Schmatzlaut.

»Willkommen«, sagte Jaemessyn. »Ich weiß, dass du den

Sexus Cyning sehen willst.«

Belarius, erinnerte sich Adrianne. Der Höllenfürst der Lust

...

Ohne Furcht schwebte sie ins Innere. Ohne Körper konnten

sie ihr nichts anhaben. Nur ihre Psyche war verwundbar und

Adrianne besaß eine starke Psyche.

Die Anordnung im Inneren erinnerte sie an die

De-Rais-Kapelle der Villa, nur hatte ein unbekannter Skulpteur

hier alles aus lebendigem Fleisch geformt: die Kirchenbänke,

das Mittelschiff, den Altar und den Chorraum. Sämtliches

Fleisch, das sie umgab, glänzte vor Schweiß. Adergeflechte,

gefüllt mit heißem Blut, traten daraus hervor. An abgetrennten

Händen in organischen Wandhalterungen flackerten Flammen

an wie Dochte angezündeten Fingerspitzen. Im gesamten stik-

kigen Tempel roch es nach frischem, rohem Fleisch.

Der Blick ihres Geistes kreiste suchend; vom Gebieter dieses

Tempels fehlte jegliche Spur. Im hintersten Winkel des Bau-

werks jedoch ...

»Und da ist noch jemand, den du bestimmt sehen möchtest«,

fügte der gefallene Engel hinzu.

Es handelte sich um ein menschliches, kein dämonisches

Wesen. Um einen Mann.

Hildreth, erkannte Adrianne sofort.

Er lag in einem Mantel auf dem Opferstein des Altars. Blass,

mit geschlossenen Augen.

Reglos.

Ist er tot?, fragte sie sich.

»Er war noch nie lebendiger«, teilte ihr Jaemessyn mit.

»Aber genau wie bei dir hat seine Seele vorübergehend den

Körper verlassen. Seine Seele weilt woanders...«

In der Villa, begriff sie, doch noch bevor sie weitere Über-

legungen anstellen konnte, kreischte etwas in ihrem Geist auf

und jagte einen mentalen Schauder durch sie.

Etwas schoss durch das Mittelschiff, etwas zutiefst Veräng-

stigtes, und Adrianne wusste genau, worum es sich handelte.

Es war das Geistgefäß einer anderen Seele, eines Menschen,

der seinen Körper so wie Adrianne verlassen hatte. Adrianne

konnte es über sich schweben sehen, wo es hin-und herhuschte.

Sie spürte, dass es ein wesentlich schwächeres Bewusstsein als

ihr eigenes war – ein deutliches Anzeichen für Ungeschulte.

Hab keine Angst, hab keine Angst, versuchte sie das andere

Gefäß zu beruhigen und stieg auf, doch dann wurde ihr eigenes

Bewusstsein beinahe durch einen Ausbruch unverfälschten,

intensiven Grauens durch das Mittelschiff nach draußen ge-

schleudert. Die Stimme der anderen Seele schrie ihr entgegen:

»Adrianne, mein Gott, hilf mir, hilf mir!«

Adrianne erkannte die mentale Stimme auf Anhieb. Es war

Cathleen.

IV

Ich muss mittlerweile ungeheuer abgehärtet sein, dachte Wil-

lis. Was er in dieser Nacht durch seine »Berührungen« gesehen

hatte, so schrecklich der Anblick auch gewesen sein mochte,

hatte ihn nicht außer Gefecht gesetzt. Seine mentale Sicht

sprach auf die verschiedensten Räume und die unterschiedlich-

sten Zielobjekte sofort an und zeigte ihm Bilder von Mord,

satanischen Ritualen und zutiefst perversen sexuellen Aktivitä-

ten. Unmengen von Blut, Enthauptungen und Folter. Nyvysk

hatte recht, dachte er, als er einen der Salons verließ, in dem

man Frauen die Augen verbunden hatte, bevor sie von Män-

nern in schwarzen Kapuzenkutten vergewaltigt wurden. Die

haben hier irgendetwas verehrt.

Diesen... Belarius...

In einer Suite im vierten Stock griff Willis nach einer Haar-

bürste und wurde von Visionen einer nackten jungen Frau, die

auf einem Altar in einem mit Blut ausgekleideten Raum lag,

erschüttert. Es handelte sich weder um eine der Pornodarstelle-

rinnen noch um eine der ausgemergelten Prostituierten – die

Frau wirkte gesund und völlig normal. Pfirsichfarbener Teint,

langes kastanienbraunes Haar. Weder ihr Aussehen noch ihr

Flair passten zu den anderen. Sie wirkt unschuldig. Er nahm ein

Rüschenkissen vom Himmelbett und sah sie erneut, wie sie

sich mit angespannten Zügen in den Klauen eines Albtraums

hin-und herwarf. Dann noch einmal im Flur, als er mit seinen

nunmehr von Handschuhen befreiten Fingern die Täfelung

entlangstrich. Er beobachtete, wie ihr Körper von mehreren

nackten Männern getragen wurde, aber Willis vermochte nicht

zu sagen, ob sie nur bewusstlos oder bereits tot war.

Ich frage mich, wer das gewesen sein mag ...

Auch auf stoffliche Reste von Hildreth stieß er überall im

Haus. In der Regel stand der Mann selbstsicher und sehr ruhig

da und beobachtete mit größter Aufmerksamkeit seine Umge-

bung. Er betrachtete die Geschehnisse, als wiegte er den Wert

ihrer Würdigkeit für einen unbekannten Zweck ab. Leider sah

Willis meist nur zu genau, was Hildreth so faszinierte: entwe-

der eine erniedrigende sexuelle Handlung, eine unverhohlene

Orgie oder jemand, der abgeschlachtet wurde. In einer beson-

ders verstörenden Vision nahm er eine plumpe, übergewichtige

Frau mit ausdruckslosem Blick wahr, die sich Drogen in den

Arm spritzte, während ihr einer von Hildreths grinsenden Por-

nodarstellern einen Revolver mit gespanntem Hahn an den

Kopf hielt.

Dieses Haus ist wahrhaftig ein Ort des Teufels.

Doch selbst an seinen stärksten Tagen konnte Willis nicht

viel ertragen. Die Auswirkungen waren einfach zu erschöp-

fend. Allein wanderte er den Hauptflur im fünften Stock ent-

lang. Er passierte das Scharlachrote Zimmer, betrat es jedoch

nicht. Dort hatte er bereits mehrere Taktionen versucht, aber

nichts gesehen. Manche Räume und manche Gegenstände wa-

ren nur zu bestimmten Zeiten des Tages geladen, im Allge-

meinen zu jenen, die dem Zeitpunkt des Zielereignisses am

nächsten kamen. Ich denke, ich mache für heute Nacht Schluss.

Die meisten seiner Taktionen waren ausgesprochen klar gewe-

sen – und die Gruppe würde sich zweifellos dafür interessieren

–, allerdings gab es nichts wirklich Neues zu berichten. Er

hoffte, etwas zu sehen, das ihnen neue Erkenntnisse lieferte. In

dieser Nacht jedoch sah er nur mehr von dem, was er bereits

kannte. Mehr Mord, mehr Erniedrigung und mehr Perversion.

Dieses gesamte Haus war krank. Willis hatte genug.

In der dritten Etage vernahm er Licht, das durch eine offene

Tür in den Gang fiel, und hörte jemanden auf einer Tastatur

tippen. Grundsätzlich war Willis ein Einzelgänger, was aller-

dings keineswegs bedeutete, dass es ihm gefiel, ständig allein

zu sein. Durch das Haus fühlte er sich noch abgekapselter, und

nun, mitten in der Nacht, bedrückte es ihn. Er betrat den Raum.

»Ah, das ist also ihr Büro«, sagte er, als er Westmore vor

seinem Laptop sitzen sah. »Wie läuft’s?«

»Kann ich nicht genau sagen.« Der Schriftsteller kicherte.

»Ich bin gar nicht sicher, was ich eigentlich schreiben soll.«

»Bei mir ist’s dasselbe, wenn auch in einem anderen Kon-

text.« Willis schlenderte umher und betrachtete die beeindruk-

kenden Relikte im Raum. »Ich wurde engagiert, um herzu-

kommen und nach Erscheinungen Ausschau zu halten ... aber

ich weiß nicht genau, worum es sich bei diesen Erscheinungen

handelt.« Willis zündete sich eine Zigarette an, als er sah, dass

Westmore dasselbe tat. Ihm fiel ein DVD-Stapel auf einem

kunstvollen Tisch mit Intarsien aus Gold auf. »Was ist das al-

les?«, fragte er.

»Haufenweise Pornos, Zeug, das Hildreths Firma produziert

hat. Nach ungefähr fünf Minuten kommt einem alles gleich

vor.«

Willis sprach nicht aus, dass er das persönlich anders sah.

Als Sexsüchtiger, dessen übersinnliche Fähigkeiten ihn davon

abhielten, Frauen zu berühren, war er schon seit langer Zeit

süchtig nach Pornos. Eine weitere Begleiterscheinung seines

Einzelgängertums. Allein das Wissen, was sich auf den DVDs

befand, weckte in ihm den innigen Drang, sich einige davon

anzusehen. Allerdings wollte er sich das nicht anmerken lassen

– denn so sicher, wie er sich seiner Abhängigkeit war, so sehr

schämte er sich auch dafür. Er wandte sich ab. Sein Blick fiel

auf die rechteckige Aussparung in der Wand, die den Tresor

enthielt.

»Und da ist das größte Geheimnis der Villa.«

»Oh, der Safe?«, sagte Westmore. »Ja. Nur Gott weiß, wann

wir ihn endlich aufbekommen.«

»Hat der Schlüsseldienst nicht gesagt, man würde jemand

anderen schicken?«

»Klar, aber erst in ein paar Tagen. Und die waren die einzige

Firma im Telefonbuch. Aber es ist schon merkwürdig, dass die

Frau, die sie ursprünglich geschickt haben, einfach ver-

schwunden ist, ohne etwas zu sagen, und anscheinend auch

noch bei der Firma gekündigt hat.«

»Glauben Sie, etwas im Haus hat sie vertrieben?«

Westmore zog eine Augenbraue hoch. »Mittlerweile würde

mich das nicht mehr wundern. An diesem Ort kann mich über-

haupt nichts mehr überraschen.«

Willis bemerkte ein Gemälde auf dem Boden: eine junge

Brünette in einem Turnürenkleid, die mit der Hand von sich

weg zeigte. Schlagartig krampften sich Willis’ Eingeweide

zusammen. Es handelte sich um die Frau, die er gesehen hatte,

als er die Haarbürste berührte. »Was ist das für ein Gemälde?«,

fragte er etwas zurückhaltend.

»Das ist ’ne merkwürdige Sache. Es hing an der Wand über

dem Tresor und darunter war ein anderes Gemälde – nein, kein

Gemälde, sondern dieser Kupferstich.« Westmore drehte ihn

um und zeigte ihn Willis. »Anscheinend ist das eine Darstel-

lung von Belarius.«

Willis betrachtete die kleine verzerrte Fratze. Das Werk war

offensichtlich ziemlich alt. Doch es interessierte ihn nicht an-

nähernd so sehr wie das Gemälde der Frau. »Worauf zeigt

sie?«

Westmore deutete auf den zweiten Kupferstich an der ge-

genüberliegenden Wand.

»Der Apostel Johannes beim Verfassen der Offenbarung in

Patmos, circa 90 nach Christus«, las Willis die Inschrift vor. Er

kicherte

angesichts

des

Klischees.

»Haben

Sie

sechs-sechs-sechs als Kombination für den Safe versucht?«

»Ja. Hat nicht geklappt«, gab Westmore zurück. Ihm fiel auf,

dass Willis erneut auf das Gemälde der jungen Frau starrte.

»Ihr Name ist Debbie Rodenbaugh. Sie hat für Hildreth gear-

beitet. Ich vermute, er stand auf sie, wenn er dieses Gemälde

von ihr anfertigen ließ.«

»Ist sie eine der Frauen, die ermordet wurden?«, erkundigte

sich Willis.

»Nein. Ihre Leiche wurde nicht gefunden. Sie gilt als ver-

misst. Ich würde zu gern wissen, wo sie steckt.«

Willis räusperte sich unbehaglich. »Ich habe sie gerade erst

gesehen – in einer Vision, meine ich. Wenn ich geladene Ge-

genstände berühre, sehe ich manchmal Bilder der letzten Per-

son, die sie benutzt hat.«

»Was?« Westmore wirkte aufgeschreckt. »Sie haben sie in

einer Vision gesehen?«

»Etwas in der Art. Es nennt sich Zielvision. Ich nehme die

Vergangenheit von Gegenständen, die ich anfasse, wahr. Und

ich habe sie gesehen – hinten in einem der anderen Räume.«

Westmores Blick wurde abwesend. »Also glauben Sie, dass

sie tot ist ...«

»Oh nein, das habe ich damit nicht behauptet. Menschen wie

mich bezeichnet man als Taktionisten«, erklärte Willis. »Je-

mand, der Gespenster sieht, sieht die Geister der Toten – aber

das trifft auf mich nicht zu. Ich besitze nicht die Fähigkeiten

eines Mediums. Wenn ich jemanden sehe, bedeutet das nicht

zwingend, dass derjenige tot ist. Was ich von ihr gesehen habe,

war sehr unklar ...« Er ließ die Andeutung unkommentiert ste-

hen.

Karen betrat mit einem neugierigen Ausdruck im Gesicht

und einem Gin Tonic in der Hand das Zimmer. »Zeit fürs

Abendessen, Leute.«

Westmore schielte am Laptop auf die Uhr. »Abendessen? Es

ist fast elf.«

»Na schön, dann nennen wir es einen vormitternächtlichen

Snack.« Ihre Jeans und ihr nackter, flacher und äußerst son-

nengebräunter Bauch unter der geknoteten Bluse veranlassten

Willis, den Blick von ihr abzuwenden, weil er nicht wollte,

dass man ihn beim Glotzen erwischte. »Was gibt’s zu essen?«

»Cheeseburger«, antwortete Karen. »Ich fange gleich damit

an.«

»Ich glaube, ich passe ...« Aufgrund einiger seiner Zielvi-

sionen aus dieser Nacht verspürte Willis keinen besonderen

Appetit.

