, Leute!“ Dann setzte er sich auf den Platz ganz hinten, auf dem ich bisher gesessen hatte.
Ich atmete durch, und im Geist dankte ich Polly dafür, dass sie mich heute Morgen davor bewahrt hatte, das auffällige Hippiekleid anzuziehen. An dem würde ich jetzt herumzupfen, was alles nur verschlimmert hätte.
‚Du musst was tragen, in dem du dich wohl fühlst‘, hatte sie gesagt, mir das Kleid aus der Hand genommen und stattdessen Jeans und einen schlichten roten Pullover rausgesucht. ‚Wenn dir das zu lahm ist, dann zieh das dazu an.‘ Sie zauberte etwas Funkelndes aus ihrer Schublade und warf es mir zu. ‚Ich nenne diese Kreation Am Puls der Zeit.‘ Ich fing es auf.
‚Mensch, das ist ja … ein Traum!‘, rief ich, als ich sah, was ich in der Hand hielt.
‚Echt? Mist! Es sollte eigentlich ein Gürtel werden!‘
Aber was für einer! Sie hatte auf meinen alten Ledergürtel all die Uhren genäht, die sie bei Humana gekauft hatte.
Als ich jetzt vor dieser Klasse stand, die mich so herzlich in Empfang nahm wie ein Gefrierschrank, war ich froh, den Gürtel um mich zu spüren. Er erinnerte mich daran, dass es jemanden gab, der mich mochte und an mich glaubte.
„Wir fangen mit …“
„Wie alt sind Sie denn eigentlich?“, unterbrach mich ein langer, pickliger Junge, der so bleich aussah, als würde er im Keller wohnen und nie Gemüse essen.
„Älter als du. Jünger als der Papst.“
Keine Reaktion. War das überhaupt p.c. gewesen? Vielleicht hätte ich Allah sagen müssen, schließlich trug die Hälfte der Mädchen ein Kopftuch.
„Ich …“ Ich räusperte mich. „Wir fangen mal mit der Vorstellung an. Wer ich bin, wisst ihr ja. Aber mich würde interessieren …“ Ich kam langsam in Schwung. „… was ihr gern mal im Musikunterricht machen würdet. Wer fängt an?“
Keiner sagte etwas. Die Schüler sahen so aus, als wollten sie vor Langweile am liebsten zu Staub zerfallen. Innerlich gab ich mir eine Ohrfeige. Ich hätte den ersten Schüler in der ersten Reihe aufrufen sollen und dann alle anderen, nacheinander weg. Das Schweigen zog sich. Kein guter Start. Ich wollt gerade irgendeinen aufrufen, da meldete sich das Mädchen mit dem mausblonden Haar. Ich hätte sie dafür umarmen können.
„Yvette“, sagte sie. „Ich heiße Yvette Steinmann.“ Ihre Stimme war ganz leise. Wie ein Windchen. „Und … na ja … ich würde es gut finden, wenn wir in Musik mal was … Modernes singen würden. Nicht immer so –“
Kenan unterbrach lautstark: „Was soll’n für dich modern sein – die Kelly-Family?“ Alles lachte. „Du hast doch von Musik keine Ahnung!“
Yvette zog sofort den Kopf ein und sah auf die Tischplatte.
„Gut“, sagte ich, ging vom Lehrertisch zum Klavier, setzte mich auf den Hocker und sagte: „Dann kommen wir jetzt zu dir, Kenan. Spielst du vielleicht noch irgendein anderes Instrument außer Axt?“
Kenan wehrte sich und rief das Gleiche wie immer: „Ich werd ja wohl noch was sagen dürfen.“
„Sicher“, sagte ich. „Wenn die andere fertig ist mit Sprechen.“ Ich klappte den Klavierdeckel hoch.
Kenan stöhnte: „Oh nee, jetzt kommt Volksmusik …“
Ich achtete gar nicht darauf, sondern wendete mich wieder an Yvette. „Meintest du vielleicht so was?“
Ich ließ die Finger über die Tasten gleiten, ohne eine nach unten zu drücken, nahm die Hände jäh von den Tasten und klopfte stattdessen mit den Knöcheln gegen den aufgeklappten Deckel. Ich klopfte einen schnellen, harten Rhythmus und sang: „Nana nana nana naaa, nana nana na naaaa.“
Seit Tagen hörte Polly dieses Ding auf dem Laptop rauf und runter.
Ein bis zwei sahen irritiert hoch, erkannten offenbar etwas wieder, konnten es aber nicht gleich einordnen. Doch als ich begann: „I got a brand new attitude … and I’m gonna wear it tonight … I’m gonna get in trouble … I wanna start a fight!“, fingen Yvette und die anderen Mädels an zu grinsen. Und als ich dann endlich in die Tasten griff und auf den Refrain zutrieb, merkte ich, dass die Jungs meinen Klopfrhythmus übernommen hatten, dass sie ihn auf die Tischplatten hämmerten, dass sogar Kenan mitmachte, während die Mädels gemeinsam mit mir in den Refrain stürzten: „So what! I’m still a rock star! I got my rock moves! And I don’t neeeeed you!“
Ich hatte Glück. Sie mochten Pink.
- - -
Am nächsten Tag war der Winter vorbei. Es war Samstag, und Polly riss alle Fenster auf. Es war nicht lau, es war schwül. Diese drückende Wärme, die nur entsteht, wenn das Wetter sich zu schnell ändert.
Wir standen am Fenster, hielten die Arme hinaus, sahen den Möwen zu, die wild umherflogen. Draußen, am Hafen spielten ein paar Kinder. Sie warfen Steine ins Wasser, schlugen mit langen Stöcken auf die Oberfläche und riefen sich etwas zu. Wir überlegten gerade, ebenfalls rauszugehen und einen Spaziergang zu machen, an den Hebekränen vorbei, mit der Nase in dieser Frühlingsluft, als plötzlich die Zeit anhielt.
Nichts bewegte sich. Nicht die Bäume, nicht die Büsche vorm Haus. Die Möwen waren weg, keine Ente war mehr auf dem Wasser zu sehen. Und die Luft – stand. Nur die Kids waren weiter in ihr Spiel vertieft und schienen nichts zu merken. Und dann war es, als würde nicht mehr die Sonne, sondern ein riesiger Scheinwerfer die Szenerie beleuchten.
Wir sahen nach oben. Der Himmel war weiß, unnatürlich weiß, er krachte einem in die Augen. Über diesen Himmel fetzten Wolken und explodierten. Hier war noch nichts davon zu spüren, aber dort oben tobte ein Sturm. Wolken, die aussahen, als würden sie kochen. Sie brannten von innen und hatten harte, schwarze Ränder. Mit einem Schlag wurde es dunkler, und ein eisiger Wind zog ins Zimmer. Gänsehaut kroch meine nackten Arme hoch.
Als Polly das Fenster schließen wollte, passierte es: Ein Windstoß riss es ihr aus der Hand, es knallte gegen die Wand, ein Blitz zuckte über den Himmel, ewig lang und fein verästelt, und die Elektrizität schien greifbar, sie durchknisterte die Luft – die Härchen auf meinen Armen stellten sich auf. Nicht einmal eine Sekunde später krachte es draußen, und fast zeitgleich knallte etwas in unserer Wohnung. Dann war es dunkel.
- - -
Polly stand vor dem Fernseher, der plötzlich still war, drückte auf die Knöpfe, ging zum Radio, drückte dort, ging dann zum Laptop, zum Kühlschrank, und nachdem sie ihre Runde beendet hatte, drehte sie sich zu mir um und sagte: „Ich glaube, wir haben ein Problem, Mila. Wir sind gegen alles versichert, aber nicht gegen Überschwemmung, Schneedruck und … drei mal darfst du raten.“
„Blitzschlag“, sagte ich.
„Exakt.“
Genau in diesem Moment setzte der Sturm für einen Herzschlag aus, und wir hörten den Schrei. Wir stürzten zum Fenster. Am Hafen bewegte sich etwas, da waren immer noch die Kids, aber dann sah ich nichts mehr, denn es pladderte vom Himmel, und der Sturm ging dazwischen und verwischte alles.
