klickte auf eine weitere Audiodatei. »Das stammt aus dem Sa-

lon, in dem die Prostituierten enthauptet wurden.«

Westmore konnte nur ein kaum vernehmliches Dröhnen hö-

ren, als lauschte er einem leeren Tonband in voller Lautstärke.

Dann ertönte es – eine trillernde, tiefe Stimme sprach eine

Gruppe bleierner Silben: »Belarius ...«

Kapitel 9

I

»Sag an«, forderte Diane.

»Kopf«, erwiderte Jessica. Sie kannte ihr Glück. Als sie die

Münze auffing, runzelte sie die Stirn. Zahl. Verloren.

Diane war höflich genug, um nicht laut aufzulachen. »Pech

gehabt, Schwesterherz. Das kommt davon, wenn man die High

School abbricht.«

»Ja.«

»Du musst den Sack waschen!«

So nannten sie Faye Mullins. Der Sack. Denn genauso sah

sie aus.

Dianes Schicht ging demnächst zu Ende. »Wenigstens dürfte

sie heute nicht allzu sehr rumtoben. Hat die ganze Nacht kei-

nen Mucks von sich gegeben. Diesmal scheint das Prolixin bei

ihr vernünftig zu wirken.«

»Wahrscheinlich hast du ihr eine doppelte Dosis untergeju-

belt, damit sie während deiner Schicht Ruhe gibt«, vermutete

Jessica.

»Ich?« Dianes Grinsen wurde breiter. »Das wäre doch eine

extreme Pflichtverletzung. Aber falls du glaubst, ich würde so

etwas tun, kannst du natürlich eine schriftliche Beschwerde

beim Stationsleiter einreichen.«

Jessica verstand den Scherz. Der typische Galgenhumor,

ohne den hier gar nichts lief. Einige der Patientinnen verlang-

ten einem einfach zu viel ab und es scherte sich ohnehin nie-

mand um sie. Sie waren hoffnungslose Fälle, irgendwie hier

gestrandet. Die Angehörigen bezahlten die Rechnungen für die

stationäre Pflege, damit sie weggesperrt blieben. Aus den Au-

gen, aus dem Sinn.

Allerdings fragte sich Jessica, wer wohl die Rechnungen für

den Sack bezahlte. Auf ihrem Einweisungsformular standen

keine lebenden Verwandten. Spielt für mich keine Rolle, hielt

sie sich vor Augen. Ich werde bloß dafür bezahlt, ihnen die

dreckigen Ärsche abzuwischen.

Lustlos schleppte sie sich in den Schlafsaal. So nannte man

die Räume hier. Wie in einem College. Allerdings war dies

alles andere als ein College. Trotzdem war es besser, hier zu

schuften, als gar keinen Job zu haben. Der größte Teil ihrer

Arbeit bestand allerdings darin, Bettpfannen zu leeren, Erbro-

chenes aufzuwischen und bettlägerige oder gelähmte Patien-

tinnen mit einem Schwamm zu waschen.

Im Schlafsaal schob sie den Rollwagen an das Bett heran.

»Hallo, Faye.« Sie versuchte, fröhlich zu klingen. »Raus aus

den Federn!«

Von der Frau im Bett kam keine Reaktion. Sie sah aus wie

tot – die Augen bildeten schmale Schlitze, der Kopf lag schlaff

da. Ihr Mund stand offen und entblößte neben schiefen Zähnen

schaumigen Speichel. Aber sie war nicht tot, nur weggetreten.

Umso besser für Jessica; für sie war es wesentlich einfacher,

die Frau zu waschen, wenn sie nicht spuckte oder versuchte, sie

zu beißen. Wenigstens hatten sie Faye bislang noch nicht ans

Bett fesseln oder in eine Zwangsjacke stecken müssen.

Die Laufrollen des Wagens quietschten, als sie die Wasch-

eimer zur Seite des Betts manövrierte.

Du meine Güte! Sogar in Jessica steckte noch ein Rest von

Mitgefühl. Faye Mullins glich einem empfindungslosen Wrack

aus menschlichem Fleisch. Ihr Haar war ein hellbraunes Ge-

wirr, ihre Augen starrten ausdruckslos ins Leere. »Komm

schon, mach mit, ja?«

Jessica hievte die Patientin in eine sitzende Haltung und

lehnte sie gegen das Bett. So gelang es ihr, Faye das zerknit-

terte weiße Nachthemd vom Leib zu zerren. Lange, schlaffe

Brüste hingen wie Fleischlappen über die Speckrollen des

Bauchs. Unter den Achseln lugten Haare hervor. Distanz.

Jessica zwang sich zu dem Gedanken. Dazu rieten die Ärzte

und die ausgebildeten Pfleger regelmäßig. Manchmal, wenn

die Patientinnen genug von ihrer Menschlichkeit verloren hat-

ten, fiel das leicht.

Mit verkniffener Miene rieb Jessica mit dem Schwamm Fa-

yes Körper ab, wobei sie ihrem Blick größtenteils auswich.

»Genug, genug«, murmelte die Patientin. »Ich will es nicht

mehr tun.«

Durchgeknallt. »Du musst gar nichts tun, Faye.«

»Kein Crack mehr, mein Gott, bitte kein Crack mehr ...«

Jessica ließ die Schultern hängen und versuchte, sich nicht

auszumalen, welche schrecklichen Sachen die Frau in dem

Haus mit angesehen hatte.

Sie hatte gehört, dass dort ein satanischer Kult lebte und

Frauen opferte. Beinahe wünschte Jessica, sie hätten auch Faye

geopfert, um ihr das Elend eines verheerten Körpers und die

Hölle eines Gehirns wie Pudding zu ersparen.

»Sexus Cyning«, murmelte Faye als Nächstes. Speichel

glänzte auf ihren Lippen. »Ich habe es gesehen...«

»Was, Liebes?«, sagte Jessica und wusch die Speckrollen am

Bauch.

»Das Chirice Flaesc

Für eine Hilfskraft in einer psychiatrischen Anstalt war der-

lei Gerede nichts Neues. Die Patientinnen lebten oft in ihren

Wahnvorstellungen und erfanden ihre eigenen Worte, ihre ei-

gene Sprache.

»Lass sie mich nicht zwingen, wieder dorthin zu gehen ...«

Schmatz, schmatz, schmatz, machte der Schwamm. »Du

musst nirgendwohin, wo du nicht hinwillst, Liebes. Du bleibst

hier, wo es sicher ist, und kannst fernsehen. Und das Frühstück

ist auch bald fertig.«

Faye würgte Spucke hervor.

Na toll. Jessica tauchte den Schwamm in den Eimer.

Schließlich kam der Teil, den sie immer vor sich herschob.

Sie konnte ihn auch auslassen und nur behaupten, sie hätte es

getan, allerdings konnten die Patientinnen dann einen Hau-

tausschlag oder Ähnliches bekommen, was schlimme Konse-

quenzen für sie bedeutete.

Oh Gott ... Was hat sie bloß gemacht?

Jessica teilte Fayes reisfarbene Beine und verkrampfte, als

sie mit dem Schwamm den Intimbereich wusch. Die Ärzte und

Pfleger hatten sie vorgewarnt, dass sich manche Patientinnen in

der Psychiatrie verstümmelten – was in der Regel auf Schuld-

gefühle zurückging –, und einige taten es sogar an ihren Geni-

talien. Doch es mit eigenen Augen zu sehen, war noch einmal

etwas ganz anderes.

Faye Mullins Schambereich sah wie angenagt aus.

Jessica setzte die Reinigung trotzdem fort und dachte sich:

Sieh nicht hin, sieh nicht hin. Dennoch konnte sie sich ein,

zwei flüchtige Blicke nicht verkneifen.

»Das haben sie getan«, brabbelte Faye. »Sie waren das.«

»Wer, Liebes?«

»Belarius und seine Freunde im Chirice Flaesc.«

Jessica kämpfte sich würgend durch den Rest ihrer Arbeit.

»Es kommt wieder...«

»Was kommt, Faye?«, fragte Jessica, wenn auch nur, um

sich abzulenken.

»Das Chirice Flaesc...«

Jessica starrte die Frau an.

»... und Belarius. Bald.«

Faye kicherte leise und grinste zu ihr nach oben. Sie spreizte

die Beine weiter auseinander.

Jessica stöhnte. Oh ja, hätte sie die Schule nur nicht abge-

brochen!

II

Westmore erwachte benommen gegen neun Uhr morgens.

Kantige Sonnenstrahlen fielen durch eigenartige hohe Fenster

in das Atrium. Er hatte geschlafen, ohne zu träumen. Es dauer-

te eine Weile, bis seine Gehirnwindungen in Gang kamen und

er sich an alles erinnerte, was am Vortag geschehen war.

Belarius, dachte er.

Das Unwohlsein, das ihn durchströmte, unterschied sich

kaum von der vergangenen Nacht, als er den seltsamen Namen

auf der Aufzeichnung gehört hatte.

Ich glaube nicht an Dämonen, erinnerte er sich und holte

seinen Kulturbeutel aus dem kleinen Schrank in seiner Trenn-

wandzelle. In einem Morgenmantel des Marriot-Courtyard, den

er vor Jahren bei einer Autorenkonferenz hatte mitgehen las-

sen, tappte er in das große Badezimmer neben der Küche,

duschte, rasierte sich und zog sich anschließend an. Danach

fühlte er sich bereit ...

Aber wofür?

Westmore spielte mit dem Gedanken, Vivica anzurufen,

entschied sich dann jedoch dagegen. Später, wenn ich ihr etwas

Konkretes mitzuteilen habe.

Im Büro beschäftigte er sich einige Stunden lang damit, sei-

ne Notizen am Laptop zu einem Bericht zusammenzustellen,

dann fiel ihm plötzlich ein: der Safe! Als er nachsah, präsen-

tierte sich der Panzerschrank nach wie vor verschlossen. Von

der Safeknackerin fehlte jede Spur. Mack hatte immer noch

ferngesehen, als Westmore zu Bett gegangen war. Hatte sie den

Tresor geöffnet und es dem jungen Sicherheitschef gemeldet?

Westmore schaute durch das Fenster hinunter und stellte fest,

dass ihr Wagen verschwunden war. Mack musste Bescheid

wissen.

Als er ins Atrium zurückkehrte, hörte er mindestens einen

der Männer laut schnarchen. Er vermutete, dass die meisten

dieser Spiritisten spät aufstanden. Dann murmelte eine der

Frauen – Adrianne, glaubte er – ängstlich etwas im Schlaf.

»Nein, nicht!«

Albträume.

Westmore fand Macks Trennwandzelle und klopfte. »Mack?

Hey, Mack!«

»Hä?«

»Tut mir leid, Sie aufzuwecken, aber was ist aus der Frau

vom Schlüsseldienst geworden?«

Ein Grunzen, ein Husten, dann lugte Mack nur in Boxer-

shorts durch den Vorhang der Trennwandzelle. Er rieb sich den

Schlaf aus den Augen. »Scheiße, keine Ahnung. Ist sie noch

hier?«

»Der Tresor ist immer noch zu und der Wagen ist weg.«

Mack ging zum Erkerfenster und zuckte zusammen, als er

die Vorhänge aufzog und einen Schwall Sonnenlicht herein-

ließ. »Scheiße«, stieß er abermals hervor. »Vielleicht ist sie

noch nicht fertig. Vielleicht kommt sie zurück. Oder sie konnte

das Mistding einfach nicht öffnen. Sie hat ja gesagt, dass sie es

nicht garantieren kann.«

»Haben Sie die Frau vergangene Nacht überhaupt noch mal

gesehen?«

Mack war eindeutig erst halb wach. »Na ja, nein. Ich meine,

später nicht mehr.«

»Sagen Sie mal, was gibt’s da eigentlich noch zu berichten?«

»Hä?«

»Sie haben vergangene Nacht etwas in der Richtung ange-

deutet, dass sie nicht nur beim Knacken von Schlössern gut sei.

Was meinten Sie damit?«

Mack seufzte gedehnt, dann zuckte er mit den Schultern.

»Ich hab sie geknattert, Mann. Ich hab Ihnen ja gesagt, dass sie

auf mich steht.«

Unglaublich. »Soll das heißen, Sie hatten Sex mit der

Schlüsseldienstmitarbeiterin?«

»Ja. Sie hat mich angemacht, verstehen Sie? Und sie ist ein

heißes Teil. Mördertitten.« Mack schleifte seine Füße zur Kü-

che und rieb sich erneut die Augen. »Haben Sie schon Kaffee

gekocht?«

Westmore schüttelte den Kopf. Mack war vermutlich um die

25. Herrgott, die Jugend von heute. Die haben so beiläufig Sex

miteinander, wie andere auf der Couch durch die Fernsehsen-

der zappen. Westmore dachte über seine eigene Moral nach.

Oder vielleicht werde ich auch bloß alt ...

»Ja, ich glaube, ihr Name ist Vanni. Sie traf gestern Nacht

um kurz vor 22:00 Uhr hier ein«, sagte er später zu dem Mann

am Telefon. Er hatte beim Schlüsseldienst angerufen. »Hat sie

gesagt, ob sie zurückkommt, um den Job zu Ende zu bringen?«

Der Mann hörte sich überrumpelt an. »Ich ... Im Eingangs-

korb für Nachtarbeiten ist kein Lieferschein und ...« Eine Pause

entstand. »Der Wagen steht auf dem Parkplatz. Ich rufe Sie

gleich zurück, Sir.«

»In Ordnung.« Verdutzt legte Westmore auf. Mack hat ihr

1000 Dollar dafür gegeben, den Tresor zu öffnen, und sie

macht sich damit vom Acker? Gute Handwerker waren wirklich

schwer zu finden. Oder vielleicht hat sie den Safe geöffnet und

darin einen Haufen Geld gefunden, überlegte Westmore.

Er ging hinaus in den strahlenden Sonnenschein. Adrianne

sagte, sie hätte Autos auf dem Grundstück gesehen ... Eines

davon verlassen im Wald. Die Geschichte, dass es ihr bei einer

Astralwanderung aufgefallen war, hielt er für völligen Quatsch.

An diesem Ort ging ziemlich viel Unsinn vor sich, aber was

Westmore am meisten beunruhigte, war die beiläufige, um

nicht zu sagen: gelangweilte Art, wie die ȟbersinnlich Begab-

ten« damit umgingen. Für die ist nichts davon Unfug. Für die

ist das völlig normal. Es war wie bei einer Gruppe professio-

neller Gewichtheber. Niemand von denen zeigte sich im Ge-

ringsten davon beeindruckt, dass sie alle 200 Kilo stemmen

konnten.