»Ich auch«, schloss sich Westmore an und schaltete den

Computer aus. »Kann ich mir mal Ihr Auto leihen? Ich muss

hier mal für eine Weile raus und fahre in meine Stammkneipe.«

Willis zeigte sich verwirrt. »Aber ich habe gehört, dass Sie

überhaupt nichts trinken.«

»Tut er auch nicht«, bestätigte Karen. »Er geht in Kneipen,

um nicht zu trinken. Ist so eine verschrobene Schriftstellersa-

che.«

»Ich gehe in Kneipen, um den Kopf freizubekommen«, er-

klärte Westmore. »Ist eine lange Geschichte.« Sein Blick wan-

derte zu Karen. »Und? Kann ich mir Ihr Auto nun leihen?«

»Sie haben doch gar keinen Führerschein.«

Westmore seufzte. »Sie wissen, dass ich nichts trinken wer-

de. Falls ich Ihr Auto zu Schrott fahre, kaufe ich Ihnen von

Vivicas Geld ein brandneues.«

Sie warf ihm die Schlüssel zu.

»Danke. Sie sind ein echter Kumpel.«

»Ich weiß.«

»Bis später«, verabschiedete sich Westmore und ging.

Karen sah Willis an. »Der Mistkerl glaubt, dass ich keinen

guten Cheeseburger hinbekomme.«

»Ich bin sicher, Sie machen fantastische Cheeseburger«, gab

Willis zurück. »Tatsächlich habe ich es mir anders überlegt.

Schmeißen Sie bitte einen für mich mit auf den Grill. Gut

durch.«

»Sie sollten mal das erstklassige Fleisch sehen, das im

Kühlschrank liegt. Sind Sie sicher, dass Sie’s nicht blutig wol-

len?«

Ich habe heute Nacht schon genug rohes Fleisch in meinen

Visionen gesehen. »Gut durch, wenn’s keine Umstände

macht.«

»Geht klar.«

»Ich komme in zehn Minuten runter.«

»Fein.« Lächelnd drehte sich Karen um und ging.

Die verschämte Lust bäumte sich in Willis’ Herz auf, als

Karen die Tür hinter sich schloss. Sofort begab er sich zum

DVD-Player und legte die erste DVD ein, die er fand. Die Bil-

der zogen ihn schlagartig in ihren Bann, so unrealistisch und

übertrieben sie auch sein mochten. Er klickte durch eine Szene

nach der anderen, um jedes neue Mädchen zu sehen. Gott,

dachte er abwesend. Die ganze nackte Haut. All diese vollen

Brüste, gespreizten Schenkel und anzüglich grinsenden Ge-

sichter. Die Frauen waren wunderschön ...

Hör auf, dachte er. Das ist erbärmlich. Und was konnte er

hier schon tun? Im Geheimen wichsen wie ein Teenager, der

sich im Schrank versteckte? Bei meinem Glück würde jemand

reinkommen. Wäre das nicht der Knüller?

In der nächsten Szene kamen zwei junge Frauen mit Ro-

deo-Drive-Körpern als Zimmermädchen verkleidet in ein Büro.

Sie fingen an, mit Staubsaugern und Wedeln herumzuputzen,

wobei sie sich ausgiebig vorbeugten. Bald ging das Geschehen

in lesbische Spielchen über. Mittendrin platzte der vermeintli-

che Büroleiter herein, einer von Hildreths mit Kokain aufge-

putschten Hengsten. Der Rest war nicht besonders bemer-

kenswert, aber Willis konnte den Blick nicht losreißen. Etwas

an der Szene beschäftigte ihn. Schnell wurde ihm klar, was.

Das Büro kam ihm äußerst vertraut vor.

Es handelte sich um dasselbe Büro, in dem er in diesem

Moment stand.

Da bekommt die Formulierung ›vor Ort geschossen‹ eine

ganz neue Bedeutung!

Ein Schauder kroch Willis über den Rücken. Das mochte

daran liegen, dass die Schauspieler auf dem Bildschirm in dem

Raum, in dem sich Willis gerade aufhielt, allesamt tot waren.

Es ist, als würde ich mir ihre Geister ansehen, dachte er und

schaltete den Fernseher aus.

Vor der Tür blieb er stehen, weil ihm erneut der Tresor in

der Wand auffiel. Ich bin der Scheiße heute Nacht echt nicht

mehr gewachsen, dachte er, zog aber trotzdem einen Hand-

schuh aus. Er fragte sich, was er sehen würde. Bestimmt nicht

die Kombination – so funktionierte Taktionismus nicht. Aber ...

was soll’s ...

Willis berührte den Drehknopf des Safes.

Als er über die Schulter blickte, sah er die attraktive junge

Frau namens Vanni in ihrer Arbeitsmontur am Schreibtisch

sitzen. Sie betrachtete einen kleinen Kasten, las Zahlen von

einem LCD-Bildschirm ab und notierte sie auf einem Zettel.

Natürlich ergab es Sinn, dass er sie sah; immerhin war sie die

Letzte gewesen, die den Tresor angefasst hatte. Dann verlager-

te sich die Vision, als blickte er durch zerkratztes Glas. Plötz-

lich befanden sie sich in dem verspiegelten Fitnessraum, der

ihm am ersten Tag weiter unten im Flur aufgefallen war. Ihre

Züge wirkten ekstatisch, als sie nackt in einem Sling penetriert

wurde, der ihre Beine mitten in der Luft weit spreizte. Es han-

delte sich um Mack, der ziemlich wilden Sex mit ihr hatte.

Dieses Arschloch, dachte Willis, doch noch bevor ihm etwas

anderes durch den Kopf gehen konnte, veränderte sich die Vi-

sion schlagartig ein weiteres Mal, und sie befanden sich wieder

im Büro ...

Nun fühlte sich der Raum kalt an.

Der kleine Kasten auf dem Schreibtisch war jetzt ver-

schwunden, ebenso der Rest von Vannis Schlosserwerkzeugen.

Sie stand nackt vor ihm, mit tief in den Höhlen liegenden Au-

gen und eingefallenem Gesicht.

Sie ist tot, erkannte Willis.

Ihre Haut war aschgrau, die großen gerunzelten Brustwarzen

zeichneten sich dunkelviolett ab.

Sie zeigte auf den Safe.

»Sie haben mich getötet, bevor ich die vollständige Kombi-

nation herausfinden konnte«, sagte sie. Ihr Atem bildete in der

eiskalten Luft kleine Wölkchen.

»Wer?«

»Diese Kreaturen aus dem Tempel ...« Sie ging zum Safe

und fuhr träge mit den Fingern darüber. Nach mehreren Tagen

des Todes traten ihre Rippen hervor und sie wirkte insgesamt

knochig. Ihr Körper begann auszutrocknen. »Aber sie ist ein-

fach ...«

»Die Kombination?«, riet Willis.

»Ihr seid doch angeblich so schlau. Es ist ein einfacher Zah-

len-Buchstaben-Code, ein Akrostichon aus der kanonischen

Gematrie. Das älteste Verschlüsselungsverfahren der Welt.«

Willis verstand nicht.

Ihr Bauch schien zusehends einzufallen, die Linien ihrer

Rippen traten deutlicher hervor, ebenso die Adern an ihrem

Hals und an ihren Armen. »Berühr mich«, forderte sie ihn auf.

»Oder hast du Angst?«

»Ich habe kein bisschen Angst«, gab Willis zurück und

meinte es so. »Und ich kann dich nicht berühren, weil es nichts

zu berühren gibt. Dein physischer Körper existiert nicht. Du

bist ein Wiedergänger. Ich habe jeden Tag mit deinesgleichen

zu tun.«

Ihre grauen Brüste hoben und senkten sich. Atmete sie etwa?

»Du bist dir also sicher, dass wir alle gleich sind?«

»Ja.«

Sie packte ihn an der Kehle und schleuderte ihn zu Boden.

Es geschah so schnell, dass Willis nicht reagieren konnte. Ab-

rupt wurde er von den Beinen geholt und seine Kiefer knallten

gegeneinander, als er unsanft mit dem Rücken auf dem Boden

landete. Als sich seine trübe Sicht schärfte, kauerte sie rittlings

auf ihm. Ihre nackte Scham thronte auf seinem Bauch. Mit ei-

ner toten Hand drückte sie seine Kehle zu. Willis konnte nicht

denken und kaum atmen.

»Berühr mich«, krächzte Vanni. »Berühr mein Herz und

sieh. Ich muss dir etwas zeigen, das sehr wichtig ist.«

Willis gelang es, Widerstand zu leisten, der jedoch wir-

kungslos blieb. Als er den Arm hob, um ihr Gesicht wegzu-

drücken, packte sie ihn mit der freien Hand am Gelenk. Ihre

Scham rieb an ihm. Sie hatte seine rechte Hand ergriffen, die

sie langsam zu ihrer linken Brust zog und dagegen presste. Er

spürte pulsierende Adern und einen Herzschlag. Kaum einen

Wimpernschlag später wurde er von einer Vision heimgesucht.

»Schau hin, schau hin. Und sieh ...«

Eine Schlucht unter einem scharlachroten Himmel. Ein

Tempel gebadet in unwirklichem schwarzem Mondlicht.

Ein Tempel aus Fleisch.

Ein Mann vor den aus Haut und Muskeln bestehenden Säu-

len zu beiden Seiten der Tempeltüren – Türen mit Strukturen

aus Adern, die exakt synchron mit Vannis Herz pulsierten.

»Siehst du es?«, presste die Stimme von oben hervor.

Willis antwortete nicht. Die Hand umschloss seine Kehle

fester, schnitt ihm die Sauerstoffzufuhr ab und drohte die

Knochen im Genick zu brechen. Schließlich nickte er.

»Dorthin muss ich zurück«, wurde ihm mitgeteilt. »Aber

meine Anweisungen lauteten, es dir vorher zu zeigen.«

»Anweisungen von wem?«, gelang es Willis hervorzustoßen.

»Von Belarius?«

»Nein. Von dem Mann, der vor den Tempeltüren steht ...«

Willis blickte zurück in die Vision und erkannte den Mann.

Hildreth.

Die höllengleiche Aussicht schwärzte sich. Einige Momente

lang konnte Willis nichts mehr sehen ... aber er konnte fühlen.

Kalte Lippen sogen seine Zunge aus seinem Mund einer noch

kälteren Zunge entgegen. Eine knochige Hand streichelte mit

leidenschaftlichen Fingern die Erektion in seinem Schritt.

Dann öffnete Willis die Augen und fand sich auf dem Boden

des Büros wieder.

Allein.

V

Westmore saß in schummriger Dunkelheit im Erdgeschoss an

der Theke seiner Lieblingskneipe, die ihn seit seinen Tagen als

Alkoholiker bis in die Trockenheit begleitet hatte. The Sloppy

Heron war als Pfahlbau direkt an der Küste errichtet worden.

Unmittelbar hinter ihm erstreckte sich ein Pier; er konnte hö-

ren, wie die Brandung gegen die dort vertäuten Boote klatsch-

te. Den Hauptraum im oberen Stock empfand er in dieser

Nacht als zu voll – schuld waren die vielen Studenten, die es in

den Semesterferien hierherlockte. Die gerade eben volljährige

Klientel machte eifrig Gebrauch von der Happy Hour. Zwei-

felsohne würden die meisten von ihnen am nächsten Mittag mit

dickem Schädel die Nacht bitter bereuen. Mehrere BHs waren

bereits vor Westmores Augen im Wasser gelandet. Er brauchte

das alles nicht. Dafür bin ich zu alt und – hoffentlich – zu ver-

nünftig. In der unteren Bar herrschte eine wohltuende Stille.

Nur wenige andere Gäste saßen hier über ihrem Bier und war-

fen dann und wann einen Blick auf die Fernseher mit den

Sportübertragungen.

Angenehm ruhig, dachte er.

Westmore war damit beschäftigt, seine Gedanken zu ordnen;

da gab es eine Menge zu tun. Die Geschehnisse der letzten Ta-

ge in der Villa überforderten ihn, es waren zu viele neue Ein-

drücke auf ihn eingeprasselt. Übersinnlich Begabte, Gaussme-

ter, Stimmphänomene und Infrarotgeister. Herrgott noch mal,

ich bin doch bloß ein kleiner Reporter. Aber je mehr er sich auf

die Dinge konzentrierte, mit denen er etwas anfangen konnte

vermisste Personen, fragwürdige Gräber, geheimnisvolle Ma-

triarchinnen – desto verwirrter wurde er.

Irgendwann blickte er auf, als mehrere Gäste entsetzt auf-

stöhnten. »Bei uns erfahren Sie es exklusiv und zuerst«, ver-

kündete gerade ein Moderator im Fernsehen. »Die New York

Yankees haben soeben einen Rekordvertrag mit Superstar Alex

A-Rod Rodriguez abgeschlossen, womit sich die Bomber aus

der Bronx einen der besten Infielder in der Geschichte des

Baseballs gesichert haben ...« Westmore verstand nichts von

Sport, aber es amüsierte ihn, als einer der Gäste, dem die

Nachricht wohl wirklich zu schaffen machte, auf den Pier hin-

ausging und sich ins Wasser übergab. Dann klingelte sein

Handy.

»Ich hab endlich etwas Dreck über deine Leute ausgegra-

ben«, ertönte die Stimme am anderen Ende der Leitung. Es war

Tom McGuire, sein alter Freund aus Zeitungstagen, der inzwi-

schen als freiberuflicher Ermittler arbeitete.

»Das ging ja schnell, Tom. Danke.«

»Dank mir noch nicht. Allzu viele pikante Einzelheiten gibt

es nicht. Ich hab etwas über das Mädchen und Hildreth, aber

nicht besonders viel. Einiges davon ist durchaus interessant,

aber einen richtig faulen Fisch habe ich nicht geangelt.«

Tatsächlich hatte Westmore auf eine gewaltige Ladung fau-

ler Fische gehofft. »Ich höre.«

»Deborah Rodenbaugh, geboren in Florida, 18 Jahre alt.

