Kapitel 5
Wer läuft schneller?
Die Zeit vergeht, die Kinder werden älter, sie
stehen auf und - oh Wunder! - fangen an zu laufen. Vielleicht ist
dies hier und da ein erster Erfolg der Frühförderung? Wir wissen es
nicht und wir werden es nie erfahren. Was für eine wunderbar
krisensichere Sache diese Frühförderung doch ist!
Die ersten Babygruppen lösen sich auf. Auch mein
PEKiP-Kurs war nur für das erste Lebensjahr. Und was kommt jetzt?
Es ist Zeit für mich, mich neu zu orientieren.
Aufmerksam studiere ich die Angebote von
Mutter-Kind-Kursen. In gut gelaunten, kindgerecht illustrierten
Texten betonen diverse Anbieter, dass gerade bei ihnen Babys und
Kleinkinder miteinander und voneinander besonders gut lernen. Bei
ihnen hätten sie den optimalen Start für das ganze Leben. Die
lieben Kleinen dürften natürlich auch Spaß haben, aber nicht als
Selbstzweck, sondern als Methode. Lernen mit Spaß und unter
professioneller Anleitung, das ist die alles übergreifende Devise.
Da auch wir Mütter lernen müssen, wie man ein Kind effektiv fördert
- jeder versteht, dass hohe Ziele beim Kind hohe Qualifikationen
der Mutter voraussetzen -, sind die Kursangebote vielfältig. Wie
wäre es denn zum Beispiel mit ein bisschen
Kommunikationstraining?
»Möchten Sie Ihr Baby noch besser verstehen und
wissen, was in seinem Köpfchen vorgeht?«, heißt es auf einer
Website.
Ich schaue auf mein Töchterchen, das gerade
fröhlich ins Badezimmer tippelt, saubere Socken in die Toilette
schmeißt und befriedigt hinterherguckt. Ja, gerne möchte ich das.
Schließlich sollen wir Mütter die natürlichen Entwicklungsphasen
unserer Kinder verstehen, um sie optimal fördern zu können.
»Kommunizieren Sie mit Ihrem Kind, bevor es
sprechen kann - mit babyleichter Zeichensprache!«
Nicht, dass ich nicht auch nonverbal mit meinem
Kind kommunizieren könnte. Ich wedele gerade wild mit den Armen
herum. Aber der Kurs »Babyzeichensprache« könnte ihr und mir
vielleicht zu einem dezidierten Gedankenaustausch verhelfen. Was
wollen mir die Socken präzise sagen? Ist das Kind bereit für das
Bedienen der Waschmaschine? Allerdings - ich bin eine aufgeklärte
Mutter - hält eine effektive Zeichensprache mein Kind nicht vom
Spracherwerb ab? Warum sollte Töchterchen den Mund aufmachen, wenn
Mami schon auf Fingerschnipsen reagiert?
Vielleicht sollten wir doch lieber einen
Babymassage-Kurs buchen? O-Ton Website:
»Zahlreiche wissenschaftliche Studien belegen,
dass das regelmäßige Massieren von Babys einen positiven Einfluss
auf deren neurologische und physiologische Entwicklung hat.
Entwicklungspsychologen sind sich einig, dass eine liebevolle
Babymassage bewirken kann, dass Babys sich körperlich, geistig und
seelisch bestmöglich entwickeln können. Babys lernen von Geburt an
mit allen Sinnen!«
Auch ich lasse mich gerne massieren und fühle mich
unter erfahrenen Händen durchaus positiv entwickelt. Ja, es hört
sich alles sehr überzeugend und schlüssig an. Es ist ein bisschen
wie Horoskope lesen - auf wundersame Weise scheint irgendwie alles
zu passen.
Besonders beeindruckt bin ich durch die Angebote
verschiedener »Bildungszentren«, die gewitzte Kursleiter von
Mutter-Kind-Gruppen gegründet haben (wie klein darf ein Zentrum
sein?). In den Werbetexten reden sie klug von optimaler
Gehirnentwicklung, dem positiven Einfluss auf spätere Leistungen in
der Schule und dem gewünschten Einfluss auf lebenslanges Lernen.
Hier gibt es »nicht einfach
›Kinderturnen‹, ›Musikerziehung‹ oder eine ›Krabbelgruppe‹ für
Kinder und Babys«, das wäre viel zu simpel. Hier gibt es
ausgeklügelte Programme zur Entfaltung des vollen kindlichen
Entwicklungspotenzials und Tipps für die Unterstützung für das
optimale Wohnambiente für meine kleine Windelmaus:
»Weiterhin bekommen Sie eine Menge Ideen, wie
Sie zu Hause eine tolle ›Lernatmosphäre‹ für Ihr Kind schaffen
können. Sie können Ihrem Kind helfen, sein volles Potenzial an
Entwicklung, Intelligenz und sozialer Kompetenz
auszuschöpfen.«
Wer genauer in den Texten liest, entdeckt hier und
da Hinweise, dass die meisten Förderprogramme ursprünglich für
Kinder mit Lernschwierigkeiten entwickelt worden sind. Aber wen
interessiert das schon? Warum sollen nicht alle Babys den
»maximalen Nutzen aus jeder natürlichen Entwicklungsstufe«
ziehen? Die Programme klingen beeindruckend. »Sensorische
Stimulation«, »Aktivitäten zur motorischen Entwicklung«
- all das hört sich doch viel bestechender an als »Rassel
schütteln« oder »Purzelbaum machen«. Wollen wir unseren Kindern
etwa ihr volles Potenzial verwehren? Das wäre doch töricht. Denn,
so ruft der Berliner Kursanbieter KindyROO Deutschland euphorisch
auf seiner Website:
»Nichts kann mehr Befriedigung geben, als die
Entwicklung des eigenen Kindes zu fördern!«
Ah ja.