Eine Lücke in den Baumreihen lockte ihn auf einen von

Sträuchern gesäumten Pfad. Stechmücken schwirrten lästig um

seinen Kopf, während herabhängende Ranken aus Louisia-

namoos seine Schultern streiften. Der Friedhof, dachte er. Und

da war er – mitsamt Eisenzaun. Westmore fielen eine zerbro-

chene Eierschale und ein Stück verbrannte Aluminiumfolie am

Fuß von Hildreths Grabstein auf. Sie hat etwas von Divination

erwähnt, erinnerte er sich. Darüber wusste er nichts, abgesehen

von Ammenmärchen über Menschen, die Wasseradern mit

Wünschelruten aufspüren konnten.

Westmore starrte auf das Grab und dachte höchst entschlos-

sen: Ich werde es aufbuddeln müssen. Es würde keine einfache

Aufgabe werden – Westmore war ein Schriftsteller mit zarten

Händen, kein Straßenarbeiter. Und ich muss es alleine tun, die

anderen dürfen nichts davon mitbekommen.

Jedenfalls nicht sofort. Er musste dafür noch einige Vorbe-

reitungen treffen. Zurück auf offenem Gelände machte ihm die

sengende Sonne zu schaffen. Statt der lästigen Stechmücken

behelligten ihn noch lästigere Moskitos. Nach einem schweiß-

treibenden Marsch stieß er am entgegengesetzten Ende des

Grundstücks auf einen schmalen Fußweg, der an einer kleinen,

von Ästen überhangenen Lichtung endete. Eidechsen stoben in

alle Richtungen davon, als er sich durch das Gebüsch zwängte.

Vor ihm stand ein relativ neuer, pechschwarzer, vor Pollen

staubiger MX-5 mit walnussbraunem Faltdach. Aus unerfind-

lichem Grund bestand Westmores erste Eingebung darin, hin-

einzuschauen und nach einer Leiche zu suchen, aber die beiden

Schalensitze des Roadsters waren leer. Das Handschuhfach gab

keine Informationen über den Besitzer oder gar Zulassungspa-

piere preis. Er notierte sich das Kennzeichen, ging zum Heck,

fand dort zwei lange Reifenfurchen und folgte ihnen 100 Meter

weit den Hügel hinab, auf dem die Villa errichtet worden war.

Die Hitze brachte die Luft zum Flimmern. Sein Gesicht ge-

riet in klebrige Spinnennetze und zerriss sie. Meine Fresse, das

ist hier ja wie in einem Regenwald! Bald jedoch führten die

Reifenfurchen auf eine breitere Schotterstraße, die sich den

gesamten Hang hinabschlängelte. Bis zur Hauptstraße?, fragte

er sich. Es musste so sein. Allerdings gab es keinen Grund,

dem Weg bis ans Ende zu folgen.

Zumindest hatte er das Auto im Wald gefunden ... was ihn

zum Nachdenken brachte. Wie um alles in der Welt wusste

Adrianne davon ... es sei denn, sie hat wirklich eine dieser

Astralwanderungen unternommen ... Westmore verstand das

Konzept von Astralwanderungen kaum, dementsprechend we-

nig Vertrauen hatte er dazu.

Tja.

Er kehrte zum Haus zurück, rauchte trotz der Hitze und

schimpfte mit sich, an einem so heißen Tag eine lange Hose

angezogen zu haben. Vor der Einfahrt stand ein Van. Ein Mann

stieg aus und näherte sich der Eingangstür. Der Schlüssel-

dienst?, spekulierte er.

Nein. BAYSIDE-SCHÄDLINGSBEKÄMPFUNG stand auf

dem Fahrzeug.

»Kann ich Ihnen helfen?«, erkundigte sich Westmore, als er

die Veranda erreichte.

Sehr kurz geschnittenes Haar kaschierte eine kahle Stelle.

Ein dunkler Schnurrbart. Der Mann sah wie Ende 50 aus und

schien den Kampf gegen das Altern zu verlieren. Typische Ar-

beiterkluft, ein Pestizidkanister mit Sprühdüse auf dem Rük-

ken. »Hallo, ich bin Mike von Bayside. Ist Mister Hildreth

da?«

Westmore wusste nicht recht, was er darauf antworten sollte.

Nein, aber es besteht eine durchaus realistische Chance, dass

er in einem Loch in der Erde ein paar Hundert Meter von hier

entfernt liegt. »Ich fürchte, er ist nicht da.«

»Ich bin wegen unseres routinemäßigen Monatsservices

hier.«

»Kommen Sie rein. Ich hole Karen.« Er führte den Mann ins

Haus und durch den langen Flur zum Atrium. Westmore wus-

ste, dass es belanglos war, trotzdem wollte er nicht irgendeinen

dahergelaufenen Kerl unbeaufsichtigt durch ein Haus voller

Schätze schlendern lassen. Er klopfte an die Seite von Karens

Trennwandzelle. »Karen?«

Nach einer Weile sagte eine gedämpfte Stimme: »Oh Schei-

ße. Mir platzt gleich der Schädel.«

»Der Kammerjäger ist hier. Ich wollte nur fragen, ob es in

Ordnung ist, ihn ins Haus zu lassen.«

Ein Stöhnen. »Oh Scheiße. Äh ... Ich glaube, die sollten erst

am Monatsersten kommen. Welche Firma?«

»Bayside.«

»Das sind sie. Es ist Jimmy, nicht wahr?«

Westmore zog die Brauen hoch. »Nein, ein Mann namens

Mike.«

Die Federn einer Pritsche knarrten. Als Karens Hand den

Vorhang teilte, konnte Westmore einen flüchtigen Moment

lang sehen, dass sie lediglich einen rosenroten Slip trug. Große

weiße Brüste hoben sich, begrenzt durch rasiermesserscharfe

Bräunungsstreifen, vom beeindruckenden Teint ihrer Schultern

und ihres Bauchs ab. Dann streckte sie den Kopf heraus und

zog den Vorhang darunter zu. Blutunterlaufene Augen spähten

verkniffen zur Tür. »Sie sind nicht der übliche Kerl. Wo steckt

Jimmy?«

»Jimmy Parks ist in Key West, Ma’am«, antwortete Mike.

»Hat zwei Wochen Urlaub. Ich springe für ihn ein. Ihr nächster

Prophylaxetermin wäre zwar am Ersten, aber man hat mich ein

bisschen früher geschickt, um Leerlaufzeit auszugleichen. Sie

können zur Bestätigung gerne meinen Vorgesetzten anrufen,

Mr. Holsten.«

»Er ist in Ordnung«, verkündete Karen und verschwand

wieder im Inneren des improvisierten Schlafzimmers.

»Gehen Sie und erledigen Sie Ihre Arbeit«, forderte West-

more den Mann auf.

»Danke für Ihre Zeit. Ich brauche höchstens eine Stunde. Ist

nur ein Nachsprühen.«

Damit begann der Mann und verteilte langsam eine klare

Flüssigkeit auf den Sockelleisten.

Westmore kehrte ins Büro zurück und ging sofort online.

Auf der Website der Kraftfahrzeugbehörde gab er das Kenn-

zeichen des MX-5 ein, bezahlte mit seiner Kreditkarte 7,95

Dollar und erhielt den Namen des Besitzers. Verdammt. Das

bringt mich nicht weiter. Das Fahrzeug gehörte Reginald Hild-

reth. Das Einzige, was ihm noch einfiel, war, zurück in die

sengende Hitze zu gehen, um sich die Fahrzeugidentifikati-

onsnummer vom Armaturenbrett zu besorgen – falls er sie dort

überhaupt fand, denn sie war bei manchen Autos an anderen

Stellen versteckt, häufig irgendwo am Motorblock.

Dann jedoch dachte er: Versicherung! Er durchsuchte meh-

rere Aktenschränke aus Eichenholz, bis er auf eine Gruppe von

Ordnern mit Quittungen, Garantiescheinen und ähnlichen Un-

terlagen stieß. Einer war mit AUTOVERSICHERUNG be-

schriftet. Ganz oben fand er eine Aufstellung der zweijährlich

fälligen Versicherungsprämien. Meine Güte, besaß der Kerl

eine Menge Autos! Über ein Dutzend Fahrzeuge standen auf

der Liste, darunter ein Rolls-Royce Silver Shadow, als dessen

Hauptbetreiberin Vivica Hildreth geführt wurde.

Heureka!, dachte er als Nächstes. Auf der Liste entdeckte er

auch ein schwarzes Cabrio mit dem Kennzeichen, nach dem er

suchte.

HAUPTBETREIBER/IN: DEBORAH ANNE RODEN-

BAUGH.

Im Telefonbuch gab es fünf Einträge unter dem Namen Ro-

denbaugh. Er klapperte sämtliche Nummern ab. Drei gingen

ran und hatten noch nie von einer Deborah Rodenbaugh gehört.

Beim vierten Versuch geriet er an einen Anrufbeantworter.

»Hallo, hier ist Peter Rodenbaugh. Falls Sie einen legitimen

Grund haben, mich anzurufen, hinterlassen Sie bitte eine Nach-

richt. Und falls du einer dieser gottverdammten Telefonver-

käufer bist, leck mich am Arsch und ruf nie wieder an, weil ich

euch verfluchte Landplagen hasse wie die Pest. Wenn ich et-

was brauche, gehe ich in ein Geschäft und besorge es mir. Ich

brauche keine 20 Anrufe täglich von euch Arschlöchern, damit

ihr versucht, mir Kreuzfahrten, Aluminiumverkleidungen, Sa-

tellitenfernsehen oder Kellerabdichtungen anzudrehen, obwohl

ich nicht mal einen Keller habe. Ich lebe in einer Mietwoh-

nung, ihr Trottel. Ich brauche den Scheiß nicht, den ihr für eine

beschissene Provision zu verhökern versucht. All ihr schwach-

sinnigen, faulen, unmotivierten, nichtsnutzigen Televerkäufer,

tut der Welt doch einen Gefallen: Sucht euch einen richtigen

Job.«

Lachend hinterließ Westmore eine Nachricht, woraufhin

Peter Rodenbaugh letztlich selbst ans Telefon ging, doch auch

er hatte noch nie von einer Verwandten namens Deborah ge-

hört. Bei der fünften Nummer gab es den dazugehörigen An-

schluss nicht mehr.

Er würde gründlicher recherchieren und ausgiebigere Erkun-

digungen einholen müssen. Vielleicht wusste Vivica etwas,

oder auch Karen. Warum hat Hildreth dieser Frau ein Auto

überlassen? Wichtiger noch, warum stand der Wagen verlassen

im Wald? Er würde später einen seiner Freunde bei der Zeitung

anrufen und ihn bitten, eine umfassende Recherche bei Le-

xis-Nexis durchzuführen.

Unten im Haus herrschte Stille. Den Rest des Tages ver-

brachte Westmore damit, sich DVDs von T&T Enterprises

anzusehen. Es erwies sich als abstumpfende Aufgabe. Stöh-

nend, aber aus anderen Gründen als erwartet, arbeitete er sich

durch einen Pornofilm nach dem anderen und machte reichlich

von der Vorspultaste Gebrauch. Als Hintergrundmotiv kam in

jedem DVD-Menü eine gotische Villa zum Einsatz; Westmore

verdrehte die Augen. Nach jeder Szene fühlte er sich regelrecht

betäubt. Die Erotik der wunderschönen Frauen verflog bereits

nach dem ersten »Abspritzen«, auf das zahllose weitere folg-

ten, Hunderte im Lauf des Tages.

Es war immer wieder dasselbe, nur mit anderer Kulisse und

anderen Frauen, die er alle schon zuvor auf Autopsiefotos ge-

sehen hatte. Viele der Männer in den Filmen waren Eintags-

fliegen mit lächerlichen Künstlernamen wie A. Nalstecher und

P. Immel, und letztlich stieß Westmore auf die Elite von T&Ts

männlicher Darstellerriege: Jaz und Dreiei. Den Spitznamen

des Letzteren durfte man tatsächlich wörtlich nehmen. Dass die

beiden Kerle für einen Job in der Pornobranche bestens quali-

fiziert waren, ließ sich nicht bestreiten.

Die Stunden zogen sich wie Kaugummi. Westmore empfand

das Gesehene als entsetzlich deprimierend. Außerdem fand er

auf keiner der DVDs etwas, das ihm weiterhalf. Schließlich

legte er die Halloween-DVD ein, die sich als erfrischend frei

von sexuellen Aktivitäten erwies. Dafür gab es eine Menge

Symbolik. Etliche Frauen aus den Hardcore-Filmen tollten in

knappen Kostümen herum. Spitzenbesetzte Verkleidungen als

rote Teufelinnen, Vampirinnen mit Fangzähnen, eine fast

nackte Braut Frankensteins und so weiter.

Mack hatte sich als Frank Sinatra verkleidet – was vermut-

lich seiner Selbstwahrnehmung entsprach, allerdings besaß Ol’

Blue Eyes in diesem Fall Hörner. Dreiei ging – nicht weit her-

geholt – als Höhlenmensch, wobei er seine Namensgeber zum

Glück hinter einem Lendenschurz verbarg. Jaz wiederum nahm

als Mumie an der Party teil und hatte sein »Berufswerkzeug«

ebenso eingewickelt wie den Rest seines Körpers. Karen platz-

te betrunken als exotische Bauchtänzerin ins Bild. Die Kamera

zoomte heran und wieder weg, während sie einen bizarren

Tanz aufführte. Bislang jedoch fehlte von Hildreth bei der Fei-

er jede Spur.

»Hi«, sagte Karen, als sie hereinkam.

