Kapitel 7
Ab in die Schule
Als ich klein war, wollte ich Geheimagentin werden. Ich hatte als Achtjährige Spionage-Krimis aus der Reader’s-Digest-Reihe verschlungen, die mit goldfarbenen Bordüren verziert waren, las von diesen wunderschönen klugen Frauen und Männern, die geheimnisvoll von einem Land zum anderen reisten und ihr Leben für das Gute aufs Spiel setzten. Ich stellte mir vor, wie ich - ebenfalls wunderschön und klug - tollkühn und schnell die Welt retten würde. Ich sprang über Mauern, von Brücken und Türmen und eilte geschwind mit den Geheimdokumenten davon. Ich war ganz gefangen in meiner Fantasie.
 
»Mutti«, fragte ich meine Mutter, »glaubst du, ich wäre eine gute Agentin?«
Und meine Mutter sah mich an und fragte:
»Kannst du denn ein Geheimnis für dich behalten?«
Ich kleines Plappermäulchen sagte treuherzig und etwas beleidigt.
»Natürlich! Was denkst du denn!«
Und meine Mutter lächelte amüsiert. Und das war dann die ganze Berufsberatung.
 
Daran muss ich denken, als ich jetzt vor der Klassenlehrerin meiner Tochter sitze.
»Ja, Frau Hartmann«, sagt die Pädagogin und lächelt mir freundlich zu. Sie ist eine engagierte, beliebte Lehrerin. »Ihre Tochter macht sich ganz gut.« Dann runzelt sie sorgenvoll die Stirn. »Sie ist allerdings doch noch sehr kindlich.«
»Kindlich?«, frage ich. »Was meinen Sie damit?«
»Na, sie macht sich ja noch so gar keine ernsthaften Gedanken um ihre berufliche Zukunft.« Die Lehrerin spitzt missbilligend die Lippen und schaut mich dann ernst an. »Sie weiß ja noch gar nicht, was sie einmal werden will und welche Noten dafür wichtig sind.«
Ich hole tief Luft und dann lache ich einmal laut und böse.
»Ja, Gott sei Dank«, sage ich und lehne mich vor, »sie ist ja auch erst acht!«
 
Was sich hier wie eine kleine, nett erdachte Anekdote anhört, damit ich meinen Text hier ein bisschen aufpeppen kann, ist nicht erfunden. Wir sind in einer ganz normalen Grundschule, 3. Klasse, Elternsprechtag. Und wie man sieht, ist diese Klassenlehrerin hier nicht geneigt, auf die Selbstbildung meines Kindes zu vertrauen und geduldig abzuwarten, bis meine Tochter einen seriösen Berufswunsch entwickelt. Eventuell hat sie sogar erfahren, dass meine Kleine natürlich einen Berufswunsch hat, so wie ihre Mutter eben als Achtjährige, aber dieses Berufsziel erschien ihr wahrscheinlich nicht ernsthaft genug. Wer weiß, eventuell verschenkt diese Lehrerin damit ungeheures Potenzial? Vielleicht wäre auch ich eine gute Agentin geworden, wenn ich einmal dieses kleine Problem der Geheimnisträgerschaft bewältigt hätte.
Nun ist natürlich nicht eine Lehrkraft wie die andere. Ich kenne einige Pädagogen, die bei meiner Anekdote hörbar entsetzt nach Luft schnappen, weil eine Grundschullehrerin kindliche Fantasie zugunsten rationaler Zukunftsplanung schon so früh zurückgedrängt sehen möchte. Aber trotz aller Unterschiede sind alle Lehrer in öffentlichen Schulen im selben deutschen Bildungssystem. Und dieses System fordert seit den ersten PISA-Ergebnissen enormen Leistungszuwachs in der Schule. Daher beschäftigt alle Lehrer in unserer modernen Zeit vornehmlich eine Frage, die ganz offensichtlich auch die Klassenlehrerin meiner Tochter umtreibt: Wie motiviere ich Kinder, die geforderten Höchstleistungen zu bringen, wenn ich nicht wie früher den Rohrstock benutzen will/kann/darf oder Kinder stundenlang in die Ecke stelle?

Kontrolle und Leistungsdruck auf allen Seiten

Seit Anfang dieses Jahrtausends stehen nicht nur Kinder, Mütter und Erzieherinnen unter Druck, bessere Leistungen erbringen zu müssen, sondern auch Lehrer werden zunehmend beobachtet und kontrolliert. Es gab zahlreiche Schulreformen, die das ganze positive Lernklima ein bisschen auf Trab bringen sollten, und die Lehrer wurden und werden verstärkt regelmäßig in Visitationen der Schulbehörde oder des Ministeriums begutachtet.
Das ist im Grunde eine feine Sache. Ich kann mich erinnern, dass meine gesamte Schulklasse auf dem Gymnasium in Klasse 5 und 6 bei einem Herrn, seines Zeichens Geschichtslehrer, im Unterricht Dinosaurier malen musste, während der Mann vergnügt und schweigend vorne am Pult seine Lieblingsbücher las. Nach zwei Jahren flog die Sache auf, der Lehrer durfte eine andere Klasse beglücken und wir mussten in der Klasse 7 bei einem anderen Lehrer die Geschichte von den Dinosauriern bis zur Französischen Revolution im ersten Halbjahr lernen. Im Nachhinein frage ich mich, wie so etwas überhaupt möglich war. Aber wir Schüler sahen es positiv: So manch einer, der miserabel in Geschichte war, war exzellent im Dinosaurier-Malen, und das ist ja auch was Schönes, unverhofft auf unvermutete Talente zu stoßen.
So etwas ist heute unvorstellbar. Es könnte gar nicht mehr vorkommen. Es sind nicht nur die Eltern, die die Lehrer ihrer Kinder wachsam im Auge behalten, und nicht nur die regelmäßigen Visitationen im Unterricht, die die Lehre kontrollieren, sondern es sind auch standardisierte Vergleichsarbeiten in den Hauptfächern, die in allen Bundesländern jedes Jahr zu einem bestimmten Termin geschrieben werden. Deren Ergebnisse in ausgewählten Jahrgangsstufen sollen den Leistungsstand der Schüler und die Qualität der Lehre ermitteln. Mein erster Geschichtslehrer würde heute mit seiner begnadeten Unterrichtstechnik irgendwann gnadenlos auffallen.
Natürlich möchte jeder Lehrer, dass seine Klasse bei diesen Vergleichsarbeiten gut abschneidet, weil die Zensuren der Kinder die Fähigkeiten eines Lehrers widerspiegeln. Es gibt zwar einen gewissen Argwohn bei Schulamt und Kollegen, wenn alle Arbeiten einer Klasse überragend gut ausfallen, weil jeder Lehrer die Vergleichsarbeiten seiner Klasse benotet - in Bayern wurde 2008 eine Lehrerin aus diesen Gründen strafversetzt -, aber im Allgemeinen gilt: Je besser die Zensuren einer Klasse, als desto besser gilt der Lehrer. Und je besser alle Klassen, desto besser die Ergebnisse einer Schule, desto höher das Ansehen dieser Schule, desto mehr Anmeldungen von neuen Schülern und desto gesicherter ist die Zukunft der Schule und desto netter ist der Schulleiter und desto entspannter ist das Schulklima. Und wenn ein Bundesland viele Schulen hat, die gut bei den Lernstandserhebungen abschneiden, ist die Bildungspolitik des Landes angesehen und desto zufriedener sind die Politiker und desto weniger knifflige Schulreformen gibt es. Mit anderen Worten: gute Noten, schönes Lehrerleben. Schlechte Noten, schlechtes Lehrerleben.
Alle lernen für die Tests. Und man merkt gleich: Der Druck, bei internationalen Vergleichsstudien besser abschneiden zu müssen, kann Lehrer und Politiker heutzutage die Freude an ihrer Arbeit gründlich verderben. Und dies erklärt, warum alle Lehrer und Bildungspolitiker in Deutschland es lieber als je zuvor sehen, wenn die lieben Kleinen gute Zensuren in der Schule haben. Ja, man könnte sogar von einem gewissen Leistungsdruck auf die Kinder sprechen, Höchstleistungen zu bringen nicht mal ausschließlich um der Zukunft der Kinder willen, sondern auch um der Zukunft einzelner Lehrer und Politiker willen.
Nun gibt es natürlich verschiedene Ansätze, ein Kind dazu zu bekommen, die aus verschiedenen Gründen erwünschten Leistungen zu erbringen. Der erste Ansatz ist der, den Experten in den letzten Jahren verschärft seit den allerzartesten Anfängen eines Kindes verfolgt haben: Sie instruieren die Mütter.

Wann ist der richtige Zeitpunkt zur Einschulung?

Ich als Mutter, jetzt kurz vor Schulanfang meiner Tochter, habe bereits etliche Jahre Mütterbelehrungen hinter mir. Belehrungen, die mir immer wieder freundlich und bestimmt eintrichtern, wie ich zu sein habe, damit mein Kind wird, wie es zu sein hat. Und nun, kurz bevor ich meinen Nachwuchs fix und fertig der öffentlichen Hand mit Dokumentation der Kita für die Schullaufbahn übergebe, ist eine meiner letzten Aufgaben, hier an diesem wichtigen Wendepunkt dieses jungen Lebens zu entscheiden, wann meine Tochter denn überhaupt eingeschult werden soll.
Der Zeitpunkt der Einschulung ist überaus wichtig für die gesamte zukünftige Entwicklung meines Kindes. Ein Schulkind muss die nötigen körperlichen, geistigen, sprachlichen, emotionalen und sozialen Voraussetzungen mitbringen, um Spaß am Lernen zu haben. Sonst hat es von Anfang an die Nase voll und die Noten sind schlecht. Ein »Special Einschulung« 2006 der Stiftung Warentest mahnt eindringlich.
 