Polly aber musste etwas Bestimmtes gesehen haben, denn sie brüllte plötzlich auf und stürzte ohne Erklärung aus der Wohnung. Ich rannte hinterher und hatte Mühe, Schritt zu halten. Sie flog geradezu die Treppen hinab, stürzte aus dem Haus, rannte über die Straße zum Hafen, schrie dabei, schrie sich die Lunge aus dem Leib. Und dann sah ich es endlich auch.
- - -
Sie waren zu viert. Drei waren etwa zwölf Jahre alt, der vierte war älter und größer. Er war der Anführer.
„Das können sie nicht machen!“, schrie Polly und rannte durch den Sturm. Sie war klatschnass, die Haare hingen ihr im Gesicht. „Diese Schweine. Feige Säcke! Alle auf einen! – Die bringen ihn um, Mila. Die wollen ihn wirklich umbringen!“
Und dann sah ich, wen Polly meinte. Zum ersten Mal sah ich Vincent.
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Sie hatten ihn ins Hafenbecken geworfen. Dort schwamm er hilflos herum, während der Regen das Wasser peitschte. Sobald er versuchte, ans Ufer zu kommen, stachen sie mit Stöcken nach ihm, warfen Steine und trieben ihn zurück in die schwarze Brühe. Er schrie um sein Leben, aber niemand war draußen bei dem Wetter.
Ihnen machte der Regen nichts aus. Das Adrenalin wärmte sie. In einem kurzen Moment, als der Sturm Atem schöpfte, um dann aufs Neue auszuholen, hörten wir sie brüllen: „Rechts! Er versucht, nach rechts zu entwischen!“, „Los, treib ihn zurück! Schlag ihn aufs Ohr“, „Ich glaub, er wird schon langsamer …“, während Vincent schrie und den Stöcken auszuweichen versuchte und irgendwann nicht mehr schrie, sondern einfach nur noch schwamm, sich über Wasser zu halten versuchte.
Polly rannte wie eine Irre. Ich sah, wie die vier sich umdrehten. Und dann setzte mein Herz einen Schlag aus. Ich wollte Polly rufen, sie zurückrufen, aber der Sturm riss mir die Worte vom Mund.
Der Älteste war Kenan.
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Als sie Polly sahen, fingen sie an zu lachen. Dann stellten sie sich in eine Reihe, bildeten eine Mauer. Sie taten es ohne besondere Eile. Polly, das sah ich ihren Gesichtern an, stellte keine Gefahr für sie dar, eher eine willkommene Abwechslung. Kenan schrie: „Na los, komm schon!“, machte eine obszöne Geste und zog dann ein Klappmesser aus der Hosentasche. Ein Messer!
Polly wurde nicht langsamer. Genau wie vorher preschte sie ihnen mit fliegenden Armen entgegen. Und als sie nicht einmal den Büschen auswich, sondern einfach hindurchbrach, als ihr Heulen sich plötzlich zu etwas Seltsamem steigerte, etwas nie Gehörtem, etwas, das selbst mir ins Mark fuhr, ein einziger langgezogener Laut, mit nichts zu vergleichen – kam plötzlich eine Unsicherheit zwischen den Peinigern auf.
Und als Polly nur noch fünf Meter entfernt war, begann ihre Mauer zu zittern. Erst ein bisschen, dann immer mehr, und schließlich zerfiel sie in ihre vier Bestandteile. Die drei Jüngeren spritzten als Erstes weg. Kenan stand noch eine halbe Sekunde mit dem Klappmesser allein da, dann drehte auch er ab und rannte. Rannte wie die anderen. Rannte, als wäre der Teufel hinter ihm her.
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Nachdem wir vom Arzt gekommen waren, setzte sich Polly zu Vincent. „Hab keine Angst“, sagte sie. „Es ist vorbei. Alles ist gut.“
Vincent hockte verbunden auf dem Sofa, eine Decke um sich herum, und schaute Polly an. Er sagte nichts. Seine Schweigsamkeit hatte etwas Absolutes. Er war wie eine fest verschlossene Tür. Aber er lauschte ihr. Er lauschte nicht, wie man aus Höflichkeit lauscht. Er lauschte konzentriert, fast leidenschaftlich. Er lauschte, als hätte er sein Leben auf diese Worte gewartet. Auf Polly.
Ich ließ den Blick verstohlen über ihn gehen, denn er reagierte verängstigt auf direktes Anschauen. Sobald ich die Hand hob, duckte er sich, war bereit, aufzuspringen und wegzulaufen. Er sah dürr aus, der Blick war verwässert. Ich wollte mir nicht vorstellen, was ihm alles geschehen war. Der Grad seiner Verwahrlosung verriet, dass er schon lange, vielleicht schon immer, auf der Straße lebte.
Polly hob den Blick und sagte: „Er bleibt erst mal hier, Mila.“
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Ein neuer Laptop kostete mindestens fünfhundert Euro. Hinzu kamen mein Telefon, das im Aufladegerät gesteckt hatte, als der Blitz einschlug, der Fernseher, das Radio, der Kühlschrank, die Waschmaschine, der Drucker, der Scanner und der Router fürs Internet. Bis auf den Kühlschrank waren es alles Sachen von mir.
Ich musste die Miete von meinem Gehalt zahlen, eine Monatsfahrkarte, die Haushaltskosten für Polly und mich, Medikamente für Vincent, Nebenkosten, Versicherungen und so weiter. Außerdem musste ich noch die Rate für den alten Laptop abzahlen, der jetzt kaputt war. Als ich die Zusage für Mannheim bekommen hatte, hatte ich mir aus Übermut ein unverschämt teures Gerät gekauft. Ich war mir sicher gewesen, dass ich es mit meinem Gehalt leicht abzahlen konnte. Einen Totalausfall unserer ganzen Habe hatte ich natürlich nicht vorhergesehen.
Wir brauchten Geld. Präziser: Ich brauchte einen Nebenjob.
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Wir hatten also plötzlich ein Geldproblem, aber das hielt uns nicht davon ab, am diesem Samstag trotzdem ins Orion zu gehen. Es war wichtig, sagte ich mir. Ich konnte nicht auch noch auf unsere einzige Ablenkung verzichten. Das ging schon Polly zuliebe nicht. Sie freute sich so aufs Orion.
„Können wir ihn wirklich allein lassen?“, fragte ich Polly. „Was, wenn er die Bude auf den Kopf stellt?“
„Sieht er so aus, als könnte er das?“
Vincent lag auf dem Sofa und atmete ganz leise. „Nicht wirklich“, sagte ich.
An diesem Abend verzichtete ich auf Make-up und auffallende Sachen. Mir war nicht danach. Nicht nach so einem Tag. Ich zog Jeans an. Eine unspektakuläre Bluse dazu. Als ich schon an der Tür stand, bereit zum Losgehen, kramte Polly in ihren Nähsachen und kam mit einem Tuch zu mir – schwarz mit Silberpailletten. Sie band es mir um die Hüften.
„So siehst du nicht ganz so fad aus“, sagte sie.
Das Tuch war wunderschön. Sie musste all die Stunden, die sie allein mit Vincent in der Wohnung war, während ich unterrichtete, in Fach- oder Seminarsitzungen saß oder an meiner Seminarschule lernte, dafür genutzt haben, Hunderte Pailletten für mich auf dieses Tuch zu nähen.
Als wir in die Bar kamen, merkten wir es gleich. Irgendetwas stimmte nicht. Paul, der Barkeeper, war noch schlechter gelaunt als sonst. Er sah angestrengt aus, wischte sich immer wieder mit dem Gläsertuch über das verschwitzte Gesicht. Und dann fiel es mir auf: Gudrun war nicht da. Weder stand sie am Klavier und trank ihren obligatorischen Drink, noch war sie an der Bar und rauchte.