Westmore musste zweimal hinsehen. Sie trug lediglich einen

karmesinroten Stringtanga mit passendem Oberteil. »Hi.«

»Sehe ich verkatert aus?«

»Eigentlich nicht. Der Bikini lenkt ziemlich erfolgreich da-

von ab.«

Sie lehnte sich an den Türrahmen und verschränkte die Arme

unter den Brüsten, die dadurch noch aufrechter wirkten, als es

durch die Implantate ohnehin der Fall war. »Ist das Ihre Art zu

sagen, dass ich in einem Bikini gut aussehe?«

»Karen, Sie sehen in einem Bikini so gut aus, dass ich mich

nicht mal darauf konzentrieren kann, was ich gerade tue.«

Westmore lehnte sich auf dem Stuhl zurück und zündete sich

eine Zigarette an. »Und nein, das ist keine Anmache.«

»Verdammt.«

»Haben Sie Ihre Kleider vergessen?«

»Ich habe nichts Besseres zu tun, also dachte ich mir, ich

arbeite im Innenhof an meiner Sonnenbräune. Lust, mir Ge-

sellschaft zu leisten?«

»Nein. Ich bin Journalist. Von Journalisten erwartet man,

dass sie blass sind. Ist eine Frage von Image.«

»Na ja, wenn ich alleine bin, kann ich wenigstens nackt

sonnenbaden.«

Westmore zog eine Augenbraue hoch. Ȁh, welche Fenster

weisen noch mal auf den Innenhof?«

»Sehr witzig. Was haben Sie den ganzen Tag hier oben ge-

trieben?«

»Ich habe mir die ausgesprochen gehaltvollen und stets gei-

stig hochstehenden Produktionen von T&T Enterprises ange-

sehen.«

Karen lachte. »Sie Armer. Keine Sorge, ich schaue weg,

wenn Sie aufstehen.«

»Da liegen Sie aber falsch. Für mich sind Pornos weder ero-

tisch noch stimulierend. Eher deprimierend. Mittlerweile fühle

ich mich davon regelrecht hirntot. Und im Moment sehe ich

gerade Sie auf dem Bildschirm.«

Mit leicht geschockter Miene kam Karen um den Schreib-

tisch herum. »Die Halloween-Party, Gott sei Dank. Ich dachte

schon, Sie hätten einen meiner alten Pornos aus den frühen

1990ern gefunden.«

So attraktiv Karen sein mochte, Westmore wollte ganz sicher

keine Aufnahmen von ihr sehen, wie sie dasselbe tat, wobei er

den anderen T&T-Frauen zugesehen hatte. »Ein toller Bauch,

aber – nichts für ungut – Sie sind keine besonders gute Tänze-

rin.«

»Wenn ich nüchtern bin, dann schon, nur war ich das bei

dieser Party definitiv nicht.« Amüsiert betrachtete sie das Ge-

schehen.

»Ich sehe Hildreth nirgendwo. War er nicht bei der Party?«

»Nein, war er nicht. Er hat Halloween sehr ernst genom-

men.«

Westmore musste über seine Schlussfolgerung lächeln. Er

konnte sich das ulkige Bild lebhaft vorstellen, das wahrschein-

lich obendrein der Wahrheit entsprach: Hildreth und seine

Spießgesellen bei Sprechgesängen in der Kapelle, wobei sie

lächerliche schwarze Umhänge und Kapuzen trugen. »Natür-

lich.«

Karen, die sich immer noch das Filmmaterial von der Party

ansah, runzelte plötzlich die Stirn. »Oh Scheiße. Man kann

meinen Kaiserschnitt sehen.«

Westmore war die Narbe nicht aufgefallen und er wurde

wieder einmal überrascht. »Ich wusste gar nicht, dass Sie Kin-

der haben.«

»Sehen Sie?« Karen schob den Saum des ohnehin winzigen

Bikinihöschens ein Stück nach unten und legte dadurch die

dünne Narbe frei. »Ich bekam Darlene, als ich 21 war, stellen

Sie sich das vor. Mittlerweile fühle ich mich dadurch alt; sie ist

jetzt in ihrem ersten Jahr am College. Und ich bin richtig stolz

auf sie. Darlene wurde in Princeton angenommen.«

»Das ist ja toll«, meinte Westmore. »Aber Sie müssen prak-

tisch Millionärin sein, um das Schulgeld bezahlen zu können.«

»Was das Stipendium nicht abdeckt, übernimmt Vivica.«

»Da haben Sie aber Glück. Was passiert, falls Vivica Sie

entlässt?«

Karen schwieg einen Moment. »Warum sollte sie das tun?«

»Na ja, ich weiß nicht. Sie haben früher für die Firma ihres

Mannes gearbeitet, jetzt ist ihr Mann tot und die Firma ge-

schlossen.«

»Ich würde mal sagen, wenn sie mich feuert, bin ich

schlimmer am Arsch als all die Tussis in diesen Videos zu-

sammen.«

Bei Gelegenheit würde Westmore sich überlegen müssen,

wie er ihr höflich mitteilen konnte, dass obszönes Gerede sie

für ihn nicht gerade attraktiver machte. Dann hätte er beinahe

laut aufgestöhnt, als Karen zur Kaffeemaschine ging und sich

über den Schrank beugte, um Filter herauszuholen. »Ach ja,

weil ich gerade daran denke: Haben Sie je von einer Frau na-

mens Deborah Anne Rodenbaugh gehört?«, fragte er.

»Nein, ich glaube nicht.«

»Sie ist als Halterin des verlassenen Roadsters im Wald ge-

listet. Vielleicht eine von Hildreths Darstellerinnen?«

»Kann sein.«

Auf dem Bildschirm sah man im Hintergrund eine plumpe,

übergewichtige Frau sitzen. Strähniges Haar hing ihr tief in die

Augen. Sie wirkte zugedröhnt. »Wer ist das?«, wollte West-

more wissen.

Ohne besonderes Interesse schaute Karen auf den Monitor.

»Oh, das ist Faye. Ein hoffnungsloser Fall; mir hat sie immer

so leidgetan. Sie war die Hausmeisterin der Firma und hat auch

die Außenanlagen ein wenig in Schuss gehalten.«

»Sie trägt nicht mal ein Kostüm.«

»Faye ist kein Partygirl. Eher das schwermütige Mauer-

blümchen. Sie hat nur auf das Ende der Feier gewartet, um

aufräumen zu können. Viele von Hildreths Mädchen haben

sich über sie lustig gemacht. Es war echt grausam. Soweit ich

weiß, war sie ein heimlicher Junkie.«

Sieht wirklich so aus, als hätte sie irgendwas eingeworfen.

Westmore wollte gerade etwas anderes sagen, als sein Herz

einen Sprung machte.

Rasch drückte er die Pause-Taste. Auf der DVD von der

Halloween-Party war jemand ins Bild getreten.

Das ist sie! Die junge Frau, die er auf dem gerahmten Foto

im Schreibtisch und dem Ölgemälde vor dem Tresor gesehen

hatte. Allerdings war sie nicht kostümiert, sondern trug einen

adretten dunklen Geschäftsanzug und Stöckelschuhe.

Könnte das Deborah Rodenbaugh sein?

»Ich wünschte, ich wüsste, wer das ist«, murmelte er vor

sich hin.

Karen spähte herüber. »Hab ich noch nie gesehen.«

Westmore sah sie argwöhnisch an. »Doch, haben Sie.«

»Nein. Ich glaube nicht.«

Er deutete hinter sich auf den Boden. »Das ist die junge Frau

auf dem Gemälde. Bei ihr haben Sie auch gesagt, Sie hätten sie

noch nie gesehen. Und es handelt sich offensichtlich um die-

selbe Frau.« Westmore wusste nicht einmal, weshalb er arg-

wöhnisch war, dennoch bedachte er Karen mit einem eindring-

lichen Blick.

»Warum führen Sie sich plötzlich wie ein Arsch auf?«,

herrschte Karen ihn an.

»Tu ich nicht, ich ...«

»Ich war betrunken, als ich das Bild gesehen habe, und jetzt

sehen Sie mich an, als würde ich lügen!«

»Ich habe damit nur gemeint, dass ich es seltsam finde, wenn

Sie sagen, Sie hätten die Frau noch nie gesehen. Immerhin ha-

be ich Ihnen das Bild gezeigt und jetzt entdecke ich sie auf

einer Party, auf der Sie auch waren. Und trotzdem behaupten

Sie steif und fest, Sie wüssten nicht, wer das ist ...«

»Herrgott noch mal, warum sollte ich Sie anlügen? Als ich

hier gearbeitet habe, gingen in diesem Haus ständig Leute ein

und aus. Der Haupteingang hätte genauso gut eine Drehtür sein

können. Ich kann mich unmöglich an jede einzelne Frau erin-

nern, die auf Hildreth scharf war!«

Karen wirkte stinksauer und Westmore kam sich wie ein

Idiot vor.

»Lassen Sie mich noch mal schauen, verdammt! Mal sehen,

ob ich mich an jedes einzelne Flittchen erinnere, das je einen

Fuß in dieses beschissene Haus gesetzt hat ...« Stirnrunzelnd

beugte sich Karen vor. Ihr Hinterteil mit dem knappen Biki-

nihöschen war nur wenige Zentimeter von Westmores Augen

entfernt. Sie betrachtete eingehend das Standbild. »Oh, warten

Sie mal, ich erinnere mich tatsächlich an sie.«

»War sie eine der Darstellerinnen?«

»Nein, sie war eine von Hildreths Mädchen für alles. Gele-

gentlich nahm er eine junge Frau unter seine Fittiche und be-

zeichnete sie als seine Assistentin. Hab sie aber fast nie gese-

hen, definitiv kein Partygirl. Ich wüsste nicht, dass sie über-

haupt je einen Drink in der Hand gehabt hätte. Und wenn ich’s

mir recht überlege ... Nach welchem Namen haben Sie mich

noch mal gefragt?«

»Deborah Anne Rodenbaugh.«

»Okay, dann ist sie das wahrscheinlich, denn ich glaube, ihr

Name war Debbie. Sie fuhr ein kleines schwarzes Cabrio.«

Ja! , freute sich Westmore. »Das ist sie. Endlich weiß ich,

wer sie ist.« Viel Lärm um nichts, aber immerhin hatte er so

die Information bekommen, die er brauchte.

»Warum ist sie überhaupt so wichtig?«

Westmore kratzte sich am Kopf. »Ich weiß es nicht, aber das

Auto im Wald ist auf ihren Namen zugelassen. Es ist ein An-

fang, mal zu wissen, wer sie ist.«

»Ein Rätsel. Hat Vivica Sie in Wirklichkeit dafür engagiert?

Um etwas über dieses Mädchen in Erfahrung zu bringen?

Glauben Sie mir, Vivica ist keine von der eifersüchtigen Frak-

tion.«

Westmore bemühte sich, der Frage bestmöglich auszuwei-

chen. »Ich ... nehme die Dinge nur unter die Lupe.«

»Ach ja? Unter die Lupe?« Karen stemmte die Hände in die

Hüften und präsentierte ihm unverhohlen ihre Kurven.

Heiliger Bimbam. Ich schnapp hier gleich über.

»Ich gehe mich jetzt sonnen. Sie können ja gerne weiter

Dinge unter die Lupe nehmen.« Karen bedachte ihn mit einem

letzten belustigten Blick. »Sie sind ein echter Spinner, das

wissen Sie schon, oder?«

»Klar. Aber genau das mögen Sie an mir, richtig?«

»Ich glaube ja«, erwiderte sie kichernd und ging.

Kapitel 10

I

Westmore würde niemals etwas bei ihr versuchen. Willis hatte

eine Heidenangst vor Sex. Mack mochte sie nicht. Nyvysk war

schwul. Adrianne und Cathleen hielt sie für völlig durchge-

knallt. Warum also sollte es Karen kümmern, was die Leute

von ihr hielten?

Nur zu, nennt mich ruhig eine Schlampe.

Sie selbst zog es vor, sich als ungehemmt zu bezeichnen. Es

kam ihr ganz natürlich und selbstverständlich vor. Wenn je-

mand spannen will, ist mir das egal ... Sie legte den knappen

Bikini ab und stand splitternackt mitten auf dem sonnigen In-

nenhof. Die Sonne fühlte sich herrlich auf ihrer Haut an und

erinnerte sie daran, warum sie Florida so liebte.

Sie streckte sich auf einem steinernen Klubsessel mit wet-

terbeständigem Polster aus. Der Springbrunnen war abgeschal-

tet worden, sodass der Wasserspeier sie mit trockenem Mund

lüstern anzustarren schien. Beete mit Taglilien, Mimosen und

Kreuzblumen blühten in verschiedenen Orangetönen. Karen

roch ihre üppige Süße. Sie schloss hinter der Sonnenbrille die

Augen und die Welt wechselte von gleißend zu schwarz.

Karen versuchte, ihren Geist freizumachen, aber ihre Ge-

danken kehrten immer wieder zu Westmore zurück. Eigentlich

war er überhaupt nicht ihr Typ – vielleicht erklärte gerade das,

weshalb sie sich so hingezogen zu ihm fühlte. Nach 20 Jahren,

die sie mit den falschen Kerlen geschlafen hatte, fing sie viel-

leicht endlich an, ein Licht am Ende des Tunnels zu erkennen.

Jemand, der anständig und klug war. Eine angenehme Ab-

wechslung. Nur spielt das keine Rolle, weil er nicht mitziehen

wird, dachte sie. Ja, er ist klug. Klug genug, um sich nicht auf

mich einzulassen ...

Erfolglos versuchte sie, sich der Fantasie zu widersetzen,

und stellte sich vor, Westmore wäre jetzt bei ihr, hier draußen,

sie beide nur in Sonnenlicht gehüllt. Sein Mund befand sich auf

ihrem, dann wanderte er tiefer. Seine Hände kneteten ihr

Fleisch. Das Gefühl seines Körpers an ihrem ergänzte die woh-

lige Wärme der Sonne. Karen fühlte sich ekstatisch ...

Als sie in den Schlaf hinüberglitt, begleitete Westmore sie.

Mittlerweile befand sich sein Mund zwischen ihren Schenkeln

und seine Zunge leckte sie. Karens Nerven fühlten sich wie ein

Geflecht von gespannten Federn an, die jeden Moment zer-

springen konnten.

Dann fühlte sich plötzlich etwas ... falsch an.

Die Zunge, die in sie stieß, schien unmöglich lang zu sein –

röhrenförmig gestrecktes Fleisch. War sie gegabelt? Karens

Augen quollen vor und als sie die Lider aufschlug, befand sie

sich nicht mehr im Innenhof der Villa. Stattdessen lag sie auf

dem kahlen Steinboden einer verliesartigen Zelle. Durch rau-

chende Löcher in der Mauer flackerte orangefarbener Feuer-

schein herein.

Wo bin ich?, dachte sie verstört.

Durch eines der kantigen Löcher in der Wand erspähte sie in

der Ferne etwas, eine Art Tempel, der auf einer von Nebel

dunstigen Anhöhe kauerte. Das Bauwerk hatte die Farbe von

Fleisch. Arterien schienen sich über die vorderen Säulen und

die Seitenwände zu erstrecken. Aber als sich die Empfindun-

gen tief in ihrer Lendengegend zu verstärken begannen, löste

sie die Aufmerksamkeit von dem Tempel, weil ihr etwas ande-

res auffiel.

Es war nicht Westmore, der sie unterhalb der Gürtellinie

bearbeitete, sondern Jaz.

Karen schrie. Jaz grinste, ein Grinsen voller Fänge, und er

zog eine von Adern durchzogene, 30 Zentimeter lange, gega-

belte Zunge zurück, schwarz wie die einer Eidechse. Seine

Stirn kräuselte sich, seine Haut war rötlich, seine Augen leuch-

teten blutig. Aus der Stirn ragten zwei dicke Knoten und die

Hände, die ihre Schenkel umfassten, wiesen Klauen auf.