»Alle Eltern müssen sich die Frage stellen: Ist unser Kind schulfähig und schulbereit? (…) Die ersten Lern- und Schulerfahrungen prägen die gesamte Schullaufbahn - oft negativ. Folge: Viele Kinder lehnen Schule und schulisches Lernen frühzeitig und dauerhaft ab.«
 
Mir als erfahrene Mutterschuldnerin wird bei diesem Gedanken schon ganz flau. Ich sehe die Besserwisser-Kommentare von Familie, Freunden und anderen Müttern direkt vor mir, wenn mein Kind keine Lust hat, in die Schule zu gehen:
»Ich habe dir doch gleich gesagt, du hast das Kind zu früh/ zu spät eingeschult! Das war doch absehbar, dass das nicht klappen kann!«
Vor einigen Jahren hätten Eltern eine derart gelagerte Verantwortung auf das Bundesland abschieben können, aber merkwürdigerweise war es damals kaum Thema. Ein Kind musste mindestens sechs Jahre alt sein, bis es in die Schule gehen konnte, auf Antrag auch älter. Das war dann die ganze Diskussion. Diese Altersgrenzen gibt es heute nicht mehr. Kinder dürfen bei entsprechender Eignung in vielen Bundesländern bis zu einem bestimmten Stichtag im Jahr auch schon mit fünf Jahren eingeschult werden, denn es gilt, das Kind mit seinen Fähigkeiten, sozialen Kompetenzen und Begabungen dort abzuholen, wo es steht. Und diese neue Regelung heißen einige Eltern, Politiker und Arbeitgeber sehr willkommen. Kommt sie doch dem Profil des idealen Bewerbers mancher Unternehmen entgegen, der optimalerweise mit 25 Jahren fünf Sprachen spricht, sportlich-schlank ist, Berufs- und Auslandserfahrung hat und einen Doktortitel vorweisen kann. Je früher die Kleinen anfangen, desto besser sind die Chancen, vielleicht sogar tatsächlich einmal einen solchen idealen Arbeitnehmer darzustellen.
Allerdings sind Kinder für diesen kleinen Wettbewerbsvorteil nicht so einfach zu verplanen, wie man es gerne hätte. Die Experten sind sich generell nicht recht einig, ob eher eine Einschulung mit fünf oder sechs Jahren oder eine späte mit sechs oder sieben Jahren von Vorteil ist - es gibt immer wieder in einigen Abständen interessante Studien zu diesem Thema, die sich gerne gegenseitig widersprechen. Aber offenbar sind sich alle einig, dass der falsche Zeitpunkt verheerende Folgen haben kann, welcher auch immer das individuell sei.
So, und wie bekommen wir den falschen Zeitpunkt heraus? Unsere Tochter ist im September geboren und daher ein Kann-Kind - entweder wird sie mit fünf Jahren eingeschult oder mit fast sieben. Ist das zu früh oder zu spät? Eine zu frühe Einschulung kann ein Kind überfordern, so heißt es, und in der gesamten Schullaufbahn zu schlechten Noten führen. Bei einer zu späten Einschulung, munkelt man, langweilt sie sich im Kindergarten, was zur Verkümmerung ihrer Kompetenzen und - wer hätte es anders gedacht? - in der gesamten Schullaufbahn zu schlechten Noten führt. Mein Gott, bin ich froh, dass unsere zweite Tochter ein Muss-Kind ist! Die muss dann ihre schlechten Noten erst einmal selbst verantworten.
Aber ich komme ins Grübeln. Ich bin doch auch mit sieben Jahren eingeschult worden. Die Schule fiel mir leicht, ich hatte Spaß und Freunde und die Hausaufgaben passierten in der Grundschule im Handumdrehen. Was will das jetzt sagen? War ich noch gerade ausreichend begriffsstutzig, um mich nicht zu langweilen und zu verkümmern? Oder ist Schule heute völlig anders als früher und ich kann froh sein über die Gnade der frühen Geburt? Oder stimmt etwas nicht mit der Theorie einer schädlichen späten Einschulung?
Wie dem auch sei, nach gründlichem Nachdenken sind mein Mann und ich bereit, die Verkümmerung einiger Kompetenzen und etwaige Langeweile unserer Tochter in Kauf zu nehmen. Wir möchten unsere Tochter ein bisschen länger dem Kontroll- und Leistungswahn entziehen, der uns in der Dokumentation der Kita irgendwie verdächtig aufstieß. Das Kind soll mit sieben Jahren in die Schule gehen und bis dahin einen (Kinder) Garten genießen dürfen, den es sonst nicht hätte. Der Ernst des Lebens beginnt auf den Schulhöfen. Unsere Kita ist bunt, grün und anregend gestaltet, aber die meisten Schulen in unserer Stadt strotzen vor gräulicher Tristesse, in der die einzigen optischen Highlights farbig dick bepinselte Betonwände sind.
Aber unser Kind macht uns einen Strich durch die Rechnung. Sie will unbedingt in die Lehranstalt, und so rede ich, verantwortungsbewusste mütterliche Hobby-Pädagogin, die ich nun einmal bin, mit anderen Müttern, wie sie das halten, lausche fachkundigen Erzieherinnen (»Lieber jedes Kind spät einschulen! Ich habe meinen Sohn zu früh eingeschult. Das war überhaupt nicht gut!«), besuche stundenlange Informationsveranstaltungen der Stadt zu diesem Thema und lese und recherchiere im Internet. Zu allem Unglück ist unser Kind ein Mädchen. Jungen würden die meisten Berater später einschulen. Mädchen aber seien früher entwickelt. Da ist es schwieriger.
Es ist zum Haareraufen! Am Ende folgen wir widerwillig der Empfehlung der Kinderärztin, die nach einer schulärztlichen Untersuchung soziale Kompetenzen abgeholt sehen will. Aber viel entscheidender: Wir beugen uns dem Herdentrieb, denn alle aus der Kita-Gruppe, ob fünf oder sechs Jahre alt, werden bald zur Schule gehen. Es geistert gerade eine Studie durch die Presse, die die frühe Einschulung wärmstens empfiehlt und offenbar alle beflügelt. Bliebe unsere schulbegeisterte Tochter in der Kita, wäre sie das einzige Relikt ihres Jahrganges und würde uns wahrscheinlich auf ewig hassen, weil sie ein Jahr lang mit den Kleinen spielen musste. Ja, viel tragischer: Sie würde glauben, sie sei dümmer als die anderen und dass sie deshalb nicht in die Schule durfte. Die ganze schöne von Experten geforderte Arbeit an ihrem Selbstbewusstsein in den ersten fünf Jahren wäre für die Katz!
Zähneknirschend entscheiden wir uns also für die vorzeitige Einschulung. Damit ist das Thema aber nicht vom Tisch. Denn jetzt laufen die Erzieherinnen auf Hochtouren, die entsetzt all ihre Schäfchen aus der Kita davonlaufen sehen. Mehrere reden gleichzeitig auf mich ein, um Himmels willen meinem Kind das Schicksal der frühen Einschulung zu ersparen: »Frühe Einschulung ist immer ganz schlecht!«
Ich bin den Tränen nahe. Ich fühle mich elend. Ich stecke in der Klemme. Ich bin schuldig, was immer ich auch entscheide. Und keine sagt: »Mach mal! Es wird schon. Wer weiß, wozu’s gut ist!« Alle präsentieren mir das Untergangsszenario.
Es tröstet da wenig, dass ich mich jetzt im Gruppenkonsens bewege und zumindest nicht als überbehütende Mutter gebrandmarkt werde, die ihr Kind nicht loslassen will. Ich weiß inzwischen: Die Reputation ist nur eine Frage der Zeit. Sobald die nächste Studie im Umlauf ist, die die späte Einschulung propagiert, ist mein Ruf eh wieder dahin. Dann gelten wir alle, die wir hier kämpfen, als überehrgeizige Mütter, die ihre Kinder dem Leistungswahn opfern.

Wir suchen die perfekte Schule

Herdentrieb hat für mich zunehmend einen schalen Beigeschmack. Es ist ja auch nicht schöner, zusammen zur Schlachtbank zu traben. Die anderen Mütter von Kann-Kindern und ich haben jetzt diesen gequälten Ausdruck im Gesicht, wenn wir über Schule reden. Diese Diskussionen, diese Zweifel, das Damoklesschwert einer missratenen Schulkarriere, eines unglücklichen Kinderlebens. Wir können das Wort »Einschulung« schon kaum mehr hören, dabei hat die Sache an sich ja noch gar nicht angefangen.
Denn jetzt geht sie ja erst richtig los, die Schullaufbahn. Und damit wären wir bei dem zweiten Ansatz zu versuchen, ein Kind zu den gewünschten Leistungen zu bringen: Wir schicken es auf die perfekte Schule. Wir schicken es auf die Schule, die seine Potenziale bestmöglich ausbaut und die Defizite effizient ausbügelt. Wir suchen die Lehranstalt, die profundes Wissen und höchstmögliche Bildung verspricht.
Es ist unnötig zu sagen, dass die Suche nach dieser besten aller möglichen Schulen um einiges belastender ist als die Suche nach dem perfekten Kindergarten. Denn es geht ja nicht nur darum, als eine Art Kunde Schulen zu prüfen. Sondern jetzt geht es ans Eingemachte, jetzt zeigen wir Flagge. Es gibt bald Noten für die Leistungen unserer Kinder und wenn man so will, ernten wir Mütter jetzt die Früchte unseres jahrelangen Einsatzes. Wird unser Kind im Schulsystem bestehen? Ist es selbstständig genug? Kann es Frustration tolerieren? Wird es auch schön lernen wollen? Es wird sich bald zeigen. Die berüchtigten ersten fünf Jahre sind vorbei, in der wir die optimalen Grundlagen legen sollten. Das Einzige, was wir jetzt vor der Einschulung noch tun können, ist, die Schule zu finden, die auch ohne unser individuelles Coach-Programm einen bestmöglichen Start garantiert.
 
Früher musste ein Kind die Schule besuchen, die seinem Wohnort am nächsten war. Diese Regelung gilt heute nicht mehr. Heute geht das Kind in den meisten Fällen in die Schule, die den Eltern am besten gefällt. Diese Schule aber zu finden, ist recht knifflig, weil Schulen heutzutage einem steten Wandel unterworfen sind.