Stammt aus einer unscheinbaren Mittelklassefamilie mit blü-

tenweiser Weste. An der High School war sie Einser-Schülerin

und heimste ein beachtliches Geschichtsstipendium ein. Ein

paar lokale Käseblättchen haben sogar darüber berichtet. So-

weit alles prima, aber dann kommt ein harter Schlag. Ihre El-

tern wurden vor etwas mehr als einem Jahr ermordet, unmit-

telbar nachdem sie die St. Petersburg High abgeschlossen hat-

te.«

Das weckte Westmores Interesse. »Ermordet? Und Mord ist

für dich kein fauler Fisch?«

»Es war ein gewöhnlicher Einbruch, wie er jederzeit und

überall passieren kann. Cracksüchtige sind ins Haus eingestie-

gen, die Familie wurde wach, also gerieten die Junkies in Panik

und brachten alle um. Sie ließen alle Wertgegenstände, Brief-

taschen und ein paar technische Geräte mitgehen, klauten das

Auto und brausten damit auf Nimmerwiedersehen davon. Die

Polizei von Treasure Island fand den Wagen am nächsten Tag

in der Nähe einer Bushaltestelle. Die Beamten gehen von Be-

schaffungskriminalität aus, die Ermittlungen dauern an, wie es

offiziell so schön heißt. Im Klartext: Der Fall wird wahrschein-

lich bis in alle Ewigkeit ungelöst bleiben, weil sich jedes Jahr

einige Hundert solcher Morde in Florida ereignen. In Florida

gibt’s eben nicht nur jede Menge Sonnenschein, sondern auch

jede Menge Crack. Shit happens, mein Freund.«

Da hat er wohl recht, dachte Westmore. »Und wo steckt sie

jetzt?«

»Nach der Ermordung ihrer Eltern war sie noch minderjäh-

rig, deshalb übernahmen ihre Tante und ihr Onkel in Jackson-

ville die rechtliche Vormundschaft. Auch die beiden besitzen

eine blütenweise Weste. Keine Vorstrafen, nicht mal ein unbe-

zahlter Strafzettel. Als ich am Telefon mit ihnen gesprochen

habe, erzählten sie mir, dass Debbie im zweiten Semester an

der Universität von Oxford in England studiert. Sie haben mir

alle möglichen Telefonnummern gegeben, ihre Immatrikulati-

onsnummer, die Adresse ihres Studentenwohnheims, eine Liste

ihrer Kurse und Professoren – die ganze Litanei.«

»Hast du das alles überprüft?«

»Die Immatrikulationsnummer schon. Den Rest hab ich mir

erspart, aber wenn du willst, mach ich das noch.«

»Ich will. Bitte.«

Ein Seufzen kam durch die Leitung. »Hast du eine Ahnung,

was das für ein Aufwand ist? Allein schon die Zeitverschie-

bung ...«

»Ich hab dir doch gesagt, dass ich dir den gängigen Satz be-

zahle«, unterbrach Westmore seinen Freund ungeduldig. Er

wusste, dass seine Bitte anspruchsvoll war, aber er konnte nicht

anders. »Ich brauche diese Informationen wirklich, Tom.«

»Na schön, gib mir ein paar Tage.«

»Danke«, erwiderte Westmore. »Und jetzt erzähl mir was

über Hildreth.«

Ein leises Kichern. »Dein Milliardär und Überflieger war gar

kein richtiger Geschäftsmann.«

»Was soll das heißen?«

»Er hat in seinem ganzen Leben nur einen einzigen Gewer-

beschein beantragt. Für einen schmierigen Laden namens T&T

Enterprises. Bist du bereit für einen Knaller? Das ist ein ...«

»Eine Pornoproduktion, ich weiß«, unterbrach ihn Westmo-

re. »Und ich glaube, die hat nicht mal Gewinn abgeworfen.«

»Da hast du verdammt recht«, gab Tom zurück. »Dieser

Hildreth hat die Firma für eine Million von einem Schleim-

scheißer in Kalifornien gekauft, als sie noch leicht schwarze

Zahlen schrieb, danach trieb er sie in den Ruin. Hat kaum noch

Filme rausgebracht, hielt Vertriebsvereinbarungen nicht ein,

machte keine Werbung mehr. Es hat fast den Anschein, als

wäre ihm völlig egal gewesen, dass der Laden keine schwarzen

Zahlen mehr schrieb.«

»Das war’s ihm auch«, bestätigte Westmore. »Er war ein

Exzentriker. Ich habe gehört, dass er die Firma gekauft hat,

weil ihm die Frauen gefielen, die dort arbeiteten.«

Tom lachte. »Ja, das würde ich auch als exzentrisch be-

zeichnen. ›Hallo, Süße, mir gefällt dein Arsch so sehr, dass ich

deine Firma gekauft habe. Jetzt arbeitest du für mich.‹«

»So was in der Art, schätze ich.« Westmore zündete sich

eine Zigarette an. »Wie sieht’s mit seiner Vorgeschichte aus?«

»Da gibt’s nicht viel zu finden. Geboren 1944 in Jersey, zwei

Jahre später zogen seine Eltern nach Florida um – alles völlig

unspektakulär.

Durchschnittlicher

High-School-Abschluss.

Hab noch nicht tief genug gegraben, um Details zu seinem be-

ruflichen Werdegang, sein Führungszeugnis und so weiter in

die Finger zu bekommen. Reginald Hildreth gleicht einem

weißen Fleck auf der Landkarte des Lebens, genau wie die

meisten von uns Durchschnittsmenschen – bis Anfang der

1980er.«

»Was geschah dann?«

»Da wurde er reich. Die einzigen konkreten Hinweise auf

seine deutlich verbesserte finanzielle Situation liefern aller-

dings seine bundesstaatlichen Steuerunterlagen. Jetzt kommt

der Teil, der dich umhauen wird.«

»Leg los.«

»Zwischen 1981 und 1983 hat dein Mann 100 Millionen

Dollar eingestrichen. Erst dachte ich, er muss ein Finanzgenie

oder so gewesen sein – aber Mann, damit lag ich komplett

falsch!«

»Wie ist er dann an die Kohle gekommen?«

»Durch Glücksspiel.«

Westmore runzelte die Stirn. »Mit Glücksspiel allein kann

man keine 100 Millionen Dollar machen. Das ist verrückt.«

»Ich weiß, aber erzähl das mal deinem Mann. Während die-

ser beiden Jahre ging er in etwa 100 verschiedene Casinos rein,

staubte in jedem etwa eine Million ab und spazierte wieder

raus. Hat für jeden Gewinn brav seine Steuern gezahlt und ist

weitergezogen.«

»So käme man in Las Vegas keine zwei Nächte weit. Man

würde ihm überall Hausverbot erteilen.«

»Er ist in Las Vegas auch keine zwei Nächte weit gekom-

men. Dort hat er zwar einen siebenstelligen Betrag eingesam-

melt, dann ging’s aber direkt weiter nach Atlantic City und

anschließend zu den größten Casinos in den Indianerreservaten

von einem Dutzend unterschiedlichen Bundesstaaten. Danach

kamen Costa Rica, Monte Carlo und so weiter und so fort.

Niemand konnte etwas dagegen unternehmen, weil alles legi-

tim war. Und der Scheißer gab wie gesagt jeden Dollar brav

auf seiner Steuererklärung an, deshalb hat auch Vater Staat

keinen Alarm geschlagen.«

Westmore schüttelte angesichts der absurden Umstände den

Kopf. »War er ein Mathematikgenie? Besaß er ein fotografi-

sches Gedächtnis?«

»Möglich, aber nicht wirklich feststellbar. Vielleicht hatte er

einfach unverschämtes Glück. Oder er hat gemacht, was die

meisten Spieler nie tun: Das Geld zu nehmen und aufzuhören,

wenn’s gerade am besten läuft.«

»Ich weiß nicht recht. Das scheint mir ein bisschen viel

Glück auf einmal zu sein«, merkte Westmore an.

»Du hast ja erst einen Teil der Geschichte gehört, wart’s mal

ab. Aber was das Glücksspiel angeht – solche merkwürdigen

Winke des Schicksals gibt’s immer mal wieder. So wie bei der

Frau aus Ohio, die im selben Jahr beide staatlichen Lotterien

gewonnen hat. Für deinen Mann allerdings kam das echte

Glück erst nach seiner Siegessträhne.«

»Ich habe gehört, er war Investor.«

»Das war er – soweit ich weiß allerdings ohne klassische

Ausbildung oder Erfahrung. Jedes Mal, wenn Hildreth den

Jackpot in einem Casino knackte, bezahlte er seine Steuern und

investierte den Rest in Aktien.«

»Bluechips?«

Ein Lachen am anderen Ende. »Dieser Kerl hat Anteile an

spekulativen Garagenunternehmen gekauft, aber fast aus-

schließlich an solchen, denen später der große Wurf gelang.

Microsoft, Apple, Bank of America, die Minibude, aus der

später AOL hervorging – eine lange Liste. Alle erwiesen sich

ein paar Jahre später als Senkrechtstarter – 1000 Prozent Ge-

winn an den Aktien, mehrere Übernahmen und Aktienteilun-

gen. Derzeit ist der Kerl 1,4 Milliarden Dollar schwer.«

War er, berichtigte Westmore in Gedanken. Jetzt ist er tot.

Aber stimmte das überhaupt? Westmore versuchte, eine pro-

fessionelle Einstellung zu bewahren. Er hatte einen Auftrag

angenommen. Er hatte eine Kundin, Vivica Hildreth, doch je

angestrengter er versuchte, sich auf die Pflichten zu konzen-

trieren, für die er lächerlich gut bezahlt wurde, desto mehr

Zweifel kamen in ihm auf. Was genau soll ich jetzt unterneh-

men? Es schien beinahe so zu sein, als ermittle er für sich

selbst, um die eigene Neugier zu befriedigen. »Das war her-

vorragende Arbeit, Tom. Danke. Aber ich möchte, dass du

noch einen weiteren Namen für mich überprüfst.«

»Oh, kein Problem, Kumpel. Ich hab doch sonst nichts Bes-

seres zu tun ...«

»Ja, ja. Stell’s mir meinetwegen doppelt in Rechnung oder

so. Aber wenn du Debbie Rodenbaugh weiter recherchierst,

möchte ich, dass du auch eine Überprüfung der Ehefrau vor-

nimmst – Vivica Hildreth.«

Ein gedehntes Seufzen. »Na schön.«

Westmores Gedanken drifteten ab – zurück zu Hildreth.

»Bist du noch dran?«, fragte Tom.

»Ja. Ich hab bloß kurz nachgedacht. Das ganze Geld, das

Hildreth eingeheimst hat – ausschließlich in Casinos und

Spielbanken. Glaubst du wirklich, dass ein Mensch allein so

viel Glück haben kann?«

»Manche haben’s, andere eben nicht«, gab Tom fatalistisch

zurück. Er lachte trocken. »Wer weiß? Vielleicht hat der Kerl

dem Teufel seine Seele verkauft.«

Westmore starrte ins Leere. »Danke für deine Hilfe. Ich halt

dich jetzt nicht weiter von der Arbeit ab und ruf in ein paar

Tagen wieder durch.«

»Alles klar.«

Westmore legte auf. Er blies den Rauch seiner Zigarette aus

und beobachtete, wie er sich in seltsamen Formen kräuselte

und schließlich verflüchtigte. Oh Mann. Was soll ich davon

bloß halten? Er ergriff sein Glas mit Scotch, schnupperte dar-

an, stellte es zurück und trank stattdessen einen Schluck Eis-

wasser.

Jemand tippte ihm auf die Schulter. »Ist das die Person, nach

der Sie suchen?« Ein Foto wurde ihm vors Gesicht gehalten.

»Ich habe eben gehört, wie Sie am Telefon ihren Namen er-

wähnten ...« Bevor Westmore einen näheren Blick auf den

Mann werfen konnte, der mit ihm sprach, verdeckte das Foto

seine Sicht.

Es zeigte Debbie Rodenbaugh.

Wer um alles... Jäh fuhr er auf seinem Sitz herum und sah

mit finsterer Miene auf.

Und war ausgesprochen verblüfft darüber, wessen Gesicht er

vor sich hatte.

»Ich denke, ich rufe jetzt besser die Polizei«, stieß Westmore

wütend hervor. Der Mann, der neben ihm Platz nahm, war kein

Unbekannter für ihn. Ein älterer Kerl mit Kurzhaarschnitt, ei-

ner kahlen Stelle und dunklem Schnurrbart.

»Sie sind mir so schnell auf die Schliche gekommen?«

Es

handelte

sich

um

»Mike«

von

der

Baysi-

de-Schädlingsbekämpfung. Im Augenblick trug er Jeans, aus-

getretene Halbschuhe und ein T-Shirt mit Jane Fonda in einem

Fadenkreuz.

Westmore wusste nicht recht, was er sagen sollte. »Ich habe

erst unlängst auf einem Sicherheitsvideo gesehen, wie Sie CDs

in einem illegalen Abhörgerät ausgetauscht haben, während Sie

sich als Mitarbeiter einer Schädlingsbekämpfungsfirma ausga-

ben.«

»Was sagt man dazu ...« Sein Blick blieb an Westmores

Scotch hängen. »Ich dachte, Sie trinken nicht mehr.«

Stöhnend ließ Westmore die Schultern sinken. »Tu ich auch

nicht. Ist eine lange Geschichte, die Sie vor allem nichts an-

geht. Zwei Fragen: Warum sollte ich nicht auf der Stelle die

Polizei anrufen? Und weshalb tragen Sie ein Foto von Deborah

Rodenbaugh mit sich herum?«

»Warten Sie noch damit, die Polizei anzurufen. Ich würde

ohnehin straffrei davonkommen. Mein Schwager ist Staatsan-

walt und einige meiner besten Freunde arbeiten im Büro der

Strafbehörde. Ich war früher Bulle, hab 20 Jahre beim County

Sheriff Department abgespult. Als ich in Rente ging, war ich

Leiter der Drogenbekämpfungseinheit und habe mehr Belobi-

gungen und Urkunden zu Hause an der Wand hängen als jeder

andere Beamte in der Geschichte des Departments.«

»Berichtigung«, sagte Westmore. » Drei Fragen. Wer zum

Teufel sind Sie?«

»Bart Clements.« Er reichte Westmore seine Brieftasche, die

den Ausweis eines Polizeibeamten im Ruhestand enthielt. Sieht

echt aus, dachte Westmore. Aber was weiß ich schon?

»Geben Sie mir eine Minute Zeit, dann beantworte ich Ihnen

sämtliche Fragen«, sagte Clements. »Ich bin aus einem ganz

bestimmten Grund hier – ich will mit Ihnen reden. Ich wusste,

dass der Sloppy Heron Ihre Lieblingskneipe ist. Verdammt, ich

bin die vergangene Woche jeden Abend hier gewesen. Wurde

langsam Zeit, dass Sie endlich mal aufkreuzen.« Er bestellte

beim Barkeeper ein Bier vom Fass, eine Cola und eine Schale

mit Zwiebelringen. Die Cola brachte er einer jungen Frau, die

draußen alleine an einem dunklen Tisch direkt am Ufer saß.