»Mum! Hilfe!«

Der flehentliche Ruf war unverkennbar. Er kam von Darlene,

ihrer Tochter. Karen schrie doppelt so heftig, als sie sie ent-

deckte: Das Mädchen hing nackt mit dem Kopf nach unten.

Blankes Grauen sprach aus ihren jungen Augen.

Dreiei, genauso gehörnt und mutiert wie Jaz, stand mit ei-

nem sichelförmigen Messer neben Darlene.

»Hängt sie neben ihre Tochter«, befahl eine Stimme.

Es war Hildreth, der allein in einer Ecke der Zelle stand.

Die klauenbewehrten Hände, die Karens Knie an ihr Gesicht

gedrückt hatten, zerrten sie nun an den Haaren hoch. An die-

sem bösen Ort, wo immer er sich befinden mochte, waren ihre

großen Brüste noch größer, ihre Hüften breiter, ihre Kurven

extremer. Es lag an diesem Platz, eindeutig – er hatte ihren

Körper verändert, aber zu welchem Zweck?

Die Kreatur, zu der Jaz geworden war, drückte ihr Gesicht

gegen ein weiteres Loch in der Wand.

»Sieh genau hin, meine Liebe«, erklang Hildreths Stimme.

»Wirf einen Blick auf dich selbst in deiner Welt. Kannst du es

sehen? Siehst du, was die Akoluthen des Belarius mit dir ma-

chen?«

Karen sah es.

Sie beobachtete sich selbst auf dem Innenhof. Und sie wurde

auf dem Klubsessel von etwas malträtiert, das man nur als ge-

latineartige Schatten beschreiben konnte. Die Kreaturen ver-

gewaltigten sie im Rudel, während eine zweite Ausgabe von

Hildreth danebenstand und das Treiben beobachtete. Er befand

sich gleichzeitig hier und dort.

»Und weißt du was, Karen?«, fragte sein Abbild in der Zelle.

»Du genießt jeden Moment ihrer Bemühungen. Das ist die Na-

tur wahrer, unverfälschter Lust.«

Voller Grauen wurde Karen Zeugin dessen, was mit ihr an-

gestellt wurde, während die Hand, die ihr Haar gepackt hatte,

fester daran zog. Unter ihr erbrach der Wasserspeier in der

Mitte des Springbrunnens Blut ...

»Lust ruft sie herbei. Warum sonst hätte ich mich für ein

solches Haus entscheiden sollen?«

Karen konnte geistig nicht verarbeiten, was Hildreth sagte.

Ihre Angst loderte durch sie hindurch. Sie kreischte so laut und

schrill wie die Pfeife einer Lokomotive, als sie zu Boden ge-

worfen wurde und man ihre Fußgelenke mit etwas fesselte, das

sich wie ein schleimiges Seil anfühlte. Dann wurde sie mit dem

Kopf nach unten auf einen Haken neben ihre Tochter gehängt.

Hildreth lächelte mit einem verschlagenen Leuchten in den

Augen. »Mutter und Kind. Was für eine passende Hommage.«

Darlene schrie als Erste, ein mitleiderregendes Geheul ge-

schändeter Unschuld. Dreiei sägte mit dem krummen Messer in

das Fleisch ihres Halses. Aus der knochentiefen Wunde ström-

te Blut wie Wasser aus einem Hahn und ergoss sich in einen

Trog, der unter ihnen stand.

»Keine Sorge, Karen«, beschwichtigte Hildreth. »Das ist nur

ein Traum, aus dem wir dich entführt haben. Es war deine Lust,

die uns den Zugang verschafft hat.«

Jaz schnitt in Karens Hals. Seltsamerweise empfand sie kei-

ne Schmerzen, lediglich das Gefühl, geleert zu werden.

»Es ist nur ein Traum, nur ein Traum. Bitte, Karen. Hilf mir,

meine Träume zu verwirklichen.«

Sie zuckte an dem Haken, während ihr Blut in den Trog hin-

einschoss.

»Gut, gut. Vergieß es ordentlich. Es ist so wunderschön,

nicht wahr?«

Als nichts mehr übrig war, wurden ihre Köpfe abgeschnitten

und zu Boden geworfen. Karen konnte immer noch sehen. Ihr

enthaupteter Körper und der ihrer Tochter hingen über ihr. Jaz

und Dreiei fuhren mit den Händen über die Leiber, von den

Fußgelenken bis zur Hüfte, dann von der Hüfte bis zum Hals,

um auch noch die letzten Tropfen herauszupressen.

»Gut«, sagte Hildreth. »Und jetzt bemalt die Wände damit.«

Unterdessen trug Hildreth beide Köpfe zu einem Holztisch

mit einer handbetriebenen Presse. Karen konnte immer noch

zusehen, als ihr Kopf auf die Druckplatte gelegt wurde. Die

Vorrichtung wurde mit einer Handkurbel enger und enger ge-

schraubt, bis die Knochen nachgaben, ihr Gehirn durch den

Mund, die Ohren und die Nase gepresst und der Schädel

schließlich flach zusammengequetscht wurde.

II

Das Mädchen schlief in Clements’ Bett. Das Mädchen, dachte

er stirnrunzelnd. Mittlerweile kannte er ihren Namen. Connie.

Und er war im Begriff, ihr in gewisser Weise zu verfallen. Ein

Crack-Junkie, eine Prostituierte. Er lachte in sich hinein. Es

war ihm egal. Von dem Dreckszeug konnte er sie immer noch

losbekommen, wenn diese andere Sache ausgestanden war.

Clements blieb fest entschlossen, es zu einem Ende zu bringen,

auch wenn er es selbst erledigen musste. Danach würde er für

Connie einen langfristigen Entzug organisieren. Was es koste-

te, interessierte ihn nicht. Er war entweder sehr aufrichtig oder

der größte Trottel auf Erden.

Zuvor hatte sie ihm bei der Villa geholfen. Er stellte sein

Mobiltelefon auf Vibrationsalarm und sie hielt mit dem Fern-

glas Ausschau für den Fall, dass Vivica Hildreth im Haus auf-

kreuzte. Vivica Hildreth war die Einzige, die Clements’ Äuße-

res kannte und daher sofort entlarvt hätte, dass es sich bei dem

Mann in Kammerjägeruniform in Wahrheit um einen ehemali-

gen Polizisten handelte.

Während er im Atrium so getan hatte, als sprühte er Chemie

gegen Ungeziefer, holte er heimlich die CDs aus dem sprach-

aktivierten digitalen Rekorder, den er unter der Couch in der

Mitte des Raums versteckt hatte, und tauschte sie durch leere

CD-Rohlinge aus. Die Informationen über Hildreths Service-

vertrag stammten von dem Mann, dem die Baysi-

de-Schädlingsbekämpfung gehörte. Clements hatte einst – mit

nicht gerade ethischen Mitteln – den Koksdealer hochgenom-

men, der die Tochter des Besitzers süchtig gemacht hatte. Die-

ser war ihm noch einen Gefallen schuldig gewesen.

Jetzt musste er sich nur noch die fünf CDs mit sprachakti-

vierten Aufnahmen anhören. Es würde eine lange Nacht wer-

den.

Schon auf dem ersten Datenträger fanden sich einige längere

Unterhaltungen. Nyvysk und die drei übersinnlich Begabten

waren mittlerweile alle eingetroffen – ein wirklich verrückter

Haufen. Sie hatten von kosmischen Vergewaltigungen geredet,

als wären sie tatsächlich passiert. Astralwanderungen. Sie

zeigten sich überzeugt davon, dass Hildreth ein wahrer Satanist

gewesen und das Haus »geladen« sei, was immer das bedeuten

mochte. Dass sie kommen würden, hatte Clements dank der

Wanze, die er in Vivica Hildreths Penthouse eingeschleust hat-

te, im Voraus gewusst. Nun befanden sich in dem Haus außer-

dem zwei Angestellte von Hildreth und dieser Schriftsteller.

Letzterer verkörperte das schwache Glied in der Kette.

Aber es war noch kein Wort über Debbie Rodenbaugh ge-

fallen.

Ja, es würde eine lange Nacht werden. Mr. Johnnie Walker

Black war ebenso anwesend, um ihm Gesellschaft zu leisten,

wie der Marlboro Man. Vielleicht wusste einer dieser Spinner

etwas über Debbie und darüber, was ihr wirklich zugestoßen

war.

Clements betrachtete das Foto auf dem Lebenslauf des Jour-

nalisten Richard Westmore. Er tippte mit einem Finger darauf.

Den da nehme ich ins Visier, dachte sich Clements.

Viel später in dieser Nacht hörte Clements eine verzerrte

Stimme, die an-und abzuschwellen schien. Im Hintergrund

vermeinte er, aus weiter Ferne Schreie wahrzunehmen. Die

knisternde Stimme sagte: »Clements! Komm in unsere Mitte

und werde einer von uns! Wir wissen, dass du zuhörst ...«

III

Westmore war speiübel.

Wie gelähmt saß er da und starrte auf den Bildschirm. Oh

mein Gott. Was ist das nur für eine kranke, kranke Welt ... Wie

konnten Menschen solche Dinge tun? Was zwang den mensch-

lichen Willen dazu, sich an solchen Perversionen zu beteiligen?

Wie konnten Menschen überhaupt zu so etwas in der Lage

sein?

Westmore konnte sich nur eine einzige Antwort zusammen-

reimen.

Es war böse. So musste es sein. Eine andere Erklärung gab

es nicht.

Mehrere der DVDs am unteren Ende des Stapels unterschie-

den sich von den anderen. Keine sexuellen Eskapaden mit lä-

cherlicher Handlung und grauenhaften Dialogen. Diese Filme

entsprachen nicht der Kost, die man im Erotikladen um die

Ecke finden würde.

Es handelte sich vielmehr um mitgeschnittene Vergewalti-

gungen.

Und andere Dinge. Prügel. Sadismus. Sex mit Tieren. Das

Schlimmste, das die Menschheit zu bieten hatte, spielte sich

dank Reginald Hildreth unmittelbar vor seinen Augen ab.

Männer in Masken verkörperten in diesen Fällen die männli-

chen Protagonisten, zwei davon waren Hildreths Handlanger:

Jaz und Dreiei. Junge Frauen – vermutlich Prostituierte oder

obdachlose Straßenmädchen – wurden vor dem teilnahmslosen

Objektiv der Kamera geschlagen und vergewaltigt. Entweder

knebelte man sie oder ließ sie lauthals schreien, was besonders

kranke Betrachter vermutlich noch mehr aufgeilte. Häufig ver-

band man ihnen die Augen, um ihr Grauen zu steigern. Es gab

mehrere dieser DVDs und alle waren an Orten entstanden, die

Westmore wiedererkannte: Zimmer und Salons der Villa.

Ein weiterer Film dokumentierte ein Genitalpiercing – zu-

mindest glaubte Westmore, dass man es so nannte. Eine halbe

Stunde, die aus einem einzigen Aufnahmemotiv bestand: dem

gespreizten Schambereich einer Frau. Die Vaginalöffnung der

Unbekannten wurde mit einem Piercing nach dem anderen

verschlossen, indem Chromringe die Schamlippen förmlich

zusammennähten. Das Gesicht der Frau kam nie ins Bild,

ebenso wenig der Rest ihres Körpers. Die Kamera bewegte sich

nie.

Am Ende war Westmore schwindlig. Er brauchte mehrere

Minuten, um die Fassung zurückzuerlangen, und als er glaubte,

sich wieder im Griff zu haben, stand er auf, um das Büro zu

verlassen, musste jedoch stattdessen ins Badezimmer rennen,

wo er spontan in die Toilette kotzte.

Danach kehrte er durch das dunkle Treppenhaus ins Süd-

atrium zurück. Seine Augen starrten blicklos ins Leere. Er er-

innerte an jemanden, der gerade vom Beobachtungsfenster ei-

ner Hinrichtung weggetreten war.

»Sie sehen aus, als hätten Sie ein Gespenst gesehen«, stellte

Cathleen fest, als er sich in den Raum schleppte.

»Vielleicht hat er das ja«, meldete sich Willis zu Wort.

Die gesamte Gruppe saß um den Besprechungstisch ver-

sammelt. »Ich wünschte, ich hätte einen Geist gesehen«, erwi-

derte Westmore und nahm Platz. »Tatsächlich habe ich etwas

viel Schlimmeres gesehen.«

»Wovon reden Sie?«, fragte Adrianne.

»Ich habe die letzten Stunden damit verbracht, mir einige der

ausgefalleneren Produktionen von T&T Enterprises anzusehen.

Vergewaltigungsfilme.«

»T&T hat nie irgendwelches Untergrundmaterial gedreht«,

warf Karen ein. »Es war immer genehmigte und legale Porno-

grafie.«

»Dieses Zeug nicht. Es war übelkeiterregend. Wahrschein-

lich etwas, das Hildreth nebenher zu seinem privaten Vergnü-

gen produziert hat. Allmählich fange ich an, den wahren Hild-

reth zu erkennen. Der Typ war krank im Kopf.« Westmore

fühlte sich immer noch ausgelaugt, von seinem eigenen Geist

abgekoppelt. »Nur die kränksten Menschen der Welt würden

solchen Dreck erregend finden. Es war kriminell.«

»Hildreth war ein kranker Mann«, pflichtete Nyvysk ihm

bei. »Und es gibt viele Hildreths auf der Welt. Das geht über

bloße Geisteskrankheit hinaus. Solche Menschen existieren

nur, um das Böse fortbestehen zu lassen. Pornografie, Verge-

waltigung, Erniedrigung – das sind die Werkzeuge, die sie be-

nutzen, um dem Bösen Vorschub zu leisten.«

Westmore war nach wie vor zu übel, um dem theologischen

Einwand zu widersprechen. Die Videobilder – die ausdrucks-

losen Gesichter, die blasse Haut, die Schreie, die Geräusche

von Fäusten, die gegen Fleisch hämmerten –, suchten ihn am

Tisch heim. Er hielt Ausschau nach einer Ablenkung ... und

fand eine. Auf dem Tisch stand ein Gerät in der Größe eines

Videorekorders. »Was ist das?«

»Wir hatten einen Eindringling«, erklärte Cathleen und

drückte eine Zitrone in ihren Eistee aus.

»Wir werden abgehört«, fügte Willis hinzu.

Westmore zeigte sich entgeistert. »Was?«

»Das ist ein CD-Rekorder mit Sprachaktivierungssensor«,

erklärte Nyvysk. »Er läuft nur, wenn jemand redet, daher passt

auf eine Scheibe so ziemlich alles, was einen Tag lang in die-

sem Raum gesprochen wird. Ich habe ihn unter der Couch ge-

funden. Das Gerät ist an einen Funksendeempfänger ange-

schlossen, der sämtliche Geräusche im Raum durch dieses Mi-

krofon erfasst.« Der ehemalige Priester zeigte nach oben zum

Kristallkronleuchter, der über dem Tisch hing.