Schulreformen und Grundschulprogramme

Wenn ich ein Buch über Schulreformen schreiben wollte, wären die vielen innovativen Schulprogramme der letzten Jahre Stoff genug für mehrere Bände. Und dies nicht nur, weil sich die Schulpolitik von einem Bundesland zum anderen Bundesland gehörig unterscheidet. Nein, das Thema »Wie mache ich die beste Bildung mit möglichst wenig Geld?« ist ein sehr komplexes Gebilde, auf das unzählige Pädagogen und Experten angesetzt sind und welches wahrscheinlich in seiner Schwerfälligkeit und Unüberschaubarkeit Grund ist für viele nette kleine Depressionen im Land. Wer einmal in einer Großstadt auf einer Informationsveranstaltung zum Thema »Frühzeitige Einschulung« war, weiß, wovon ich spreche. Viele Gremien und Ausschüsse zerbrechen sich jahrelang den Kopf, präsentieren stundenlang das, worauf sie sich letztendlich nach unzähligen zähen Diskussionen und Sitzungen einigen konnten, und der Laie denkt, das hätte er auch in 15 Minuten erzählen können. Bildungspolitik ist eine sehr undankbare Aufgabe.
Es gibt äußere Schulreformen, die auf die Änderung von Schulformen hinzielen (wie etwa die Einführung von Ganztagsschulen), die Änderung des Einschulungsalters, das Einführen von Vergleichsarbeiten, die Regelungen der Versetzung oder die Ordnung der Leistungsbewertungen. Und es gibt innere Schulreformen, die auf der Ebene einzelner Schulen erfolgen, wie der verstärkte Einsatz von Projektarbeiten, die Verminderung des Frontalunterrichts, klassen-übergreifende Lehre oder bilinguale Ausrichtung. In den meisten Bundesländern hat jede Schule die Pflicht, ihr eigenes Schulprogramm zu entwickeln, ihr Profil zu definieren und zu beschreiben. Diese Schulprogramme sollen von verantwortungsvollen Eltern gelesen und schließlich bewertet werden.
Grundschulprogramme werden aber nicht von allen Eltern studiert. Da machen wir uns besser gar nichts vor. Einige Familien wissen mit theoretischen Ansätzen wenig anzufangen. Andere informieren sich zwar eingehend über Klassengrößen, -zusammensetzungen und Betreuungszeiten, sind aber generell vor allem an dem Ruf der Schule interessiert. Sie wollen erkunden, ob die Lehrerschaft fähig ist. Aber es gibt auch Eltern, für die diese Schulprogramme spannende Lektüre sind und die sich intensiv und gewissenhaft in pädagogische Konzepte und Kultusminister-Beschlüsse einarbeiten, um von Anfang an kompetent mit Lehrern und Schulleitern auf Augenhöhe zu diskutieren und Einfluss nehmen zu können.
Das Phänomen dieser Art aufgeklärter, engagierter Eltern hat gerade unter Akademikern seit den Ergebnissen der ersten PISA-Studien beachtlich zugenommen, und von Studie zu Studie, von Schulreform zu Schulreform werden nicht nur einzelne Eltern immer fordernder im Schulalltag, sondern es entstehen auch immer mehr Elterninitiativen, Vereine und Verbände, die nicht bereit sind, den Lehrern ihrer Kinder und den Beschlüssen ihres Bundeslandes blind zu vertrauen. Prominentes Beispiel dieses Engagements sind die Eltern im Hamburger Schulstreit. Rund 184 000 Unterschriften sammelte die Initiative »Wir wollen lernen!« gegen die Reformpläne der schwarz-grünen Regierung, wobei »wir« natürlich nicht die Eltern sind, sondern die Kinder. Bundesweit erstmalig ergriffen deutsche Bürger damit im Sommer 2010 die Chance, in einem Volksentscheid über ihr Schulsystem selbst zu entscheiden. Die Reformpläne wurden gekippt.
Bemerkenswert an diesem Fall ist nicht nur, wie weit Eltern inzwischen auf die Barrikaden gehen. Interessant ist auch die Ausrichtung der Initiative. Denn die Einführung einer Primarschule, die das Modell der bisherigen Grundschule ablöst und bis zum sechsten Schuljahr alle Kinder länger gemeinsam lernen lässt, erschien vielen Hamburger Eltern nicht leistungsstark genug für Kinder, die besser und leichter lernen. Sie hatten Sorge, leistungsstarke Kinder würden nicht genügend gefördert.
Unabhängig von der Diskussion, ob diese Sorge berechtigt ist oder nicht - das Volksbegehren der Eltern zeigt einen ganz wesentlichen Wandel in unserer Nation: Die Leistungsgesellschaft hat erstens nicht nur die Erwachsenen, sondern jetzt auch mit voller Wucht die Grundschulkinder erreicht. Und zweitens scheuen sich immer mehr Eltern nicht, öffentlich zu zeigen, dass ihnen die Leistung und das Wohl des eigenen Kindes sehr viel mehr bedeutet als der Solidaritätsgedanke in einer Schulklasse. Viele Eltern denken heutzutage nicht an Gemeinschaft und Gruppenidentität, die ihr Kind in der Grundschulklasse erleben und erlernen soll. Es ist nicht ihr vorrangiges Ziel - wie es jahrelang von engagierten Pädagogen verfolgt wurde - jedes Kind mitzunehmen und keines zurückzulassen. Sondern immer mehr Eltern möchten, dass sich ihre Kinder von den Schwachen der Gruppe lösen können, um nicht von ihnen aufgehalten oder gar geschwächt zu werden.
Nie zuvor hatten Eltern in Deutschland damit so stark das Gefühl, dass ihre Kinder in den Schulen nicht genug lernen. Und nie zuvor standen die individuelle Leistung und der Erfolg von Grundschulkindern so stark im Vordergrund wie heute.

Wunschziel Gymnasium

Da ist es logisch, dass die meisten Mütter und Väter ihr Kind nach der Grundschule am liebsten das Gymnasium besuchen sehen, am zweitliebsten die Gesamtschule oder die Realschule, aber gar nicht die Hauptschule. Da möchte kaum ein Elternteil heute mehr freiwillig sein Kind hinschicken. Denn in unserer Gesellschaft, in der es nicht mehr Arbeit für alle gibt und die bestehenden Arbeitsplätze unsicherer denn je sind, ist ein guter Bildungsabschluss die beste Vorsorge, überhaupt Arbeit zu finden. Nach Daten des Bundesinstituts für Berufsbildung (BiBB) 2010 sind 18,5 Prozent der Ausbildungsabsolventen mit Hauptschulabschluss erwerbslos, 12,3 Prozent mit Mittlerer Reife, aber nur 7,5 Prozent mit Abitur. Ein guter Bildungsabschluss bietet in Deutschland anders als in vielen anderen europäischen Staaten die größte Sicherheit gegen Arbeitslosigkeit. Auch wenn nicht alle die Statistiken kennen, so weiß doch jeder, wie schwer es für Hauptschüler in unserem Land geworden ist, Ausbildung und Arbeit zu finden.
Darüber hinaus berichten Medien nicht oft über Hauptschulen, an denen gute Arbeit geleistet wird, sondern häufig über Schulen, in denen skandalträchtige Gewalt, Aggressivität, Respektlosigkeit und Ignoranz eskalieren, weil immer mehr Kinder von Armut bedroht sind, nicht behütet werden und keine Zukunftsperspektiven sehen. 16 Prozent der ausländischen und 6,5 Prozent der deutschen Jugendlichen - so ein Bericht der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung 2009 - verlassen die Schule sogar ohne Abschluss. Und seit 2006 die Rütli-Schule in Berlin-Neukölln in die Schlagzeilen kam, weil verzweifelte Lehrer die Senatsverwaltung Berlin in einem offenen Brief um Hilfe baten, sind Fernsehsendungen und Berichte über die verkommenen Kinder und Jugendliche in den Hauptschulen so angestiegen, dass man glauben könnte, alle Hauptschulen seien Gettos, in denen nette Kinder und Jugendliche vom Aussterben bedroht sind.
Die Wirklichkeit sieht anders aus. Zwar gibt es häufiger verbale Aggressionen als früher unter den Schülern und generell gibt es in den Haupt- und Sonderschulen mehr physische Gewalt als an den Gymnasien, aber Wissenschaftler betonen, dass die Gewalt an Schulen bis auf wenige Extremfälle nicht zugenommen, sondern sogar eher abgenommen hat. Doch diese Realität kommt bei den meisten Bürgern nicht an. Hauptschulen sind die Verlierer eines neuen Medien-Hypes und der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Auf ihnen lastet der Ruf der Ausbildung einer Loser-Elite, und ein kleinster Verdacht reicht hier schon, um viele Eltern vor dieser Schulform instinktiv zurückweichen zu lassen. In der Folge sinkt das Niveau der Hauptschule erneut, denn nur noch die Schüler, die gar keine andere Alternative mehr finden, verschlägt es zunehmend auf diese Schulform.
Was bedeutet das jetzt für uns Eltern angehender Grundschüler? Sehr viel. Denn da Eltern zunehmend fixiert auf das Gymnasium sind, ist man dazu übergegangen, ihnen in einigen deutschen Bundesländern das alleinige Entscheidungsrecht zu entziehen oder stark einzuschränken, auf welche Schule das Kind nach der Grundschule gehen soll. Kinder sollen einerseits nicht durch die ehrgeizigen Ziele ihrer Eltern überfordert werden, andererseits sollen sie aber auch nicht das Lerntempo der anderen, besseren Kinder drosseln. Denn es gilt ja, den Bildungsstand im internationalen Vergleich zu heben. Das heißt: Früher, als die Eltern noch selbst oder allein entscheiden konnten, ob das Kind auf das Gymnasium geht, konnten Lehrer nicht gegen den Willen der Eltern verfügen. Heute ist das in vielen Bundesländern anders und genau deshalb sind gute Leistungen der Kinder auf der Grundschule für Eltern so überaus wichtig geworden. Sie sind immer die besten Argumente, einem Kind den Übertritt ins Gymnasium zu ermöglichen, egal, wie die jeweilige Schulpolitik einer Landesregierung gerade aussehen mag.
Gleichzeitig sitzt uns Eltern schon jetzt die G8-Reform im Nacken, der Weg zum Abitur in acht Jahren, die die Schulzeit auf dem Gymnasium um ein Jahr verkürzt, ohne die Lehrpläne bisher entsprechend verschlankt zu haben. Wir hören es von Bekannten und Freunden, deren Kinder auf dem Gymnasium sind. Wir sehen es in den Medien. Es sitzt uns in den Knochen wie ein böser Virus: Wer nicht schon bestens vorbereitet auf das Gymnasium kommt, droht aus dem Leistungskarussell dieser Schulform schnell wieder herauszufliegen.
»Die mustern nach zwei Jahren rigoros aus«, munkelt es unter den Eltern. »Da überleben nur die Besten«.
Sorgenvoll legen wir unsere Stirne in Falten. Und verstehen schnell. Es geht nicht nur darum, schöne Noten zu ernten. Noten sind subjektiv, willkürlich und dem jeweiligen Niveau einer Schulklasse angepasst. Das wissen wir alle. Es geht vielmehr darum, dass diese Noten Substanz haben und von einer Schule zur nächsten gültig bleiben.
Die Frage ist also: Wo finde ich die Grundschule, auf der mein Kind so gute Noten schreibt, dass ihm nicht nur keiner mehr das Gymnasium verwehren kann, sondern es auf dem Gymnasium auch erfolgreich bestehen kann? Wo hat mein Kind den bestmöglichen Start?
Wie sehr man sich aber auch in Schulprogramme und -konzepte vertiefen mag - es ist vertrackt, die beste aller möglichen Schulen zu finden. Denn letztlich hängt alles vom jeweiligen Lehrer und den Schulkameraden ab. Ein fruchtbares Arbeitsklima kann man nicht unbedingt vorhersehen. Für mich sehen alle Schulen in unserem bunt gemischten Stadtteil irgendwie gleich aus. Die Klassengröße ist überall dieselbe, die Schülerzahlen und der Ausländeranteil schwanken, aber das will bei uns wenig über die Qualität der Lehre sagen. Und jedes Jahr ist offenbar eine andere Schule der Liebling der Eltern. War letztes Jahr die Schule XY gefragt, so ist es dieses Jahr die Schule XYZ, die sich über hohe Anmeldezahlen freuen kann. Es gibt keine eindeutigen Favoriten und auch keine offiziellen Zensuren für die einzelnen Institutionen, die ich bequem einsehen könnte. Zwar bestehen Internetportale, in denen jeder seine subjektive Meinung über Schulen und Lehrer veröffentlichen kann, aber diese finde ich oft wenig aussagekräftig, weil ich nicht weiß, wer hier warum was schreibt.
Und so gehen sie dann etwas ratlos los, die Besuche vor Ort an den Tagen der Offenen Tür, die Gespräche mit Schulkindereltern, die Informationssuche im Internet, die Meinungsumfrage unter Bekannten, die Suche nach dem Heiligen Gral.
Wir wählen letztlich die Schule in Reichweite. Die Schule in der Nachbarschaft hat keine negativen Schlagzeilen, das Kind kann zu Fuß gehen und ihre Freunde werden um die Ecke wohnen. Das hätten wir eigentlich auch gleich einfacher haben können.
 