Ich ging zum Tresen und orderte die Drinks. Paul schüttelte den Shaker so heftig, als wollte er das Getränk besinnungslos schütteln. Hinter uns rief jemand: „Was is’n mit der Musik heute? Wo bleibt Gudrun?“
„Die hat sich freigenommen“, zischte Paul.
„Jeder braucht mal Urlaub, was?“ Der Typ trank sein Bier aus, stellte das Glas auf den Tresen, bemerkte mich und sagte: „Im Red Cat nebenan gibt’s auch Musik. Kommst du mit, Kleine?“ Ich schüttelte lächelnd den Kopf und sah ihm nach, wie er durch die Bar zum Ausgang strebte. Dabei rief er in alle Richtungen: „Gudrun kommt heut nicht. Hat frei!“
Da war Polly plötzlich an meiner Seite und zeigte zu Paul. Er telefonierte.
„… ist mir egal, Schätzchen, dass du es mir schon heute Morgen gesagt hast. Du versaust mir jetzt gerade die Abendeinnahmen. Die Leute rennen in Scharen ins Red Cat und füllen dem alten Sack die Kassen!“ Er redete so laut, dass mir der Mund offen stand. Mit seinem Anfall trieb er die Leute ja erst recht auf die Straße. „Na und? Ist es etwa mein Problem, dass dein Balg krank ist? Seit heute Morgen hast du Zeit gehabt, einen Babysitter zu besorgen! Das wird doch nicht so schwer sein! … Fieber, Fieber – wenn ich das schon höre! Wer Fieber hat, schläft umso besser …“ Seine Stimme kippte über. Die Leute ließen die halbvollen Gläser stehen, schüttelten die Köpfe und gaben sich keine Mühe, beim Rausgehen die ausschlagende Saloontür abzubremsen. „Nein, du hörst jetzt mal zu. Es steht mir schon lange so Einiges bis zum Hals. Zum Beispiel, dass du nach jedem dritten Lied eine durchziehen musst. Ich bezahl dich nicht fürs Quarzen!“ Er umklammerte das Handy so fest, dass die Adern an seinem Handrücken heraustraten. „Pass auf, Mädchen, du bewegst dich sowieso auf dünnem Eis. Du schwenkst jetzt deinen Arsch hierher …“ Es sah aus, als wollte er das Handy zerquetschen, „… und wenn du nicht in einer halben Stunde hier bist oder mir bis dahin einen Ersatz besorgt hast, ist die Sache erledigt, klar? Dann war’s das für dich! Ich hab …“
Ich sah nicht mehr, was er mit dem Handy anstellte. Polly hatte mich schon von der Bar weggeschoben, durch die hinausdrängenden Leute, zu unserem Tisch, wo ich die Drinks abstellte, und als ich mich setzen wollte, gab sie mir einen Stoß und ich stolperte vorwärts, bis ich fast ans Klavier stieß.
„Jetzt mach schon“, zischte Polly. Als ich mich setzte und den Deckel hochklappte, sah ich, dass ein paar Leute stehen blieben und sich interessiert umdrehten. - - -
„Now you say you’re lonely … you cried the whole night through …“ Ich spielte leise, viel zu leise. Ich drückte die Tasten kaum runter. Und meine Stimme kam zu schwach, ich flüsterte. Ich hatte noch nie öffentlich gesungen.
Ich fühlte mich wie früher, als ich dreizehn war und vor allen Schülern ein Gedicht aufsagen sollte. Ich sah hilfesuchend zu Polly. Sie ließ die Hand wild durch die Luft kreisen, feuerte mich an.
Und da ließ ich meine Angst einfach los. Ich hatte nichts zu verlieren. Es ging nicht um mich. Es ging um Gudrun. „Noooooow you say you’re sorry …“, sang lauter, löste endlich den Blick von den Tasten und ich sah mein Publikum an, „… for being so untrue … cry me a river … cry me a river …“ Meine Stimme war nicht so rau wie die von Gudrun, aber sie hatte etwas Dämmriges. Die Gespräche wurden leiser, die Leute setzten sich wieder, und die an der Bar standen, drehten sich um. Paul stierte mich von hinter seinem Tresen aus an. Auf seiner Stirn stand eine scharfe Falte. Die Diskokugel drehte sich langsam über mir, ließ das Licht wie scharf geschnittenes Konfetti herabrieseln, brach Pauls Gesicht in winzige Stücke. „You drove me, nearly drove me out of my head … while you never shed a tear … I cried a river over you.“
- - -
Manchmal hörten wir B duschen. Manchmal hörten wir, wie ein Stuhl gerückt wurde oder wie der Teekessel drüben pfiff. Und immer wieder hörten wir die Türklingel. Wir hörten, wie B dann durch die Wohnung ging, um auf den Summer zu drücken. Und dann kamen Schritte die Treppe hoch.
Während Polly auf dem Sessel sitzen blieb und die Bündchen meiner alten Jacke mit Leder verstärkte und aufpeppte, stand ich von meiner Unterrichtsvorbereitung auf und schlich zum Spion.
„Sie ist fünfzehn, würde ich sagen, vielleicht sechzehn“, flüsterte ich. „Vielleicht gibt B Musikunterricht?“
„Klar“, sagte Polly. „Und was für ein Instrument soll das sein? Luftgitarre?“
Das stimmte natürlich. Von nebenan war nie etwas zu hören. Bis auf das Radio, das immer nach einer Weile anging.
„Dann eben Nachhilfe“, sagte ich. „Ob man damit eigentlich mehr verdient als die acht fünfzig pro Stunde, die Paul mir zahlt?“
Ich hatte, um Gudrun zu entlasten, samstags und sonntags je vier Stunden übernommen. Ich hatte jetzt einen Nebenjob.
- - -
Vincent hing an Polly. Er hing an ihr mit jeder Faser. Jetzt glaube ich sogar, dass Polly für ihn der einzige Mensch war, dem er vertraute. Ich war nicht eifersüchtig. Ich war glücklich. Polly hatte nie Freunde gehabt.
Während andere Leute zusammenzuckten, wenn ich mit Polly irgendwo auftauchte, schien Vincent nur bei ihr seine Angst zu verlieren. Und er hatte oft Angst. In den ersten Tagen schlief er kaum. Er zitterte, wenn ich ihn ansprach, zitterte, wenn ich durchs Zimmer ging. Beobachtete mich. Angespannt und wachsam. Nachts saß er wach oder lief durchs Zimmer. Hin und her. Ich hörte seine leisen Schritte.
Tagsüber zuckte er bei jedem Geräusch zusammen. Wenn an Bs Tür die Klingel ging und wieder einmal Besuch kam. Wenn dann das Radio nebenan ansprang. Er zuckte auch zusammen, wenn ich mit den Töpfen klapperte.
Nur Polly konnte Krach machen, soviel sie wollte. Sie konnte durch die Wohnung trampeln, sie konnte die Schranktüren zuschlagen, sie konnte laut und falsch singen – er verfolgte all ihre Bewegungen vom Sofa aus, die Augen halb geschlossen, irgendwie selig. Abends, wenn die auf dem Fensterbrett aufgereihten Teelichter angezündet waren und die kleinen Flammen in der Heizungsluft tanzten, während Polly rote Perlen auf eine Tasche nähte, setzte er sich auf ein Kissen am Boden, zu ihren Füßen.
Ich dachte lange, dass Vincent deshalb so an ihr hing, weil sie ihn befreit hatte. Zwar hatten wir beide ihn aus dem Wasser gezogen, doch es war Polly gewesen, Pollys grandiose Selbstüberschätzung und ihr wutroter Sinn für Gerechtigkeit, der ihm das Leben gerettet hatte. Heute glaube ich jedoch, dass er sie auch vorgezogen hätte, wenn ich selbst ihn verteidigt hätte.
Weil er Polly eben mehr mochte. So einfach war das. Er mochte ihre schüchterne und zugleich furchtlose Art. Ihr flog sein Herz zu. Nicht mir. Von ihr ließ er sich beruhigen, schloss sogar die Augen, wenn sie mit ihm sprach.