Mit zusammengekniffenen Augen erkannte Westmore ein

winziges Mikrofon, das an der Unterseite einer der Glühbirnen

klebte. »Wer könnte uns verwanzt haben?«

Cathleen lachte. »Jemand, den Sie heute ins Haus gelassen

haben.«

Westmore dachte zurück. »Der Kammerjäger?«

»Der Kammerjäger«, bestätigte Nyvysk.

»Aber er war ...«

»Wenn jemand schuld ist, dann ich«, gestand Karen. »Es war

nicht der Mann, der sonst immer kommt. Ich hätte bei der Fir-

ma anrufen und nachfragen sollen, aber das habe ich nicht ge-

tan.« Kurz verstummte sie und runzelte die Stirn, offenbar wü-

tend auf sich selbst. »Ich war verkatert und zu faul.«

Nyvysk ging zum Fernseher. »Es war reiner Zufall, dass ich

es bemerkt habe. Ich saß in der Kommunikationszentrale, um

meine Zusammenschaltungen zu überprüfen, als mir über die

Videoanlage zufällig auffiel, wie der Mann hier herumspazier-

te. Also drückte ich die Aufnahmetaste der Kamera. Und hier-

bei habe ich ihn beobachtet ...« Der Fernseher ging an, und da

war er: »Mike« von der Bayside-Schädlingsbekämpfung. Auf

dem Bildschirm sprühte er Pestizid entlang der Sockelleiste,

dann stellte er den Tank rasch ab, schaute sich suchend nach

allen Seiten um und kniete sich dann vor die Couch. Er zog den

Rekorder heraus und tauschte die CDs. Eine Minute später

sprühte er weiter, als wäre nichts gewesen.

»Was sagt man dazu?«, stieß Westmore verblüfft hervor.

»Warum hört er uns ab?«

»Vielleicht arbeitet er für Vivica«, meinte Adrianne.

Mack setzte am Ende des Tisches eine finstere Miene auf.

»Warum sollte Vivica ihr eigenes Haus verwanzen? Ich arbeite

für sie, schon vergessen? Und Karen auch. Wolltet ihr Über-

sinnlichen irgendetwas abziehen, was nicht astrein ist, würden

Karen oder ich ihr sofort Bescheid geben.«

»Dann muss es die Polizei sein«, stellte Cathleen fest.

»Das ergibt auch keinen Sinn«, widersprach Westmore. »Die

Polizei hat die Akte Hildreth geschlossen. Für sie war es

mehrfacher Mord mit anschließendem Selbstmord. Alle sind

tot. Wo soll es da noch einen Fall geben?« Aber noch während

er die Worte aussprach, geriet er ins Grübeln. Vielleicht ist Vi-

vica nicht die Einzige, die denkt, ihr Mann sei noch am Leben

...

»Es spielt eigentlich keine Rolle, wer uns weshalb abhört«,

meinte Nyvysk. »Trotzdem ist es eigenartig.«

»Eigenartig?«, meldete sich Mack zu Wort. »Ich finde, das

ist schon etwas mehr als eigenartig. Mich jedenfalls macht es

ziemlich paranoid.«

»Niemand tut hier irgendwas Unrechtes«, erinnerte Nyvysk

die anderen. »Wir befinden uns auf Einladung der Besitzerin

im Haus. Es werden keine Verbrechen begangen. Für Laien

sind wir bloß ein durchgeknallter Haufen von Geisterjägern

und Mentalisten. Dass sich die Polizei dafür interessiert und

damit Zeit vergeudet, erscheint mir höchst unlogisch.«

»Vielleicht ist es eine Zeitung«, fiel Westmore ein. » Damit

würde man etliche Exemplare verkaufen. ›Mordhaus wird von

berühmten Medien untersucht‹.«

Alle sahen Westmore während einer Phase längeren

Schweigens an. »Darauf bin ich gar nicht gekommen«, gestand

Nyvysk. »Und es fällt auf, dass gerade Sie derjenige sind, der

es anspricht. Also sagen Sie uns, Mr. Westmore, für welche

Zeitung arbeiten Sie?«

»Moment mal!«, protestierte Westmore sofort. »Ich arbeite

für gar keine Zeitung mehr. Ich bin Freiberufler.«

»Sie könnten als Freiberufler ein Buch schreiben«, fügte

Cathleen hinzu. »Das wäre ein Knüller!«

Ich und mein loses Mundwerk, ärgerte sich Westmore.

»Aber noch mal: Soweit es mich betrifft, spielt es kaum eine

Rolle«, ergriff Nyvysk wieder das Wort. »Mr. Westmore hätte

es kaum nötig, elektronische Wanzen einzuschleusen, wenn er

sich bereits mitten unter uns befindet. Und genauso unsinnig

wäre das Risiko, einen Außenstehenden dafür heranzuziehen,

die CDs zu wechseln, obwohl er es selbst wesentlich einfacher

erledigen könnte.«

»Danke«, sagte Westmore erleichtert.

Nyvysk fuhr fort. »Wir dürfen uns von diesem Vorfall nicht

von unserem Ziel ablenken lassen. Es hat sich heute etwas

weitaus Ernsteres ereignet und wir müssen darüber reden.«

Westmore sah sich um. Alle Gesichter am Tisch verfinster-

ten sich, vor allem das von Karen.

»Was ist passiert?«

»Ich hatte auch eines dieser Erlebnisse wie Cathleen und

Adrianne«, klärte Karen ihn auf.

»Eines welcher Erlebnisse?«

»Eine paraplanare Vergewaltigung«, antwortete Nyvysk.

»Ein körperloser sexueller Übergriff.«

Das schon wieder, dachte Westmore. Allerdings wirkte Ka-

ren niedergeschlagen, regelrecht gebrochen, und er wusste,

dass sie nicht besonders an diesen übersinnlichen Kram glaub-

te. Zudem hielt er sie nicht für jemanden, der sich von der

Macht der Suggestion beeinflussen ließ. Trotzdem schien sie

extrem aufgewühlt zu sein.

»Und wo hat sich das zugetragen?«, fragte er.

»Im Innenhof.« Beim Gedanken daran verkrampfte sie.

»Wahrscheinlich war es nur ein Traum.«

»Es war kein Traum«, zeigte sich Cathleen überzeugt. Dann

stellte sie eine scheinbar irrelevante Frage. »Was haben Sie

angehabt?«

Karens Schultern sackten herab. »Nichts. Ich habe mich ge-

bräunt. Da niemand in der Nähe war, habe ich alles ausgezo-

gen.«

»Mobilisierende Symbolik?«, fragte Nyvysk.

»Ich glaube ja«, antwortete Cathleen. »Dieses Haus ist sehr

sexuell geprägt. Das haben wir alle bereits in dem Moment

gefühlt, als wir es betraten. Als ich auf dem Friedhof mit mei-

ner Halomantie beschäftigt war, trug ich ebenfalls keine Klei-

dung.«

»Und ich hatte bei meiner Astralwanderung nur einen BH

und einen Slip an. Als ich in meinen Körper zurückkehrte, war

mir beides ausgezogen worden.«

Vielleicht hast DU dich ja ausgezogen, dachte Westmore

unwillkürlich.

»Kurz bevor es passiert ist«, wollte Cathleen von Karen

wissen, »haben Sie da an etwas Sexuelles gedacht? Wenn ich

eine Divination oder eine Séance abhalte oder einen Kontakt

herzustellen versuche, denke ich an eine angenehme sexuelle

Erfahrung aus meiner Vergangenheit zurück – nicht weil ich

dadurch etwas herbeizurufen versuche, sondern weil es

manchmal dabei hilft, mein Psi einzustimmen und meine Auf-

nahmefähigkeit zu schärfen.«

»Etwas Ähnliches mache ich vor einer Astralwanderung«,

gestand Adrianne. »Orgastisch lebe ich seit mittlerweile Jahren

enthaltsam – das muss ich –, aber sexuelle Gedanken schärfen

meine Sinne und machen es mir leichter, mich von meinem

Körper zu lösen.«

Westmore fühlte sich von dem Gerede wie benebelt. Orga-

stisch enthaltsam? An Sex denken, um das ›Psi‹ einzustimmen?

Du meine Fresse, das ist nicht gerade Small Talk für eine

Tupperparty. Er konnte kaum glauben, was er da so hörte. Und

alle meinten das todernst.

»Was ist mit Ihnen, Karen?«, wiederholte Cathleen ihre ur-

sprüngliche Frage.

»Oh Mann.« Karen – die nichts aus dem Gleichgewicht zu

bringen schien – wirkte plötzlich zutiefst verlegen. Ohne ihre

Sonnenbräune hätte man noch deutlicher erkannt, wie sie errö-

tete. »Ja, ich habe an Sex gedacht, bevor ich einschlief.«

»Sex mit jemand Bestimmtem?«, hakte Willis nach und

schenkte sich Limonade ein.

»Ja.«

»Sex mit Hildreth oder einem der Männer, die hier gestorben

sind? Oder einer der Frauen?«, erkundigte sich Cathleen.

»Gott, nein! Was macht es überhaupt für einen Unterschied,

mit wem?«

»Ob Sie’s glauben oder nicht«, warf Nyvysk ein, »es könnte

wichtig sein. An einem Ort wie diesem? Einige der stärksten

menschlichen Emotionen stehen mit dem Sexualtrieb in Ver-

bindung. Dasselbe kann für entsprechende un menschliche oder

körperlose Emotionen gelten. Dieses Haus ist geladen, was für

Sie bedeutet, dass es voller Geister ist. Negativen Geistern,

wahrscheinlich ausgesprochen sexuellen Geistern.«

Westmore saß nur da und hörte zu. Normalerweise hätte er

sich darüber lustig gemacht. Aber jetzt?

»Na schön«, gab sich Karen geschlagen. »Ich ... hatte Fanta-

sien. Über Westmore.«

Nun errötete Westmore. Na toll ...

Niemand sonst zeigte sich im Geringsten überrascht. Alle

lauschten mit ernsten Mienen.

»Haben Sie zu diesem Zeitpunkt bereits geschlafen?«, fragte

Willis. Er schob den Krug mit Limonade zu Westmore, dem

auffiel, dass der Mann immer noch Strickhandschuhe trug.

»Es fing damit an, dass ich nur daran dachte ... mit Westmo-

re Sex zu haben. Dann ging es in eine dieser Erfahrungen über,

als ob man träumt. Man sieht den Traum, ist aber noch wach

...«

»Hypnopompe Halluzination«, platzten Nyvysk und Willis

gleichzeitig heraus ...

Oder hypnopomper Stuss, ging Westmore durch den Kopf.

»... dann schlief ich ein, und Westmore blieb in dem Traum,

allerdings ... nur für einige Augenblicke. Dann war ich woan-

ders. In der Hölle, glaube ich. Jedenfalls sah ich Hildreth, Jaz

und Dreiei – aber sie hatten Merkmale von Dämonen. Sie ha-

ben meine Tochter und mich umgebracht.«

»Dieser Ort ...«, ergriff Adrianne das Wort. »Ähnelte er einer

Kirche, die aus Fleisch bestand? Etwas in der Art?«

»Nein«, gab Karen zurück und zündete sich eine Zigarette

an, um ihr Unbehagen zu zerstreuen. »Er hat mich an eine Ge-

fängniszelle erinnert, nur gab es Löcher in den Wänden. Durch

eines der Löcher konnte ich tatsächlich etwas in der Art sehen,

wie Sie es beschreiben. Einen Tempel, der aussah, als bestünde

er aus Haut.«

»Genau das habe ich auch gesehen«, sagte Adrianne.

»Das Chirice Flaesc«, murmelte Nyvysk düster.

Adrianne horchte auf. »Das ist der Begriff, den die Gestalt in

meiner Vision verwendet hat.«

»Der Tempel der Anbetung des Sexus Cyning«, fuhr der äl-

tere Mann fort. »Laut den Morakis-Grimoiren und anderen

wichtigen Werken der Dämonologie handelt es sich um eine

aus Fleisch errichtete Kirche, den Hort des Fürsten der Flei-

scheslust ...«

»Belarius«, stieß Westmore hervor, der sich an Nyvysks Er-

klärung im Büro erinnerte. »Der Dämon von dem Kupferstich.

Und Sie haben außerdem eine Stimme aufgezeichnet, die den

Namen auf einem der Bänder nennt.«

»In meinem Traum hat Hildreth diesen Namen auch er-

wähnt«, bestätigte Karen. »Jetzt jagt mir das gleich noch mehr

Angst ein.«

»Hildreths Puzzleteile fügen sich allmählich zusammen.«

Zerstreut zupfte Nyvysk an seinem Bart. »Er könnte dieses

Haus ohne Weiteres als Machtsymbol verwendet haben, um

Belarius zu huldigen. Belarius ist ein äußerst sexueller Dämon,

was zur Villa passt. Orgien, Prostituierte, Pornografie, Verge-

waltigungsfilme. Die Opferungen am 3. April besaßen eindeu-

tig einen sexuellen Hintergrund.« Er sah Willis an. »Die

Zielobjektvisionen, die du unlängst hattest – du sagtest, Hild-

reth sei darin auch aufgetaucht, richtig?«

»Ja«, bestätigte Willis. »Im Jean-Brohou-Salon, wo den Pro-

stituierten die Kehlen aufgeschlitzt wurden.« Er schloss die

Augen und verstummte kurz. »Hildreth und zwei andere Män-

ner.«

»Wahrscheinlich Jaz und dieser verfluchte Dreiei«, sagte

Karen. »Ich habe sie mit Hildreth in der Zelle gesehen, bevor

sie mich zwangen, mir selbst dabei zuzusehen, wie ich verge-

waltigt wurde.«

»Aber wer hat Sie vergewaltigt?«, wollte Cathleen besorgt

wissen.

»Nicht wer, was. Es waren Kreaturen. Sie erinnerten mich

irgendwie an Schatten ...«

»Subkarnate Instanzen«, sagte Willis. »Ich habe sie in mei-

ner Vision auch gesehen. Es war, als berühre man ein öliges

Gas, anders kann ich es nicht beschreiben.«

»Und genau dieselben Biester haben mich in der Nähe von

Hildreths Grab misshandelt«, steuerte Cathleen zur Unterhal-

tung bei. »Es war kein Wiedergänger Hildreths. Sie waren ...

wie eine Horde von Ungeheuern, die ich nur teilweise fühlen

konnte. Ich wurde schon früher von subkarnaten Instanzen an-

gegriffen, aber noch nie auf diese Weise.«

Grinsend unterbrach Westmore die Diskussion. »Was um

alles in der Welt ist eigentlich eine subkarnate Instanz? Ein

Geist?«

»Nicht wirklich«, antwortete Nyvysk. »Und für einen Laien

mag das völlig verwirrend klingen. Eine subkarnate Instanz ist

eine überlebende Wesenheit, die versucht, Fleisch zu werden,

die inkarniert werden will – das aber nicht kann, weil ihr phy-

sischer Körper bereits zerfallen ist.«

»Klingt für mich nach einem Geist«, beharrte Westmore.