Parcours! Babyturnen & Co.
Ich will ehrlich sein, ich oute mich hier, auch
auf die Gefahr hin, für Jahre mein seriöses Mutter-Antlitz zu
verlieren: Die Förderung des Gehirns meiner Tochter ist mir in
ihrem zarten Alter noch herzlich egal. Sie wird das schon machen,
die Kleine. Mein Vertrauen in ihre natürliche Entfaltung ist
inzwischen riesengroß. Sie hat schließlich die ersten Monate bei
einer hysterischen Mutter nicht nur prima überlebt, sondern ist
dabei tatsächlich gewachsen und gesprossen und scheint auch noch
fröhlicher Dinge zu sein. Ich finde sie gut so, wie sie ist, und
bin fest überzeugt, dass sie ganz von alleine
noch so viel zu entdecken hat, dass sie die nächsten Jahre mit
Wachsen und Spielen gut ausgelastet ist, auch ohne Zusatzprogramme.
Für mich kann sie erst einmal Spaß haben bis zum Umfallen, rein als
Selbstzweck. Der Rest kommt schon noch.
Aber - sie und ich, wir sind gern unter Menschen.
Und da sich viele Mütter in den neuen Kursen anmelden, tun wir das
auch. Ich will nicht den sozialen Anschluss verlieren. Mein
Herdentrieb ist zwar sonst schwach ausgeprägt, aber für einfaches
Traben in Gruppenveranstaltungen reicht es gerade noch. Und so
landen wir in einer Babyturngruppe. Sie wissen schon, motorische
Entwicklung und so.
Babyturngruppen zeichnen sich dadurch aus, dass
nicht nur die Babys turnen, sondern auch hochmotivierte Eltern von
einer Ecke zur anderen hüpfen. Ich merke gleich zu Anfang, dass ich
besser zu Hause geblieben wäre.
»Guten Tag. Hallo! Guten Tag.«
Nach allen Seiten grüße ich eifrig bekannte
Gesichter, während ich krampfhaft versuche, meinen Kinderwagen im
Vorraum noch zwischen die anderen zu quetschen. Atemlos hebe ich
meine Kleine schließlich aus ihrem Gefährt und gemeinsam bahnen wir
uns einen Weg durch die winzige Umkleidekabine und suchen ein
Plätzchen, an dem wir uns umziehen können. Mit angewinkelten
Ellbogen versuche ich meiner Tochter und ihrer Windel einen
sportlichen Dress überzuziehen und werde gleich nervös durch all
die kleinen Sportler, die mir um die Beine flitzen. Schon nach zwei
Minuten bin ich in Schweiß gebadet, ohne überhaupt auch nur ein
Beinchen zum Turnen gehoben zu haben. Vorsichtig sehe ich in die
Gesichter der anderen arbeitenden Mütter und des einen
obligatorischen Vorzeige-Vaters. Ob sie sich auch so unwohl fühlen
wie ich? Sehe ich funkelnde zielstrebige Augen, bereit zum
Trainingscamp, oder sind das bereits Tränen der Erschöpfung?
Und dann geht es auch schon los. Nach einem kurzen
Begrüßungsliedchen, bei dem inzwischen nicht mehr nur die
Mütter singen, sondern auch die Kinder begeistert mitlallen,
stürzen wir uns in die Trainingswelt.