Nun haben wir also das Einschulungsalter und unsere Schule der Wahl bestimmt, und wir können tatsächlich zum offiziellen Teil des Projekts Schullaufbahn übergehen. Damit sind wir beim dritten Ansatz, ein Kind zu den Höchstleistungen zu bringen, die es aus unterschiedlichen Gründen erbringen soll: natürlich das Kind höchstselbst.

Die gläserne Familie: Der Schultauglichkeitstest

Was wären die Instruktionen der Mütter, die Wahl des Alters und der perfekten Schule ohne unsere Protagonistin in diesem Projekt? Ist sie überhaupt reif für die Schule? Es gilt, die letzten Hürden zu überwinden, und unsere Tochter kann in der Schule endlich in Aktion treten. In Nordrhein-Westfalen gibt es nicht nur die freiwillige U9, die Untersuchung beim Kinderarzt, sondern auch verpflichtend ein Schulfähigkeitstest in der Schule der Wahl und eine Schuleingangsuntersuchung beim Gesundheitsamt, die prüfen sollen, ob ein Kind schulreif ist. Ich für meinen Teil hätte mir diese Tests chronologisch ganz an den Anfang der Vorbereitungen gewünscht, dann hätten wir uns unter Umständen diesen ganzen Stress vorerst ersparen können, aber Schulfähigkeitstests werden in der Schule der Wahl gemacht. Das setzt die Wahl derselben voraus, auch die Entscheidung zur Einschulung, eben den ganzen Klimbim eines Kann-Kindes.
 
Der Test in der Schule ist kurz und schmerzlos. Ich muss einen einfachen Antrag ausfüllen und unser Kind wird von einem Lehrer geprüft. Geschicklichkeitsspiele, logisches Denken, Sprachfähigkeiten und anderes. Es ist erfreulich unbürokratisch und wir haben keine Probleme.
Ganz im Gegensatz zu der Schuleingangsuntersuchung, die beim Gesundheitsamt Monate später stattfindet, nachdem wir uns bei der Schule anmelden konnten. Schon die Einladung zu dieser Untersuchung lässt keinen Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Sache aufkommen. Im strengen Ton werden wir daran erinnert, dass eine schulärztliche Untersuchung rechtzeitig vor der Einschulung durch Gesetz und Rechtsverordnung festgelegt ist, und wir werden sachlich aufgefordert, zahlreiche Unterlagen mitzubringen, unter anderem alle Impfbescheinigungen, das Vorsorgeheft des Kindes und den Dokumentationsbogen des Kindergartens. Ich bin sehr froh, dass ich das mit der Freiwilligkeit des Impfens, der Kinderuntersuchungen und des Dokumentationsbogens sowieso nie ernst genommen habe, sonst würde ich mich jetzt sehr aufregen.
Dummerweise kann ich aber das Impfbuch meiner Tochter nicht finden. Ich suche in der ganzen Wohnung, ziehe jede einzelne Schublade, durchforste die Aktenordner. Nichts! Ich muss ohne die geforderte Unterlage zur Schuleingangsuntersuchung.
Ich melde mein Versagen mit klopfendem Herzen gleich der Sekretärin bei der Anmeldung. Schuleingangsuntersuchungen sind eine aufregende Sache. Wir haben schon eine lange Vorbereitungsphase hinter uns. Werden wir jetzt kurz vor dem Ziel noch gestoppt? Es ist alles so amtlich.
Meine Tochter und ich sitzen auf Stühlen im Warteflur und scharren nervös mit den Füßen. Und dann geht es los. Wir werden in einen Untersuchungsraum gebeten. Mein Kind wird auf Herz und Nieren von einer Krankenschwester geprüft, ob sie hören, sprechen, greifen kann, wird gemessen und gewogen, und dann werden wir der Amtsärztin vorgeführt. Diese führt weitere Tests mit meiner Tochter durch, die alle klären sollen, ob das Kind schulreif ist. Gleichgewichtssinn, Raumwahrnehmung, Aufmerksamkeit, Sprache und so weiter und so fort.
Diese Ärztin ist eine sehr spröde Person. Ich bin froh, dass meine Tochter sich nicht einschüchtern lässt von ihrer Art, wie sie mit ihr spricht. Soziale Kompetenz ist wichtig für die Einschulung, das weiß ich ja.
Die Ärztin nickt mir kühl zu.
»Bitte füllen Sie das hier aus.« Sie gibt mir einen Vordruck.
»Es ist anonym«, sagt sie. »Sie können sich da vorne hinsetzen und schreiben.«
Sie zeigt auf einen Stuhl an einem Tischchen ihr gegenüber. Mein Blick fällt auf die Fragen. Sie gehen ans Eingemachte. Wie meine Tochter ist, das wissen sie ja schon. Sie haben die Dokumentation des Kindergartens und sind außerdem gerade dabei, sie zu testen. Jetzt wollen sie offenbar wissen, warum das Kind so ist, wie es ist. Das gläserne Kind und die gläserne Familie.
»Welchen Schulabschluss haben Sie? Nennen Sie bitte nur den höchsten Abschluss. Bitte für beide Elternteile angeben.«
»Haben Sie eine abgeschlossene Berufsausbildung? Wenn ja, welche?«
Es geht detailliert weiter: Ob, als was und wie viele Stunden sind mein Mann und ich berufstätig? Bei wem lebt das Kind? Wie lange hat es eine Kita oder ähnliche Tageseinrichtungen besucht? Mit wie vielen Geschwistern lebt es zusammen? Hat es ein eigenes Zimmer und falls nicht, mit wie vielen muss es ein Zimmer teilen?
Das Fernsehen hat es ihnen besonders angetan. Offenbar macht gerade wieder jemand eine Studie.
»Hat Ihr Kind/Haben Ihre Kinder einen Fernseher im Kinderzimmer?« - »Wie lange sieht Ihr Kind im Durchschnitt fern?« (Sieben mögliche Antworten von »gar nicht« bis »über 4 Stunden«). Alleine oder im Beisein der Eltern? - Während der Mahlzeiten? - Isst das Kind »beim Fernsehen Süßigkeiten/Chips«?
Es ist wirklich interessant, welche Informationen zur Einschulung heutzutage vonnöten sind.
Die Fragen gehen über zu Computerbenutzung, Gameboy, Playstation (wie lange? Fünf mögliche Antworten) und werden dann elegant auf den Freizeitbereich ausgerichtet. Spielt das Kind täglich im Freien außerhalb des Kindergartens, wenn ja, wie lange (vier mögliche Antworten), überwiegend alleine, in Begleitung von Eltern, Geschwistern oder Freunden? Ist das Kind in einem Sportverein, in einer Musikschule oder Sonstigem?
»Wie oft lesen Sie Ihrem Kind ein (Bilder) Buch vor?«
Und schließlich: »Rauchen Sie
Ich bekomme gleich wieder ein schlechtes Gewissen, wenn mir auch nicht ganz klar wird, warum eigentlich. Ich rauche ja gar nicht. Aber Hut ab vor dem Gesundheitsamt! Sehr raffiniert! Nicht nur, dass sie uns Eltern noch einmal eben so im Vorbeigehen elegant übermitteln, dass wir Eltern unter Beobachtung stehen, sondern auch die Art und Weise, wie sie uns diese Angaben entlocken. Hätte man mir diesen Bogen in der Fußgängerzone vor die Nase gehalten und um Antworten gebeten, hätte ich den Bogen gesichtet, abgewunken und wäre weitergelaufen. Jetzt sitze ich in der Falle. Ich kann schlecht davonlaufen, während sie mein Kind haben. Und wer hat schon die Traute, sich bei einer Schuleingangsuntersuchung, die ja offenbar über die gesamte Zukunft des eigenen Kindes entscheiden kann, aufzulehnen?
Das hier funktioniert in etwa so wie bei den Kinderuntersuchungen beim Arzt und den Dokumentationen der Kita: Wenn ich nicht mitmache, mache ich mich verdächtig. Und das wird doch dokumentiert, oder? Soll die Kleine von Anfang an unter ihrer renitenten Mutter leiden? So allmählich gehen mir diese Überwachungsmanieren gehörig auf die Nerven. Bin ich die Einzige, die diese Fragen unverschämt und diskriminierend findet? Was geht das Schulamt mein Bildungsniveau, meine Arbeitssituation und mein Privatleben an? Was sagt das über meine Qualitäten als Mutter aus? Mit hochroten Wangen vor Scham, derart ausgefragt zu werden, fülle ich den Bogen aus und reiche ihn der Ärztin. Ich fühle mich wieder einmal an den Pranger gestellt und in Schubladen gesteckt und habe doch gar nichts getan, außer ein Kind zu haben. Im Stillen frage ich mich, wie ich diesen Bogen ausfüllen würde, wenn ich Kettenraucherin wäre, mein Kind stumpf vor dem Fernseher hockte und wir nur Chips äßen. Würde ich da nicht gnadenlos schummeln?
Die Ärztin legt meinen ausgefüllten Bogen offen neben sich auf einen Stapel Papiere, gleich neben unsere Dokumentation. In der Tat, sehr anonym.
Sie schaut auf.
 
»So«, sagt sie. »Sie können Ihr Impfbuch nicht finden?«
»Ja«, sage ich. »Ich habe überall gesucht. Ich kann es mir nicht erklären.«
Sie schaut mich an. Ich sehe sofort: Sie glaubt mir nicht. Sie verdächtigt mich zu lügen.
»Sie wissen schon, wie wichtig Impfungen sind?«, fragt sie barsch.
»Ja«, sage ich sanft. Das hier fängt an, mir grimmigen Spaß zu machen. Wenn mich einer für ein böses Mädchen hält, obwohl ich gar nichts getan habe, werde ich sauer.
»Aber sie sind doch freiwillig, nicht wahr?«, flöte ich mit einem strahlend falschen Lächeln.
Sie antwortet nicht, sondern notiert etwas in ein Dokument, das vor ihr liegt.
»Ich kann es gerne nachreichen«, sage ich.
»Das ist nicht nötig.« Sie hebt den Kopf und schaut emotionslos.
Ich starre sie an. Wie? Das war alles? Ich gehorche nicht und werde nicht sanktioniert?
»Ihr Einladungsbrief klang so streng«, sage ich. »Ich dachte, ohne Impfbuch würden Sie uns gar nicht empfangen.«
Sie blickt mich schweigend an.
 