» Oder weil sich der physische Körper woanders befindet«,

fügte Nyvysk hinzu. »In einer anderen Sphäre beispielsweise.

Aber Sie verstehen schon, worauf ich hinaus will.«

Ach wirklich? Tu ich das?, dachte Westmore.

»Starke Emotionen lebendiger Menschen ebenso wie Frag-

mente von Wiedergängern können subkarnate Instanzen an-

locken«, fuhr Nyvysk fort. »Und das bringt mich wirklich ins

Grübeln über dieses Haus.«

»Als wäre es eine Antenne, die von Hildreth justiert, mit

noch mehr Fleischeslust kalibriert wurde«, mutmaßte Adrian-

ne.

»Und letztlich auch mit rituellen Opferungen«, ergänzte

Willis.

»Ja«, stimmte Nyvysk zu. »Aber ich weiß nicht wirklich

etwas über die Villa aus der Zeit, bevor Hildreth sie gekauft

hat.«

»Da müsste uns Mack weiterhelfen können«, sagte Karen.

»Wo ist er?«, fragte Cathleen.

»Wahrscheinlich gammelt er irgendwo rum«, fügte Karen

mit einem Anflug von Sarkasmus hinzu.

»Gammeln? Dann kann unmöglich von mir die Rede sein.«

Mack betrat den Raum und schaltete im Fernsehen eine Sport-

sendung ein. »Ich habe gerade mit dem verdammten Schlüssel-

dienst telefoniert. Der Typ sagt, Vanni muss wohl gekündigt

haben, weil er sie nicht erreichen kann.«

»Vielleicht ...«, setzte Westmore an, überlegte es sich jedoch

anders. Cathleen allerdings beendete den Satz für ihn. »Viel-

leicht hat sie hier etwas gesehen.«

Adrianne lachte. »Wäre nicht das erste Mal, dass eine sub-

karnate Instanz jemanden aus einem Haus verjagt hat.«

»Wie auch immer«, fuhr Mack fort. »Der Kerl, dem der

Schlüsseldienst gehört, hat gemeint, er würde so bald wie mög-

lich jemand anderen schicken.«

Damit verflogen Westmores Hoffnungen auf eine zeitnahe

Öffnung des Tresors fürs Erste. Wahrscheinlich enthielt der

Safe etwas, mit dem er selbst wesentlich mehr anfangen konn-

te, etwas Konkreteres als Geister, subkarnate Instanzen und

dergleichen.

»Was wissen Sie über das Haus, Mack?«, wollte Karen wis-

sen. »Aus der Zeit, bevor Hildreth es gekauft hat.«

»Hat es eine Geschichte?«, fügte Nyvysk hinzu.

»Jetzt, wo Sie’s erwähnen – ja.« Mack nahm am Tisch neben

Westmore Platz. »Es stand schon immer im Ruf, ein Spukhaus

zu sein. Anfang des 20. Jahrhunderts war es eine Anstalt der

presbyterianischen Kirche, in der sie Priester weggesperrt ha-

ben.«

»Geistliche, nicht Priester«, berichtigte ihn Nyvysk.

»Wie Sie meinen. Wenn heute ein Priester oder Geistlicher

dabei erwischt wird, dass er mit Kindern rummacht oder die

halbe Gemeinde durchfickt, steht’s im Time Magazine. Aber

damals wurde das alles unter den Teppich gekehrt. Am einen

Tag war so ein Typ noch in seiner Kirche und hielt die Predigt,

am nächsten Tag war er Geschichte und durch einen anderen

ersetzt. Man brachte ihn mitten in der Nacht weg und steckte

ihn hier rein, um ihn psychiatrisch zu behandeln und vor allem

von der Öffentlichkeit fernzuhalten. Anscheinend hatten einige

dieser Typen echt einen schweren Dachschaden.«

»Mit anderen Worten: Probleme mit Sexsucht«, ergänzte

Nyvysk.

»Ja.« Mack schenkte sich Limonade ein, dann legte er die

Füße auf den Tisch. »Und während des Zweiten Weltkriegs bis

hinein in die frühen 1950er Jahre war die Villa ein Bordell. Es

hielt sich verdammt lange, weil die Puffmutter Verbindungen

zu den Bullen hatte und sie dafür, dass sie nicht genau hin-

schauten, an den Gewinnen beteiligte. Das ging sogar nach den

Morden noch so.«

»Nach den Morden?«, fragte Karen. »Ich wusste nicht, dass

es hier schon mal andere Morde gab.«

»Oh ja, einige. Vor allem unmittelbar nach dem Krieg. Die

Männer kamen aus Deutschland oder der Pazifikregion nach

Hause, geil ohne Ende und traumatisiert vom Töten auf dem

Schlachtfeld. Da schlugen einige schon mal über die Stränge,

was damit endete, dass sie ein paar der Nutten umbrachten.

Später gab’s auch eine Menge sexueller Unfälle, wenn die

Kerle zu grob mit den Mädchen umsprangen und die ausgefal-

leneren Sachen zu weit trieben – auch dadurch kamen einige

der Frauen ums Leben.«

»Interessant«, stellte Nyvysk fest. »Weitere Morde mit sexu-

ellem Hintergrund. Sehr starke Hinweise auf Wiedergänger.

Sex ist in der Tat ein wesentlicher Bestandteil der Ladung die-

ser Villa. Hier hat sich ein volles Jahrhundert negativer sexuel-

ler Energie aufgestaut.«

»Was genau bedeutet das?«, wollte Westmore wissen.

»Wir betrachten ein sogenanntes Spukhaus als ›geladenen‹

Ort. Ladungen können die Lebenden manipulieren, vor allem

jene, die mental empfänglich sind. Nehmen wir etwa ein Haus,

in dem mehrere Morde stattgefunden haben. Solche Morde

hinterlassen gewissermaßen Rückstände; negative Energie, aus

der körperlose Wesen, subkarnate Instanzen, Geister und der-

gleichen Kraft schöpfen. Betritt eine gemeingefährliche Person

ein solches Haus, erhöht sich die Ladung. Die Ladung eines

Hauses, in dem jemand Selbstmord verübt hat, wird stärker,

wenn eine deprimierte oder suizidgefährdete Person ins Spiel

kommt. Und hier?«

»Ein Doppelschlag«, meinte Cathleen.

»Richtig. Ein sexuell motivierter Mord erzeugt die stärkste

Ladung, denn er beinhaltet zwei der stärksten menschlichen

Emotionen: Hass und Lust. Solche Energie ist ein idealer

Nährboden für die Entitäten, die wir hier erleben. Wirkt wie ein

Katalysator, eine Art Ruf.«

Karen schaute auf. »Das hat Hildreth in meinem Albtraum

gesagt. Er meinte, dass sie von Lust angelockt werden und er

sich deshalb für dieses Haus entschieden hat.«

»Wen lockt Lust an?«, warf Westmore ein.

»Zum einen subkarnate Instanzen«, erklärte Cathleen. »Und

potenziell auch jeden anderen Wiedergänger. Lust, Hass, Gier,

Stolz ...«

»Soll das heißen«, folgerte Westmore, »dass solche Emotio-

nen in Kombination mit Tragödien oder Sexualverbrechen ein

Haus in eine Petrischale für Geister verwandeln?«

»In gewisser Weise ja«, bestätigte Nyvysk. »Man kann da-

von ausgehen, dass Hildreth eine sehr bewusste und gezielte

Absicht verfolgte, als er sich für dieses Haus entschied und es

in einen Hort der Pornografie verwandelte.«

»Welche Absicht?«, fragte Westmore.

»Er hat die Villa zu seiner eigenen Kirche gemacht«, sagte

Cathleen.

Nyvysk nickte. »Einer Kirche zu Ehren von Belarius.«

Kapitel 11

I

Die nächsten Tage verstrichen ereignislos, zumindest ohne

Ereignisse, die bei Westmore einen besonderen Eindruck hin-

terließen. Die Einzige, der er sich nahe fühlte, war Karen, aber

selbst sie wirkte nun verändert. Weniger lebhaft, zurückhal-

tender, frei von dem beißenden Sarkasmus, den sie bei ihrer

ersten Begegnung ausgestrahlt hatte. Und seit dem Vorfall auf

dem Innenhof schien ihre unverhohlen sexuelle Aura ge-

schwächt zu sein, umgeben von einer Mauer. Sie kleidete sich

nicht einmal mehr aufreizend – an den meisten Tagen trug sie

Jeans und eine weite Bluse. Und sie legte sich nicht mehr nackt

zum Sonnenbaden ins Freie.

Westmore schrieb mehrere Stunden am Tag recht produktiv,

obwohl er immer noch nicht sicher war, was er eigentlich

schreiben sollte. Aber wenn die anderen sicher waren – und es

klang eindeutig so, als wären sie es –, dann konnte er Vivica

Hildreth etwas Relevantes berichten. Sie will genau wissen,

was in diesem Haus in jeder Nacht vorging.

Mittlerweile wusste er es.

Es drehte sich alles um Belarius.

Aber er erinnerte sich an ihre wichtigste Anweisung an je-

nem Tag, als er sich mit ihr in ihrem Penthouse getroffen hatte:

Mein Gatte hat sich auf irgendetwas vorbereitet, von dem er

glaubte, dass es sich in Zukunft ereignen würde. Mich interes-

siert, worum es sich handelt und wann es passieren wird.

Worauf konnte er sich vorbereitet haben? Die Morde waren

offensichtlich eine Art Ritus, eine Opferung.

Für Belarius?

Um ein bestimmtes Ereignis auszulösen, vermutete er. Bei

etwas so Sinnlosem ergab das absolut Sinn. Der Schlüssel zu

allem lag in Hildreth selbst, der – ungeachtet der Spekulationen

seiner Frau – wahrscheinlich längst tot war. Was ihn wieder an

die unangenehme Aufgabe erinnerte, die noch vor ihm lag.

Westmore wusste, dass er bald in den Wald gehen und den

Sarg ausgraben musste. Und zwar ohne dass jemand davon

erfuhr, weil ihn sonst die volle Wucht von Vivicas Verschwie-

genheitsvereinbarung treffen würde. Er wusste, dass sie zu den

beißenden Hunden zählte; nicht zu jenen, die nur bellten.

In den kommenden Tagen stieß Westmore in der Villa auf

einige Passagen, die man nur als Geheimgänge beschreiben

konnte – ein paar Mal verirrte er sich sogar darin. Einer davon

führte ins Scharlachrote Zimmer, ein anderer zu den eigenarti-

gen, mit Brüstungen versehenen Laufstegen über dem Süd-

atrium. Ein Dritter, der sich hinter einem Vorhang in Hildreths

Büro verbarg, verzweigte zu mehreren sehr schmalen, hinter

den Wänden eingebauten Treppen, die schließlich in ein klei-

nes, fensterloses Zimmer mündeten, das irgendwo im ersten

Stock des Gebäudes versteckt lag.

Die Villa entpuppte sich als seltsamer Ort, der zunehmend

seltsamer wurde. Und Westmore entdeckte auch weitere

DVDs. Ihm graute davor, sie sich anzusehen, aber er tat es

trotzdem, weil er sich davon weitere Hinweise auf das geheim-

nisvolle Rodenbaugh-Mädchen erhoffte. Er fand jedoch keine.

Die DVDs enthielten entweder Pornos von T&T oder weitere

ekelerregende Vergewaltigungs-und Misshandlungsszenen. In

einem sonst leeren Zimmer im ersten Stock stolperte er auf

einer Ablage in einem Schrank über einige weitere Fotos. Sie

zeigten die plumpe, übergewichtige Frau, die er auf der Hal-

loween-DVD gesehen hatte. Faye Mullins, so hatte Karen sie

genannt, wenn er sich korrekt erinnerte. Die Hausmeisterin.

Auf den Bildern posierte sie verhalten lächelnd mit einigen der

Stars und Sternchen von T&T, doch hinter jenem Lächeln lag

unverkennbar unterdrücktes Elend. Die Frage drängte sich auf:

Wo war Faye Mullins in der Nacht des 3. April gewesen?

Und wo steckte sie jetzt?

Westmore rief einen privaten Ermittler an, den er aus seinen

Tagen bei der Zeitung kannte, und beauftragte ihn damit,

Nachforschungen über Deborah Rodenbaugh anzustellen. Au-

ßerdem forderte er einen umfassenden Bericht über den Hin-

tergrund und die Finanzverhältnisse von Hildreth an. Wie ist er

so reich geworden? Vivica und andere behaupteten, er sei ein

Finanzgenie gewesen, allerdings hatten oberflächliche Such-

maschinen-Recherchen von Westmore allesamt ins Leere ge-

führt, was er als äußerst merkwürdig empfand.

»Haben Sie gehört, was diese Spinnerin Cathleen heute

Nacht vorhat?«, fragte Mack ihn später in der Küche. Er braute

sich gerade einen Espresso. »Sie will so etwas wie eine Séance

abhalten.«

Westmore zeigte sich kaum überrascht. In diesem Haus?

»Wozu? Um Kontakt mit den Toten aufzunehmen?«

»Um Kontakt mit Hildreth aufzunehmen.« Mack lächelte

sarkastisch und ging mit seinem Kaffee davon.

»Kommen Sie mal hier rein«, sagte Nyvysk, womit er

Westmore überraschte. »Da ist etwas, das Sie vielleicht gern

sehen würden ...«

Westmore trat ins Atrium. »Was hat es damit auf sich, dass

Cathleen eine Séance durchführen will?«, fragte er.

Nyvysk kicherte. »Es ist nicht ganz das, was Sie möglicher-

weise erwarten. Cathleen ist Mentalistin – also eine Art Me-

dium. Sie kann sich in einen Zustand versetzen, den wir als

Theta-Trance bezeichnen und der manchmal kommunikations-

bereite Geister anlockt. Manche von ihnen sind ausgesprochen

redselig, Mr. Westmore; so sehr, dass es geradezu lästig sein

kann. Aber was Cathleen tun will, ist nichts, worüber Sie schon

gelesen oder was Sie in Filmen gesehen haben. Keine Hexen-

bretter, keine Leute, die um einen Tisch sitzen und sich an den

Händen halten.«

»Cathleen scheint mir ziemlich vielseitig begabt zu sein«,

bemerkte Westmore. »Sie kümmern sich nur um eine Sache –

den technischen Kram. Adrianne macht nur diese außerkörper-

liche Geschichte und Willis diesen Berührungskram ...«

»Zielobjekttaktionismus«, berichtigte ihn Nyvysk.