Babyturnen ist im Grunde ein wissenschaftliches
Experiment. Anstatt unsere Kinder frei in Wald und Wiese laufen zu
lassen, uns gemütlich auf eine Decke zu setzen, ein gutes Buch zu
lesen und unseren Nachwuchs im Augenwinkel zu behalten, begeben wir
uns beim Babyturnen mit den Kindern in einen sicheren, künstlichen
Raum mit vier ausbruchssicheren Wänden, ohne fiese Krabbeltiere,
ohne stinkende Hundehaufen, Bierglasscherben und Fixerbestecken,
giftige Pflanzen, gefährliche Sonneneinstrahlung oder tiefe
Gewässern, dafür aber mit sicheren Versuchsaufbauten, sprich
stabilen Holzbänkchen, TÜV-geprüften Leitern, Holzböckchen und
jeder Menge dicker Gummimatten. (Im Prinzip ist die ganze
Mutter-Kind-Welt eine Gummimattenwelt, das wird mir allmählich
klar.) Wir ahmen im Prinzip die Natur gekonnt nach, nur ohne diese
garstigen Unannehmlichkeiten und spontanen Eingebungen der Kinder,
denn wir tun nur alle so, als könnten sich unsere Kinder frei
entfalten. Ihre Bewegungsabläufe sind vorher ausgeklügelt geplant
und die Bewegungsreihen bauen geschickt aufeinander auf. Wir lassen
die Kinder auf unfallverhütenden Gummimatten krabbeln, laufen,
hüpfen und springen und sind durch die Versuchsanordnung bequem in
der Lage, jede Bewegung und Äußerung unserer Kinder miteinander und
untereinander weitgehend zu kontrollieren. Ja, mehr noch. Wir
krabbeln und hüpfen durch die verschiedenen Parcours vorweg, damit
sich die Kinder freuen und wissen, wie es aussehen soll. Und dann
rufen wir unseren Kindern aufmunternd zu, es doch auch mal zu
versuchen.
»DAS MACHT GANZ VIEL SPASS!«
Und so setzen sich unsere Kinder mehr oder weniger
in Bewegung und entdecken ihre motorischen, sensorischen und
sozialen Kompetenzen. Oder auch nicht.
Um es vorneweg zu sagen: Diese ganzen Vergleiche in
der PEKiP-Gruppe sind Pipi-Kram. Wen interessiert heute noch,
wer als Erstes das Köpfchen hob? Jetzt erst wird es spannend.
Jetzt wird es interessant, denn die Kinder sind nun kleine,
aufrecht gehende Homo sapiens und wir Mütter wollen wissen, ob sich
die Synapsen bisher günstig verbunden haben. Wen wundert’s, dass
manche von uns von Anfang an scharf die Konkurrenz unserer lieben
Kleinen im Auge behält? Wer ist schneller, weiter, höher,
intelligenter? Wer läuft wie ein Wiesel, hüpft wie ein Känguru und
purzelt wie ein Butzemann? Und wer bleibt einfach stehen, hockt
sich hin und macht die Spaßbremse? It’s showtime,
babe!
Ewig locken wir Mütter. Wir laufen mit und ohne
Kinder durch die Halle, lachen, rufen, stellen uns vor
Kletteraufbauten in Reihe auf, um unseren Kindern den Platz frei zu
halten und das Entwicklungspotenzial unserer Kinder lückenlos zu
entfalten. Wir kriegen uns wie Kleinkinder in die Haare, wenn die
Reihenfolge nicht eingehalten wird, wer als Nächstes springen,
hüpfen, rollen darf (»Nicht vordrängeln! Wir sind dran!«) und in
kleinen Atemverschnaufspausen stehen wir am Rand der Turnaufbauten,
beobachten die Kinder und feuern unseren Nachwuchs an. »Lauf, Paul,
lauf!« »Spring, Lena, spring!« »Toll machst du das! Ganz
toll!!«
Und dann geben wir kleine Manöverkritiken unter
Müttern zum Besten von uns.
»Mensch, die Lena will aber auch so gar nicht
heute.«
Oder:
»Hast du gesehen, wie der Paul da laufen kann?
Unglaublich! Mein Alexander kann das gar nicht.«
Ja, man kann eine gewisse Leistungsorientierung
nicht überhören. Aber wer will es uns verdenken? Wir haben alle die
Informationsbroschüren der Kursanbieter gelesen. Wir versprechen
uns für unseren Einsatz und unsere Kursbeiträge einen klaren
Wettbewerbsvorteil, und den möchten wir auch mal sehen. Nicht, dass
es keinen Spaß machen würde, mit den Kindern rumzutollen, aber ein
gewisses Maß an Anspruchshaltung
ist nicht zu überhören. Wir wollen Ergebnisse sehen. Das hier ist
kein Spaß! Dafür ist das Gehopse zu teuer. Da könnten wir ja gleich
auf den nächsten Spielplatz ziehen und die Kinder Kinder sein
lassen.
Assessment-Center für die Kleinsten - PISA und die neue Elite
Die meisten Mütter haben einen harten Arbeitsmarkt
kennengelernt und sie wissen: Es geht nicht mehr darum, ein Kind zu
einem anständigen Menschen zu erziehen, der seiner Tage Arbeit
ehrlich nachgeht. Arbeit gibt es ja nicht mehr für alle. Es geht
darum, Kinder so breit, so gut und so früh wie möglich zu fördern,
damit sie später auf dem hart umkämpften Arbeitsmarkt überhaupt
eine Arbeit finden können. Der Run auf die wenigen Plätze hat
bereits begonnen. Das glauben wir jedenfalls. Deshalb heißt »Kind
sein« nicht mehr »Freiheit genießen und spielen«, wie es zum
Beispiel in der Flower-Power-Generation mal üblich war, sondern
»spielerisch lernen und Potenziale erschließen«. Intelligenz,
Begabung, Mobilität und Schnelligkeit gelten heutzutage schon im
Windelalter als Indikatoren einer guten Kinderstube und der
Begriff«hochbegabt« schleicht sich allmählich in unsere Gespräche
genauso oft ein wie das Wort »PISA«.