Nur seine Ohren zuckten. Und die Barthaare zitterten ganz leicht. Und dann – nach einer Weile – fing er an zu schnurren.
- - -
Wir bekamen B nicht zu Gesicht. Am Anfang war es wirklich nur Zufall gewesen, es hatte sich einfach nie ergeben. Aber später dann achtete ich bewusst darauf, ihr oder ihm nicht in die Arme zu laufen. Wenn ich dabei war, die Wohnung zu verlassen und hörte, wie B ebenfalls die Wohnung verließ, blieb ich wie angewurzelt stehen und wartete. Wartete, bis B die Treppe hinabgestiegen war und die Haustür ins Schloss fiel. Erst dann öffnete ich meine Tür.
Ich weiß nicht genau, warum ich das tat. Ich glaube, ich wollte mir einfach das Geheimnis bewahren. Das gelang mir auch. Bis zu dem Tag in der Straßenbahn.
Ich war am Wasserturm zugestiegen, zusammen mit einem Schwung anderer Leute. Eine Frau mit einem Kind an der einen Hand, einem schwarzen Labrador an der anderen und mehreren Tüten quetschte sich neben mir noch in den Wagen hinein. Das Kind heulte und war offenbar fest entschlossen, sich auf den Boden zu werfen, sobald die Frau es loslassen lassen würde. Sie fummelte am Entwerter herum. Ich wollte ihr helfen, als ich plötzlich Bine sitzen sah. Bine in ihren zart zerrissenen Sachen, mit schwarz geschminkten Lippen und geschnürten Stiefeln. Ich drängelte mich zu ihr durch.
„Hi“, sagte ich lächelnd, als ich neben ihr stand. Bines Hund sah zu mir hoch, und ich streichelte ihm kurz über den Kopf.
„Hi, cool!“, rief Bine und grinste mich an. „Wie geht’s dir?
„Hab mich schon ganz gut eingelebt“, sagte ich. Dann gab ich mir einen Ruck. „Wenn du Lust hast, komm doch mal ins Orion. Ich … na ja … ich mach da am Samstag immer die …“
„Nein“, rief Bine plötzlich und sprang hoch. „Aus, Donna! Aus!“ Der schwarze Labrador war auf die Beagle-Dame zugestürzt. Donna sprang begeistert auf ihn zu. Die Leine schleifte neben ihr. „Sie ist läufig“, brüllte Bine und versuchte dazwischenzugehen. „Nehmt den Hund weg!“
Die Frau mit dem Kind versuchte, sich durchzudrängeln. „Bei Fuß, Shakespeare!“, rief sie. „Shakespeare, komm her!“ Aber Shakespeare dachte überhaupt nicht daran. Die Hunde bellten ohrenbetäubend, wälzten sich auf dem Boden, verbissen sich spielerisch ineinander. Bine griff immer wieder dazwischen, bekam Donnas Leine aber nicht zu fassen.
Als die Bahn hielt, schob sie den Labrador mit dem Fuß zur Seite, schnappte sich Donna und stürmte raus. Geistesgegenwärtig griff ich nach Shakespeares Leine, sonst wäre er einfach hinterher gesprungen. Dann war die Frau bei mir, nahm mir die Leine ab und entschuldigte sich hundertmal.
Ich sah mich um, suchte einen Platz und setzte mich neben einen jungen Mann. Ich schaute aus dem Fenster, versuchte noch einen Blick auf Bine zu erhaschen, aber sie war schon weg.
Als ich plötzlich den Kopf meines Sitznachbarn an der Schulter spürte, dachte ich noch, dass er einfach nur eingeschlafen war. Doch dann sah ich, wie grau sein Gesicht war. Er presste die Hände auf Brust und Hals, und während er auf mich zurutschte, starrte er mich mit weit aufgerissenen Augen an.
Ich hatte mein Handy schon draußen. „Es wird alles gut“, sagte ich panisch, während ich 112 drückte. „Es wird alles gut, Herr Flössow.“
Seine gelben Gummistiefel quietschten, als er mir vollends auf den Schoß rutschte. - - -
„Anaphylaktischer Schock“, sagte der Arzt. „Die Blutgefäße erweitern sich, dadurch fällt der Blutdruck extrem ab, der Puls verflacht, und lebenswichtige Organe werden nur noch schlecht durchblutet. Das kann zum Organschock führen. Die Betroffenen werden bewusstlos. Ohne Hilfe stirbt man daran.“
„Oh … mein … Gott“, brachte ich nur hervor.
„Bei dem Riesenwirbel, den Sie beschrieben haben, müssen die Haare nur so geflogen sein. – Er darf nicht in Kontakt mit Tierhaaren kommen.“
Ich war im Krankenwagen mitgefahren. B. Flössow war nicht mehr grau, sondern blau gewesen. Sie hatten ihm noch im Wagen ein hochkonzentriertes antiallergisches Mittel in die Vene gespritzt. Als er wieder zu sich gekommen war, hatte er nach meiner Hand gegriffen und sie festgehalten.
„Ihr Freund verdankt Ihnen sein Leben.“
- - -
Paul mochte mich nicht.
Als ich für Gudrun eingesprungen war, hatte er mich nach drei Liedern zur Rede gestellt.
„Was soll das?“
„Ich bin eine Freundin von Gudrun“, sagte ich. „Ich vertrete sie.“
„Wieso hab ich das Gefühl, dass du mich verarschst?“
Ich zuckte nur mit der Schulter und stimmte Summertime an. Kaum, dass die ersten Takte erklangen, fingen die Umstehenden an zu klatschen und mitzusummen. Paul verschwand wieder hinter der Bar.
Um Mitternacht zählte er mir das Geld aus: „Acht fünfzig die Stunde, mehr gibt’s nicht. – Kannst du die Samstag- und Sonntagabende übernehmen? Von acht bis Mitternacht?“
Ich nickte. Da sah er mich abschätzend an. „Bist du eigentlich alt genug dafür?“
„Ich bin dreiundzwanzig“, sagte ich und zählte das Geld nach. „Alt genug, um zu wissen, dass hier acht fünfzig für die erste Stunde fehlen.“
„Du hast halb neun angefangen, nicht um acht“, schnaubte Paul.
„Vier fünfundzwanzig“, sagte ich und hielt die Hand auf.
„Hör zu“, sagte er und zählte mir das Geld in die Handfläche, „ich hasse es, wenn jemand denkt, er könnte mich verarschen. Das kannst du auch deiner Freundin Gudrun ausrichten. Billige Musiker gibt’s in dieser Stadt wie Sand am Meer!“
„Und Berufsnörgler nur hier“, sagte ich, steckte das Geld in die Hosentasche und ging zur Saloontür. Ich ließ die Hüften schwingen, wie auch Gudrun es immer getan hatte. Die tausend Pailletten an dem Tuch um meine Hüften glitzerten. Ich spürte, wie Paul mir nachsah. Und da verstand ich plötzlich, warum Gudrun sexy Kleider in abgrundtief hässlichen Farbtönen trug. Warum sie nach jedem dritten Song aufstand, um langsam und mit wiegendem Schritt an die Bar zu gehen und eine zu rauchen: Nach jedem dritten Song machte sie Paul klar, dass er zwar alles hatte – einen eigenen Laden, jede Menge Geld und die Macht, uns respektlos zu behandeln –, aber eines würde er nie besitzen: ihre Hüften. Denn die waren nicht käuflich. Die Kleider waren aufreizend, aber der Farbton war hässlich. Hässlich wie seine Gier. Gudrun erinnerte ihn daran. Jeden Abend.
Ich hielt Polly die Tür auf, dann ging ich selbst hindurch. Als ich die Tür losließ, schwang sie so heftig auf und zu, dass es klang, als würde eine Peitsche durch die Luft zischen.
- - -
Seit ich Flössow das Leben gerettet hatte, ging ich ihm weniger aus dem Weg. Wir begegneten uns am Briefkasten, im Supermarkt, auf der Treppe. Wir grüßten einander, aber über das, was passiert war, sprachen wir nicht.