Und in diesem Moment begreife ich es. Auf einmal ist es so klar wie Quellwasser: Ich bin und war immer frei. Sie können mir gar nichts. Ich habe gehorcht und ich hätte es gar nicht tun müssen. Ich habe gar keine Vorgesetzten, auch wenn alle immer so tun. Eine Ahnung rieselt mir heiß den Rücken runter.
 
»Wie ist das mit dem Bogen, den ich gerade ausgefüllt habe?«, frage ich mit belegter Stimme.
»Der war freiwillig«, sagt sie.
 
Als ich zu Hause bin, rufe ich im Amt an und lasse mir die Fragebogen zuschicken. Man weiß nie, wozu es vielleicht noch einmal gut ist.

Es geht los!

Und dann ist er endlich da: der Tag der Einschulung. Mit bunter Schultüte, Schultornister und Mäppchen (natürlich getestet durch Stiftung Wartentest), geputzten Schuhen, gekämmten Haaren, gebügelten Kleidern, feuchten Händen und Augen. Ach, wir sind gerührt! Unser Kind, schon so groß! Nur gut, dass wir noch die Kleine haben.
Natürlich gab es zwischendurch noch Kennenlerntage in der Schule und den ersten Elternabend und auch einige private Elterninitiativen, die vor dem ersten Schultag verzweifelt versuchten, die Klassenlehrerin oder den Klassenlehrer ihrer Kinder herauszufinden, ja, vielleicht sogar ein bisschen Einfluss auf die Lehrerauswahl zu nehmen. Sie hatten sich erkundigt, sie hatten eine Meinung. Aber da bissen sie auf Granit. Da ist »unser« Schulleiter eisern. Das war bei der Einschulung unserer zweiten Tochter auch so. Solche Informationen gibt es an »unserer« Schule am ersten Schultag. Und so kommt es, dass - ich bin sehr verblüfft, dass offenbar andere noch viel aufgeregter sind, als ich es bin - Eltern mit Tränen in den Augen herumlaufen, nicht nur weil sie ergriffen sind von den Ereignissen der Stunden oder weil der Ernst des Lebens ruft, sondern weil sie fest überzeugt sind, die mieseste Klassenlehrerin an der Schule bekommen zu haben. Mies meint hier nicht unfreundlich und herzlos, sondern mies im Sinne von unfähig, nicht gymnasialtauglich. Schlicht schlecht. »Unser Kind lernt nicht genug!«, weint es um mich herum.
Auf Einschulungen der letzten Jahre kann man zunehmend auch Schultüten entdecken, auf denen Aufschriften wie »Abi 2022« programmatisch prangen. Ist es harmloser Witz, inniger Wunsch, ruhige Überzeugung oder verbissenes Ziel? Glück ist machbar, Pech allerdings auch. Es winkt der Erfolg des Kindes, es winkt sein Ruhm - und auf der anderen Seite lauert der Abgrund. Und er lauert so früh.
Denn in den meisten Bundesländern ist man in den letzten Jahren dazu übergegangen, nicht nur immer jüngere Kinder einzuschulen und demzufolge schon im ersten Halbjahr der 4. Klasse für Achtjährige eine Empfehlung für die weiterführende Schule zu verfassen, sondern man hat auch in vielen Schulen eine flexible Schuleingangsphase eingeführt, in anderen Bundesländern als JÜL, Flex oder jahrgangsübergreifender Unterricht bekannt. In Nordrhein-Westfalen werden zum Beispiel in den Klassen 1 und 2 und den Klassen 3 und 4 Kinder zusammen unterrichtet. In offenen Lernformen wie Freiarbeit, Wochenplanarbeit und Projektarbeit sollen Kinder verschiedener Altersstufen sich gegenseitig bereichern, zusammen und voneinander lernen. Böse Zungen behaupten, Kombiklassen seien nur eine Sparmaßnahme oder ein Mittel, kleine Grundschulen zu erhalten. Aber das ist bestimmt nur ein Gerücht übellauniger Lehrer. Offiziell heißt es, diese neue Schuleingangsphase ermögliche es Kindern, drei bis fünf Jahre lang die Grundschule zu besuchen, und könne sich damit den individuellen Leistungen eines Kindes viel besser anpassen. Schwächere Kinder können ein Schuljahr daranhängen, ohne dass sie in einen ganz neuen Klassenverbund wechseln müssen. Und stärkere Kinder können leicht eine Klasse überspringen. Jedes Kind kann ganz gemäß seiner Fähigkeiten und seines Lerntempos lernen. Von Anfang an ist die individuelle Leistung im Vordergrund, nicht die Klassengemeinschaft, so wie es auch die Eltern der Hamburger Initiative gern sehen.
Wer Flexibilität unter den kleinsten Schülern mag, wird dieses Schulmodell lieben. Das merken wir schnell im Schulalltag. Unsere Tochter hat nicht nur alle paar Wochen einen neuen Sitznachbarn (offenbar gilt das Rotationsprinzip) und jedes Jahr eine andere Klassenzusammensetzung (eine Klasse geht, eine kommt neu), sondern auch jedes Jahr eine neue Klassenlehrerin. Jahrgangsübergreifender Unterricht für 25 Kinder scheint irgendwie kraftraubend zu sein. Die Fluktuation im Lehrpersonal ist erstaunlich hoch, der Krankenstand erschreckend. Geplant ist ein Klassenlehrerwechsel etwa alle zwei Jahre, aber offenbar zehrt es ein wenig an den Nerven, bei steigenden Ansprüchen von Schulministerium und Eltern zwei putzmuntere Klassen auf einmal wie in Klasse 1/2 in einer Altersspanne von fünf bis acht Jahren in Freiarbeit zu unterrichten, wenn es darüber hinaus wenige Möglichkeiten gibt, die erheblichen Lern- und Leistungsunterschiede durch individuelle Förderung auszugleichen. Da sind junge und ältere Kinder, faule und fleißige, langsame und schnelle, leise und laute, schüchterne und freche, behütete und vernachlässigte, begüterte und arme, deutsch- und fremdsprachige. Nicht viele Schulen haben genügend Förderlehrer, Sonderpädagogen oder Schulpsychologen. Oder kennen Sie einen? Da machen selbst die jüngsten Lehrerinnen manchmal schlapp. Ein Fest für Kinder, die gern jedes Jahr eine nette Abwechslung an der Tafel haben.
Wer es aber gerne ruhiger und geborgen hat, wer sich gerne im vertrauten Rahmen bewegt und dazu neigt, eine Lehrerin zu verehren und nur für sie zu lernen, kleine Bildchen zu malen und ihr in Schönschrift stolz die ersten Buchstaben zu präsentieren, wer nicht versteht, warum die Lehrerin oft so angespannt und ungeduldig ist und wenig Zeit hat, ja, manches Mal sogar zu Wutanfällen neigt, wer seine Mitschüler mag und sein Herz an sie hängt und leidet, wenn die Lehrerin und die Hälfte der Klasse jedes Jahr wieder wechseln, der muss aufgebaut werden. Dringend.

Zensuren: gute und schlechte Kinder

Natürlich sind Schulen nicht doof. Sie haben ihre Methoden, mit denen sie gedenken, alle Kinder aufzubauen und zu motivieren. Und wie werden seit jeher Kinder in Schulen zur Arbeit angetrieben? Was ist das älteste Instrument, das kleine und große Menschen immer wieder zu Höchstleistungen motiviert? Was ist das, was Menschen bewegt, Dinge zu tun, an die sie vielleicht sonst nie im Traum gedacht hätten? Das Lob. Was gibt es Schöneres als ein kräftiges Lob? Und das Lob des Lehrers schlechthin ist die gute Note. Auf der anderen Seite aber lauert dummerweise die Bestrafung. Das vernichtende Urteil. Die Geringschätzung. Sprich: die schlechte Note. Und damit ist das Ganze ein einfaches, aber ungemein wirkungsvolles System, das einfach nicht totzukriegen ist und von uns Eltern, die wir immer noch das Trauma fürchten, mit Argwohn betrachtet wird. Der Lehrer erklärt den Kindern gewisse Ziffern zwischen 1 und 6 aus seiner Feder zu erstrebenswerten Gütern, die man nur erlangt, wenn man sich nach den Vorgaben vorbildlich verhält (das funktioniert wie bei Orden und Titeln bei Erwachsenen), und schon wollen alle diese »guten« Ziffern haben und die »bösen« unbedingt vermeiden.
Nun ist Notengebung in der 1. Klasse nicht in allen Bundesländern verfügbar. Deswegen haben manche Lehrer andere Wege gefunden, dem Kind schon früh zu zeigen, ob es Freude macht oder Anlass zu Sorge gibt. Es müssen ja keine Ziffern sein. Man kann ja auch Symbole mit Bedeutung belegen. Blümchen- und Pferdchen-Stempel wie zu meiner Schulzeit sind offenbar out. Sie sind nicht differenziert genug. Aber wofür haben wir denn diese süßen Punkt-Punkt-Komma-Strich-Gesichter, die sich so wunderbar variieren lassen? Ein Smiley ist so schön fröhlich, dass dem Kind das Herz lacht und es sofort versteht: Es hat etwas Schönes getan. Sein Pendant mit herabgezogenen Mundwinkeln und hängenden Augenstrichen ist dagegen so eindrücklich traurig, dass das Kind schweren Herzens ohne viele Worte begreift, wie viel Kummer es macht.
Um es gleich zu sagen - wie sicher und geborgen sich ein Kind in der Schule mit diesem System fühlt, steht und fällt mit dem Lehrer. Die Kinder bringen eine gewisse Prägung und ein bestimmtes Elternhaus mit, aber der Lehrer oder die Lehrerin ist es hauptsächlich, der oder die in einer Klasse darüber entscheidet, ob die Kleinen eifrig motiviert lernen oder ob sie angsterfüllt erstarren. Bestätigt und ermuntert eine Lehrerin ein Kind, sieht sie die Stärken und positiven Entwicklungen der kleinen Person, kann das Kind auch mit Kritik in der Regel gut umgehen. Ist die Lehrkraft aber überfordert, eher kühl und rigide, ja, vielleicht sogar verachtend oder demütigend, wird selbst ein Kind es schwer haben, mit Freude zu lernen, das von zu Hause die beste Unterstützung erfährt. Kinder sind noch recht kindlich, wie der Name schon sagt. Das heißt, sie lassen sich leicht von schlechten Urteilen entmutigen und ängstigen, wenn sie sich nicht sicher und geborgen fühlen. Es braucht da schon einen gewissen liebevollen Rahmen, wenn sie trotz weinender Gesichter auf ihren Schulheften eifrig weiterlernen sollen.