Die PISA-Studien sind so etwas wie der Super-GAU im
Eltern-, Kinder-, Erzieherinnen- und Lehreralltag. Kaum etwas hat
uns in den letzten Jahren so erschüttert wie die Erkenntnis, dass
das einst so viel gerühmte deutsche Bildungssystem im
internationalen Vergleich verheerend abschneidet. Im Jahr 2000
attestierte das PROGRAMME FOR INTERNATIONAL STUDENT ASSESSMENT
(Programm für Internationale Schülerbewertung) der Organisation für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) dem deutschen
Bildungssystem eklatante Mängel. Von 33 teilnehmenden Ländern in
der PISA-Studie lagen deutsche Schüler mit ihren Leistungen auf
Platz 25.
Seit dem Jahr 2000 finden in dreijährigem Turnus
immer
wieder internationale Schulleistungsuntersuchungen in den meisten
der Mitgliedsstaaten der OECD und in Partnerstaaten statt, die die
alltags- und berufsrelevanten Kenntnisse und Fähigkeiten
15-jähriger Schüler messen sollen, aber bedauerlicherweise sind die
Ergebnisse immer noch alles andere als erfreulich. Man mag darüber
diskutieren, ob PISA-Ergebnisse aussagekräftig sind, ob die
Bildungssysteme der verschiedenen Länder mit der gewählten Methode
überhaupt vergleichbar sind oder ob die getesteten Fähigkeiten
überhaupt allgemeingültige Bildungsziele sind. Fest steht aber: Die
Bildungsberichte der OECD konstatieren, dass Deutschland mit seinem
gesamten Bildungssystem international weit zurückliegt. Zu wenige
Akademiker, nicht genug Geld für Schulen und Universitäten -
Deutschland muss damit rechnen, international den Anschluss zu
verlieren. Mit anderen Worten: Die OECD tadelt das deutsche
Bildungssystem. Und unsere Kinder sitzen mittendrin. Das macht
nicht fröhlich. Im Gegenteil - das Misstrauen gegen das deutsche
Bildungssystem sitzt inzwischen tief. Private Vorsorge scheint
vielen angebracht.
Gleichzeitig ist der Begriff der Elite seit einigen
Jahren kein Tabu mehr in Deutschland. Erstmals seit dem Zweiten
Weltkrieg wird der Begriff wieder ungezwungen verwendet und meint
damit heute mehr oder weniger eine Minderheit, die sich durch ihre
hohe Begabung und Leistung von der großen Mehrheit unterscheidet
und Spitzenpositionen einnehmen kann. Elite zu sein steht dieser
Definition nach theoretisch allen Bürgern und Bürgerinnen in
unserer Demokratie offen und daher ist es nicht mehr anrüchig,
Eliten zu benennen. Ausgewählte Elitekindergärten, -schulen und
-universitäten schießen wie Pilze aus dem Boden und private
Kindergärten und Schulen, die eine erstklassige Bildung
versprechen, haben Hochkonjunktur. Immer mehr Eltern wenden sich
von dem gescholtenen öffentlichen Bildungssystem ab.
Und was steht am besten am Anfang der
Elite-Karriereleiter? Die Hochbegabung. Wir wünschen uns natürlich
nicht laut, dass unser Kind hochbegabt ist, aber viele von uns
insgeheim schon.
Eine Mutter steht neben mir am Rand der Turnhalle.
Wir schauen unseren Kindern zu. Ihr Sohn nimmt gerade Mattenstapel
in der Ecke auseinander und ist genau bei der Arbeit. Die
Kursleiterin lächelt säuerlich. Meine Tochter galoppiert mit
fliegenden Zöpfen gekonnt an allen Turnaufbauten vorbei und wiehert
wie ein Pferdchen. Ein paar Kinder laufen begeistert mit. Mir wird
das Herz schwer. Gleich muss ich mein Kind einfangen, damit es
artig vom Klettergerüst springt.
»Ich bin wirklich froh«, sagt die Mutter neben mir,
»dass der Alexander nicht hochbegabt ist.«
»Ach, ist er nicht?«, frage ich zerstreut. Ich bin
in Gedanken ein Pferdchen.
»Nein, ist er nicht«, sagt sie. Und weil ich
offensichtlich begriffsstutzig bin:
»Und ich bin deswegen s-e-h-r f-r-o-h!«
Endlich bin ich bei der Sache. Ich schaue sie
an.
»Wieso bist du denn froh, dass er nicht hochbegabt
ist? Das ist doch was Schönes.«
»Das glaubst du!«, sagt sie. »Das ist unglaublich
anstrengend. Laufend musst du zu irgendwelchen Extrastunden, musst
eine ganz spezielle Schule nehmen und dann ist dein Kind auch noch
ein Außenseiter. Das ist ganz schwer!«
Ihr Sohn fällt gerade von einem hohen
Mattenstapel.