Auch jetzt bekam er weiterhin Besuch. Zweimal in der Woche klingelte es an seiner Tür, jemand trat ein, nahm die Gummistiefel mit und kam nach einer Weile wieder raus.
„Irgendwas stimmt da nicht“, sagte Polly eines Tages, als ich ihr das Mädchen vom Spion aus beschrieb. „Hat sie ’ne Tasche bei sich?“
„Ja“, sagte ich. „Eine große Hello-Kitty-Tasche.“
Vincent strich durchs Zimmer, ging dann zu Polly und stemmte schnurrend seinen Kopf gegen ihre Wade. „Ich sag dir, da läuft was ganz Mieses. Irgendein linkes Ding“, sagte sie und zog das Bein weg. Vincent sah zu Polly hoch. Sie nähte gerade ein Halsband für ihn. „Wahrscheinlich schleppen die Mädels geklautes Zeug ran. MP3-Player, Handys“, sagte sie. „Er versorgt sie mit dem nötigen Kleingeld und vertickt das Zeug dann im Internet. Mit Gewinn, versteht sich. – Na los, jetzt spring schon hoch“, sagte sie und klopfte auf den Platz neben sich. Vincent sprang, schmiegte sich an Pollys Arm und begann sich dann zu putzen.
- - -
Sie sah mich nicht, strebte von der Tür direkt zur Bar, bestellte etwas Grünes, was sie dann im Stehen trank, ohne abzusetzen. Dann zog sie einen Barhocker näher, setzte sich und bestellte sich noch so einen Drink. Polly, die meinem Blick gefolgt war, betrachtete Yvette neugierig.
Ich hetzte einen halben Takt zu schnell durch den Song. Yvette sah nur auf die Flaschen hinter der Bar, sie drehte sich nicht um, aber sie würde es garantiert gleich tun.
Und dann? Was würde Yvette denken, wenn sie mich hier sah? Ihre Lehrerin. In einer Kaschemme und in einem ziemlich engen Kleid. Würde sie das Gleiche denken, was Polly und ich am Anfang von Gudrun gedacht hatten?
Oder war es gar nicht das, was mich nervös machte? Ich beendete den Song, sagte leise Merci ins Mikro, stand auf und ging zu Gudrun, die heute als Gast in der Bar saß. Ich bat sie, kurz zu übernehmen, und ging zu Polly.
„Ich glaube, sie lässt sich volllaufen“, sagte Polly leise. Dass sie trotz unserer Abmachung sprach, merkte ich kaum. Ich ging hinüber zur Bar und legte Yvette die Hand auf die Schulter.
Sie fuhr sofort herum, als wäre meine Hand elektrisch oder als hätte sie jemanden erwartet, jemand Bestimmtes, doch als sie mich sah, ließ sie die bereits erhobene Hand wieder sinken und atmete auf. Sie griff nach ihrem Glas, trank und sagte dann: „Frau Helmholz, was machen Sie denn hier?“
„Das wollte ich dich fragen“, sagte ich. Ich nahm ihr das Glas aus der Hand.
„He“, sagte Yvette, und endlich kam etwas Leben in sie. Von ihrem Lippenstift waren nur noch die Ränder zu sehen, ihr Lidstrich war viel zu hart. Er erdrückte ihre Augen. Sie sah aus wie jemand, der ein neues Gesicht anprobiert und noch nicht gemerkt hatte, dass es nicht passte. Ich schnupperte an dem Drink, der süßlich nach Kiwi roch. Und nach Rum. Ich stellte das Glas zurück auf die Bar und sagte: „Du bist fünfzehn. Das hier darfst du gar nicht trinken!“
Da tat sie das Letzte, was ich erwartet hatte: Sie beugte sich zu mir, legte den Kopf an meine Schulter und fing an zu weinen.
- - -
Ich zog Yvette vom Hocker, damit die Umstehenden uns nicht so angafften, und führte sie zu Pollys und meinem Tisch. Polly sah Yvette sofort mitfühlend an und legte ihr die Hand auf den Arm. Sie hielt sich jetzt aber an die Regel und sprach nicht. Yvette sah Polly an, lächelte. Doch dann sank sie in sich zusammen und schluchzte heftig.
Paul stand plötzlich an unserem Tisch. Noch ehe ich es verhindern konnte, platzte Polly heraus: „Das Mädchen braucht einen heißen Kakao.“
Ich biss mir vor Schreck auf die Zunge, aber Paul war mit etwas ganz anderem beschäftigt.
„Warum spielst du nicht?“, blaffte er mich an.
„Ich hab gerade eine Stunde mit Gudrun getauscht.“
„Wann hier Stunden getauscht werden, bestimme ich, nicht ihr!“ Dann warf er einen kurzen Blick auf Yvette und wendete sich wieder zu mir. „Deine Privatgeschichten kannst du zu Hause klären! Hier ist kein Hühnerstall, sondern dein Arbeitsplatz. Wer ist das überhaupt – deine Mitschülerin?“ Offenbar hatte er mir von Anfang an nicht geglaubt, als ich gesagt hatte, ich wäre dreiundzwanzig.
„Das ist meine Lehrerin“, sagte Yvette plötzlich. Sie hatte den Kopf gehoben und schaute Paul angriffslustig an. So einen Blick hatte ich bisher noch nie an ihr gesehen.
„Wie, Lehrerin?“, fragte Paul und sah auf mich, als hätte Yvette gerade erklärt, ich wäre Michael Jackson. „Machst du Witze?“
„Nein“, sagte ich nur.
„Ich hab hier die ganze Zeit ’ne verdammte Paukerin sitzen?“, rief Paul. „In meiner Bar?“
Daraufhin war es still. Gudrun hatte den Song beendet.
Da lächelte er die Parodie eines Lächelns. Es sah aus, als wären seine Mundwinkel eingerostet, als täte es weh. Dann hörte ich ein kleines, kaltes Lachen, und ich wusste, dass ich gefeuert war.
- - -
Der Jungbusch sei eine rohe Gegend, hatte mich Polly am Anfang aufgeklärt. Riskant. Zumindest in den Straßen, wo keine Laternen brannten. Dort solle man nicht unbedingt allein laufen. Vor allem nicht nachts. Vor allem nicht als Frau.
Ich hatte eigentlich nie gedacht, dass etwas passieren könnte.
Erst Yvette hat mich davon überzeugt. Yvette mit ihren unentschieden langen Haaren, von denen sie mir vor wenigen Tagen in der Schule gesagt hatte, dass sie sie grün getönt habe, die aber trotzdem nur mausblond aussahen. Mit ihrer weichen, immer etwas atemlosen Stimme.
Was mochte Yvette gedacht haben, als ich am nächsten Tag nicht mehr zur Schule kam? Als ich einfach so über Nacht verschwand? Ohne mich von ihr zu verabschieden. Ohne mich von irgendwem zu verabschieden.
Bevor Yvette mir alles erklärt hatte, zeigte sie mir den Inhalt ihrer Tasche: ein Faschingskostüm, ein weißes Kittelkleid mit einem großen, roten Kreuz auf der Brust.
„Wozu brauchst du das?“, fragte ich. Sie machte die Tasche wieder zu und drückte so heftig auf die Schließe dabei, dass ich dachte, sie würde abbrechen.