Westmore runzelte die Stirn. »Genau. Aber soweit ich das

verstehe, verfügt Cathleen über eine ganze Serie von Fähigkei-

ten.«

»Oh ja. Sie ist hellsichtig, sie beherrscht Tranceinduktion

und Mantik – mit anderen Worten, sie ist Wahrsagerin –, und

sie ist allgemein paranormal ziemlich empfindlich.«

»Ist sie berühmt?«

»Auf ihrem Gebiet sogar sehr. Heute hält sie sich eher aus

der Öffentlichkeit heraus. Im Fernsehen sieht man sie kaum

noch. Vor 20 Jahren war das völlig anders. Wissen Sie, wo-

durch sie vor allem bekannt wurde?«

»Keinen Schimmer.«

»Sie beherrscht Psychokinese.«

»Sie kann mit ihren Gedanken Gegenstände bewegen?«

»Ja. Aber sie hat längst damit aufgehört, es öffentlich zu tun.

Cathleen geriet in Schwierigkeiten, weil jemand bei einem Ex-

periment verletzt wurde. Eine Wand, die sie – mental – in der

Luft hielt, fiel auf jemanden drauf.«

»Sie meinen, sie ist so etwas wie eine Löffelverbiegerin.«

»Mr. Westmore, es gab eine Zeit, da konnte sie eine Brech-

stange verbiegen. Sie konnte einen Wagenheber ansehen und

kraft ihres Geistes ein Auto anheben.« Nyvysk warf ihm einen

belustigten Blick zu. »Aber das glauben Sie natürlich nicht,

oder?«

»Tut mir leid, aber ich muss etwas sehen, damit ich es glau-

ben kann.«

»Ihre Skepsis ist nicht nur gesund, sondern von entschei-

dender Bedeutung. Und jetzt habe ich hier noch etwas, worauf

Sie Ihre Skepsis konzentrieren können.«

Westmore bemerkte einige Computer und Monitore, die

Nyvysk auf einem antiken Tisch aufgebaut hatte. Nyvysk er-

klärte: »Ich habe mir hier einen kleinen Beobachtungsposten

eingerichtet, damit ich nicht ständig die Treppe rauf-und run-

terlaufen muss.« Nach einer kurzen Pause fuhr der Bärtige fort:

»Und ich dachte mir, Sie möchten vielleicht sehen, wie eine

Ionensignatur genau aussieht. Bislang sind die Messungen ...

interessant gewesen.«

Westmore richtete den Blick auf einen Flachbildschirm. Er

sah eine leere, schwarze Anzeige.

»Wissen Sie, was Zeolithgruppen sind?«, fragte Nyvysk.

»Nein.«

»Wissen Sie, was labile Ionen sind?«

»Auch dazu ein herzhaftes Nein, Professor«, gestand West-

more.

»Ionen sind geladene subatomare Teilchen; sie befinden sich

in allem«, begann Nyvysk. »Was meine Scanner erkennen,

sind Ionen in der Luft. Jeder physische Körper in jedem Raum,

der kein Vakuum ist, bringt das ionische Umfeld durcheinan-

der, und diese Störungen lassen sich beobachten. Wärme,

Feuchtigkeit, Bewegung, geringfügige von der Haut abgege-

bene Strahlung, all das führt dazu, dass Ionen in der Luft pen-

deln oder sogar ihre elektrische Ladung wechseln. Können Sie

mir so weit folgen?«

»Ich ... glaube schon«, antwortete Westmore.

»Betritt ein Mensch einen Raum, verändern sich die Ionen

um diesen physischen Körper herum erkennbar. Aber dasselbe

gilt für Wiedergänger, körperlose Entitäten, subkarnate Instan-

zen – jene Manifestationen, über die wir schon gesprochen

haben.«

»Geister«, meinte Westmore. »Übrig gebliebene Geister to-

ter Menschen.«

»Genau. Das sehen wir uns gerade an.«

Westmore betrachtete den Bildschirm eingehender. »Ich

sehe nur schwarz. Da ist nichts.«

»Warten Sie ...«

Westmore schaute weiter hin und schließlich bewegten sich

Schwaden von etwas Leuchtendem über den Monitor wie ein

löwenzahngelbes Glitzern. »Sie wollen mir also sagen, dass

das ... «

»... ein Wiedergänger ist. Ein Geist.«

Westmore legte die Stirn in Falten. »Was wäre, wenn ein

Mensch in den Raum ginge?«

»Dann würde man einen ähnlichen Effekt sehen.«

»Na schön. Woher wissen Sie dann, dass das nicht Cathleen

oder sonst jemand ist?«

»Schauen Sie.«

Westmores Augen weiteten sich. Der Bildschirm war nun

voll von den leuchtenden Schwaden. Das ist aber plötzlich eine

ganze Menge von ... irgendetwas.

»Hier ist der Raum bei normaler Beleuchtung aus dem

Blickwinkel der Videokamera.« Nyvysk drückte einen Schalter

und die Umgebung präsentierte sich verwaist.

Es handelte sich um das Scharlachrote Zimmer.

Als Nyvysk zurück auf den schwarzen Bildschirm wechselte,

ließen sich weitere unterbrochene Ionenaktivitäten beobachte-

ten.

Dann lösten sie sich auf und es herrschte wieder völlige

Schwärze.

»Ich habe dort im Laufe des Tages einige interessante Akti-

vitäten aufgezeichnet, aber bisher nichts Spektakuläres. Viel-

leicht werden sie heute Nacht noch stärker.«

»Na ja, klar, das ist schon interessant«, räumte Westmore

ein. »Aber jeder Skeptiker könnte sich das ansehen und bean-

standen, dass es sich mühelos vortäuschen lässt. Mit jedem PC

und einem digitalen Editor kann man so etwas selber basteln.«

Westmore lächelte. »Genau wie Kornkreise, Bilder von Elfen

und Pappteller als UFOs. Man würde glauben, Sie hätten das

fabriziert. Wie bei den Stimmphänomenen.«

»Natürlich könnte man das behaupten und natürlich könnte

ich das problemlos tun«, gab Nyvysk zu. »Aber das habe ich

nicht. Und ich bemühe mich nicht um Glaubwürdigkeit. Nichts

wäre mir lieber, als wenn dieses Haus ... nur ein gewöhnliches

Haus wäre.« Dann lächelte Nyvysk. »Andererseits habe ich

schon deutlich Schlimmeres erlebt.«

»Beweise für Dämonen?«

»Oh ja. In Toledo habe ich mal einem Monsignore geholfen,

einen Exorzismus an einer 90-jährigen Greisin vorzunehmen

und einen Dämon namens Zezphon in den Körper eines Maul-

tiers zu verbannen. Das Vieh verlor schlagartig sein gesamtes

Fell, verfärbte sich dunkelrot, raste wie von der Tarantel ge-

stochen über den Dorfplatz und schied all seine inneren Organe

durch den Hintern aus.«

Bezaubernd, dachte Westmore.

»Das ist ein Aktivelement-Infrarotthermograf«, erklärte

Nyvysk weiter. Er klickte auf der Tastatur herum und vor

Westmores Augen tauchte eine düstere grünliche Darstellung

auf. Nyvysk fuhr fort: »Ein Mensch, der diesen Raum betritt,

würde einen orangefarbenen Umriss verursachen.« Er drückte

auf einen Schalter der Kommunikationsanlage und sagte:

»Okay, Karen, gehen Sie jetzt rein.«

Ein flackernder, orangefarbener Schemen mit menschlichen

Umrissen bewegte sich über den Monitor.

»Das ist Karen in dem Zimmer?«, wollte Westmore wissen.

»Ja. Es ist der Jean-Brohou-Salon.«

Dort wurden die Nutten ermordet, erinnerte sich Westmore.

Verkehrt herum aufgehängt. Enthauptet über Eimern.

»Das Infrarot-Element erfasst räumlich begrenzte Signatu-

ren«, sagte der ältere Mann. »Aber wie würde wohl die Ge-

genwart einer körperlosen Entität erfasst werden?«

»Keine Ahnung.«

Ein weiteres Klicken und der Bildschirm veränderte sich

erneut. Karen verschwand. Stattdessen konnte Westmore gräu-

lich-blaue Schemen erkennen – auf dem Boden. Sie bewegten

sich.

»Menschliche Körper sondern Wärme ab. Für Geister gilt

das Gegenteil. Sie sind kalt. Diese Schemen sind ...«

»Geister auf dem Boden«, führte Westmore den Satz zu En-

de.

»Wenn Sie so wollen.«

Westmore beobachtete das Bild mit makabrer Faszination.

Schließlich erhoben sich zwei der grauen Schemen – mensch-

liche Formen – und hievten zwei andere Gestalten vom Boden

hoch, um sie verkehrt herum aufzuhängen. Die Bewegungen,

die folgten, waren offensichtlich: Die beiden stehenden Um-

risse schnitten langsam die Köpfe der hängenden Formen ab.

Blaue Kleckse – die Schädel – wurden beiseite geworfen.

»Sie denken, das sind echte Menschen, die schauspielern?«

Nyvysk klickte zurück zum grünen Bildschirm, der Karens

stehenden Umriss zeigte. Dann schaltete er das Infrarotsystem

aus und rief wieder das normale Videobild auf. Eine rundum

gewöhnliche Karen stand deutlich erkennbar herum. Niemand

sonst befand sich in dem kunstvoll geschmückten Salon bei ihr.

Sie wirkte gelangweilt, also ging sie zur Bar und schenkte sich

einen Drink ein.

Das ist definitiv kein Geist, entschied Westmore.

»Lassen Sie mich Ihnen etwas anderes zeigen. Wie ich Ihnen

unlängst erklärt habe, verfügen wir über zahlreiche Hilfsmittel.

Manometer und Aneroidbarometer messen Abweichungen im

Luftdruck, Tomografen können manchmal Ansätze von Prä-

senzen in Wänden, Zementfundamenten und Ähnlichem er-

kennen, Magnetresonanztomografen ähnlich solchen, die in

Kliniken benutzt werden, können sogar Präsenzen von Wie-

dergängern in Lebewesen nachweisen, beispielsweise bei einer

Besessenheit. Hygrometer messen Schwankungen der Luft-

feuchtigkeit. Aber wollen Sie wissen, was die schnellste und

effektivste Methode ist, um festzustellen, ob ein Haus geladen

ist? Ein einfaches Thermometer.«

»Was?«, fragte Westmore ungläubig. »Wie misst man denn

die Temperatur eines Geists?«

»Nicht die des Geists, sondern des Raums. Ich mag den Be-

griff ›Geist‹ zwar nicht, aber lassen Sie ihn uns der Einfachheit

halber weiter verwenden. Viele Arten von Geistern senken die

Temperatur des Bereichs, in dem sie sich aufhalten, manchmal

in einer exakten Konfiguration ihres Geistkörpers, manchmal

nur an einer bestimmten Stelle – weil sie keinen Körper mehr

besitzen. Andere Geister erwirken dagegen ein Ansteigen der

Temperatur. Vor allem psychotische Geister. Möglich ist auch,

dass es in schnellem Wechsel sowohl zu einer Zunahme als

auch zu einer Reduzierung der Raumtemperatur kommt.«

Faszinierend, dachte Westmore.

»Karen?«, sagte Nyvysk über die Kommunikationsanlage.

»Ich schalte jetzt das aktive Infrarotsystem ab. Aktivieren Sie

bitte die Handsonde und gehen Sie langsam durch den Raum.

Mit Auf-und Abbewegungen.«

»Alles klar.« Karen stellte ihren Drink ab und ergriff eine

Metallstange mit vier Verstrebungen. An der Mitte der Stange

befand sich ein Griff.

»Das ist das normale Videobild«, erklärte Nyvysk. Er deute-

te auf einen anderen, völlig leeren Monitor. »Und das ist das

Feedback-Display für die Sonde. Sie ist mit vier bimetallischen

Platinthermometern ausgerüstet. Die Messungen werden über

einen Funkwellenverstärker hierher übertragen.«

Westmores Blick klebte an dem schwarzen Bildschirm.

Plötzlich sah er vier blaue Punkte, die sich vorwärtsbewegten,

zudem auf und ab. An einer Stelle sagte Nyvysk: »Halt, bleiben

Sie genau da stehen.« Sie beobachteten, wie die Punkte

auf-und abwanderten und dabei den Farbton wechselten. Einige

leuchteten kurz rot, gelb oder für Sekundenbruchteile orange-

farben auf. »Genau so. Schneller auf und ab.«

»Sie wären überrascht, wie oft das schon Männer zu mir

gesagt haben«, erwiderte Karen über die Gegensprechanlage.

Westmore sah weiter zu: ein Kaleidoskop neonartiger

Schlieren, die meisten davon in verschiedenen Blautönen.

»Ich zeichne das für eine kombinierte Wiedergabe auf«, in-

formierte ihn Nyvysk, ehe er sich wieder Karen zuwandte.

»Danke, Karen. Schalten Sie die Sonde jetzt aus und kommen

Sie wieder runter.«

Nyvysk klickte auf weitere Laschen der Software. Als er das

Bildmaterial abspielte, blieb jede Bewegung der Punkte und

Schlieren auf dem Monitor, während weitere hinzukamen. So

entstand nach und nach eine Form.

»Sehen Sie?«, fragte Nyvysk. »Jetzt kennen Sie den Prozess.

Schauen Sie weiter zu, letztlich wird ein fast vollständiges Bild

entstehen. Ich bin in ein paar Minuten zurück. Mache mir nur

schnell eine frische Kanne Eistee.«

»Also ist das ...«

»Ein Wiedergänger«, fiel ihm Nyvysk recht sorglos ins

Wort. »Eine überlebende körperlose Instanz – der Geist einer

toten Person.«

Damit ließ ihn Nyvysk allein.

Westmore zündete sich eine Zigarette an und erkannte, wie

sich auf dem Bildschirm weitere leuchtende Punkte ansammel-

ten. Zur Abwechslung klickte er neben Nyvysks Bildern durch

die normalen Videoanzeigen im Haus. Er sah Mack, der im

dritten Stock einen Flur entlangging, Willis, der seine allge-

genwärtigen Handschuhe trug, während er im Arbeitszimmer

in einigen alten Schmökern las, Adrianne, die in einer der Sui-

ten ausgestreckt auf einem Himmelbett lag.