»Das würde ich nie haben wollen«, schreit sie,
während sie auf ihr Kind zuläuft. Ich schaue ihr nachdenklich
hinterher. Bisher hatte ich mir über Hochbegabung keine Gedanken
gemacht.
»Kennst du denn hochbegabte Kinder«, frage ich sie,
als sie atemlos wieder zurückkommt.
»Ja, ich kenne eines. Und das ist das Ungerechte«,
sagt sie grimmig. »Die werden so gefördert. Spezielle Schulen,
speziellen Förderprogramme. Und unsere Normalen? Da kümmert sich
keiner drum.«
Und schon rennt sie wieder los, um ihrem Sohn zu
helfen.
Ohne Zweifel, es ist die Bildung einer Elite, die
viele Mütter von Anfang an auf Trab hält, denn Elitebildung
bedeutet
auch immer, dass eine Schicht gebildet wird, von der sich die
Elite abheben kann. Und wer möchte schon der Steigbügel sein?
Um das plump auf das Bild einer Babyturngruppe zu
übertragen: Da bildet sich die eine Gruppe, die Elite, die
vornewegläuft, und die andere Gruppe, die Normalen, die
hinterherläuft. Dass die eine Gruppe Elite sein soll und die andere
die Normalen, ist reine Interpretationssache, aber vorherrschende,
undiskutierte Meinung unter den Müttern. Die Eifrigen sind die
Hellen. Ich tendiere ja eher zu der Auffassung, dass eine gewisse
Verweigerungshaltung durchaus gesund ist, aber ich hüte mich, diese
ketzerischen Gedanken in den Raum zu werfen. Denn die Stimmung ist
nie unbelastet. Jede Woche ist die eine oder andere Mutter
frustriert, weil ihr Kind aber auch so gar keine spielerische
Freude an den Lerngeräten zeigt.
»Ich weiß nicht, was ich machen soll«, wispern wir.
Und die Kursleiterin sagt freundlich:
»Das ist doch ganz natürlich. Das wird schon noch.
Dein Kind ist eben ein guter Beobachter.«
Natürlich will keine von uns ein Beobachter-Kind,
sonst wären wir ja nicht in einer Babyturngruppe. Da wollen wir den
agilen Sprinter oder die pfiffige Kletterathletin, aber das sagen
wir nicht. Das wäre unfein.
Haben Sie Ihr Kind im Griff?
Irgendwie müssen wir Mütter alle insgeheim
überzeugt sein, dass unsere Kinder jetzt sind, wie sie immer sein
werden. Mehr kommt nicht. Dass das, was sich uns im zarten Alter
unserer Kinder von 16 Monaten präsentiert, unser ganzes Leben lang
vor unserer Nase rumhüpfen wird. Würden wir sonst so nervös werden,
nur weil das Kind herzlich wenig Freude an Turnaufbauten hat?
Wenn ich also annehme, dass mein Kind mir jetzt
schon sein volles Potenzial zeigt, seine Begabungen, Anlagen und
Talente, dann kann ich schon mal unruhig werden, wenn andere
schneller laufen, hüpfen, springen und begreifen. Und diese Unruhe
kann sich bis zur ausgewachsenen Panik steigern, wenn die Kinder in
die Entwicklungsphase der frühkindlichen Aggression kommen. Denn
dann stelle ich mir flugs die Frage: Ist mein Kind nun lebenslang
Opfer oder ein Verbrecher von morgen?
Der Junge in Windeln läuft schnell heran und
schaut neugierig in das Gesicht des Mädchens mit der bunten Hose.
Sie hat auf der Wange ein großes, sehr interessantes Muttermal. Er
greift neugierig zu - und drückt. Kräftig. Die Kleine stößt
wutentbrannt einen spitzen Schrei aus und - zack - schon hat sie
dem Kleinen ihre scharfen Fingernägel über die Wange gezogen. Ein
kleines Rinnsal Blut glitzert im Licht. Er brüllt wie am Spieß, sie
starrt ihn erbost an. Ihre Körperhaltung ist eindeutig: Komm näher
und ich mach dich alle!
Wären die beiden 15 Jahre älter, wären alle
begeistert, zumindest von ihr. So eine starke Frau. Jetzt sind sie
es nicht. Aufgebracht starrt die Mutter des Jungen die Mutter des
Mädchens an.
Die grinst unbefangen.
»Mensch«, sagt sie. »Da muss man ja richtig
aufpassen!«
»Allerdings! Du hast dein Kind nicht im Griff«,
schreit die Mutter des Jungen. »Du passt überhaupt nicht auf.«
Verblüfft starrt die Angegriffene zurück. Wie soll sie das Kind
denn im Griff haben, wenn sie es nicht im Arm hat? Und was ist mit
ihr selbst, der anderen Mutter? Ihr Sohn hat doch schließlich
angefangen.