Als er zurückkam, erkundigte sich Westmore: »Wer ist

das?«

»Eine Freundin.«

Westmore zog die Augenbrauen hoch und betrachtete die

junge Frau erneut. Sie wirkte dünn und irgendwie nuttig – ab-

geschnittene Jeans, Flipflops, Schlauchtop. Strähniges, dunkles

Haar. »Wie alt sind Sie, um die 60?«

»57.«

»Nichts für ungut, Mann, aber die sieht wie eine 25-jährige

Bordsteinschwalbe aus.«

»Das ist sie auch.«

»Na toll. Ein hochdekorierter Ex-Bulle... der Nutten aufga-

belt.«

»Ich habe eine Schwäche für Nutten. Hatte ich schon im-

mer.« Clements sah ihn an. »Jeder hat irgendein Laster, oder?

Nyvysk hat die Priesterschaft aufgegeben, weil er sich ständig

in andere Priester verknallt hat. Adrianne Saundlund ist medi-

kamentenabhängig. Cathleen Godwin ist sexsüchtig. Patrick

Willis ist Pornojunkie. Jeder von uns hat sein Laster. Meins

sind Nutten. Ich kann nichts dagegen tun.«

Westmore war ehrlich verblüfft. »Beeindruckend, wie viel

Sie über die Leute in der Villa wissen, aber ich schätze, wenn

man die Bude verwanzt hat, ist es ein Kinderspiel, solche per-

sönlichen Informationen aufzuschnappen. Nur kennen Sie mich

überhaupt nicht. Warum zum Henker erzählen Sie einem völlig

Fremden so persönlichen Kram über sich? Sich mit Nutten

einzulassen, ist nichts, worauf man stolz sein könnte. Für einen

ehemaligen Bullen ist es noch eine ganze Ecke peinlicher.

Warum erzählen Sie mir das?«

»Ich will, dass Sie mir vertrauen«, antwortete Clements,

nippte an seinem Bier und zündete sich eine Zigarette an. »Üb-

rigens habe ich in Vivicas Penthouse im Strauss Building eine

noch bessere Wanze versteckt. Ein Funkmikrofon. Anders als

bei der Villa muss ich nicht hingehen, um CDs zu wechseln.

Durch diese Wanze habe ich mehr erfahren als durch die ande-

re. Und das verrate ich Ihnen aus demselben Grund, aus dem

ich so freimütig über meine persönlichen Schwächen plaudere.

Damit Sie mir vertrauen. Sie könnten Vivica auf der Stelle an-

rufen, ihr von mir erzählen und sie über die Wanze aufklären.

Und das ist ein strafrechtliches Vergehen, für das die Bundes-

behörden zuständig sind. Dafür bekämen sie mich wirklich

dran.«

Worauf du einen lassen kannst!, dachte Westmore.

»Ach ja, was das Mädchen angeht...« Clements schaute zu

der verlotterten jungen Frau, der er die Cola gebracht hatte.

»Ja, sie ist eine Straßenhure, aber ich habe sie nicht deshalb

mitgenommen. Ihr Name ist Connie und sie ist ... eine Freun-

din. Sie hilft mir, ich helfe ihr. Ich will ihr einen Platz in einer

Entzugsklinik besorgen.«

»Und wie hilft sie Ihnen?«

Clements bedachte Westmore mit einem freudlosen Lächeln.

»Sie ist einer der letzten Menschen, die Hildreth und diese

Pornobräute lebend gesehen haben. Und sie ist einer der letzten

Menschen, die Debbie Rodenbaugh zu Gesicht bekommen ha-

ben, als die noch unter uns weilte.«

Westmore ließ sich diese Auskunft durch den Kopf gehen,

bevor er verstand. »Sie ist eine der Prostituierten aus dem Sa-

lon ...«

»Richtig. Sie wurde in der Nacht vor dem Gemetzel hoch-

genommen, sonst wäre sie ebenfalls dort gewesen und ihr wäre

so wie den anderen der Kopf abgeschnitten worden. Sie weiß

mehr über dieses Haus als Sie und ich zusammen.«

Westmore fühlte sich überrumpelt. Das kommt völlig aus

heiterem Himmel. »Und der Grund, warum Sie möchten, dass

ich Ihnen vertraue ist... welcher?«

»Ich brauche Ihre Hilfe. Und man kann nie wissen, vielleicht

könnten Sie auch meine brauchen. Wir sitzen beide im selben

Boot, Kumpel. Wir versuchen beide, herauszufinden, was mit

Debbie Rodenbaugh passiert ist. Lassen Sie uns an einem

Strang ziehen.«

»Wieso interessieren Sie sich für Debbie Rodenbaugh?«,

wollte Westmore als Nächstes wissen.

»Sie war mein letzter Fall. Ich hasse es, wenn ich versage,

und in ihrem Fall habe ich eindeutig versagt. Dabei geht es um

mehr als meinen Seelenfrieden. Ich habe das Mädchen zwar nie

kennengelernt, trotzdem habe ich das Gefühl, ihr etwas schul-

dig zu sein. Ihre Eltern wurden ermordet, weil ich den Fall an-

genommen habe.«

»Welchen Fall? « Mittlerweile war Westmore eher gereizt

als neugierig. »Was hat sie mit Ihnen zu tun? Ihre Eltern wur-

den nach meinen Informationen von Drogensüchtigen ermor-

det, die in ihr Haus eingebrochen sind. Es war ein Unfall.«

Clements schürzte leicht angewidert die Lippen. »Ihre Eltern

wurden in Hildreths Auftrag ermordet. Er und dieses Miststück

von Ehefrau haben sie eiskalt umbringen lassen. Die beiden

hatten Debbie bereits in ihren Bann gezogen, deshalb fingen

die Eltern an, unangenehme Fragen zu stellen. Wo trieb sie sich

herum? Worum ging es bei ihrem neuen ›Job‹? Hildreth

brauchte die Kleine.

Vor etwas mehr als einem Jahr verließ ich das Sheriff De-

partment und machte mich als Privatdetektiv selbstständig. Die

Rodenbaughs haben mich engagiert, um Debbie im Auge zu

behalten und herauszufinden, weshalb sie so viel Zeit in der

Hildreth-Villa verbringt. Und ehe ich mich versah, waren die

Eltern tot und ich saß zusammen mit etlichen Drecksäcken, die

ich dorthin verfrachtet hatte, in der Bezirksuntersuchungs-

haftanstalt. Der Knast ist kein guter Ort für einen ehemaligen

Bullen.«

Westmore verstand nicht recht. »Weshalb waren Sie im Ge-

fängnis?«

»Besitz von Crack mit der Absicht, damit zu handeln. Die

Polizei erhielt einen anonymen Hinweis und fand ein halbes

Kilo von dem Dreck in einer Plastiktüte in meinem Haus. Die

Tüte war mit meinen Fingerabdrücken übersät. Eine hieb-und

stichfeste Angelegenheit.«

Völlig verwirrt schüttelte Westmore den Kopf.

»Es war ein abgekartetes Spiel«, klärte Clements ihn auf.

»Kapieren Sie nicht? Hildreth hat Leute dafür bezahlt. Die ha-

ben sich die Tüte aus meiner Garage geholt – natürlich waren

meine Fingerabdrücke drauf. Dann haben sie das Ding in mei-

nem Haus deponiert – ganz einfach. Die Razzia wurde von der

Stadtpolizei durchgeführt; denen war scheißegal, dass ich

Drogenermittler beim Sheriff Department war – für sie sah es

so aus, als wäre ich ein ehemaliger Bulle, der auf die schiefe

Bahn geraten war.

Kein Geschworenengericht dieser Welt hätte mir angesichts

einer so erdrückenden Beweislast geglaubt, deshalb ging ich

einen Deal ein und plädierte auf schuldig. Mein Schwager hat

mir geglaubt, ebenso meine Freunde bei der Oberstaatsanwalt-

schaft – Scheiße, die kennen mich seit Jahrzehnten. Und der

Richter hat mir auch geglaubt – deshalb verlor ich nur meine

Lizenz als Privatdetektiv und bekam fünf Jahre auf Bewäh-

rung. Der einzige Grund, warum sie mir meine Beamtenrente

nicht gestrichen haben, war, dass mein Cousin Anwalt für die

Polizeigewerkschaft ist und ein Schlupfloch fand. Aber unterm

Strich geht’s darum: Ich wurde Hildreth lästig, also ließ er

mich aus dem Verkehr ziehen. Die Eltern von Debbie wurden

Hildreth lästig, also ließ er sie noch etwas drastischer aus dem

Verkehr ziehen. Problem astrein gelöst.«

Westmore dachte nach. Als der Barkeeper die Zwiebelringe

brachte, winkte Clements die junge Frau herbei. Zaghaft kam

sie zur Bar. Sie schien kaum 50 Kilo auf die Waage zu bringen.

»Connie«, sagte Clements. »Das ist Westmore. Er ist der

Mann, der uns helfen wird.«

Westmore zuckte zusammen. »Hey, ich habe noch nicht zu-

gesagt, Ihnen bei irgendetwas zu helfen. Ich bin mir noch nicht

mal sicher, ob ich nicht doch die Polizei anrufe und Sie melde.

Oder mit Vivica über die Wanze spreche.«

»Verstehen Sie denn nicht? Vivica ist jetzt diejenige, die alle

Fäden in der Hand hält, während sich Hildreth versteckt«, sagte

Clements mit Nachdruck. »Sie ist die Strippenzieherin und

manipuliert Sie nach Belieben. Aber Sie fangen allmählich an,

durch den stinkenden Nebel zu sehen – Sie sind kein Trottel.

Wenn Sie immer noch keinen Verdacht gegen sie hegen, müs-

sen Sie wirklich nur Scheiße im Hirn haben.«

Darüber dachte Westmore eingehend nach. Irgendetwas

stimmte tatsächlich ganz und gar nicht, und ein wenig ver-

dächtig war ihm Vivica von Anfang an vorgekommen. Cle-

ments hat recht. Ich traue ihr NICHT. Warum sonst hätte ich

Tom aufgefordert, sie ebenfalls zu überprüfen?

»Irgendetwas geht demnächst in dem Haus ab«, fuhr Cle-

ments fort. »Ich kenne keine Details, aber ich werde es recht-

zeitig herausfinden. Und so viel weiß ich: Das Verschwinden

von Debbie Rodenbaugh ist der Dreh-und Angelpunkt der

ganzen Geschichte.«

»Sie ist nicht verschwunden«, berichtigte Westmore zutiefst

selbstsicher. »Sie besucht derzeit die Universität von Oxford.«

»Blödsinn. Connie hat sie vor weniger als einem Monat in

dem Haus gesehen. Klar, sie ist in Oxford eingeschrieben, nur

ist sie dort nie aufgetaucht.«

»Ich halte es für ziemlich wahrscheinlich, dass sich Connie

geirrt hat«, fasste Westmore seine Gedanken so höflich wie

möglich in Worte. Das Mädchen war unübersehbar drogen-

süchtig – keine besonders verlässliche Quelle. »Und Debbie

Rodenbaughs Vormunde ...«

Mit verächtlichem Lachen schnitt Clements ihm das Wort

ab. »Was denn, die Tante und der Onkel in Jacksonville? Die

Leute behaupten alles Mögliche, wenn man ihnen genug dafür

zahlt – und Vivica Hildreth hat eine Menge Geld.«

Plötzlich geriet Westmore ins Grübeln ... über sich selbst.

Geblendet von Geld, das er definitiv brauchte? Die effektivste

Loyalität überhaupt. »Na schön, ich höre Ihnen weiter zu. Sie

haben gesagt, Sie möchten, dass ich etwas für Sie tue. Aber

was tun Sie für mich?«

Clements kicherte. »In diesem wahnwitzigen Haus? Irgen-

detwas wird dort passieren. Hildreth plant dort eine große Sa-

che – und die läuft noch immer.«

Vivica hatte dasselbe angedeutet, oder? Sie behauptete, mich

genau dafür engagiert zu haben, erinnerte sich Westmore. Um

herauszufinden, was Hildreth in Gang setzte, bevor er sich

umbrachte ... FALLS er sich denn überhaupt umgebracht hat.

»Wenn die Scheiße losgeht«, fuhr Clements fort, »werden

Sie Unterstützung brauchen. Sie sind Schriftsteller.« Der ehe-

malige Polizist hob sein Hemd an und präsentierte zwei Hand-

feuerwaffen in abnehmbaren Halftern. »Mit diesen Dingern

kann ich auf 30 Meter Entfernung Kirschen pflücken.«

»Sie gehen davon aus, dass es zu einer Schießerei kommt?«,

fragte Westmore ungläubig.

»Sie vergessen, wo Sie sich aufhalten. Es ist ein Schlacht-

haus. Und Sie wissen selbst, dass Hildreth nicht tot ist ...«

Westmores Augen weiteten sich. »Ich weiß nichts derglei-

chen. Er hat am 3. April Selbstmord begangen.«

»Kommen Sie mir nicht mit dem Quatsch, Mann. Vivica hat

Ihnen verraten, dass sie nicht an seinen Tod glaubt. Ich habe

gehört, wie sie es zu Ihnen gesagt hat.«

Westmore verstand. »Die Wanze, die Sie in ihrem Penthouse

eingeschleust haben ...«

»Genau, Sie Blitzmerker. Sie glauben ebenso wenig wie ich,

dass er tot ist. Damit verliert diese Verschwiegenheitsverein-

barung, die Sie unterzeichnet haben, etwas an Bedeutung,

oder? Wenn Hildreth wirklich noch lebt und sich im Haus ver-

steckt, könnte er ein weiteres Blutbad planen. Was wollen Sie

tun, wenn er und seine Psychos mit Fleischerbeilen auf Sie

losgehen, um Ihnen den Kopf abzuhacken und Sie in einen

verfluchten Eimer ausbluten zu lassen? Eine Ansprache halten?

Sie mit Ihrem Laptop bewerfen?« Clements klopfte auf die

Pistolen unter seinem Hemd. »Ich niete die Scheißkerle um.«

Plötzlich wirkte Clements’ Vorschlag ungemein attraktiv.

»Was soll ich tun, um Ihnen zu helfen?«, gab er schließlich

nach.

Clements lächelte. »Ich wusste doch, dass Sie kein Trottel

sind.« Er wandte sich der jungen Frau zu, die Zwiebelringe aß.

»Connie, erzähl ihm, was du mir erzählt hast. Über die Tür.«

Connie sah Westmore mit unergründlichen Augen an. »Sie

ist an der Seite des Hauses. Die haben sie ständig benutzt, um

uns rein-und rauszubringen – und andere Leute auch, eigentlich

jeden nach Einbruch der Dunkelheit. Hildreth wollte nicht, dass

irgendjemand durch die Vordertür kommt oder geht. Ich

schätze, er hatte Angst, jemand könnte das Haus beobachten.