Mein neuer Job für die Schule: Coach, Motivationstrainer, Seelentrösterin

Diese Abhängigkeit von der Art des Pädagogen macht es besorgten Eltern heutzutage ausgesprochen schwer, ihr Kind in der Schule sich selbst zu überlassen. Denn was in der einen Klasse wunderbare Ergebnisse erzielt, kann in einer anderen zum Desaster führen. Holzauge, sei wachsam! Und je wachsamer ich bin, desto mehr erschließt sich mir ganz deutlich, warum die Experten verlangen, dass es gerade die ersten fünf Lebensjahre eines Kindes sind, in denen es wie ein zartes Pflänzchen gehegt und gepflegt werden soll, und nicht etwa seine ersten zehn Lebensjahre zum Beispiel. Denn einmal in der Schule, ist nicht mehr viel los mit hegen und pflegen. Die ersten fünf Jahre Betütteln, das ist alles, was es kriegen kann. Da der neue Staatsbürger flexibel, eigenständig, strebsam, intelligent und bienenfleißig sein soll, glaubt man offenbar, gar nicht früh genug damit anfangen zu können, die Kinder auf selbstständige, effektive Arbeit einzuschwören. Ein gutes Kind zu sein meint da nicht nächstenliebend, freundschaftlich, solidarisch, hilfsbereit und gütig, sondern konkurrenzfähig, zielstrebig, leistungsstark, ehrgeizig und schnell. Wer da nicht von Anfang an mithalten kann, kann in diesem auf individuelle Leistung aufgebauten System schnell den Anschluss verlieren.
Also mache ich das, was von mir als gute Mutter erwartet wird. Ich lasse nicht das System auflaufen und zeige ihm durch das Versagen meines Kindes, dass das Bildungssystem selbst versagt, sondern ich fange mein Kind auf und unterstütze damit die ganze Sache. Zur Schule lasse ich sie alleine gehen, aber zu Hause werde ich engagierte Assistenzlehrerin, miesepetrige Hausaufgabenbetreuerin und hektischer morgendlicher Tornister-Checker. Das Kind muss auf Vordermann gebracht werden. Es gilt unter allen Umständen zu vermeiden, dass die angestrengte Lehrerin sie auf den Kieker kriegt. Hat sie ihre Hausaufgaben ordentlich gemacht? Hat sie alles verstanden? Sind auch alle geforderten Sachen da? Haben wir sämtliche Eltern-Briefe erhalten, gelesen und beantwortet? Die Post der Schule an uns Eltern ist so umfangreich, dass sich ein eigener Briefkasten lohnen würde. (Aus einer amerikanischen Fernsehserie weiß ich, dass dies ein Indiz für eine hervorragende Schule sein soll. Also mucke ich nicht laut auf, aber ich fluche leise vor mich hin.) Mein Mann bereitet unsere Tochter dagegen sorgfältig auf manche Klassenarbeiten vor und besucht die Elternabende. Letzteres ist für meinen Mann leichter, weil er, warum auch immer, nicht so schnell Ehrenämter kriegt wie ich. Ich übernehme die Elternsprechtage und wir wechseln uns täglich ab mit gesund geschmierten Pausenbroten und geschnippelten Obstbeilagen.
Bei all dem ist klar - je besser wir als Eltern ausgebildet sind, umso schöner können wir Mathematik, Englisch und Grammatik coachen, können wir Aufsätze und Vorträge begleiten, können wir konstruktive Gespräche mit den Lehrern führen. Es ist unnötig zu sagen, dass schulbildungsferne Familien hier den Kürzeren ziehen. In kaum einer anderen Nation in Europa ist die Herkunft der Familie für den Bildungsabschluss so bedeutend wie in Deutschland. Die Unterschiede zwischen den Kindern werden generell immer größer und können durch die Schule kaum aufgefangen werden. Selbst in Bayern, dessen Schulsystem einige der besten PISA-Ergebnisse einbrachte, sind 99 Prozent der Grundschullehrerinnen bei einer Umfrage des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes 2008/2009 der Meinung, dass es bessere Unterrichtsbedingungen braucht, um der zunehmenden Heterogenität gerecht zu werden. Und 90 Prozent der Lehrer und Lehrerinnen stimmen zu, dass »Fördern und Fordern, Erziehen und Disziplinieren von einer Person« in der Klasse nur mehr schwer zu leisten ist. Je mehr wir Mütter und Väter aber einspringen, um dieses Manko auszugleichen, desto unverzichtbarer machen wir uns. Das System baut inzwischen auf unserem Engagement auf. Es fällt schmerzlich auf, wenn wir ausfallen. Das Lerntempo ist hoch. Irgendwelche Kinder mit engagierten Eltern sind immer mit der Nase vorweg und bestimmen das Leistungsniveau und den Notenspiegel in einer Klasse. Zensuren werden ja stets in Relation zu anderen gegeben.
Wir fühlen uns etwas wie in einem Trainingslager. Wir sind ein bisschen atemlos. Wir helfen unserem Kind, den Anforderungen gerecht zu werden, und genau das wird auch von uns erwartet. Die Buchhandlungen, Internetforen und Zeitschriften sind voll guter Ratschläge, wie wir Eltern unsere Schulkinder erfolgreich coachen können. Und neben sorgfältiger Hausaufgabenbetreuung, ehrenamtlichem Engagement und gesunder Frühstücksproduktion ist vor allem die Motivation des Schulkindes ein ganz wichtiger Faktor. Es ist wieder diese alte Frage, um die sich alles dreht: Wie kriege ich das Kind dazu, trotz aller Umstände gerne zur Schule zu gehen und gute Noten zu schreiben?
Unter Eltern grassieren verschiedene Methoden. Sehr beliebt ist: Loben, loben, loben! Und zwar ohne Zensuren.
 
»SUPER! DAS MACHST DU GANZ TOLL!«
 
Wenn das Kind den Braten riecht und das nicht mehr hilft: Belohnungen in Aussicht stellen. Manche Eltern versprechen begehrte Wertsachen, die andere Kinder vor Neid erblassen lassen, oder hohe Geldbeträge, wenn die Zeugniszensuren gut sind. Aber das ist recht risikoreich und empfiehlt sich nur für Eltern, die ihrer Sache ziemlich sicher sind, weil es bei schlechten Noten umso mehr Frustration und Geheul im Hause gibt. Dagegen eignen sich Belohnungen wie Zoobesuche, Eis essen oder Kinonachmittage. Das positive Signal kommt rüber und das Wegbleiben desselben wird von Kindern erstaunlich gut verkraftet.
Eine beliebte und pädagogisch anerkannte Methode bei generellem Schulfrust ist auch: »Zeigen Sie Ihrem Kind die Vorteile der Schule auf.« Oder anders: Wie rede ich die Schule schön?
 
»Schau mal«, sag ich, »die Lehrerin hat so viele Kinder in der Klasse. Das hat sie mit dem Schimpfwort gar nicht so gemeint. Das geht nicht gegen euch. Sie ist einfach ein bisschen nervös.«
»Das ist doch auch eine Chance, wenn Lehrer und Kinder kommen und gehen«, sage ich. »Da kannst du neue Unterrichtsmethoden und neue Freunde kennenlernen.«
»In jedem Ende steckt auch ein neuer Anfang«, sage ich.
»Das nächste Mal wird es bestimmt besser. Pass mal auf!«, sage ich.
 
Und ich sage noch viel mehr solche merkwürdigen Sachen, mit denen ich versuche, meiner Tochter Denkstrategien aufzuzeigen, wie sie in diesem Leistungssystem gut überleben kann. Ich werde Motivationstrainerin und Seelentrösterin, versuche Freude aufzubauen und Frust abzubauen. Und dann beiße ich mir ab und an traurig auf die Lippen, weil mein Kind so früh lernen muss, sich nur auf sich selbst und Mama und Papa zu verlassen. Weil in unserer Gesellschaft Geborgenheit in der Schulklasse nur noch so wenig zählt.
 
Es gibt aber noch eine andere Methode, Kinder zur Leistung zu motivieren: Wir erzeugen Visionen. Die eine Art ist, ein seriöses, erfolgreiches Berufsbild in Aussicht zu stellen. Das ist eine Vision, die Kinder zwar beflügeln kann, jedoch nicht unbedingt antreibt, besser in Mathematik oder Sachkunde zu werden. Das Ganze bleibt ärgerlicherweise für die Kleinen noch etwas einseitig oder abstrakt. Viel effektiver ist es da, düstere Prognosen abzugeben. Kinder sind so schön leicht zu erschrecken.
 
»Fabian! Bist du jetzt bitte mal still!« Die Lehrerin steht neben dem Jungen am Tisch und ihre Augen werden schmal. »Wenn du nicht endlich Ruhe gibst, dann wirst du das hier nie lernen!«
Fabian schaut die Lehrerin grinsend an. Es ist sein zweiter Tag in der Schule. Es ist so aufregend, er kann nicht eine Sekunde still sitzen bleiben.
»Is‘ doch egal!«, sagt er. »Will ich ja auch gar nicht!« Er schüttelt sich albern wie ein Kaspar, hopst und springt vor seinem Stuhl. Die anderen Kinder lachen.
»Hey, jetzt reicht es!«, ruft die Lehrerin.
»Frau Lehrerin, Frau Lehrerin«, ruft da der kleine Paul und streckt eifrig seinen Finger in die Höhe. »Muss der Fabian jetzt in die schlechte Schule?«

Die Zukunftsängste unserer Kleinen

Auch früher gab es Leistungsdruck in der Schule. Auch früher gab es Angst vor Lehrern und Noten. Aber neu ist, dass schon Fünf- und Sechsjährige glauben, mit schlechter Leistung in die »schlechte Schule« zu kommen, von der wir natürlich alle wissen, welche das sein soll. Es verbreitet sich wie ein Lauffeuer unter den Kindern. Ich kann meiner Tochter noch so oft erzählen, dass es gar keine schlechte Schule gibt. Sie glaubt mir nicht. Die Hauptschule ist zur Drohung und zum Synonym für lebenslanges Unglück geworden. Fragen Sie die Kinder: »Hauptschule« heißt »arbeitslos, arm, unglücklich, schlechtes Kind«. »Gymnasium« heißt »erfolgreich, Geld, glücklich, gutes Kind«.
Diese Zukunftsängste geben dem ganzen Ambiente unter Grundschulkindern eine besondere Note. Die Angst sitzt ihnen im Nacken. Und wir brauchen keine moderne Hirnforschung, um zu wissen: Unter Angst lebt es sich erstens nicht gut und zweitens lernt es sich schlecht. Die Freude am Neuen, am Lernen und am Entdecken kann da auch schon Kindern verloren gehen, denn über ihren Köpfen hängt das Damoklesschwert: »Bin ich gut genug, um aufs Gymnasium zu dürfen?«
Wie viele Kinder lernen in der zweiten Klasse nur noch für die Noten? Der Inhalt scheint zweitrangig zu werden. Und noch nie gab es wahrscheinlich so viele Grundschüler und -schülerinnen, die sich ernsthaft um ihre berufliche Zukunft sorgen. Bauch- und Kopfschmerzen, Verdauungsstörungen, wache Nächte, Tränen und schwelende Versagensängste sind Alltag bei mehr Kindern unter zehn Jahren als je zuvor. Manche resignieren da ganz schnell. Der Satz »Ich kann es ja doch nicht« lässt bei aufmerksamen Eltern sämtliche Alarmglocken schrillen. Es droht der gefürchtete Teufelskreis »Versagensangst - schlechte Noten - mehr Ängste - noch schlechtere Noten«, aus dem ein Kind alleine schwer wieder herausfindet. Andere Grundschüler werden wegen ihrer Angst aggressiv, beschimpfen sich und andere wüst, werden unruhig und panisch. Die Dritten entwickeln einen Ehrgeiz und eine Arbeitswut, die sie auf Dauer völlig überfordern. Ärzte berichten vermehrt von Depressionen unter Kindern, sogar vom Burn-out-Syndrom, das bisher ausschließlich Erwachsenen vorbehalten war. Natürlich gibt es noch Kinder, die arglos zur Schule gehen, aber ihre Zahl sinkt. So wie sich Mütter und Lehrer zunehmend unter Stress fühlen, so empfinden auch immer mehr Kinder einen heftigen Leistungsdruck.