„Jetzt brauch ich es nicht mehr“, sagte sie. „Es ist … alles ist zu spät. Scheiße!“ Sie warf die Tasche mit voller Wucht auf den Boden, hielt sich die Hände vors Gesicht. Sie schwamm in Tränen. Polly schob ihr behutsam ein Taschentuch hin. „Ich versteh einfach nicht, wieso Sie freiwillig hierher gezogen sind!“, sagte Yvette. „Hier ist es schrecklich.“
„Aber wieso? Ich wollte nicht mehr da wohnen, wo ich herkomme. Hier gefällt es mir.“
„Es ist schrecklich“, wiederholte sie. Mir war nicht klar, ob sie mich überhaupt gehört hatte. „Hier sind Leute, die sind echt brutal.“ Und dann fing sie wieder an zu weinen. „Ich hab was ganz Blödes gemacht, Frau Helmholz“, sagte sie schluchzend. „Was ganz schrecklich Blödes. Was Furchtbares. – Ich bin erledigt. Morgen bin ich erledigt“, flüsterte sie. „Ich geh nicht nach Hause, ich will nicht mehr leben.“
In jenem Moment wusste ich es noch nicht. Nicht mit hundertprozentiger Sicherheit. Ich wusste noch nicht, dass Yvette recht hatte und dass es im Jungbusch tatsächlich brutale Menschen gab. Ich konnte es in jenem Moment auch noch nicht wissen.
Weil ich so ein Mensch war.
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„Ich hab ihn bei SchülerVZ kennengelernt“, fing sie an. „Er hatte mich angeschrieben, hat mir gesagt, dass er mich cool findet, hat mir Songs geschickt.“
Ich vermutete eine Liebesgeschichte.
„Und du fühltest dich geschmeichelt“, sagte ich, um Yvette zum Weiterreden zu ermutigen.
„Ja, weil … weil …“ Sie sah mich nicht mehr an, sah wieder auf die Tischplatte.
„Weil er sich nicht lustig über dich gemacht hat wie die anderen. Weil er zugehört hat. Er war der Einzige, der wissen wollte, was du denkst. Was du fühlst.“
Yvette sah auf.
„Keinem hab ich je erzählt, dass ich Lieder schreibe. Nur ihm“, flüsterte sie. „Lieder mit Text. Auf Englisch. Ihm hab ich’s verraten. – Den Leuten aus meiner Klasse kann ich das nicht sagen. Sie würden sich noch mehr lustig machen.“
„Aber er“, sagte ich vorsichtig, „hat nicht gelacht, oder? Er … er hat dich gefragt, ob du ihm was vorsingst?“
„Spielst“, sagte sie. „Ich spiele ja Gitarre dazu. – Aber wieso wissen Sie das alles?“
Da setzte Polly schon zum Sprechen an, aber ich gab ihr unter dem Tisch einen Tritt. Yvette sah mich fragend an. Ich sagte nur: „Ich weiß es ja gar nicht.“
„Es stimmt aber. Ich hab ihm was vorgespielt.“
„Per Telefon?“
„Webcam“, sagte Yvette. „Und er war begeistert! Er hat geschrieben, die Songs wären Spitze. Ich hätte eine wahnsinnig schöne Stimme. Und Ausstrahlung.“ Sie sah mich an, verzweifelt, die Augen verdunkelt von der Frage, die so viele Mädchen beschäftigte: Findest du mich langweilig?
Ich sah Yvette an und hatte plötzlich so eine seltsame Ahnung.
Sie war gut in den Klassenarbeiten, hielt sich im Unterricht aber vollkommen im Hintergrund. Ein gefühlsbetontes Mädchen, das schnell weinte und sich hinter einer fast schon schmerzhaften Schüchternheit verbarg.
„Und dann hat er gesagt, du solltest dir vielleicht mal die Haare grün färben – das würde noch cooler aussehen“, versuchte ich es.
Yvette griff sich ins Haar und sagte: „Ich hab sie ja nur getönt. Aber meine Mutter war … sie war total wütend. Ausgerastet ist die. Ich musste mir das Haar dreimal waschen. Aber …“ Sie nahm eine Strähne hielt sie sich vor die Augen, „… ein bisschen Grün ist drin geblieben.“
„Und dann?“
„Ich hab’s ihm über die Webcam gezeigt. Und er hat geschrieben, dass ich … dass ich wunderschön aussehe. Punkig, hat er geschrieben. Punkig und … sexy.“ Sie legte wieder die Hände vors Gesicht. Saß lange so da. Ihre Schultern bebten. Polly legte ihr die Hand ins Haar, streichelte es. Yvette sah hoch, sah Polly ins Gesicht. Sie sagte: „Ich hab ihm geschrieben, dass ich ihn auch mal sehen will. Dass er mir über die Webcam zeigen soll, wie er aussieht.“
„Wie – du hattest ihn noch nie …“, rief Polly entrüstet, und ich bekam einen Hustenanfall, überhustete Pollys Stimme, keuchte und brachte Yvette dazu, mir auf den Rücken zu schlagen, und so dachte sie wahrscheinlich, sie hätte sich verhört.
„Du hattest ihn noch nie gesehen?“, übernahm ich dann Pollys Satz.
Yvette schüttelte den Kopf. „Er hatte die Webcam nie an.“
„Und das kam dir nicht komisch vor?“
„Ich weiß, das klingt blöd“, sagte Yvette leise, „aber … nein. Es war alles irgendwie … logisch. Er meinte zum Beispiel, Aussehen wäre nicht wichtig. Jedenfalls nicht das Wichtigste. Und bei ihm würden die Mädchen immer nur sein Gesicht anschauen, weil er so gut aussieht. Sie rennen ihm hinterher, schrieb er, aber interessieren würde sich keine für ihn, nur für sein Gesicht. – Und das … das kannte ich ja irgendwie. Nur andersrum. Er meinte, wir würden uns bald treffen, aber vorher sollten wir uns einfach noch ein bisschen besser kennenlernen. – Und dann sagte er …“ Sie sah hoch. Tränen schimmerten in ihren Augen, doch als sie der Tasche unterm Tisch einen heftigen Tritt versetzte, wusste ich, dass es Wuttränen waren, „… und dann sagte er, dass er glaubt, er hat sich verliebt.“
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Ich sah alles vor mir. Ich sah dieses dünne, verlegene Mädchen zu Hause vor dem Computer sitzen, sah sie Gitarre spielen, sah sie sich die Haare grün tönen, um ihm zu zeigen, dass sie schön war. Ich sah, wie sie ihre Augen schminkte. Den blassen Mund. Wie sie ihr Gesicht für ihn entzündete.
Ich sah, wie sie die Webcam einstellte, damit er auch ihren Hals sehen konnte, und wie sie sich etwas umband. Zuerst versuchte sie es mit einem dünnen Lederband, das sie sich extra für diese Gelegenheit an einem Stand gekauft hatte. Und dann machte sie es wieder ab, weil sie sich komisch damit vorkam und nahm stattdessen eine Kette mit einem silbernen Anhänger. Der Anhänger war ein kleines L. L für Love, aber das konnte er wahrscheinlich gar nicht sehen.
Ich sah vor mir, wie Yvette errötete, als er ihr schrieb, dass er sich in sie verliebt hatte. Ob sie etwas Ähnliches fühlen würde. Wie sie dann nervös zurückschrieb: Ich weiß nicht … vielleicht … ja, ein bisschen. Und er dann fragte, ob sie sich ihm auch mal im BH zeigen würde.
„Und du hast es gemacht?“, fragte ich.
„Ja, ich hab den BH sogar abgemacht“, sagte Yvette. Sie war plötzlich schneeweiß. Ich fragte mich, ob das vom Alkohol kam, aber sie wirkte nicht betrunken. Sie war so blass, dass ihr Mund konturenlos in ihr Gesicht überzugehen schien.
„Was ist passiert?“, flüsterte ich.
„Ich hab … Sachen gemacht, um die er mich gebeten hat. Vor der Webcam. Er hat mich die ganze Zeit bewundert, mir gesagt, wie schön ich wäre. Ich hab sogar für ihn getanzt. Ohne BH. Das ging ein paar Tage so. – Dann wollte ich es nicht mehr. Ich weiß nicht, warum. Ich kam mir auf einmal blöd vor.“ Sie sah mich wieder so an. Wieder mit diesem Blick, verdunkelt von einer Frage.