Die Polizei oder so.«

»Ich kann Ihnen nicht folgen«, sagte Westmore, doch was er

vorerst aus irgendeinem Grund für sich behielt, war, dass Con-

nie ihm irgendwie bekannt vorkam.

»Durch den Wald führt eine Nebenstraße den Hügel hinauf.

Nicht die Hauptstraße, sondern ein Schotterweg ...«

»Ich weiß, welchen Sie meinen«, erwiderte Westmore. »Den

habe ich unlängst entdeckt. Ich hätte nie bemerkt, dass es ihn

gibt, wenn ich nicht zufällig darüber gestolpert wäre.«

Das Mädchen fuhr fort. »Auf der Seite des Hauses ist eine

dem Schotterweg zugewandte Tür.«

»Eine Tür?« Westmore dachte darüber nach. »Das glaube

ich nicht. Ich hab dort keine Tür gesehen.«

»Da ist eine Tür«, wiederholte Connie. »Sie wirkt wie ein

Teil der Außenmauer. Man kann sie nur von innen öffnen.«

»Ein verborgener Zugang«, folgerte Westmore.

»Und was noch, Connie?«, erinnerte Clements sie. »Warum

ist diese Tür wichtig?«

»Weil sie nicht von der Videoanlage überwacht wird«, ver-

riet sie. »Ich weiß das, weil ich gehört hab, wie sich Hildreth

und einige der Männer darüber unterhielten.«

Eine Geheimtür, dachte Westmore. Die nicht überwacht

wird. »Okay. Und Sie wollen, dass ich diese Tür finde?«

»Richtig«, bestätigte Clements und zündete sich eine weitere

Zigarette an.

»Können Sie mir irgendwelche Hinweise geben?«, fragte

Westmore die junge Frau. »Ich werde von innen danach su-

chen.«

»Der Raum, in den sich die Tür öffnet, ist eine kleine Bi-

bliothek«, sagte Connie. »Nicht die Hauptbibliothek, sondern

kleiner. Mit einer Menge alten Büchern. Und man kommt von

oben durch einen Vorhang in den Raum.«

Da wusste Westmore plötzlich, was sie meinte. Er war dar-

auf gestoßen, als er sich im Haus umgesehen hatte. Einer der

Gänge führte dorthin. »Ich weiß genau, wo das ist.«

»Gut«, meinte Clements. »Sie finden die Tür, öffnen Sie und

lassen mich rein.«

»Warum?«

»Damit ich das Haus nach Debbie Rodenbaugh durchsuchen

kann. Kann Ihr Verstand mit seinem Collegeabschluss das

nicht begreifen? Ich glaube, dass sie noch lebt. Ich glaube, dass

Hildreth sie irgendwo im Haus gefangen hält. Ich will sie fin-

den ... und rausholen.«

Westmore starrte den ehemaligen Polizisten im schummri-

gen Licht der Bar an.

»Wem sonst können Sie vertrauen?«, fragte Clements und

trank sein Bier aus. »Sie können mir vertrauen oder eben die-

sen durchgeknallten Spinnern.«

»Ich gebe zu, sie sind ein merkwürdiger Haufen, aber es sind

anständige Leute«, gab Westmore zurück.

»Herrgott, die können sich noch nicht mal den Arsch abwi-

schen, ohne eine Vision zu haben oder einen Geist zu sehen.

Glauben Sie etwa, in dem Haus gibt es Gespenster, weil Sie

Stimmen auf irgendeinem Band gehört haben? Scheiße, ich

habe unlängst selbst eine auf einer der CDs gehört, die ich dort

rausgeholt habe. Das ist einer von Hildreths Leuten – wahr-

scheinlich dieser Scheißer Mack –, der mit einer Geisterstimme

flüstert.

Und der Kram, den Nyvysk Ihnen auf seinen Monitoren ge-

zeigt hat – jede gute Firma für Spezialeffekte kann so was ma-

chen, und Vivica hat die Kohle, um es zu bezahlen.« Clements

packte Westmore am Arm. »Und denken Sie wirklich, diese

Frauen wären von Geistern vergewaltigt worden? Ich bitte Sie.

Das war entweder Beschiss oder die haben Halluzinationen.

Diese Schnepfen glauben, sie können mit Toten reden und ihre

Körper verlassen – die sind doch nicht ganz dicht. Und sie ha-

ben schon mehr Zeit auf der Couch eines Psychiaters verbracht,

als sie frei herumgelaufen sind.«

Westmore dachte weiter darüber nach. »Ich weiß nicht

recht.«

»Wollen Sie denen vertrauen oder mir? Nyvysk kann mit

seinen Restlichtkameras, seinen Monitoren und seinem Ionen-

scheiß rumspielen, so lange er will. Ich werde auf die altmodi-

sche Weise herausfinden, was dort abläuft. Mit meinen Eiern

und meinen grauen Zellen«, sagte Clements. »Hast du je ir-

gendwelche Geister gesehen?«, fragte er Connie.

Unbehaglich saß sie da und wischte sich einige Strähnen aus

der Stirn. »Nein, aber es ist schon ein unheimlicher Ort.«

»Bist du je von einem Geist vergewaltigt worden?«

Sie senkte den Blick. »Nein, nicht von Geistern ...«

»Hören Sie das?«

Westmore musterte die junge Frau nach wie vor eindring-

lich. Sie kam ihm auf unangenehme Weise bekannt vor ... »Ich

weiß, dass ich Sie schon mal gesehen habe«, sagte er.

»Normalerweise stehe ich nachts an der 34th Street.«

»Nein, nicht so. Ich meine ...« Dann fiel es ihm ein. Die

Filme, dachte er mit einem flauen Gefühl im Magen. »Ich habe

in der Villa einige DVDs gefunden und auf einer wurden Sie

von einem Rudel Männer vergewaltigt. Einige sahen wie Pen-

ner aus. Und da waren ...« Westmore schluckte, als er sich an

die extremen Inhalte einiger der Filme erinnerte. »Da waren

noch andere Sachen zu sehen.«

Das Mädchen nickte nur und schaute verlegen zu Boden.

»Hildreth hat die Leute dafür bezahlt, dass sie solche Saue-

reien mit den Mädchen anstellten«, sagte Clements. »Verge-

waltigungen, Sex mit Tieren – mein Gott! Und Sie arbeiten für

die Frau des Typen, die über all das Bescheid wusste und nie

etwas dagegen unternommen hat. Und jetzt wollen Sie Vivica

auch noch mehr als mir vertrauen?«

Westmores Augenblick der Wahrheit näherte sich rasch.

Wenn er sich irrt, bekomme ich nie den Rest des Geldes, das

Vivica mir versprochen hat, und ich werde auf jeden Penny

verklagt, den sie mir bisher gezahlt hat, erkannte er. Wenn er

sich irrt ...

»Na schön. Ich helfe Ihnen.«

»Gott sei Dank«, stieß Clements seufzend hervor. »Lassen

Sie in ein paar Nächten zu einer bestimmten Zeit die Tür für

mich offen.« Er reichte Westmore eine Karte. »Hier ist meine

Handynummer. Rufen Sie mich morgen an, dann besprechen

wir die Einzelheiten.«

Westmore steckte die Karte ein und nickte, immer noch

leicht durcheinander. »In Ordnung, aber ich brauche morgen

Nacht Ihre Hilfe bei etwas.«

»Schießen Sie los.«

Westmore konnte kaum glauben, was er jetzt sagen würde,

doch es war etwas, worüber er seit dem Tag nachgedacht hatte,

als er das Haus zum ersten Mal betrat. »Bevor ich glaube, dass

Hildreth noch am Leben sein könnte, muss ich einen Beweis

sehen.«

»Ja?«

»Und Sie haben recht, ich bin bloß Schriftsteller. Ich bin kein

Straßengräber. Sie müssen mir helfen, seinen Sarg auszubud-

deln.«

Clements zuckte mit den Schultern. »Kinderspiel. Wann?

Morgen Nacht?«

»Mitternacht. Wenn ich diese versteckte Tür finde, verlasse

ich die Villa um Mitternacht und komme direkt an den Schot-

terweg. Dort treffen wir uns. Bringen Sie Schaufeln mit.«

»Alles klar.«

»Und falls ich nicht da bin, bedeutet das, ich konnte die Tür

nicht finden.« Westmore verstummte kurz. »Oder ich habe es

mir anders überlegt.«

»Sie werden es sich nicht anders überlegen«, versicherte ihm

Clements. »Sie sind nicht dumm. Sie und ich, Westmore, wir

beide finden heraus, was in diesem Irrenhaus wirklich vor sich

geht. Eine Ahnung besitzen wir ja zumindest schon.«

»Was meinen Sie damit?«, fragte Westmore.

»Das wissen Sie ganz genau.« Clements zog einen Beutel

aus der Tasche und ließ ihn vor Westmore auf den Tisch

plumpsen.

»Ich glaube nicht an den Teufel, aber ich denke, Hildreth tut

das. Darum geht es bei der ganzen Show, die er dort abzieht.«

Westmore kramte etwas aus der Tüte hervor: ein kleines,

schwarzes umgekehrtes Kreuz an einem Silberring. Der An-

blick löste eine Erinnerung in ihm aus. Habe ich darüber nicht

etwas im Autopsiebericht gelesen?

»Hildreths Partygeschenke«, erklärte Clements. »Schon ein

echtes Irrenhaus, nicht wahr? Alle weiblichen Opfer trugen

diese Dinger, als sie in der Nacht des 3. April abgeschlachtet

wurden. Dämlicher Body-Piercing-Scheiß. Die Mädchen hatten

sie an den Nippeln, an den Schamlippen und im Bauchnabel.«

»Woher haben Sie das?«

»Der stellvertretende Kreisgerichtsmediziner war mein be-

ster Freund bei der Navy. Er hat die Autopsien durchgeführt.«

Westmore schüttelte den Kopf. »Gibt es in der Gegend ir-

gendjemanden in einer Machtposition, mit dem Sie nicht ver-

wandt oder befreundet sind? Wahrscheinlich kennen Sie sogar

den Verwaltungschef des Countys.«

Clements lachte. »Soll das ein Witz sein? Mit dem spiele ich

jeden Freitagabend Karten. Ich war Trauzeuge bei seiner

Hochzeit. Außerdem habe ich mit dem Beamten die Polizei-

akademie besucht, der als Erster in der Villa eintraf. Er hat die

Leichen selbst gesehen. Alle Pornosternchen von Hildreth tru-

gen diese Dinger.« Er tippte auf die Tüte mit den Kreuzen.

»Umgekehrte Kreuze sind ein Symbol des Teufels. Darauf war

Hildreth aus: extremer Satanismus. Er war wie einer dieser

Kultanführer, von denen man manchmal liest – hat einen Hau-

fen junger Leute durch Drogen und Orgien irregemacht und

einer Gehirnwäsche unterzogen.« Er steckte den Beutel zurück

in seine Tasche. »Und darum ging es am 3. April – um satani-

sche Opferungen. Dieses Arschloch glaubte, es würde den

Teufel höchstpersönlich anrufen.«

Nicht den Teufel, schoss Westmore durch den Kopf. Belari-

us.

Westmore folgte Clements und Connie zum Parkplatz. Cle-

ments hatte den Arm um das Mädchen gelegt; offensichtlich

waren die beiden mehr als nur Freunde. »Morgen Nacht geht in

Ordnung«, bestätigte Clements. »Ich komme um Mitternacht

an die Zufahrtsstraße.«

»Gut.« Westmore blickte auf das Wasser hinaus und dachte

nach. »Sie wissen mehr als ich über das Haus und Hildreth.

Was sollte ich sonst noch erfahren?«

»Nehmen Sie sich vor diesem Scheißkerl namens Mack in

Acht; und vor der Frau, wie auch immer sie heißen mag – die-

ser ehemaligen Pornodarstellerin, die mehr säuft als eine

Kompanie russischer Matrosen.«

»Karen.«

»Ja. Vertrauen Sie den beiden bloß nicht.«

»Ich bin ziemlich sicher, dass ich Karen schon vertraue. Sie

ist harmlos.«

»Sie stand unter Hildreths Fuchtel und arbeitet für Vivica.

Seien Sie bloß vorsichtig. Die ist ein Sprachrohr der Hexenkö-

nigin.«

Verwirrt kniff Westmore die Augen zusammen. »Und was

ist, wenn Sie völlig falsch liegen? Wenn Vivica nichts weiß?

Vielleicht ist sie wirklich nur eine einsame Frau mittleren Al-

ters, die den Tod ihres Ehemanns untersuchen lässt.«

»Na klar. Und was ist, wenn ich ein rechteckiges Arschloch

hätte? Könnte ich dann einen Fernseher scheißen? Vertrauen

Sie niemandem. Was immer dort am 3. April passierte, ist noch

nicht ausgestanden. Alles spitzt sich auf etwas zu, etwas, das

schon bald geschehen wird. Dieser Ort wird demnächst über-

kochen; und wenn es so weit ist, dann sollten wir bereit dafür

sein. Je mehr Informationen wir sammeln, desto stärker ist un-

sere Position. Ach ja, noch etwas. Sie wissen doch über Faye

Mullins Bescheid, oder?«

Der Name brachte in seinem Gedächtnis etwas zum Klin-

geln. Die übergewichtige Frau von der Halloween-DVD ...

»Karen hat sie erwähnt. Die Hausmeisterin oder so. Eine Putz-

frau.«

»Sie ist die einzige Überlebende des 3. April«, erklärte Cle-

ments. »Sie befand sich im Haus, als die ganze Scheiße statt-

fand.«

»Was?«

»Sie haben mich schon richtig verstanden. Ich vermute,

Hildreth hat sie allein deshalb nicht getötet, weil er gar nicht

wusste, dass sie in der Villa war. Ich habe versucht, mit ihr zu

reden, aber sie wirkte völlig durchgedreht. Vielleicht haben Sie

mehr Glück.«

Westmore zeigte sich leicht verstört. »Vivica hat nie er-

wähnt, dass jemand die Nacht überlebt hat.«

»Das liegt wahrscheinlich daran, dass Vivica Ihnen eine

ganze Menge nicht erzählt hat. Faye Mullins ist die einzige

lebende Zeugin.«

»Wo ist sie?«

»In der Danelleton-Privatklinik, etwa eine halbe Autostunde

von hier entfernt. Einer dieser überkandidelten Psychoschup-

pen, die 20.000 Dollar pro Woche und mehr kassieren. Fahren

Sie hin und reden Sie mit ihr.«

Westmore war nicht überzeugt. »In einer solchen Privatkli-

nik lässt man bestimmt nur die nächsten Verwandten zu ihr

durch.«

»Fahren Sie morgen hin, gegen ... sagen wir 14:00 Uhr. Ich

kann ein paar Beziehungen spielen lassen und dafür sorgen,

dass Sie reinkommen.«

»Wie?«

»Der Sicherheitsleiter der Klinik ist mein Neffe. Vertrauen

Sie mir.«

Westmore seufzte erneut. »Ja, sieht so aus, als würde ich das

tun.«

»Dann sehen wir uns morgen um Mitternacht.«

»Sie werden doch da sein, oder?«

Clements lachte. »Mit Schaufeln und Kanonen.«

Der meint das echt ernst...