Konkurrenzdenken unter Grundschülern

Interessanterweise will es keiner gewesen sein, der den Kindern diesen überaus unschönen Leistungsdruck vermittelt. Eltern und Lehrer schieben sich gegenseitig den Schwarzen Peter zu. Die Eltern, sagen die Lehrer verärgert, sind schuld an dem stressigen Klima. Sie sind von Anfang an viel zu ängstlich und auf gute Noten aus und reden ständig vom Gymnasium. Die Lehrer, sagen viele Eltern empört, sind schuld an dem ewigen Druck, sie verlangen zu viel in zu kurzer Zeit und drohen mit der Hauptschule. Und alle, ob Eltern oder Lehrer, sind sich selbstverständlich einig, dass der empfundene Leistungsdruck völlig übertrieben ist und den Kindern nur schadet.
Aber wahr ist: Die Kinder haben einfach nur zu 100 Prozent unsere eigene leistungsbesessene, materielle Weltanschauung übernommen. Sie spiegeln unsere Ängste und Überzeugungen, nicht mehr und nicht weniger. Haben wir ernsthaft gedacht, unsere Kinder würden nicht merken, wie bei uns der Hase läuft? Und wer genau hinschaut, der sieht es deutlich: Es sind die Geister, die wir riefen, die den Kindern zu schaffen machen. Vergleiche und Wettbewerbe, das ist das, was wir Eltern mit den Kindern leben. Und Vergleiche und Wettbewerbe, das ist das, was Kindern jetzt Stress macht. »Ha!«, schreit Alexander. »Du bist immer noch auf Seite 15? Ich bin schon fast fertig mit dem Buch. Du bist aber langsam! Du kannst ja nichts!«
Und Martha sitzt da und weint.
 
Eine Ausnahme? Bösartig? Nein, eher nicht. Das ist normal und logisch. Früher lernten Kinder zusammen. Es gab etwa ein Arbeitsblatt, das alle ausfüllen mussten. Es machte keinen großen Unterschied, wer am schnellsten bei dieser Aufgabe war, denn am Schluss mussten alle aufeinander warten. Heute ist das anders. Heute haben Kinder ihre Wochenarbeitspläne oder Arbeitshefte, die sie individuell nach eigenem Tempo und Fähigkeiten erarbeiten können. Und wenn der eine Plan oder das eine Heft bearbeitet ist, können die Kinder zum nächsten greifen. Dies scheint eine ungeheure Wettbewerbslust unter den Kindern anzufachen. Wer ist schneller, besser, weiter? Wer hat schon diese und jene Hefte, kann schon jene oder diese Rechenart und schreibt fehlerlos?
 
»Ich bin viel besser als du!«, heißt es.
Oder:
»Du bist viel schlechter als ich!«
 
Der Gedanke scheint verwegen, aber haben die Kinder vielleicht aus ihren Baby- und Kinderförderkursen ein ausgeprägtes Konkurrenzdenken mitgebracht, das in dem neuen Schulsystem der individuellen Entwicklung zur vollen Blüte kommt? Und da ist es auch ganz logisch, dass Noten in der Grundschule von Jahr zu Jahr mehr das Lebensgefühl und Selbstverständnis von Kindern prägen. Noten sind wichtiger als je zuvor. Unter Grundschülern ist ein neues Spiel entstanden, das meines Wissen zu meiner Schulzeit noch völlig unbekannt war: »Welche Note gibst du mir?«
Da stehen die Kleinen auf dem Schulhof und bewerten sich gegenseitig in Mathematik, im Lesen, in Kunst, im Singen, im Aussehen, in der Figur, in der Kleidung, im Lachen, im Tanzen, im Laufen, im Sprechen und noch vielem anderen. Was gerade so kommt. Und während früher die Kinder angesagt waren, die schlechte Noten hatten und so herrlich unangepasst schienen, sind es heute vermehrt die mit schlechten Noten, die von anderen ausgestoßen werden, weil sie nicht mithalten können. Und ausgestoßen wird oft. In einem Klima, in dem die Gruppe eine untergeordnete Rolle spielt und die individuelle Leistung des einzelnen Kindes im Vordergrund steht, ist Gruppenzugehörigkeit etwas geworden, was man sich verdienen muss. Sie sind nicht mehr alle eine Klasse und stehen zusammen, egal wie sie sind. Denn das sind und tun sie ja auch nicht mehr. Nein, jeder ist sich selbst der Nächste und den Letzten beißen die Hunde.
So sehr Kinder auch heute noch aneinander hängen und Freundschaft suchen wie alle Kindergenerationen vor ihnen, so scheinen doch Konkurrenz und Wettbewerb unter ihnen besonders ausgeprägt zu sein. Es wird zwar nicht gern gesehen, wenn jemand auffallend schlecht ist. Es wird aber auch nicht gern gesehen, wenn jemand besser ist. Nicht abschreiben lassen, keine Stifte verleihen, kein Essen abgeben, dafür nörgeln, herabsetzen, meckern, petzen, schneiden. Und bilde ich es mir ein, oder sind Einladungen zur Geburtstagsparty ein Instrument geworden, durch das Kinder einander ihre Macht demonstrieren? Wie bedrängt müssen sich Kinder fühlen, wenn sie anfangen, einander so heftig zu bekämpfen?

Förderunterricht, Nachhilfe, Therapien & Co.

Wie entwickeln wir Eltern uns im Laufe der Grundschuljahre? Nun, Eltern sind nicht gleich Eltern. Von Hamburg nach München, von Düsseldorf nach Dresden sind nicht nur die Schulsysteme völlig verschieden, sondern von Schule zu Schule, ja, sogar von Klasse zu Klasse scheinen auch die Elternschaften extrem unterschiedlich zu sein. Generell ist auffällig, dass nicht mehr alle Eltern da sind. Es sind mehr denn je die Mütter, die sich um ihre Kinder kümmern, denn viele Paare haben sich inzwischen getrennt. In manchen Schulen unserer Stadt sehen sich Lehrer an Elternabenden ausschließlich alleinerziehenden Müttern gegenüber.
Speziell in unserer Klasse - und sprechen wir ruhig von »unserer« Klasse, bei dem Grad, zu dem wir Eltern heutzutage alle in den Schulalltag unserer Kinder einbezogen werden - sind wir Erwachsenen darüber hinaus in Temperament, Erwartungen, Interessen, Ängsten, Sorgen, Ausbildung, Beruf, Finanzen, Humor und genereller Weltansicht grundlegend verschieden. Aber das spielt bei uns eigentlich keine Rolle, denn soweit ich das von meiner bescheidenen Warte aus beurteilen kann, herrscht bei uns inzwischen ein geringes Interesse, miteinander zu kommunizieren, worüber auch immer. Es ist nicht so, dass wir uns anfeinden, aber es ist schon so, dass wir nach all den Jahren gemeinsamer Aufregung um die Kinder nicht gerne in einem Raum zusammen eingesperrt sind. Die meisten von uns haben sich schon im Kindergarten kennengelernt und nicht alle haben sich zu schätzen gewusst. Das macht Klassenfeste ein bisschen schwierig. Auf der anderen Seite müssen wir uns auch nicht um gemeinsame Förderprojekte in der Klasse kümmern. Das finde ich schön. Die gibt es nämlich nicht. Uns reicht das, was in der Schule geboten wird. Wir wünschen nicht, darüber hinaus gemeinsam tätig zu werden. Schreibförderung, Kochen, Basteln, Tanz, Musik, Sport, das sind die AGs, die an unserer Schule nachmittags zur weiteren Förderung vorhanden sind - wenn ich da überhaupt richtig informiert bin -, und das reicht uns auch. Mehr muss es in der Schule für uns nicht sein. Wir lieben eine gewisse private Sphäre. Wir lieben sie so sehr, dass der Schulleiter zunehmend Schwierigkeiten hat, Eltern aktiv in Projektwochen, Schulfeste, Sportereignisse und Aufführungen einzubeziehen. Und das liegt nicht daran, dass wir alle Chips kauend vor dem Fernseher hocken und unseren dicken Kindern beim Gameboy-Spiel zusehen. Es liegt daran, dass es etwas viel geworden ist mit all den Projekten, Schulfesten, Sportereignissen und Aufführungen.
Wenn ich daran denke, wie oft meine Eltern in meiner Grundschule waren und wie oft wir hier in unserer Schule zu finden sind, befällt mich eine tiefe Sehnsucht nach alten Zeiten und unengagierter Freizeit.
Andere Klassenelternschaften haben da aber offenbar ein ganz anderes Flair. Eltern berichten von netten Müttern und Vätern, die nicht nur unzählige ehrgeizige Projekte in ihrer Freizeit für die Förderung der Kinder stemmen, sondern auch per E-Mail begeistert seitenlange Pädagogikkonzepte versenden. Manche erzählen von fantasievollen Arbeitsgemeinschaften, die Eltern organisieren. Japanisch, Spanisch, Trommeln für Grundschüler. Im Fernsehen sehe ich ab und an Mütter in irgendwelchen Reportagen, die wild entschlossen ihre Fünfjährigen zu teuren Manager-Wochenend-Workshops schicken, damit sie einmal »etwas ganz Besonderes« werden, aber persönlich kenne ich solche Eltern nicht. Ich glaube, für die Eltern, die ich kenne, sind ihre Kinder schon von Natur aus etwas Besonderes, und ich vermute insgeheim, dass diese Sendungen wieder mal so ein Medien-Versuch sind, Skandale zu produzieren. Nach dem Motto: »Die armen Kinder!« Mütter-Beschimpfung ist ja immer ein dankbares Thema.
Aber ich muss gestehen: Die Mutter im Fernsehen sah echt aus. Es muss sie wohl geben. Und schließlich leben unzählige Institutionen von der Entschlossenheit der Eltern, ihren Kindern zum Erfolg zu verhelfen. Nachhilfeunterricht boomt heute schon bei den Kleinsten. Pech für die, die sich privat bezahlte Förderung nicht leisten können. Denn die Förderung mag privat sein, die Zeugnisse sind es ja nicht. Eltern geben jährlich die unglaubliche Summe von 1,5 Milliarden Euro für diesen privaten Zusatzunterricht aus, und das beginnt schön früh in der Grundschule. Es geht dabei nicht mehr nur wie früher darum, mit Nachhilfe den Kindern eine Versetzung in die nächste Klasse zu ermöglichen, sondern es geht darum, den Übertritt in das Gymnasium zu schaffen und aus befriedigenden Noten gute oder sehr gute Noten zu machen. Rund 4000 Nachhilfeinstitute sind in Deutschland bislang gegründet worden, die inzwischen so viel Geld erwirtschaften, dass sie uns in eindringlichen Fernsehwerbespots ins Gewissen reden können, stets für gute Noten zu sorgen. Jeder achte Schüler, so eine Studie der Bertelsmann-Stiftung 2010, lernt nach der Schule in privat bezahlten Nachhilfestunden.
Auch mit anderen Methoden wird zunehmend versucht, Kinder an das System besser anzupassen und ihnen den Alltag zu erleichtern. Jedes vierte Kind hat vor seinem achten Geburtstag mindestens eine Fördertherapie hinter sich, ob Logopädie, Ergotherapie oder Lerntherapie. 2007 - so DIE ZEIT online - bekamen mehr als 20 Prozent aller sechsjährigen Jungen, die bei der AOK versichert waren, eine Sprach-und 13 Prozent eine Ergotherapie. Und bei 10 bis 11 Prozent eines Jahrganges wird ADHS festgestellt, das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, dessen Diagnose häufig zur Einnahme von Tabletten führt, die die Konzentration der Kinder fördern sollen, oft aber auch dessen Wesen grundlegend verändern. Die Kinder werden der Umwelt angepasst, nicht die Umwelt den Kindern.
 