Diese kleine Szene kommt harmlos daher, beinhaltet
aber eine ganz neuartige Definition von Mutterschaft. Sie zeigt:
Wir Mütter haben uns weiterentwickelt, jawohl! Wir geraten nicht
mehr nur in Wallung, wenn unser Kind von anderen attackiert wird.
Nein, viele von uns ärgern sich jetzt auch, wenn eine andere Mutter
ihr Kind nicht jederzeit so sorgfältig und lückenlos beobachtet,
dass solche körperlichen Attacken von vornherein gar nicht
vorkommen können. Soziale Kompetenz lernen hin oder her - immer
mehr Mütter erwarten
von anderen Müttern, dass sie ihr Kind jederzeit »im Griff« haben.
Und zwar bevor die Kinder sich aufmachen, solch unerfreuliche
Zusammenstöße zu haben.
Das wilde Ego
Prekärerweise gibt es in Mutter-Kind-Gruppen einen
kleinen, feinen Unterschied zu den Meetings, die Erwachsene sonst
so abhalten. Das Thema ist keine Sache, keine Firmenposition, man
spricht nicht über Zahlen oder Fakten und auch entgegen den
verbreiteten Vorstellungen nicht über Projekte, sondern das Thema
ist immer und überall das eigene Fleisch und Blut. Da gibt es so
etwas wie den natürlichen Beschützerinstinkt und eine gewisse
mangelnde Objektivität. Selbst einander wohlgesonnene Mütter können
in heller Aufregung aufeinander losgehen, wenn sie ihr Kind bedroht
sehen. Das eine oder andere nett geplante Zusammentreffen von
Müttern und Kindern endet im Eklat, weil die Kinder sich partout
nicht verstehen wollen. Wild, ungeschminkt und kompromisslos kommen
sie zutage, die Aggressionen und Antipathien zwischen den lieben
Kleinen in dieser frühkindlichen Phase. Das kann sehr irritierend
sein für Mütter, die eigentlich dachten, das Wesen ihrer Kinder gut
zu kennen und planen zu können. Die dachten, Kinder fänden es
schön, mit anderen Kindern zu spielen.
Kinder sehen aber für lange Zeit in anderen Kindern
keine Busenfreunde, sondern Konkurrenten. Es kann wirklich schaurig
werden, wenn die lieben Kleinen ihr Ego entdecken und wild
entschlossen sind, spontanes Eigentum mit Zähnen und Klauen zu
verteidigen. Da sind die Vorwitzigen, die schon früh ihrem
Babykollegen die Schaufel über die Stirn ziehen, und da sind die,
die hilflos brüllen. Da sind die Mütter, die entsetzt zusehen, wie
sich die Kinder Miniaturschlachten liefern, mit echten Tätern und
blutenden Opfern. Da sind große Tumulte und wüste Schuldzuweisungen
unter Müttern, denn zu allem Übel sind die Kinder nicht alle zur
gleichen Zeit in der gleichen Phase, sodass es mal die einen,
mal die anderen wären, die Lehrgeld zahlen. Nein, ungünstigerweise
sind die einen eher aggressiver als die anderen, bis diese sich
dann so weit entwickelt haben, dass sie für ihr Ego kämpfen wollen.
Das kann Monate, ja in manchen Fällen Jahre dauern und ist alles
andere als erquicklich. Nie wieder sind Menschen so aggressiv wie
im zarten Alter von zwei Jahren. Theoretisch wissen viele Eltern
das, aber praktisch sind die meisten von uns von der Wucht dieser
Aggressionen erschlagen. So hatten wir uns das nicht vorgestellt.
Vielleicht ein bisschen zicken, vielleicht ein wenig schreien, aber
doch nicht dieser schonungslose Ego-Trip!
»Ich möchte nicht, dass mein Kind seine Konflikte
körperlich austrägt«, sagt eine Mutter und bringt auf den Punkt,
was viele wünschen. Wie die lieben Kleinen ihre Grenzen ohne
Sprache und ohne Körpereinsatz durchsetzen sollen, ist allerdings
nicht ganz klar, aber dieser Aspekt rückt irgendwie in den
Hintergrund. Manche Mütter oder Väter versuchen mit den Kinder zu
diskutieren:
»Schau doch mal, Lena, der kleine Junge möchte doch
auch mal mit deinem Förmchen spielen.«
Lena soll »Abgeben« lernen, bevor sie »Haben«
gelernt hat. Und während Lena die Empörung in den Augen steht,
geben die Eltern demokratisch das Spielzeug weiter. Wird dieses
Kind davonlaufen, wenn es groß ist, weil sich die Eltern in alles
einmischen? Wir wissen es nicht. Und es spielt jetzt keine Rolle.