Clements stieg in einen großen verbeulten Oldsmobile 98

mit Faltdach. Die junge Frau ging zur anderen Seite herum,

doch bevor sie einstieg, starrte sie mit großen und ausdrucks-

losen Augen über das Dach hinweg. Ein Zittern durchfuhr ih-

ren Körper.

»Seien Sie vorsichtig in dem Haus«, sagte sie sehr leise.

»Mach ich«, erwiderte Westmore.

Clements kurbelte das Fenster herunter. »Wir holen Debbie

Rodenbaugh aus diesem Irrenhaus raus. Danach suche ich

Hildreth und puste sein verfluchtes Hirn ins Nachbardorf. Seins

und das von allen, die auf seiner Seite stehen.« Clements

zwinkerte. »Ich werde jeden Einzelnen dieser durchtriebenen,

abartigen Drecksäcke umbringen und jede Sekunde genießen.«

Westmore sah den beiden nach, als sie davonfuhren.

Kapitel 12

I

Die Pendeluhr im Foyer schlug eins, als Westmore zurück-

kehrte. Er hatte seine späte Rückkehr angekündigt und Mack

war so freundlich, die Alarmanlage zu deaktivieren und ihn ins

Haus zu lassen.

Irgendwie fühlte sich auf Anhieb etwas merkwürdig an.

Mack schloss die Tür und schaltete den Alarm wieder scharf.

»Stimmt etwas nicht? Das Haus fühlt sich so ... eigenartig

an.«

»Das kann man wohl sagen, dass etwas nicht stimmt«, bestä-

tigte Mack. »Willis hatte wieder einen seiner Anfälle. Er und

Nyvysk sind im Atrium.«

Westmore folgte ihm den Hauptflur hinab. »Wo sind Cath-

leen und Adrianne?«

»Die machen beide ihr Ding.«

Westmore vermutete, das bedeutete, dass Adrianne wieder

eine Astralwanderung unternahm und Cathleen sich in Trance

versetzt hatte, um zu versuchen, mit etwas in der Villa Kontakt

aufzunehmen.

Im Atrium herrschte Totenstille. Nyvysk und Willis saßen

am langen Besprechungstisch. Willis trug seine Handschuhe

und sah zutiefst erschüttert aus.

»Was ist passiert?«, wollte Westmore wissen.

»Willis hatte eine weitere Zielvision«, teilte Nyvysk ihm mit.

»Wann?«

»Unmittelbar nachdem Sie das Büro oben verlassen haben«,

antwortete Willis.

»Wieder eine mit Debbie Rodenbaugh?«

»Nein, es war die Frau, die versucht hat, den Safe zu öffnen.

Vanni. Und es war keine passive Vision – sie war aktiv. Ich

glaube, es war ihr Wiedergänger, der mit mir kommuniziert

hat, aber es war ... irgendwie anders als sonst. Oder ich hatte

eine Schläfenlappenhalluzination.«

»Sag ihm, was die Vision ausgelöst hat«, forderte Nyvysk

ihn auf.

»Der Tresor. Ich habe den Kombinationsdrehknopf am Tre-

sor berührt und erhielt mehrere Bilder.«

Westmores Augen weiteten sich jäh. »Haben Sie ...«

»Ich habe nicht gesehen, was in dem Safe ist«, unterbrach

ihn Willis mit monotoner Stimme. »Nur Vanni. Anfangs war

die Vision passiv; ich habe sie beobachten können, wie sie

versuchte, den Tresor zu öffnen, aber dann trat eine Verände-

rung ein. Sie war tot, eine Leiche, die mit mir gesprochen hat.

Und ich hatte einen transitiven Kontakt.«

»Was bedeutet das?«

Willis stöhnte und war offensichtlich ausgelaugt.

»Das bedeutet, die Vision – oder was immer es war – hat

Willis physisch berührt«, erklärte Nyvysk.

»Was im Wesentlichen unmöglich ist«, fügte Willis hinzu.

»Deshalb vermute ich auch, dass es sich lediglich um eine

Halluzination handelt.«

»Der psychologische Faktor«, mutmaßte Nyvysk. »In einem

solchen Haus ist das eine ernsthafte Überlegung, erst recht

nachdem man fast eine Woche hier gewesen ist.«

»Meinen Sie damit, ein Ort wie dieser kann jedem das Ge-

hirn weich kochen?«, hakte Westmore nach.

»Ich hoffe bei Gott, dass es nur das ist«, sagte Willis.

Aufmerksam beugte sich Westmore vor. »Aber Vanni hat

mit Ihnen geredet? Was hat sie gesagt?«

»Mehrere Dinge. Sie hat mir selbst eine Vision gezeigt. Sie

meinte, Hildreth hätte es ihr aufgetragen. Dann sah ich das

Chirice Flaesc, das Nyvysk ja bereits erklärt hat – was ein wei-

terer Grund für mich ist, zu hoffen, dass es sich um eine durch

Suggestion inspirierte Halluzination handelte.«

»Wie hat es ausgesehen?«

»Ein Tempel aus Fleisch.«

»Der Sitz des Sexus Cyning. Belarius«, ergänzte Nyvysk.

Willis rieb sich über das Gesicht. »Das Viech war lebendig.

Es bestand aus Fleisch und Blut und es wuchs.«

»Adrianne und Karen haben dasselbe gesehen«, erinnerte

sich Westmore. »Was noch?«

»Hildreth.« Erschöpft lehnte sich Willis zurück. »Dann hat

sich die Zielvision verändert. Vanni hat angedeutet, dass die

Kombination des Tresors gematrisch sei.«

»Was bedeutet das?«, fragte Willis.

»Das ist ein Teil des kabbalistischen Alphabets«, teilte ihm

Nyvysk mit. »Sie sagte auch etwas von einem ›Akrostichon‹,

aber das Wort ist mir nicht bekannt.«

»Mir auch nicht«, sagte Willis. »Suchen wir ein Wörter-

buch.«

»Wir brauchen kein Wörterbuch!«, stieß Westmore hervor,

der bereits aufgesprungen war und aus dem Raum rannte.

Er lief den Hauptflur hinab und raste die Treppe hinauf in

den dritten Stock. Als er das Büro erreichte, war er außer

Atem, zitterte aber vor Aufregung. Er warf erst einen Blick auf

den Safe, dann betrachtete er den Kupferstich an der gegen-

überliegenden Wand. Das kann nicht sein, dachte er.

Kurz darauf kamen Willis und Nyvysk ins Zimmer gelaufen.

»Was ist um Himmels willen los?«, fragte Nyvysk.

»Kennen Sie etwa die Kombination?«, wollte Willis wissen.

»Akrostichon«, sagte Westmore. »Mein Hauptfach am Col-

lege war Englisch – ein Akrostichon ist etwas, das manchmal

in der symbolischen Poesie verwendet wurde. Früher schrieben

die Leute des öfteren Gedichte mit versteckter Bedeutung –

verschlüsselt ...«

»Vanni hat gesagt, es sei das älteste Verschlüsselungsver-

fahren der Welt«, erinnerte sich Willis.

»Damit hat sie wahrscheinlich recht«, bestätigte Westmore.

»In der alten Dichtkunst wurden Buchstaben gelegentlich ana-

log zu ihrem numerischen Wert verwendet.« Aufgeregt wan-

derte sein Blick zum Tresor. »Ich habe gehört, wie sie sagte,

dass es eine Kombination aus neun Zahlen ist ...« Dann hob er

die Hand, als wollte er um Ruhe bitten, und zählte etwas an den

Fingern ab. Schließlich schnappte er sich einen Stift und

machte eine Notiz auf der Schreibtischunterlage.

»Und wie lautet nun die Kombination?« Nyvysks Stimme

wurde lauter.

»Sehen Sie selbst.« Westmore deutete auf den Kupferstich

von Johannes beim Verfassen der Offenbarung.

»Was? 666?«, fragte Nyvysk. »Das haben wir doch schon

versucht.«

»Aber nicht als Akrostichon«, entgegnete Westmore und

eilte zum Panzerschrank. »Auf Englisch – SIX. S ist gleich 19,

I ist gleich 9, X ist gleich 24«, sagte er und begann, die Kom-

bination einzugeben.

»Dieselben drei Zahlen dreimal hintereinander?«, sagte

Nyvysk. »Neun Zahlen insgesamt?«

Westmore drehte die drei Zahlen dreimal, dann ...

Klick.

... schwang die Tresortür auf.

Stille kehrte im Raum ein. Westmore steckte die Hand ins

Innere – und fühlte sich über den Tisch gezogen. »Scheiße! Da

ist nichts drin ...«

Eine Pause entstand.

»Moment mal.«

Seine Hand tastete über den Boden des Safes und spürte et-

was Winziges. Ein Stück Papier ... Er zog es heraus.

»Was ist das?«, wollte Nyvysk wissen.

Westmore war enttäuscht. »Sieht wie ein weiterer Code

aus.« Auf dem Zettel in der Größe einer Karteikarte stand:

EINGABEAUFFORDERUNG: NAHRUNG

APOGÄUM DÜNN

REAKTION: 06000430

BESTIMMUNGSPUNKT: 00000403

Was ist das denn für ein Mist?, fragte sich Westmore. Ent-

täuschter hätte er kaum sein können. Aber was habe ich erwar-

tet? Hildreths Tagebuch? Einen Pakt mit dem Teufel, besiegelt

mit Blut?

Nyvysk wirkte hoffnungsvoller. »Auch wahllos erscheinende

Zahlen sind eine Spur, der man nachgehen kann. Und ich weiß,

was Apogäum bedeutet ...«

»Geometrie«, sagte Willis. »Der höchste Punkt, der höchste

Winkel einer geometrischen Konfiguration.«

»Und aus der Astronomie«, fügte Nyvysk hinzu. »Mond-

apogäum – der am weitesten entfernte Punkt der Umlaufbahn

des Mondes.«

Er hat recht. Das ist eine Spur, der man nachgehen kann.

»Ich denke, ich gehe mal online und sehe, was ich herausfinden

kann«, sagte Westmore. Dann wiederholte er leise: »Der am

weitesten entfernte Punkt des Mondes.«

Sie wandten sich zum Gehen ...

»Nicht nur des Mondes«, drang eine Stimme durch die Luft.

»Cathleen«, sagte Nyvysk und sah sie aus zusammengeknif-

fenen Augen an.

Willis trat vor. »Ist mit dir alles in Ordnung? Du wirkst ...«

»Es geht mir gut ...« Sie betrat den Raum und schaute sich

um. Die Blicke der drei Männer folgten ihr besorgt. Cathleen

ging es offensichtlich nicht gut. Sie trug ein schwarzes Nacht-

hemd, sonst nichts. Ungeachtet eines gehässig anmutenden

Grinsens wirkte sie abwesend und zerstreut. Oh Mann, dachte

Westmore. Die ist TOTAL im Arsch.

Ihre Kehle, ihr Busen und ihr Gesicht waren von einer

Schicht aus rotem und blauem Staub bedeckt und glitzerten

leicht.

Nyvysk ergriff als Erster das Wort. »Cathleen, was ist das in

deinem Gesicht?«

»Pontischer Staub«, antwortete sie, während sie weiter durch

den Raum schlenderte. »Er ruft erwartungsvolle Geister. Er

leuchtet durch die Ebenen der Toten und sie sehen ihn wie ein

Leuchtfeuer.«

Als sie an Willis vorbeiging, strich ihr Finger geziert über

seine Brust, ehe sie auch Westmores Nippel streifte.

»Haben Sie getrunken?«, fragte er sie.

Ein finsterer Blick durchbrach das sinnliche Lächeln. »Ich

verunreinige meinen Körper nicht mit derlei Dingen. Das habe

ich nie getan. Der Körper ist das Leitmaterial der Seele. Ich

besudele mich nicht.«

Willis sprach lauter, als hätte er eine schwerhörige Greisin

vor sich. »Cathleen, bist du in Trance?«

Mittlerweile war sie stehen geblieben und starrte den offenen

Tresor an. Ihre Augen wanderten zu dem Gemälde von Debo-

rah Rodenbaugh.

Sie seufzte.

»Da. Da haben wir den unbeflecktesten Körper und Geist

überhaupt.«

»Debbie Rodenbaugh? Was wissen Sie über sie?«, stieß

Westmore die Frage verdutzt hervor. »Warum ist sie unbe-

fleckt?«

»Denken Sie mal drüber nach.« Cathleen blickte Westmore

unverwandt an. Sie legte eine Hand an die Hüfte und ließ sie

nach oben wandern, nahm dabei den Saum des ohnehin bereits

sehr kurzen Nachthemds mit. Der Kragen senkte sich und ent-

hüllte einen Teil ihrer Brustwarze. »Sie ist makellos, unbeein-

trächtigt vom Schmutz der Welt. Im Gegensatz zu Ihnen. Ein

kaputter, versoffener Heuchler.«

Danke sehr, dachte Westmore. »Was haben Sie für ein Pro-

blem, Cathleen?«

»Westmore«, meldete sich Nyvysk zu Wort. »In diesem

Augenblick sprechen wir nicht mit Cathleen.«

Verwirrt sah Westmore ihn an.

»Cathleen, wach auf!«, erhob Willis die Stimme. »Komm

zurück!«

Sie drehte sich Willis zu und trat unmittelbar vor ihn hin.

»Der Berührer. Der niemanden anfassen kann, ohne das Grau-

en zu sehen.«

Willis packte mit seinen behandschuhten Händen ihre Arme.

»Was hast du damit gemeint, als du sagtest ›nicht nur der

Mond?‹ Hast du ein anderes Apogäum gemeint?«

»Du bist pervers, aber kannst andere Leute nicht berühren«,

sagte Cathleen. »Du kannst die Frauen, nach denen du dich

mehr als nach allem anderen verzehrst, nicht anfassen. Das ist

herrlich. Das ist perfekt. Was siehst du eigentlich, wenn du an

dir selbst herumspielst?«

Willis schüttelte sie. »Wach auf!«

Mit einer unvermittelten Armbewegung schleuderte sie ihn

gegen die Wand. »Was siehst du, wenn du dir einen runterholst

und deine Augen an Schund ergötzt? Hmm?« Erneut rammte

sie ihn gegen die Mauer.