Was ist also mit uns Eltern angesichts unserer gestressten Kinder? Sehen wir von Jahr zu Jahr deutlicher die hässlichen Auswirkungen des Leistungsprinzips? Sehen wir, dass unsere Kinder Angst haben, nicht gut genug zu sein? Sagen wir ihnen, dass sie in Ordnung sind, so wie sie sind, und dass es normal ist, nicht alles zu können? Sind wir gelassen und beruhigen wir sie? Ja, die meisten von uns sehen, dass sie überfordert sind. Und versuchen, die Kinder durch Nachhilfeunterricht, Therapien und Medikamente zu stärken. Und nein, etliche geben ihre Ansprüche nicht auf. Und gelassen bleiben viele von uns schon gar nicht. Wie sollten wir denn auch? Wir sind doch die, die bis über beide Ohren im Perfektionswahn, Leistungsdruck, Konkurrenzdenken, Schuldgefühlen, Versagens- und Zukunftsängsten stecken. Die Kinder übernehmen sie nur. Uns muss in erster Linie geholfen werden, nicht ihnen.
Wir wünschen uns alle, dass unsere Kinder selbstbewusst und angstfrei leben und lernen. Aber wir sind keine guten Vorbilder, wenn wir selbst ständig ängstlich sind, den Ansprüchen nicht zu genügen. Und das ist eigentlich alles, was ich jetzt noch wissen muss, um mein Leben zu ändern.

Na, und jetzt? Das gute Gefühl!

Es könnte jetzt immer so weitergehen. Nach der Grundschule kommt die weiterführende Schule, dann vielleicht die Lehre, die Berufsschule oder das Abitur und die Universität, Praktika, Volontariate, die ersten Anstellungen. Es kommen Lebenspartner, Familien, vielleicht Enkel. Ich könnte mich mein Leben lang austoben und das Leben für meine Töchter organisieren. Ich könnte sie zwar vermutlich irgendwann nicht mehr persönlich zu Ärzten, Therapeuten und Experten schleppen, aber ich könnte sie stets penibel im Auge behalten und emsig mit langen Monologen und Blitzbesuchen einschreiten, wenn es mir sinnvoll erscheint. Ich könnte pausenlos studieren, was in der Gesellschaft als Erfolg versprechend gilt, und meine Kinder dahin treiben. Ich könnte sie pushen und pampern, stetig überwachen und kontrollieren, bis es ihnen zu den Ohren herauskommt, damit sie schön glücklich und erfolgreich werden, wie alle es sagen. »Helicopterparents« nennen Experten dieses Phänomen unter Eltern, das den Gerüchten nach immer mehr um sich greift und zum Teil sogar Großeltern befällt. Eltern schwirren um ihre Kinder wie kleine Hubschrauber, wie Motten das Licht, weil sie überzeugt sind, dass ihren Kindern sonst Gefahr droht und sie das Leben nicht meistern können.
 
Nein, vielen Dank. Ich verabschiede mich von diesem Leistungswahn in unserer Gesellschaft, der jetzt auch nach Müttern und Kindern greift. Ich schaue mir die Kinder an, sehe ihre Ängste, ihr Verhalten, ihre Überforderung und ich weiß, dass ich diesen Weg nicht weiter gehen werde. Ich bin da jetzt vernünftig und verbiete mir diese kindischen Vorstellungen von perfekter Lebensplanung und ewigem Glück. Nobody is perfect - das weiß doch eigentlich jedes Kind. Was einmal spielerisch mit Babykursen und Turnübungen begann, hat sich inzwischen zum hässlichen Leistungsstress entwickelt. Ich bin nicht bereit, dem Optimierungswahnsinn weiterhin Folge zu leisten, egal, wie laut uns »Sicherheit«, »Erfolg« und »Glück« von allen Seiten entgegenschreit.
Nach einigen Jahren in Mutterschuldgefühlen stelle ich erstaunt fest, dass all das Gerede von Perfektion, Förderung und Erfolg auf der einen Seite und von Risiko, Gefahr und Abgrund auf der anderen meinen Kindern und mir eher schadet, als dass es Gutes tut. Meines Wissens sind die Kinder nicht klüger und besser als die Kinder der Generation vor ihnen. Im Gegenteil, sie sind offenbar ängstlicher und gestresster als früher, weil wir Mütter ängstlicher und gestresster sind. Wir glauben, den Ansprüchen nicht zu genügen, und die Kinder spiegeln unser Verhalten. Wer weiß, wie lange sie das durchhalten? Immerhin hatten wir Mütter den Luxus einer Kindheit, in der wir nicht mit fünf Jahren vor der »schlechten Schule« bibbern mussten, sondern uns auf eine wunderbar aufregende Zukunft als Erwachsener freuen durften. »Wenn ich einmal groß bin …« war bei uns ein verheißungsvolles geflügeltes Wort.
 
Das Ironische an der Situation ist, dass der Arbeitsmarkt der Zukunft für den Einzelnen wahrscheinlich nicht nur entspannter als heute sein wird, weil unsere Kinder in geburtenschwachen Jahrgängen geboren sind. Oder dass es heute zahlreiche Möglichkeiten gibt, das heiß begehrte Abitur auch auf Umwegen zu erreichen oder aber ohne Abitur zu studieren. Oder dass es in Zukunft in unserer Gesellschaft weniger denn je zuvor auf gute Noten und Schulwissen ankommen wird, sondern vielmehr auf begeisterungsfähige, kreative Köpfe, die sich engagiert und kraftvoll in unsere Gemeinschaft einbringen wollen. Es könnte schwierig werden, diese Menschen zu finden, wenn sich jetzt schon viele in der Kindheit restlos überfordert und bedrängt fühlen.
Und was ist mit uns Müttern? Sind wir besser als alle Mütter vor uns, weil wir uns ängstlich bemühen, die perfekte Mutter zu sein? Ich kann nur für mich sprechen. Und da sage ich aus vollem Herzen: sicher nicht. Das Ideal der perfekten Mutter hat mir nicht dazu verholfen, ein besseres Ich meiner selbst zu entwickeln. Im Gegenteil: Es kommt so rigide, borniert und leistungsorientiert daher, dass es mich im Alltag erdrückt und im Umgang mit meinen Kindern verkrampfen lässt. Dieses Ideal kann mir nie und nimmer das Gefühl geben, eine gute Mutter zu sein. Das ist mir inzwischen klar geworden. Und nicht nur, weil ich keine Halbgöttin bin, sondern weil ich eigentlich auch gar nicht so sein möchte wie diese Frau, die von allen Seiten beschworen wird. Ehrlich gesagt kann ich mir nichts Künstlicheres vorstellen als eine fehlerlose, ewig lächelnde Mutter, die stets weiß, was gut für andere ist. Da könnten meine Töchter ja gleich von einem Automaten aufgezogen werden. Ich glaube auch nicht, dass meine Töchter das ersprießlich fänden. Ich glaube, sie würden mich hassen. Wer hält so was denn aus?
 
Und so verabschiede ich mich schließlich leichten Herzens von dem Ideal der perfekten Mutter und dem Anspruch, meinen Kindern Tag für Tag nur das Beste geben zu müssen. Schluss mit perfekt! Ich bleibe mir lieber selbst treu, denn darin bin ich am besten, und laufe nicht mehr Luftschlössern von Makellosigkeit, ewigem Glück und absoluter Sicherheit hinterher. Ich probiere, experimentiere, lerne und staune, irre mich häufig und oft mache ich es gut. Und den Kindern geht es bestens dabei. Eine entspannte Mutter ist offenbar beflügelnd. Und mich kann so leicht nichts mehr erschüttern.
 
Experten und Ratgeber? Mit gehöriger Skepsis und Abstand. Ärzte und Hebammen? Wir suchen die guten und wissen jetzt, was gut für uns ist.
Höchstleistungen? Karriere? Ja, gern - wenn der Preis nicht zu hoch ist. Das Leben hat mehr zu bieten.
Fehler? Wir lernen daraus.
Schuldgefühle? Mit gesundem Menschenverstand.
Perfektion in der Kindererziehung? Überflüssig wie ein Kropf.
Zukunft? Golden! Es kann mir keiner das Gegenteil beweisen.
Unser Motto: »Wer weiß, wozu’s gut ist!«
 
Stück für Stück und Tag für Tag erobere ich mir das gute Gefühl, eine gute Mutter zu sein, mit allen Fehlern, Schwächen und Macken, die ich so habe. Tschüss, ihr Mutterschuldgefühle! Ich lerne mich wieder zu schätzen.
Und was soll ich sagen? Ich stelle verblüfft fest, dass das das Beste ist, was ich meinen Kindern bieten kann. Ich bin nicht nur weit besser gelaunt, sondern sie lernen, dass wir uns immer willkommen sind. Dass wir Frauen, Kinder und Männer uns ernst nehmen und uns trotz oder vielleicht gerade wegen unserer Unvollkommenheiten lieben. Es ist dieses gute Gefühl, respektiert und angenommen zu sein, wie man auch sei. Genau das ist es, was Menschen stärkt, für welche Gegenwart oder Zukunft auch immer. Und von wem sollten Kinder das lernen, wenn nicht von uns?