Karen kam herein und legte die Thermometersonde auf den

Tisch. »Was ist das? Sieht aus wie ein Gemälde aus fluores-

zierenden Fingerfarben.«

»Das sind Sie, als Sie dieses Thermometerding im Salon

geschwenkt haben.«

»Ist das ein ... Scherz?« Sie beugte sich vor, um den Bild-

schirm eingehend zu studieren. Mittlerweile war das Bild deut-

lich präziser geworden. Es zeigte eine große, schlanke und sehr

menschliche Gestalt. »Und was ist das? «

»Ich glaube, es ist Reginald Hildreth«, erwiderte Westmore.

II

Das »Theta« einer Theta-Trance stammte vom griechischen

Wort für Tod: Thanatos. Eine solche Trance – die so gut wie

immer eigeninitiiert wurde – ermöglichte es den spirituellen

Fragmenten Verstorbener, Gedanken und Visionen mit einem

lebenden Medium auszutauschen.

Sofern besagtes Medium gut war.

Cathleen galt als sehr gutes Medium, und sie wusste auch,

weshalb. Sie konnte ihre sexuelle Aura regeln wie eine Radio-

welle. Diese Aura wirkte gleichsam als Signalfeuer. Ihr Geist

formte dadurch quasi eine Antenne zu den Toten.

Da sie Tranceinduktion umfassend beherrschte, standen ihr

verschiedene Möglichkeiten offen. Alle Örtlichkeiten waren

verschieden, alle Überlebensumstände einzigartig. Ihr fehlte

der Mut, zum Friedhof zurückzukehren, vor allem nachts, und

das Scharlachrote Zimmer war einfach zu beunruhigend. Sie

entschied sich stattdessen für ein Wohnzimmer im fünften

Stock, das unmittelbar neben dem Scharlachroten Zimmer lag

und einen zum Friedhof ausgerichteten Steinbalkon hatte.

Das erschien ihr nah genug.

In dem Zimmer gab es kein Bett; Cathleen vermutete, dass

es sich eher um einen Vorraum zum Erfrischen für viktoriani-

sche Damen handelte, wunderschön eingerichtet. Kriechblu-

menprofilleisten und handgeschnitzte Bekrönungen rahmten

einen großen Schminktisch ein. Eine lange Couch mit gewölb-

ter Rückenlehne auf Schnörkelfüßen stand vor dem hinteren

Fenster. Der Raum war halbhoch getäfelt und Rosettendrucke

zierten die cognacfarbene Tapete.

Cathleen schleifte die Couch über den dicken Teppich, hielt

vor den Glastüren inne, trat hinaus auf den Balkon und ließ die

warme Nachtluft ins Zimmer strömen.

Mentale Vorbereitung war immer nötig; sie musste sich mit

ihrer Position vertraut machen. Cathleen hatte das Gefühl, in

der Nacht zu schweben. Sie konnte die Höhe der fünf Stock-

werke erspüren, ohne hinunter zum Boden zu schauen; tatsäch-

lich bildete sie sich einen Moment lang ein, es gäbe unter ihren

Füßen gar keinen Boden, bis sich ihre Augen anpassten.

Schließlich erblickte sie den Pfad im Wald, der zum Friedhof

führte, und dachte intensiv daran, was sich dort vor einigen

Tagen zugetragen hatte. Ein Schauder der Beklommenheit raste

über ihren Rücken, tiefer in ihrem Inneren jedoch setzte be-

schämende Erregung ein, die ihre Brustwarzen unter dem är-

mellosen Shirt hart wie Kieselsteine werden ließ.

Dann zog sie das Shirt einfach aus und schleuderte es bei-

seite, als wolle sie ihre Brüste den Augen der Nacht darbieten.

Eine warme Brise strich durch ihr Haar. Sie blickte über die

Schulter, um die Lage der Couch abzuschätzen, und stellte fest:

Wenn jemand – oder etwas – auf der Lichtung zum Friedhof

steht, kann derjenige hier raufschauen und die Couch erken-

nen. Mich auch ...

Und genau das wollte sie.

Nur äußerst trübe Lampen erhellten den Raum von hinten.

Die Couch erwartete sie, denn auf jene samtigen Knopfkissen

würde sie sich legen, um sich in den Theta-Schlaf zu versetzen.

Doch noch war sie nicht endgültig bereit.

Sie kehrte in das Zimmer zurück, schlüpfte aus ihrer Jeans

und ihrem Slip und ging anschließend ins Badezimmer.

Unter einem Vorhangring stand eine beeindruckende Bade-

wanne mit Klauenfüßen. Die Wanne selbst bestand aus rost-

freiem Messing, der Tüllvorhang glitzerte dank seines Besatzes

mit Halbedelsteinen. Cathleen drehte den glänzenden Hahn

auf, um die Wanne mit kühlem Wasser zu füllen. Sie fügte

Flocken der High-John-Wurzel, Jasmin-und Mohnöl sowie

Lavendelextrakt hinzu, da sie den Duft auf ihrer sauberen Haut

haben wollte, zumal er angeblich männliche Wiedergänger

erregte; insbesondere solche, die sich im Leben sexueller Ver-

fehlungen schuldig gemacht hatten. Neben die Wanne stellte

sie eine kleine Ampulle mit zerstoßenem pontischem Stein –

atemberaubend aquamarinblau und zinnoberrot –, den sie nach

dem Bad in die Haut einreiben würde. Cathleen war nicht si-

cher, ob dies die Tranceempfänglichkeit tatsächlich verstärkte,

doch es galt als über Jahrhunderte überlieferte Praxis, weshalb

sie es grundsätzlich tat, nur für alle Fälle.

Das Wasser erwies sich als lauwarm. Perfekt, dachte sie.

Zuerst musste sie sich reinigen, dann würde sie sich auf die

Couch legen und die Trance einleiten. Sie ließ sich in das exo-

tisch duftende Wasser sinken und fühlte sich auf Anhieb ...

wohlig lüstern. Mental traf sie bereits ihre Vorbereitungen,

indem sie ihren Körper stimulierte.

Sie schloss die Augen. Das Wasser leckte ringsum über ihre

Haut. Sie dachte an pure körperliche Leidenschaft, an reuelose

und vorbehaltlose Lust. Unter dem Wasser arbeiteten sich ihre

Hände streichelnd von unten nach oben, streiften über ihre

Schenkel, ihre Scham, ihren Bauch, ihre Brüste. Sie kniff und

drehte die Brustwarzen, bis sie sich unter dem erlesenen Un-

behagen krümmte, dann härter, bis sie die Zähne zusammen-

biss und ihre Füße aus dem Wasser auftauchten. Da wurde der

Drang, die Hand an ihre Vagina zu führen und zu masturbieren,

sich auf der Stelle dem Höhepunkt entgegentreiben zu lassen,

beinahe unwiderstehlich. Dennoch tat sie es nicht. Sie ließ es

nicht zu.

Ihre Lust war der Ruf, und sie rief in diesem Augenblick laut

und deutlich. Zumindest hoffte sie das.

Als sie es nicht länger aushalten konnte, stand sie in der

Wanne auf. Mittlerweile quälte sie ihr Verlangen regelrecht,

aber genau so musste es sein. Es war an der Zeit, zur Couch zu

gehen und die Trance einzuleiten. Als sie den Ziervorhang zu-

rückzog ...

Der Atem stockte ihr in der Brust wie ein heißer Stein. Sie

konnte nicht einmal schreien.

Drei Kreaturen standen um die Wanne herum: gasartige

schwarze Schatten, die wie Rußwolken anmuteten. Allerdings

waren sie lebendig. Sie besaßen keine Augen, dennoch sahen

sie Cathleen an und ihre Auren zeichneten sich noch schwärzer

als ihre substanzlosen Körper ab. Cathleen spürte, wovor diese

Auren strotzten: vor rasender, wahnsinniger Lust.

Körperlose Entitäten, erkannte sie in unaussprechlichem

Grauen. Die Kreaturen vom Friedhof ...

Sofort stürzten sie sich auf sie; ihre wabbeligen Hände fühl-

ten sich wie Klumpen aus heißem Schmalz an. Als sie jedoch

die Hände ausstreckte, um die Kreaturen von sich zu stoßen,

versanken ihre Finger im schwarzen Nebel ihrer Körper. In-

nerhalb des Bruchteils einer Sekunde wurde sie herumgedreht,

an den Knöcheln mit dem Kopf nach unten gehalten, dann

Kopf und Brust unter Wasser getaucht.

Die Schmalzhände packten ihren Körper so kräftig wie Me-

tallklammern; Cathleen konnte sich nicht hochdrücken, ge-

schweige denn zur Verteidigung um sich schlagen. Hilflos

musste sie zulassen, dass ihr Gesicht gegen den Boden der

Wanne gedrückt wurde, und sie spürte, wie eine der Entitäten

sie von hinten nahm. Cathleen wurde methodisch penetriert

und gevögelt. Ihr Gehirn begann auszusetzen, ihre Lungen

weiteten sich. Als sie kurz davor stand, die Luft aus ihrer Lun-

ge auszustoßen und Wasser einzuatmen ...

Wurde sie emporgerissen.

»Lasst sie zuerst ein paar Atemzüge tun«, befahl eine Stim-

me. »Danach wiederholt ihr es.«

Cathleen war zu panisch, um zu denken, gehorchte nur ei-

nem Urinstinkt, sog gierig die Luft ein und schloss die Augen,

ehe sie wieder in das Wasser getaucht wurde. Nun wurde sie

von einer anderen Kreatur geschändet – sie wechselten sich ab,

benutzten ihren Körper ebenso wie ihre Angst. Beim dritten

Stoß stand sie kurz davor, einfach aufzugeben.

Wenige Herzschläge vom Tod entfernt wurde sie erneut

emporgehievt, aber diesmal nicht erneut untergetaucht. Cath-

leen spuckte Wasser, während sie hoch in der Luft aus dem

Badezimmer getragen wurde. Ihre Sicht hatte sich durch den

Sauerstoffentzug so sehr getrübt, dass sie kaum etwas erkannte,

als sie die Augen öffnete. Ihr triefnasser Körper wurde vor den

offenen Glastüren auf der Couch abgelegt.

Eine der Kreaturen zeigte auf sie.

Was machen sie?, ging ihr durch den Kopf.

Ein anderer der Schemen nahm sich die kleine Ampulle mit

pontischem Steinstaub vor. Sie wurde auf Cathleens Gesicht

und Busen geleert und anschließend zu Boden geworfen.

Nun deuteten alle auf sie.

Ihr Herz raste immer noch, ihre Lungenflügel blähten sich

hektisch auf und zogen sich wieder zusammen, doch als ein

Abklatsch von Vernunft zu ihr zurückkehrte, begriff sie, was

die Wesen von ihr erwarteten.

Sie WOLLEN, dass ich es tue, erkannte sie. Sie WOLLEN,

dass ich eine Trance einleite ...

Cathleen ließ ihren Körper auf der Couch erschlaffen. Ihre

nackten Brüste glitzerten rot und blau von dem Staub.

Sie begann, sich in den Theta-Schlaf zu versetzen ...

III

Gott, ich weiß, dass das, was ich bin, ein Teil von dir ist. Erlö-

se mich inmitten dieses bösen Ortes und beschütze mich ...

Adrianne ließ das Lonolox erst ihr Gehirn, dann ihre Nerven

durchwirken. Sie hatte sich in der Suite eingeschlossen, die sie

unlängst benutzt hatte – in dem Zimmer, in dem sie sexuell

belästigt worden war, während sie nicht in ihrem Körper weil-

te. Die einlullende Wirkung des Medikaments erfasste sie, ein

so sündhafter Genuss wie der selbstsüchtigste Sex; dann

spannten sich ihr nackter Bauch und ihre Beine an. Ihr Gesicht

schwoll an und gab Wärme ab, da entschwebte Adrianne be-

reits aus ihrem ausgestreckten Körper ...

Sie trieb aufwärts, ein Ballon aus Bewusstsein und Sehver-

mögen. Was sie nun war – eine autarke spirituelle Entität –

bewegte sich mit bloßer Gedankenkraft und stieg durch den

Äther der Sphäre auf, in der sie nun existierte. Sie glitt durch

Türen und Wände hindurch. Adrianne musste nicht einmal den

Umweg über das Scharlachrote Zimmer nehmen, um ans Ziel

zu gelangen. Vielleicht würde man sie sogar dorthin bringen.

Zum Tempel des Fleisches, zum Chirice Flaesc ...

Die Stätte der Huldigung für das Wesen namens Belarius

pulsierte vor ihr unter einem schwarzen Mond, der an einem

blutroten Himmel hing. Die Adern in den aus lebendigem, mit

Haut bedecktem Fleisch bestehenden Säulen und Wänden des

Gebildes pulsierten schneller, als ihre Gegenwart bemerkt

wurde. Adiposianer standen wie Wächter aus verfestigtem Fett

da und wachten über die Säulenreihe des Tempels. Ihre augen-

losen Antlitze hoben sich, als Adrianne näher heranschwebte;

dasselbe galt für den Hüter des Gebäudes, den gefallenen Engel

namens Jaemessyn, jenes Wesen mit dem beeindruckenden

menschenähnlichen Rumpf aber dämonischen Armen und

Beinen, die ein Chirurg aus der Hölle angenäht zu haben

schien. Sein Gesicht wirkte erhaben, doch schrecklich aus-

druckslos, bis er zu ihr aufschaute und ein billigender Aus-

druck in seine großen, übernatürlich blauen Augen trat.

»Die Reisende kehrt zu uns zurück«, begrüßte sie die lichtar-

tige Stimme. Er war zuvor damit beschäftigt gewesen, eine

Koboldin langsam zu erwürgen, die nun schlaff wie ein leerer

Mantel in seinem Griff hing. Die fünf Penisse, aus denen die

Finger seiner anderen Hand bestanden, bebten erregt, als sie

über die nackten Brüste und den Bauch des Opfers strichen. Da

hatte Jaemessyn Adrianne bemerkt. Die Koboldin war noch

nicht ganz tot, als er sie wie eine Handvoll Müll zu Boden

schleuderte.

»Wir freuen uns, dass du zurückgekehrt bist«, sagte er. »Und

auch der Gebieter dieses Ortes ist erfreut.«

Ich möchte den Gebieter dieses Ortes kennenlernen, sandte

sie ihm als Gedanken zurück.

»Und das sollst du. Ich habe es dir beim letzten Mal ver-

sprochen und ich breche mein Wort nie.«

Die schauerliche Hand öffnete sich und wies auf die ge-

schlossene Doppeltür des Tempels. Durch den Spalt zwischen

den Türflügeln erkannte Adrianne flackerndes, dunkles Licht.

Dann teilte sich der Durchgang mit einem feuchten, fleischigen