»Nichts«, erwiderte Willis zwischen zusammengebissenen

Zähnen. »Und so gefällt es mir.«

»Das wird dir besser gefallen ...« Damit ergriff sie seine

Hand, zog ihm den Handschuh aus und zerrte die Finger unter

ihr Nachthemd.

»Aufhören!«, brüllte Nyvysk. Willis versuchte sich zu weh-

ren, doch in dem Moment, als seine Hand zwischen ihre Beine

gepresst wurde, rollten seine Augen nach oben und er brach

zusammen.

Großer Gott! Westmore eilte hinüber und fasste Cathleen

von hinten, aber sie wirbelte herum und rammte ihm den

Handballen unter das Kinn. Seine Zähne schlugen aufeinander

und brachen beinahe aus dem Kiefer. Die Wucht des Stoßes

schleuderte ihn quer durch das Zimmer, bis er über den

Schreibtisch stürzte.

Mittlerweile versuchte Nyvysk, ein wesentlich größerer

Mann, sie gegen die Wand zu pressen. Westmore rappelte sich

auf die Knie hoch und stierte durch die funkelnden Punkte vor

seinen Augen über den Schreibtisch.

Was ist hier bloß los? Die macht Nyvysk fertig!

»Dann zeig mal, wie es um dein heuchlerisches Zölibat be-

stellt ist, du frömmlerische Schwuchtel«, krächzte Cathleen.

Trotz Nyvysks Größe und Kraft hatte sie ihn zu Boden gerun-

gen und drückte ihn an den Schultern nieder. Sie kauerte an-

züglich auf ihm. »Du kriegst ihn doch für mich hoch, oder?

Denk einfach an all die vertrauensseligen Priester und jungen

Männer, die du dein Leben lang begehrt, aber nie bekommen

hast. Und wofür? Etwa für Gott? Würde er das umgekehrt auch

für dich tun?«

Nyvysk setzte sich gegen sie zur Wehr, doch es war, als sei

er am Boden festgekettet. »Westmore!«, brüllte er. »Holen Sie

Mack, holen Sie die anderen! Holen Sie Hilfe!«

Westmore rannte zur Kommunikationsanlage und rief den

Rest der Gruppe herbei. Mittlerweile versuchte Cathleen,

Nyvysks Hose nach unten zu ziehen. Sie hauchte ihm ihre

Versprechen direkt ins Gesicht. »Komm mit mir und ich bringe

dich an einen Ort, wo du sie alle haben kannst, für immer. Und

du kannst deinen Jungen haben, diesen Saeed. Er vermisst dich

so sehr, seit du dafür gesorgt hast, dass er umgebracht wur-

de...«

»Ich habe nicht dafür gesorgt, dass er umgebracht wurde!«,

presste Nyvysk erstickt hervor.

Westmore sprang Cathleen an und versuchte, sie von dem

älteren Mann herunterzuzerren. »Sie sind doch der Exorzist,

verdammt! Treiben Sie ihr die Besessenheit aus!«

»Das ist keine Besessenheit! Es ist eine einfache Transposi-

tion«, gab Nyvysk röchelnd zurück.

Für Westmore jedoch schien nichts davon einfach zu sein. Er

rang mit Cathleen und war im Begriff zu verlieren. Als Mack

und Karen ins Zimmer stürmten, erleichterte das die Sache

zwar, aber nicht wesentlich.

»Ist sie verrückt geworden?«, rief Karen.

»Was zum Geier ist hier los?«, brüllte Mack.

Cathleen trat um sich und fuchtelte mit den Armen, als es

ihnen endlich gelang, sie auf die Beine zu zerren. Zu viert

drückten sie die Frau gegen die Wand und schließlich stellte sie

ihre Gegenwehr ein.

Ein Glück!, dachte Westmore. Ihr geht die Kraft aus ...

Wahnsinn trat in Cathleens Blick. Ihr Lächeln wirkte un-

menschlich. Sie sah die vier an und verkündete: »Ihr habt alle

nicht mehr lang zu leben. Danach sehe ich euch wieder, im

Hoheitsgebiet meines Königs. Wir werden euch jede Nacht

foltern ... bis ans Ende der Zeit.«

Gegenstände flogen durch den Raum, Gemälde fielen von

den Wänden, Bücher rutschten aus Regalen. Die Schreibtisch-

unterlage erhob sich in die Luft, eine Statue in der Ecke kippte

mit dumpfem Knall um.

Dann erschlaffte Cathleen in Westmores Armen. Mittlerwei-

le selbst erschöpft, zog er sie hoch und schleifte sie mit letzter

Kraft zur Couch. »Das kann doch wohl alles nur ein Scherz

sein!«, brüllte er Nyvysk geradezu an, als wäre es seine Schuld.

»Was war das?«

»Sie wirkt wie eine Geistesgestörte«, fand Karen.

Mack war genauso von den Socken. »Was ist passiert? Ist sie

einfach durchgedreht?«

Nyvysk beugte sich über Willis, der nach wie vor bewusstlos

war. »Das war eine Transposition. Cathleen ist ein sehr emp-

fängliches Medium. Solche Dinge können ihr schnell wider-

fahren, wenn sie sich in Trance versetzt.«

Auch Westmore untersuchte Willis. »Ist mit ihm alles in

Ordnung?«

»Ja. Er ist nur ohnmächtig geworden.«

»Und wieso ist all das Zeug durch den Raum geflogen?«,

fragte Karen, die langsam klare Gedanken wiederfand.

»Cathleen ist nicht nur Mentalistin, sie verfügt auch über

telekinetische Kräfte«, erklärte Nyvysk. »Einige dieser Kräfte

wurden entfesselt, als Hildreth ihren Körper verließ.«

»Das ist ja beruhigend«, meinte Westmore kläglich. »Was,

wenn es noch mal passiert?«

»Wird es wahrscheinlich nicht.«

»Sollen wir für Cathleen einen Arzt rufen?«

»Nicht nötig«, versicherte Nyvysk. »Sie wird bald aufwa-

chen und völlig in Ordnung sein.«

»Sie war nicht mehr sie selbst«, stellte Karen fest.

Westmore setzte sich neben den Tresor. »Laut Nyvysk war

sie tatsächlich jemand anders. Nicht Cathleen hat mit uns ge-

sprochen.«

Mack zeigte sich skeptisch. »Wenn es nicht Cathleen war,

wer dann?«

Eine weitere Gestalt betrat den Raum: Adrianne in einem

zerknitterten Morgenrock. »Es war Reginald Hildreth«, ver-

kündete sie. »Ich habe ihn und Cathleen gerade im Chirice

Flaesc gesehen.«

II

»Diese Kirche aus Fleisch«, sagte Westmore, nachdem sie ins

Südatrium umgezogen waren. »Von der Nyvysk uns berichtet

hat.«

Der ältere Mann nickte über den langen Tisch hinweg. »Das

Chirice Flaesc. Der Tempel des Fleisches. Der Altar des Bela-

rius.«

Karen zeigte sich nach wie vor bestürzt über das, was Adri-

anne im Büro gesagt hatte. »Und Sie haben dort sowohl Hild-

reth als auch Cathleen gesehen?«

»Wie könnte das möglich sein?«, fügte Mack hinzu.

Adrianne seufzte. »Hildreths Astralleib habe ich dort nicht

zum ersten Mal zu Gesicht bekommen. Karen hatte ja auch

schon das zweifelhafte Vergnügen ...«

»Und ich ebenfalls«, warf Willis ein. »Als ich dem Wieder-

gänger der Frau vom Schlüsseldienst begegnet bin, bevor

Westmore den Safe geöffnet hat.«

Adrianne fuhr fort. »Hildreth an diesem Ort in der Hölle

anzutreffen, ist also mittlerweile nichts Neues mehr. Aber als

ich sagte, ich hätte auch Cathleen gesehen, meinte ich damit

das Gefäß ihrer Seele. Es war fast so, als hätte man ihren Geist

dorthin gelockt, um ihn gefangen zu halten.«

»Das verstehe ich nicht«, gestand Westmore.

»Cathleen hatte ihren Körper verlassen«, erklärte Adrianne.

»Genau wie ich.«

»Eine Astralwanderung ...«

»Richtig.«

»Das würde die Transposition erklären«, folgerte Nyvysk.

»Sie wurde vorsätzlich herbeigeführt.«

Adrianne nickte. »Diese Kreaturen – die Adiposianer –

scheinen hier Hildreths Helfer zu sein; die Kreaturen, die sämt-

liche Frauen unserer Gruppe sexuell belästigt haben. Sie woll-

ten, dass Cathleen eine Trance einleitet, damit Hildreth eine

Zeit lang ihren Körper übernehmen konnte.«

Westmore wusste nicht recht, was er davon halten sollte.

Allerdings: Was sollte er sonst glauben?

»Es ist so verdammt frustrierend«, meinte Cathleen. Sie war

blass und hatte sich in eine Decke gewickelt. Nachdem sie aus

ihrer Ohnmacht erwachte, wischte sie sich den seltsamen pon-

tischen Staub ab, doch ein paar winzige Glitzerspuren hafteten

nach wie vor an ihrer Haut. »Ich erinnere mich an überhaupt

nichts.«

»Das ist nicht ungewöhnlich«, sagte Nyvysk.

»Ja, aber trotzdem ist es ärgerlich.« Verlegen ließ Cathleen

den Blick durch die Runde wandern. »Tut mir leid, dass ich

euch das zugemutet habe.«

»Es war nicht deine Schuld«, gab Nyvysk zu bedenken. »Du

bist ein äußerst sensitives Medium – wir alle wussten, dass eine

Transposition möglich war. Insgesamt haben wir durch den

Zwischenfall weitere Informationen über Hildreth und seine

Beweggründe erlangt, so übernatürlich sie auch sein mögen.

Du, Adrianne und Willis, ihr wisst aus eigener Erfahrung, dass

eure vielfältigen Begabungen manchmal über die Stränge

schlagen.«

»Was genau sind denn Ihre Begabungen?«, wollte Mack von

Cathleen wissen.

Gelangweilt antwortete sie: »Ich bin Weissagerin, Kristallo-

login, Medium und Telekinetikerin. Nichts Großartiges also.«

»Für mich hört sich das aber ziemlich großartig an«, merkte

Westmore an. »Telekinetikerin? Allmählich fange ich an, den

anderen Kram zu glauben, aber ich bin nicht sicher, ob ich Ih-

nen abnehmen soll, dass Sie allein durch Gedanken Gegen-

stände bewegen können.«

Nyvysk und Willis kicherten leise.

»Ich habe das nach dem Unfall größtenteils aufgegeben«,

erwiderte Cathleen. »Das gehört zu den Dingen, die man stän-

dig üben muss, weil man sonst einrostet.«

»Cathleen gibt nicht mehr gerne an«, fügte Adrianne ergän-

zend hinzu.

Westmore lächelte. »Das klingt für mich zwar wie ein Vor-

wand, ist aber schon in Ordnung.«

Cathleen runzelte die Stirn. »Na schön ...« Sie fixierte den

Aschenbecher an, den sich Westmore und Willis teilten. Einige

Sekunden verstrichen, dann drehte er sich knirschend um 180

Grad.

»Habt ihr das gesehen?«, rief Karen beeindruckt.

»Das ist doch Blödsinn«, beharrte Mack und schaute unter

den Tisch.

Hm, dachte Westmore.

»Na gut, aber macht mir keine Vorwürfe, wenn ich es ver-

massle«, sagte Cathleen. »Ich habe euch gewarnt, dass ich ein-

gerostet bin.«

Sie konzentrierte sich auf den Krug mit Limonade in der

Mitte des Tischs. Stück für Stück, einen Zentimeter nach dem

anderen, bewegte er sich auf Cathleen zu.

Sie streckte die Hand nach dem Griff aus, aber im selben

Moment, als er nah genug herangerückt war ...

Klirr.

Der Krug fiel um.

»Verdammt!«, fluchte Cathleen.

Die Limonade ergoss sich über den Tisch. Alle beobachten

das Schauspiel aufmerksam.

»Na ja, fast«, meinte Cathleen.

Mack sah immer noch unter dem Tisch nach, um zu über-

prüfen, ob sich dort versteckte Apparaturen oder Magnete be-

fanden. »Ich ... äh ... ich schätze, das war kein Blödsinn ...«

»Ich kann nicht glauben, was ich gerade gesehen habe«,

zeigte sich Karen verblüfft.

»Das ist trotzdem nichts Großartiges«, wiederholte Cathleen

und beseitigte das Chaos mit einigen Küchentüchern.

Sehen heißt wirklich glauben, dachte Westmore. Die Vor-

führung hatte ihn regelrecht überwältigt. Wie sollte jemand

eine so spontan erbetene Demonstration gezielt manipulieren?

Er begann, auch über alles andere nachzugrübeln, was in der

Villa bislang vorgefallen war. »Ich kann nur sagen ... ich bin

ziemlich beeindruckt.«

»Das ist die Kraft des Geistes«, ergriff Nyvysk das Wort.

»Aber ich bin sicher, Cathleen kann Ihnen bestätigen, dass ihre

Fähigkeiten zeitweise eine ziemliche Belastung sein können.

Dasselbe gilt für Adrianne und Willis.«

»Kein Vorteil ohne Nachteil«, bekräftigte Adrianne.

»Was genau sind die Nachteile?«, wollte Westmore wissen.

»Sie alle besitzen unglaubliche Fähigkeiten. Mir scheint, Sie

verfügen über einzigartige Kräfte. Wie kann das eine Belastung

sein?«

»Ich kann niemanden berühren«, meldete sich Willis als Er-

ster freiwillig mit einer Antwort. »Ich bin Taktionist. Ich kann

in Zielobjekten lesen. Wenn das Zielobjekt eine Person ist,

sehe ich Dinge, die ich nicht sehen will. Das ist meine Bürde.«

Merkwürdigerweise hatte Mack einen Einwand. »Warum

erzählen Sie nicht alles, Willis? Wenn Sie genug Mumm hät-

ten, würden Sie es tun.«

Westmore runzelte die Stirn. Schon während des gesamten

Aufenthalts schien zwischen Willis und Mack eine Feindselig-

keit zu herrschen, die er sich nicht erklären konnte.