Wir wünschen uns Frieden im Sandkasten. Aber den gibt es nicht. Und
dann prallen sie wieder aufeinander, die Welten, die Philosophien
der Mütter und Väter, ähnlich wie in der Impfdebatte, nur sind es
hier auf der einen Seite die einen, die die Kinder lieber
unbeobachtet spielen lassen und dann den Kindern - wenn sie sich an
die Gurgel fahren - deutlich zeigen, dass so ein Verhalten nicht
akzeptabel ist. Und da sind die anderen, die immer einen Schritt
präventiv neben den Kindern bleiben und sie nie aus den Augen
verlieren und von anderen Eltern verlangen, ebenso zu handeln. Und
dann gehen sie wieder los, die Schuldzuweisungen und Schuldgefühle.
»Du hast/ich habe das Kind verweichlicht«, oder: »Du hast/ich habe
das Kind verzogen.«
»Dein Kind ist unmöglich!«, schreit Lenas Mutter,
weil Lena weinend auf dem Boden liegt.«Du hast ja selbst erzählt,
wie sie das schon bei anderen gemacht hat. Da musst du
aufpassen!«
»Dein Kind kann sich überhaupt nicht durchsetzen!«,
ruft Pauls Mutter zurück. »Du springst immer viel zu schnell
dazwischen.«
Und wir können sicher sein, dass diese beiden
Frauen die nächsten Jahre keinen Malzkaffee mehr miteinander
trinken.
Die Phase der frühkindlichen Aggression hat
dummerweise das Potenzial, Mütter auf ewig zu trennen. Denn während
sich die Kleinen streiten und es im nächsten Augenblick schon
wieder vergessen haben, sind die Mütter oft nicht dazu bereit,
nicht jetzt, nicht später während der Kindergartenzeit und auch
nicht in der Schule. Frauen ohne Kinder können sich auch kränken,
aber mit Kind geht das viel besser: Zeige mir, dass du mich nicht
magst, und es tut weh. Zeige mir, dass du mein Kind nicht magst,
und du triffst mich ins Mark.
Kind haut Kind: Wir gehen aufeinander los
Es ist im Grunde erstaunlich, wie offen wir Frauen
zum Beispiel in Mutter-Kind-Gruppen über die intimsten Gewohnheiten
und Verhaltensweisen unserer Kinder mit Frauen reden, die wir oft
gar nicht gut kennen. Wir diskutieren über Schlaf- und
Essgewohnheiten, besprechen eingehend Verdauungs- und
Erziehungsprobleme und sinnieren über Verhaltensauffälligkeiten,
über angebliche Stärken und Schwächen. Die Themen sind intim, keine
Frage, denn würden wir so offen über uns selbst oder über unsere
Männer reden? Solch eine offenherzig zur Schau gestellte
Kinderstube birgt Angriffspotenzial. Häufig kommt es zu tiefen
Ressentiments und gegenseitiger Meidung.
Man kann die grundlegende Beziehung dieser
kategorischen Trennung zwischen Müttern verschiedener Auffassungen
auf dem Spielplatz gut beobachten. Die Szenen verlaufen hier meist
nach einem bestimmten Ritual: Ein Kind haut ein Kind. Und wenn
jetzt die Tätermutter nicht der Opfermutter signalisiert, die Nöte
ihres Kindes zu erkennen (»Das arme Kind!«), nicht ihr eigenes
Aufsichtversagen entschuldigt (»Ich habe es nicht gesehen, tut mir
leid!«) und nicht ihr Kind energisch zur Rechenschaft zieht (»Das
tut man nicht! Hast du das verstanden?!«), kommt es manches Mal zu
argen Spannungen unter den Großen. Wann soll man einschreiten? Soll
man bestrafen? Was ist überhaupt eine Bestrafung und was ist
angemessen?
Je nachdem, wie unterschiedlich die Einstellungen
der Mütter sind, wie streng sie ihre Kinder erziehen und welche
Strafmethoden, wenn überhaupt, ihnen als recht und billig gelten,
werden hier Mütter ganz schnell wütend aufeinander. Nicht, dass es
auf dem Spielplatz oft zum offenen Streit käme. Nein, da gibt es
viel lieber zornige Blicke unter gesenkten Köpfen und verkniffene
Münder. Und Mütter, die sich wütend die Haare aus dem Gesicht
pusten wie schnaubende Pferde. Frauen zerren Kinder voneinander weg
oder tragen sie an die andere Ecke des Spielplatzes. Nur im
Extremfall gibt es einen offenen Streit, in dem man sich dann
vorwirft, das Kind »nicht im Griff zu haben« oder aber
»überzubemuttern«.
Eine »Kind haut Kind«-Situation ist übrigens häufig
das erste Mal von vielen, in denen sich Müttern laut gegenseitig
beschuldigen, am üblen Verhalten ihrer Kinder schuld zu sein.