„Und dann?“
„Er war … er …“ Sie zerpflückte den Bierdeckel in winzige Pappfetzen und starrte zur Bar. Die Augen weit geöffnet, der Blick leer. „Er war plötzlich ganz anders. Kalt. Er schrieb, ich solle zu ihm kommen. Und wenn ich nicht machen würde, was er will, würde bei facebook und bei SchülerVZ ein neues Profil unter meinem Namen einrichten und … und … die Videos reinstellen.“
„Dieser Scheißkerl“, sagte ich. „Du hast es getan, oder?“ In mir war alles ganz kalt vor Wut. Wut auf diesen Idioten, Wut auf Paul, der Gudrun und mich wie Abtreter behandelte, Wut darauf, dass das alles schon so normal war.
„Ich bin zu ihm,“ sagte Yvette. „Ich hatte eine Wahnsinnsangst, dass er die Videos online stellt.“
Wie groß muss so eine Angst sein, dachte ich, wenn man es sogar in Kauf nimmt, zu einem möglichen Psychopathen in die Wohnung zu gehen.
„Wenn meine Eltern oder Mitschüler die Videos sehen …“ Sie starrte mich an. Ihre Augen waren riesig und leer. Ein Gesicht wie ein aufgegebenes Haus. Ich nahm ihre Hand. Sie war eiskalt. „… dann bin ich erledigt.“
„Was wollte er von dir?“, fragte ich. „Wie alt war er? Weißt du seinen Namen?“
„Er war alt“, sagte sie langsam. Mit diesem Gesicht. Zwischen den Worten knickte ihr die Stimme weg, sie stolperte von Satz zu Satz. „Dreißig … mindestens. Er wollte immer dasselbe. Es war … schrecklich. Er saß auf einem Stuhl in der Mitte des Raums. Er wollte … dass ich seine Hände mit einer Wäscheleine hinter dem Rücken zusammenbinde. Die Beine an die Stuhlbeine. Dass ich ihn … fest umwickle. Und dann … sollte ich um ihn herumgehen und ihn beschimpfen. Je ekliger, desto besser. Vorher musste ich … immer das Radio anmachen, damit die Nachbarn nichts hören. Wenn ich ihn lange genug beschimpft hatte … musste ich … ich musste ihn anfassen.“ Sie legte ihren Kopf an Pollys Schulter, die sofort die Arme um sie schlang und sie hin- und herwiegte.
„Und dieser Kittel da in deiner Tasche?“, fragte ich.
„Den musste ich anziehen. Und schreckliche Gummistiefel dazu …“
Pollys Kopf zuckte hoch. Sie sah mich erregt an.
„Gummistiefel? Waren die gelb?“, fragte ich. „Mit einem orangen Rand?“
Yvette schluchzte nur.
„Warst du heute auch bei ihm?“
„Ich komme ja gerade von ihm. Ich … ich hab ihn festgebunden wie immer, aber als ich wieder das Teil anziehen sollte …“ Sie zeigte auf die Tasche und gab ihr wieder einen Tritt, „… es ging einfach nicht. Ich konnte nicht. Ich bin … weggerannt. Ich hab ihn nicht losgebunden, aber ich hab die Tür ein bisschen aufgelassen, damit er Hilfe rufen kann.“
„Standen neben der Wohnungstür solche künstlichen Felsbrocken?“
Yvette machte sich von Polly los, schnäuzte sich und sah uns erstaunt an. „Ja, woher wissen Sie das?“
Die wichtigsten Momente im Leben geben sich nur selten zu erkennen. Sie verlaufen still, eingebettet in die Minuten davor und danach, sie stechen in keiner Weise hervor, und doch sind es jene Momente, in denen man, oft ohne es selbst zu wissen, Entscheidungen trifft, die das ganze Leben verändern können.
„Ich kenne diesen Menschen“, sagte ich. Ich musste mich anstrengen, dass meine Stimme nicht zu Eis gefror. „Pass auf, Yvette“, sagte ich. „Du gehst jetzt nach Hause. Er wird kein Video von dir ins Netz stellen. Das verspreche ich dir. Er schuldet mir einen Gefallen. Mehr als das. Geh nach Hause, ja? Morgen in der Pause sag ich dir, wie es weitergeht.“
Sie wischte sich über die roten Augen. „Sind Sie sicher?“, fragte sie. Ihr Blick war ungläubig, aber wach, hellwach. Sie sah mich an, als wäre ich ein Stein, der plötzlich zu blühen angefangen hätte.
„Ganz sicher“, sagte ich. „Geh nach Hause.“
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Als Yvette weg war, sprangen wir auf. Es war keine Zeit mehr zu verlieren.
„Mila?“, rief Gudrun uns hinterher, aber wir waren schon weg.
„Schneller!“, trieb Polly mich auf der Straße an.
Wir rannten auf unseren hohen Schuhen über den Asphalt. Als wir ins Blechhaus stürmten, war im ersten Stock wieder laut Musik zu hören. Bine machte mal wieder eine Party. Es hallte durchs ganze Haus. Wir stürmten die Treppen hoch und rannten in unserer Etage auf die linke Tür zu. Die gelben Gummistiefel standen nicht mehr da. Die Tür war nur angelehnt. Genau wie Yvette gesagt hatte.
„Halt, noch nicht!“, sagte Polly, als ich die Tür aufdrücken wollte. Sie schloss unsere Wohnung auf und ließ die Tür angelehnt, für den Fall, dass wir schnell nach drüben flüchten müssten.
Und dann schoben wir ganz langsam die Tür zu Flössows Wohnung auf.
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Zuerst hörten wir das Radio. Eine flippige Männerstimme gab die Verkehrsmeldungen und die Blitzer durch. Dann das Jingle. Radio Regenbogen. Musik.
Wir schoben die Tür etwas weiter auf. Ganz vorsichtig. Mein Blick fiel auf den ersten Stiefel. Er stand ganz vorn. Der zweite lag im Wohnzimmer. Am anderen Ende des Zimmers lag Flössow mitsamt dem Stuhl auf dem Boden. Irgendwas tat er mit seinen hinter dem Rücken verbundenen Händen.
„Herr Flössow?“
Er erstarrte. „Wer ist das?“ Die Frage kam so schrill wie ein Alarmsignal.
„Ich bin’s. Ihre Nachbarin. Ich hab gesehen, dass die Tür aufstand …“ Ich kam langsam näher. An seinem Hals sah ich, wie er erst tiefrot wurde, dann blass. Gräulich blass. Wie Recycling-Toilettenpapier. Ich sah die Ader an seiner Schläfe pulsieren.
Yvette hatte ganze Arbeit geleistet. Er war fest verschnürt. Die roten Stellen auf seinen nackten Beinen verrieten, dass er versucht haben musste, die Leine mit bloßer Muskelkraft zu zerreißen. Als dieser Versuch gescheitert war, musste er sich rutschend zum Küchenschrank bewegt haben, um …
Mein Blick flog zum geöffneten Besteckkasten. Zurück zu Flössow auf dem Boden. Und dann sah ich das Messer in seinen Händen. Er musste herangerutscht, das Messer mit den Zähnen aus dem Kasten geholt, es auf den Boden fallen lassen und sich dann selbst seitwärts abgekippt haben, um es mit den Fingern zu erreichen.
Ich kam um ihn herum, sah ihn an. Ich versuchte, erschrocken und mitleidig auszusehen. „Warten Sie, ich helfe Ihnen.“
Ich ging vor ihm in die Hocke, griff nach dem Messer, und für einen winzigen Moment schien es, als wollte er nicht loslassen. Dann aber gab er nach. Ich legte das Messer auf den Küchentisch und hievte den Stuhl zusammen mit Polly wieder hoch, dass er aufrecht saß.