»Wir alle wurden mit der Ursünde geboren«, sagte Adrianne.

»Nicht nur Willis – wir alle. Da ist etwas zwischen uns und

Gott ...«

Eine weitere rätselhafte Andeutung.

»Richtig«, stimmte Nyvysk ihr zu. »Wir alle haben unsere

Geheimnisse. Und die müssen wir an dieser Stelle nicht disku-

tieren.«

»Nein? Warum nicht?« Willis wirkte unbehaglich, aber ent-

schlossen. »Mir ist es egal. Mack und ich kennen einander seit

fünf Jahren. Wir hassen uns. Jetzt will er, dass ich euch allen

erzähle, warum. Also gut, warum nicht?« Dabei starrte er Mack

unverwandt an.

»Nur zu«, spornte Mack ihn an. »Dann können Sie auch

gleich einflechten, warum Sie Ihre Zulassung als Arzt verloren

haben.«

Kurz trat betretenes Schweigen ein, das Willis schließlich

brach, indem er sagte: »Ich habe ein sexuelles Problem. Das hat

nichts mit meinen Zielobjektfähigkeiten zu tun – ich bin das,

was man gemeinhin als sexsüchtig bezeichnen würde.«

»Mach dir nichts draus«, warf Cathleen ein. »Das bin ich

auch.«

»Aber du hast deswegen nie gegen das Gesetz verstoßen«,

fuhr Willis fort. »Zu Beginn meiner Laufbahn war ich klini-

scher Psychiater. Ich habe mich bewusst für den Staatsdienst

statt für eine eigene Praxis entschieden. Ich wollte der Welt

etwas zurückgeben – weil ich nicht materialistisch veranlagt

bin.« Dem Tisch zugewandt zuckte er mit den Schultern. »Der

Sozialdienst schien mir ideal zu sein, allerdings bekam ich als

Psychiater – wie man sich vielleicht vorstellen kann – die här-

testen Fälle auf den Tisch. Vorwiegend misshandelte Frauen,

durch Vergewaltigung traumatisierte Opfer. Frauen mit Dro-

genproblemen.

Damals war mein Taktionismus ein erheblicher Vorteil –

wenn ich eine Patientin berührte, konnte ich viel über ihr bis-

heriges Leben erfahren. Wie man sich vielleicht denken kann,

war das für mich in vielen Fällen ganz schön deprimierend.

Zwar ist es mir gelungen, einer Menge Frauen zu helfen, nur

hatte das seinen Preis – all die mentalen Rückströme, all die

Verzweiflung und das Grauen, das ich bei fast jeder Patientin

mit ansehen musste. Im Laufe der Jahre fing ich an, mich mit

Sex sozusagen medizinisch zu behandeln.«

»Sex mit Ihren Patientinnen? «, fragte Westmore.

»Verdammt richtig«, bestätigte Mack. »Ein toller Arzt – er

hat seine Patientinnen gefickt. Und das ist noch nicht alles.«

Willis’ Stimme nahm einen bedrückten Tonfall an, als er

sein Geständnis fortsetzte. »Es stimmt, ich gebe es zu. So wie

ich süchtig nach Sex war, waren viele meiner Patientinnen

süchtig nach Drogen. Ich bin kein starker Mensch. Ich wurde

oft manipuliert.«

»Blödsinn!«, warf Mack ein. »Sie waren derjenige, der ma-

nipuliert hat. Sie haben einen Haufen Schwachsinnige ausge-

nutzt.«

»Das ist nicht wahr!«, widersprach Willis scharf.

Nyvysk hob die Hand in Macks Richtung. »Lassen Sie ihn

weiterreden.«

Willis fuhr fort. »Manchmal wurde ich von meinen Patien-

tinnen verführt – im Tausch gegen Drogen.« Er schluckte. »Ich

habe ihnen als Gegenleistung für Sex Medikamente verschrie-

ben. Ich war zu schwach, um der Versuchung zu widerstehen.

Innerlich fiel ich auseinander – die Verzweiflung begrub mich

unter sich, all diese trostlosen, traumatisierten Empfindungen,

die mich jedes Mal überschwemmten, wenn ich eine Patientin

berührte, um eine Diagnose stellen zu können. Also ja, ich ha-

be einige von ihnen ausgenutzt – um meine eigene Sucht zu

behandeln.«

Betroffene Stille senkte sich über den Raum. Wow, dachte

Westmore. Das war mal ’ne Beichte.

»Ich gebe zu, dass einige meiner Handlungen kriminell und

unethisch obendrein waren«, sprach Willis schließlich weiter.

»Lange hat es nicht gedauert. Letztlich wurde vom Ehemann

einer meiner Patientinnen eine Beschwerde gegen mich einge-

reicht. Das Krankenhaus begann mit einer internen Untersu-

chung. Ich gestand und wurde gefeuert. Mein Arbeitgeber

wurde verklagt, meine Zulassung eingezogen.«

»Manchmal tut es gut, über solche Dinge zu reden«, ver-

suchte Adrianne einen Teil des Unbehagens zu vertreiben.

»Ja«, fügte Nyvysk hinzu. »Selbsterkenntnis ist ein wichtiger

Bestandteil jeder Therapie. Wir besitzen alle unsere kleinen

Unzulänglichkeiten, Fehler oder Sünden

Mit einem sarkastischen Grinsen beugte sich Mack vor.

»Aber das Beste hat euch Willis noch gar nicht erzählt. Er hat

euch noch nicht verraten, wer der Ehemann war, der ihn auf-

fliegen ließ.«

Alle am Tisch warteten gespannt. Willis holte tief Luft und

verkündete: »Es war Mack.«

Wieder kehrte betretene Stille ein, begleitet von einigen be-

stürzten Mienen.

»Ich wusste gar nicht, dass Sie verheiratet sind«, sagte Cath-

leen nach einer Weile.

»Bin ich nicht mehr. Meine Frau ist völlig ausgetickt und

abgehauen. Sie wurde durch die Drogen verrückt, von denen

Willis sie abhängig gemacht hat ...«

»Das stimmt überhaupt nicht!«, widersprach Willis brüllend.

»Schon lange, bevor sie zu mir in Behandlung kam, war sie

süchtig. Sie kam in der Pornobranche mit Drogen in Berührung

– wo sie auch Sie kennengelernt hat!«

Rings um den Tisch trat weitere Bestürzung in die Gesichter.

»Sie waren im Pornogeschäft aktiv?«, fragte Adrianne mit

unverhohlenem Interesse.

»So hat Mack Hildreth überhaupt erst kennengelernt«, mel-

dete sich Karen zu Wort. »Und mich auch. Wir haben beide für

T&T Enterprises gearbeitet, als Hildreth die Firma kaufte.«

Karen grinste, wenngleich offenbar über sich selbst. »Mack

und ich spielten beide in den Filmen mit.«

»Das ist kein Teil meines Lebens, auf den ich besonders

stolz bin«, sagte Mack. »Ich kam aus einem Drecksnest hierher

und hatte keine ordentliche Ausbildung. Die Pornobranche bot

mir eine schnelle und unkomplizierte Möglichkeit, Geld zu

verdienen. So habe ich meine Frau kennengelernt. Sie bekam

psychische Probleme, deshalb ging sie zu Willis und er machte

sie von dem Teufelszeug abhängig.«

»Das ist eine dreckige Lüge!«, explodierte Willis. »Ich gebe

ja zu, dass das, was ich gemacht habe, falsch war ...«

»Falsch! Sie haben die Notsituation der Frauen ausgenutzt,

sie durch ihre Sucht manipuliert und ihnen Drogen als Gegen-

leistung für Sex gegeben! Ja, ich würde wirklich sagen, das

kann man als falsch bezeichnen!«

»Aber ich war nicht die Ursache für die Probleme Ihrer Frau,

das waren Sie! Ich weiß es, Mack! Jedes Mal, wenn ich sie

berührt habe, konnte ich ihr gesamtes Leben sehen!«

Mit vor Wut rotem Gesicht sprang Mack auf. »Sie war plötz-

lich wie vom Erdboden verschwunden, Sie Arschloch! Wahr-

scheinlich ist sie inzwischen tot und Sie sind daran schuld!«

Als Mack dazu ansetzte, Willis anzuspringen, packten ihn

Westmore und Nyvysk und hielten ihn zurück.

»Aufhören, alle beide!«, schrie Nyvysk energisch. »So er-

reichen wir gar nichts.«

»Jetzt kommt mal wieder runter«, sagte Karen.

Mack starrte Willis in Grund und Boden. »Sie sind ein Stück

Scheiße.« Dann schüttelte er Nyvysk und Westmore von sich

ab und stapfte aus dem Raum.

»So viel zum Thema Selbsterkenntnis«, meinte Cathleen, als

alle wieder Platz genommen hatten.

»Das war ein Schock«, sagte Adrianne. »Ich wusste nicht,

dass ihr beide euch kennt.«

»Spielt jetzt keine Rolle«, gab Willis zurück. »Das ist eine

Sache zwischen ihm und mir. Jedenfalls entschuldige ich mich,

dass ihr das mit ansehen musstet.«

Nyvysk wirkte nachdenklich. »Allerdings ist es objektiv ge-

sehen schon interessant. Eine weitere Verbindung zum Thema

Sex.«

»Wie meinen Sie das?«, hakte Westmore nach.

»Alles, was diesen Ort betrifft und in Zusammenhang mit

Hildreth steht, hat seinen Ursprung in Sex. Jeder hier steuert

eine entsprechende Verbindung bei. Karen war in der Porno-

industrie; gerade haben wir erfahren, dass für Mack dasselbe

gilt. Adrianne hat sich selbst sexuelle Enthaltsamkeit auferlegt

und seit gut einem Jahrzehnt mit niemandem mehr geschlafen,

weil die Erregung bei ihr unwillkürlich eine Astralwanderung

auslöst. Ich selbst lebe ebenfalls sexuell enthaltsam – ich bin

ein schwuler ehemaliger Priester im Zölibat. Willis ist sexsüch-

tig, kann aber andere Menschen nicht berühren, Cathleen ist

sexsüchtig und kann ohne sexuelle Motivation psychisch nicht

funktionieren. Wir alle haben entsprechende Geheimnisse. Es

scheint fast so zu sein, als hätten sie uns hierhergeführt.« Der

ältere Mann verstummte und sah Westmore an.

Auch alle anderen Blicke richteten sich auf ihn.

»Alle außer Ihnen«, meinte Cathleen mit einem verhaltenen

Lächeln.

»Ja, verraten Sie uns Ihr sexuelles Geheimnis!«, forderte

Karen. Ihre Augen leuchteten dabei.

Na toll ... Westmore schluckte ein Lachen hinunter. »Ich

glaube nicht, dass ich eins besitze ... denn seit ich nicht mehr

trinke, läuft bei mir im Bett nicht mehr viel. Mein gesamtes

Leben als Erwachsener war ich immer jemand, für den es nur

One-Night-Stands gab, weil sich mein ganzes Sozialleben auf

Kneipen beschränkte. Jetzt bin ich trockener Alkoholiker. Ich

gehe zwar immer noch in Bars, trinke aber nie, und es reizt

mich nicht besonders, mir als einziger Nüchterner im Laden

eine betrunkene Lady anzulachen. Ich halte mich von ihnen

fern, weil sie mich zu sehr in die Nähe meiner Sucht zurück-

führen würden: Alkohol.«

»Aha, also haben Sie sich sozusagen ebenfalls selbst Ent-

haltsamkeit auferlegt«, meinte Nyvysk und wirkte zufrieden.

Westmore runzelte die Stirn. »Wie kommen Sie denn dar-

auf? «

»Für Sie sind Sex und Alkohol gleichbedeutend. Allerdings

haben Sie den Alkohol aus Ihrem Leben verbannt – und somit

automatisch auch den Geschlechtsverkehr. Ganz einfach.«

Westmore warf die Hände in die Luft. »Wie Sie meinen.«

»Jedenfalls scheint mir angebracht, in Betracht zu ziehen,

dass es mehr als Zufall ist«, fuhr Nyvysk fort. »Jeder von uns

hat eine sexuelle Eigenart oder Anomalie, und wir alle hocken

mitten in einem Haus, das früher ein Pornostudio, ein Bordell

und eine Behandlungseinrichtung für Geistliche war, die sich

sexueller Verfehlungen schuldig gemacht haben. In den

1950ern wurden hier Prostituierte ermordet, vor einigen Wo-

chen kamen zahlreiche Pornodarsteller unter bestialischen Um-

ständen ums Leben. Bisher haben Cathleen, Adrianne und Ka-

ren körperlose sexuelle Belästigung erfahren. Willis suchen

Zielobjektvisionen von den sexuellen Grausamkeiten heim, die

in diesem Haus stattgefunden haben, Westmore findet DVDs

mit weiteren Perversionen und ich verzeichne Stimmphäno-

mene eines toten jungen Mannes, von dem ich vor 20 Jahren

besessen war. Dieses Haus hat also auf sehr tief verwurzelte

Weise etwas ausgesprochen Sexuelles an sich. Fleischeslust

scheint in diesen Mauern zu leben und in uns allen besteht

entweder eine aktive oder eine passive Fleischeslust. Es ist fast

so, als ziehe diese Villa unsere sexuellen Besonderheiten ma-

gnetisch an. Oder vielleicht haben auch wir umgekehrt das

Haus angezogen.«

»Als sei jeder von uns speziell ausgewählt worden«, über-

legte Cathleen laut.

»Vivica?«, schlug Willis vor.

»Ich dachte eher an etwas in Richtung Schicksal – oder

Vorsehung«, sagte Nyvysk.

Westmore war nicht bereit, daran zu glauben. »Aber es war

doch Vivica, die uns ausgesucht hat, oder?«

»Oberflächlich betrachtet schon«, räumte Nyvysk ein. »Aber

nach allem, was wir gesehen haben – hat sich das Haus nicht

verändert, seitdem wir eingetroffen sind?«

»Es ist unverhohlener geworden«, meinte Adrianne. »Als sei

es gewachsen, als hätte es durch unsere Anwesenheit etwas

dazugewonnen.«

»Energie?«, warf jemand ein.

Westmore dachte darüber nach und erinnerte sich an etwas,

das Vivica gesagt hatte. »Als ich mich mit Vivica traf, sagte sie

zu mir, ihr Mann sei ausgesprochen sexbesessen gewesen. Er

hätte sich mit sexueller Energie umgeben.«

»Natürlich«, merkte Nyvysk an. »Er hat immerhin eine Por-

noproduktion gekauft ...«

»Und das Haus mit Pornodarstellerinnen gefüllt, mit Men-