Welche Ausmaße mütterliche Aggressionen nehmen
können, wenn sie ihr Kind durch andere Kinder bedroht sehen, sehen
wir im Internet in den zahlreichen Mütter-Foren, in der Frauen mit
Kindern Alltagssituationen diskutieren. Das Internet garantiert bei
Bedarf absolute Anonymität. Und dies lässt offenbar jegliche
Hemmungen fallen. Es ist wirklich erschreckend, wie hämisch und
aggressiv Frauen mit Kindern gegen andere Frauen mit Kindern werden
können, wenn sie sich unentdeckt wähnen. Ungeachtet aller
Beschwörungen von Psychologen, Kleinkinder ihre Kämpfe
untereinander
alleine austragen zu lassen, wollen einige Mütter offenbar viel
lieber mitmachen. Häufiges Motiv der charmanten Wortbeiträge ist,
die Mutter verprügeln zu wollen, deren Kleinkind andere Kinder auf
dem Spielplatz haut und die ihr Kind nicht ausreichend bewacht oder
nicht ausreichend züchtigt. Opfermütter sinnen auf Rache - die
betreffende Mutter soll bluten! Andere drohen, das Täterkind selbst
zu schlagen, sollte es ihnen einmal unter die Finger kommen. Ab und
an schafft es eine wütende Mutter auch mal in die Zeitung, wie
diejenige Frau, die ein fremdes Kind mit Brennnesseln peitschte,
weil dieses ihr Kind geschubst hatte. Das alles ist recht paradox,
beklagen die Mütter doch eigentlich den Gebrauch von Gewalt.
Bin ich die Einzige, die bei diesem Gebaren vor
Entsetzen erschauert? Mich stressen die Aggressionen unter den
Kindern, aber die Wucht der Aggressionen unter den Müttern geht mir
an die Substanz. Der Blick ins Internet gibt mir den Rest. Wer sind
diese Frauen, die anderen Kindern und Müttern Prügel androhen?
Sitzt eine von ihnen vielleicht mitten unter uns? Argwöhnisch
betrachte ich die Mütter im Kurs. Sie sehen so nett aus. Könnte die
da so etwas machen oder jene dort drüben? Wo sind die wandelnden
Zeitbomben? Wie weit gehen Mütter, wenn sie ihre Kinder bedroht
sehen? Oder - schießt es mir heiß durch den Kopf - sind wir alle
kurz vor dem Wahnsinn, nur einige von uns haben noch nicht das
Chatten entdeckt?
Warum sind Mütter gegen andere Kinder und Mütter so
aggressiv? Ist es mehr als der natürliche Beschützerinstinkt? Ist
da vielleicht die eine oder andere ängstliche oder ehrgeizige
Mutter, grüble ich, die in anderen Kindern nicht mehr harmlose und
notwendige Spielkameraden sieht, sondern Konkurrenten, die sich
durch ihr aggressives Auftreten Wettbewerbsvorteile verschaffen
wollen? Die ihr Kind einschüchtern und vom Lernen abhalten? Zum
lebenslangen Opfer abstempeln? Wir haben sie ja alle mehr oder
weniger im Kopf, die Mahnungen und Hinweise, dass gerade die ersten
fünf Jahre über das lebenslange Schicksal unserer Kinder
entscheiden. Wir alle wollen glückliche Kinder. Wir alle
sollen das perfekte Kind in einem perfekten Heim zu einem
perfekten Erwachsenen mit perfekter Karriere und optimal
ausgebildeten Synapsen heranziehen. Können da noch alle verkraften,
dass ihr Kind nicht nur von Anfang an im Wettbewerb mit anderen
Kindern steht, sondern auch von ihnen bedroht wird?
Allmählich bekomme ich Angst vor Frauen mit
Kindern. Sie scheinen mir unberechenbar. Auch davon hatte mir meine
Mutter gar nichts erzählt. Natürlich gab es vor dreißig Jahren
erboste Mütter, wenn die Kinder aufeinander losgingen. Doch wurde
nicht von den Müttern erwartet, ihr Kind lückenlos zu bewachen.
Zwar verabredeten sich Frauen mit Kindern, aber es gab noch keine
Mutter-Kind-Gruppen, in denen die Bewegungen und Äußerungen der
Kinder wie unter einem Laborglas betrachtet wurden und sich auch
die Mütter als Mütter gegenseitig genau in Augenschein nahmen.
Kinder und Mütter waren weitaus unbeobachteter und unbefangener als
heute. »Frühkindliche Aggressionen« hießen noch »Rangeleien« und
statt »dem Kind Grenzen zu setzen«, schimpften die Eltern.
Heute scheint das anders zu sein. Auf dem
Spielplatz traut sich kaum jemand bei einem Kinderstreit spontan zu
fluchen, die Kinder auseinanderzuziehen und vielleicht mit der
anderen Mutter oder dem Vater dann darüber herzlich zu lachen. Denn
dass es überhaupt zum Streit kommt, gilt häufig schon oft als
Versagen der elterlichen Aufsichtspflicht und wird überaus kritisch
gesehen. Ja, der Spruch »Es sind doch nur Kinder« wirkt heute
bereits im Windelalter merkwürdig veraltet und wird kaum noch
benutzt. Es sind eben nicht mehr nur Kinder; es sind kleine
Menschen, die ihr volles Potenzial entfalten sollen.