„Sieht ganz so aus, als wären Sie meine Lebensretterin vom Dienst. Ich … bin überfallen worden!“, sagte er. „Sie waren zu dritt. Haben Geld gesucht. – Schneiden Sie mich bloß los, ich kann meine linke Hand schon nicht mehr spüren.“
„Ja, natürlich, sofort“, sagte ich, ging zum Küchentisch und sah mich dabei im Raum um. „Eins muss man denen aber lassen. Es waren ordentliche Diebe, oder? Nicht mal einen Schrank haben sie aufgerissen!“
„Ich hab ihnen lieber gleich gesagt, wo das Geld ist. Die sahen gefährlich aus.“
„Und bescheiden waren sie auch“, sagte Polly, die etwas auf dem Arbeitstisch entdeckt hatte. „Sogar den Laptop haben sie stehen lassen!“
Keine Antwort. Ich spürte seinen Blick. Der Blick hatte sich verändert, als Polly zu sprechen anfing. Er war wachsam geworden. Misstrauisch.
„Ich mach Sie gleich los“, sagte ich beruhigend. „Ich muss nur vorher eine kleine Sache erledigen.“
Wir gingen zum Arbeitstisch. Nichts Verdächtiges. Keine Fotos, kein pornografisches Material. Dann fiel mein Blick auf die Pinnwand.
Und da waren sie. Alle.
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Ich las die ersten drei.
Kelly, 16, sehr dick, lebt bei ihrer Mutter, schreibt Tagebuch und heimlich Gedichte
Jenna, 16, Madonna-Fan, neu in der Stadt, starke Brille, will ins Ausland gehen / Brasilien und Menschen helfen, schöne Figur, hässliches Gesicht
Ben, 15, Schwächling, gut in der Schule, will Comiczeichner werden, steht auf Formel 1
Dann kam sie.
Yvette, 15, keine Stimme, kein Gesicht, keine Figur, nichtssagend, will Menschen mit ihren Songs begeistern
Dann kamen sechs weitere Mädchen und ein Junge.
„Was soll das?“, rief er schrill. „Was schnüffeln Sie da rum! Binden Sie mich los!“
Ich hörte ein scharrendes Geräusch hinter mir, drehte mich aber nicht um. Ich hielt mich an der Schreibtischkante fest. Sehr fest.
„Er hat es mit allen gemacht“, sagte Polly.
Er hatte sie ausgefragt, ihre Stärken und Schwächen, ihre Träume und Ängste gesammelt, sie zusammengefegt wie Dreck, um sie ihnen dann in die Augen zu werfen. Er hatte sie alle blind gemacht, und alle hatten sie ihm vertraut.
Polly riss alle Steckbriefe von der Pinnwand, zerschnipselte sie und warf sie aus dem Fenster. Einen Moment trieben die Schnipsel ruhig in der Luft, dann riss ein Wind sie jäh auseinander und in die Höhe. Polly reichte mir die Gießkanne, und ich klappte den Laptop auf und ertränkte ihn. Langsam und gründlich.
„Und jetzt“, sagte ich und griff nach dem Telefon, „… rufen wir die Polizei.“
„Mila! Pass auf!“ Eine Bewegung direkt hinter mir ließ mich herumfahren. „Mila!“, schrie Polly wieder, da war das Messer schon in meinen Oberarm gefahren und wieder draußen.
„Das wirst du nicht!“, zischte er. Er war zwar immer noch an den Stuhl gefesselt, aber irgendwie war es ihm gelungen, das Messer vom Tisch in seine Hände zu bekommen. Hatte die Hände befreit. Hätte Polly mich nicht zur Seite gerissen, hätte er meine Nieren getroffen.
„Ich mach dich fertig!“, sagte er. „Das war erst der Anfang.“
Ich spürte keinen Schmerz.
„Ich hab Ihnen das Leben gerettet“, flüsterte ich. Und fuhr mit der Hand über meinen Arm. Die Hand war voller Blut. Es tropfte auf den Boden.
Über sein Gesicht glitt ein Lächeln. Dünn wie ein haarfeiner Schnitt.
Da hörte ich ein Jammern von der Türschwelle.
„Vincent!“, rief Polly. „Verschwinde hier!“ Doch er kam herein und presste sich zitternd an Pollys Bein. Witterte. Er witterte das Adrenalin und die Erniedrigung, die jede Pore dieser Wohnung zweimal in der Woche aufgesogen haben musste.
„Ich hab Ihnen das Leben gerettet“, sagte ich noch einmal. Ich sah zu Polly, dann zu Vincent, der einen Buckel machte und Flössow anfauchte. Alles war plötzlich wie in Sirup getaucht. Die Zeit schien dickflüssig, jeder Gedanke zog sich ins Unendliche. Polly und ich tauschten einen Blick.
„Aber Sie verdienen es nicht!“, sagte Polly, hob Vincent an ihr Gesicht und gab ihm einen Kuss auf die Schnauze. „Ich komme wieder“, sagte sie.
Wir verließen die Wohnung ohne Vincent. Wir schlossen sie von außen ab. Wir schoben die Felsbrocken vor die Tür.
„Hol das verdammte Vieh raus“, schrie Flössow, „Hol es raus, du Schlampe, du verdammte …“
Die Musik von Bines Party hallte durchs ganze Haus und ich schloss die Augen und hörte die Stimme des Arztes. Die Blutgefäße erweitern sich, dadurch fällt der Blutdruck ab … Ich presste die Fäuste an die Schläfen, presste, so fest ich konnte.
Unheilig sang. Seine gekünstelte Stimme hallte durch die Etagen, brachte das Blech zum Schwingen … war’n geboren um zu leben, mit den Wundern jener Zeit … Die Musik und das Gekreische überdeckten Flössows Stimme, überdeckten alles. Der Puls verflacht, redete der Arzt in meinem Kopf, während Polly mir ein Handtuch brachte, das ich auf die Wunde drückte. Organe werden nicht mehr durchblutet. Polly warf Sachen in unseren Koffer. Bines Wohnungstür unten ging auf und zu, auf und zu, ich hörte Gelächter, hörte Unheilig immer weiter und weiter singen … war’n geboren um zu leben, für den einen Augenblick, bei dem jeder von uns spürte, wie wertvoll Leben ist …
Dann war es still bei Flössow.
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„Vincent?“, flüsterte Polly durch den Türspalt, „Vincent?“
Fast in derselben Sekunde war er da, kam durch den Türspalt, rannte Polly in die Arme, schmiegte sich an sie, und während sie sie ihn hochnahm und beruhigend auf ihn einredete, miaute er und miaute. Ich schloss die Tür wieder leise, drehte den Schlüssel im Schloss herum und schob den Felsen zurück.
„Jetzt können wir“, sagte Polly.
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„Sie haben echtes Glück gehabt“, sagte der Arzt, der meinen Arm behandelte und verband. „Es hätten lebenswichtige Gefäße und Nerven getroffen werden können. Das Messer hat wie durch ein Wunder nur die Muskulatur getroffen. Wie genau ist das passiert? Sie wissen, dass ich das fragen muss?“
Ich nickte und ratterte, wie schon bei der Schwester in der Notaufnahme, die Geschichte von der missglückten Kochparty herunter, von der Freundin, die das Messer unglücklich gehalten hatte, als ich mit Schwung auf sie zugelaufen war.
Er sah mich aufmerksam an.
„Als Arzt bin ich bei Stichverletzungen verpflichtet, Ihre Personalien aufzunehmen.“
Ich kramte in meiner Tasche und hielt ihm meinen Ausweis hin.
Als ich das Krankenhaus verließ, steckte ich einen Brief in den Kasten an der Eingangstür. Auf dem Umschlag stand: Für Dr. Jäger. Morgen früh würde der Kasten geleert werden. In der Wohnung 3/01 Hafenstraße 3 liegt ein Toter. Es ist B. Flössow. Ich habe ihn umgebracht. Milana Helmholz
Dann rollte ich mit dem Koffer nach draußen. Bis morgen wären wir weit weg. Vielleicht in Koblenz. Oder in Hamburg. Polly, Vincent und ich.
Es war schon spät. Die Nacht war angebrochen. Eine sich ausbreitende Lache Dunkelheit. Wir würden den nächsten Zug nehmen.
Wir mussten morgen unbedingt zum Friseur. Die langen Haare mussten ab. Ab morgen würden sie uns suchen.