Kapitel 7
Ab in die Schule
Als ich klein war, wollte ich Geheimagentin
werden. Ich hatte als Achtjährige Spionage-Krimis aus der
Reader’s-Digest-Reihe verschlungen, die mit goldfarbenen Bordüren
verziert waren, las von diesen wunderschönen klugen Frauen und
Männern, die geheimnisvoll von einem Land zum anderen reisten und
ihr Leben für das Gute aufs Spiel setzten. Ich stellte mir vor, wie
ich - ebenfalls wunderschön und klug - tollkühn und schnell die
Welt retten würde. Ich sprang über Mauern, von Brücken und Türmen
und eilte geschwind mit den Geheimdokumenten davon. Ich war ganz
gefangen in meiner Fantasie.
»Mutti«, fragte ich meine Mutter, »glaubst du, ich
wäre eine gute Agentin?«
Und meine Mutter sah mich an und fragte:
»Kannst du denn ein Geheimnis für dich
behalten?«
Ich kleines Plappermäulchen sagte treuherzig und
etwas beleidigt.
»Natürlich! Was denkst du denn!«
Und meine Mutter lächelte amüsiert. Und das war
dann die ganze Berufsberatung.
Daran muss ich denken, als ich jetzt vor der
Klassenlehrerin meiner Tochter sitze.
»Ja, Frau Hartmann«, sagt die Pädagogin und lächelt
mir freundlich zu. Sie ist eine engagierte, beliebte Lehrerin.
»Ihre Tochter macht sich ganz gut.« Dann runzelt sie sorgenvoll die
Stirn. »Sie ist allerdings doch noch sehr kindlich.«
»Kindlich?«, frage ich. »Was meinen Sie
damit?«
»Na, sie macht sich ja noch so gar keine
ernsthaften Gedanken um ihre berufliche Zukunft.« Die Lehrerin
spitzt missbilligend die Lippen und schaut mich dann ernst an. »Sie
weiß ja noch gar nicht, was sie einmal werden will und welche Noten
dafür wichtig sind.«
Ich hole tief Luft und dann lache ich einmal laut
und böse.
»Ja, Gott sei Dank«, sage ich und lehne mich vor,
»sie ist ja auch erst acht!«
Was sich hier wie eine kleine, nett erdachte
Anekdote anhört, damit ich meinen Text hier ein bisschen aufpeppen
kann, ist nicht erfunden. Wir sind in einer ganz normalen
Grundschule, 3. Klasse, Elternsprechtag. Und wie man sieht, ist
diese Klassenlehrerin hier nicht geneigt, auf die Selbstbildung
meines Kindes zu vertrauen und geduldig abzuwarten, bis meine
Tochter einen seriösen Berufswunsch entwickelt. Eventuell hat sie
sogar erfahren, dass meine Kleine natürlich einen Berufswunsch hat,
so wie ihre Mutter eben als Achtjährige, aber dieses Berufsziel
erschien ihr wahrscheinlich nicht ernsthaft genug. Wer weiß,
eventuell verschenkt diese Lehrerin damit ungeheures Potenzial?
Vielleicht wäre auch ich eine gute Agentin geworden, wenn ich
einmal dieses kleine Problem der Geheimnisträgerschaft bewältigt
hätte.
Nun ist natürlich nicht eine Lehrkraft wie die
andere. Ich kenne einige Pädagogen, die bei meiner Anekdote hörbar
entsetzt nach Luft schnappen, weil eine Grundschullehrerin
kindliche Fantasie zugunsten rationaler Zukunftsplanung schon so
früh zurückgedrängt sehen möchte. Aber trotz aller Unterschiede
sind alle Lehrer in öffentlichen Schulen im selben deutschen
Bildungssystem. Und dieses System fordert seit den ersten
PISA-Ergebnissen enormen Leistungszuwachs in der Schule. Daher
beschäftigt alle Lehrer in unserer modernen Zeit vornehmlich eine
Frage, die ganz offensichtlich
auch die Klassenlehrerin meiner Tochter umtreibt: Wie motiviere
ich Kinder, die geforderten Höchstleistungen zu bringen, wenn ich
nicht wie früher den Rohrstock benutzen will/kann/darf oder Kinder
stundenlang in die Ecke stelle?
Kontrolle und Leistungsdruck auf allen Seiten
Seit Anfang dieses Jahrtausends stehen nicht nur
Kinder, Mütter und Erzieherinnen unter Druck, bessere Leistungen
erbringen zu müssen, sondern auch Lehrer werden zunehmend
beobachtet und kontrolliert. Es gab zahlreiche Schulreformen, die
das ganze positive Lernklima ein bisschen auf Trab bringen sollten,
und die Lehrer wurden und werden verstärkt regelmäßig in
Visitationen der Schulbehörde oder des Ministeriums
begutachtet.
Das ist im Grunde eine feine Sache. Ich kann mich
erinnern, dass meine gesamte Schulklasse auf dem Gymnasium in
Klasse 5 und 6 bei einem Herrn, seines Zeichens Geschichtslehrer,
im Unterricht Dinosaurier malen musste, während der Mann vergnügt
und schweigend vorne am Pult seine Lieblingsbücher las. Nach zwei
Jahren flog die Sache auf, der Lehrer durfte eine andere Klasse
beglücken und wir mussten in der Klasse 7 bei einem anderen Lehrer
die Geschichte von den Dinosauriern bis zur Französischen
Revolution im ersten Halbjahr lernen. Im Nachhinein frage ich mich,
wie so etwas überhaupt möglich war. Aber wir Schüler sahen es
positiv: So manch einer, der miserabel in Geschichte war, war
exzellent im Dinosaurier-Malen, und das ist ja auch was Schönes,
unverhofft auf unvermutete Talente zu stoßen.
So etwas ist heute unvorstellbar. Es könnte gar
nicht mehr vorkommen. Es sind nicht nur die Eltern, die die Lehrer
ihrer Kinder wachsam im Auge behalten, und nicht nur die
regelmäßigen Visitationen im Unterricht, die die Lehre
kontrollieren, sondern es sind auch standardisierte
Vergleichsarbeiten in den Hauptfächern, die in allen Bundesländern
jedes Jahr zu einem bestimmten Termin geschrieben werden. Deren
Ergebnisse in ausgewählten Jahrgangsstufen sollen
den Leistungsstand der Schüler und die Qualität der Lehre
ermitteln. Mein erster Geschichtslehrer würde heute mit seiner
begnadeten Unterrichtstechnik irgendwann gnadenlos auffallen.
Natürlich möchte jeder Lehrer, dass seine Klasse
bei diesen Vergleichsarbeiten gut abschneidet, weil die Zensuren
der Kinder die Fähigkeiten eines Lehrers widerspiegeln. Es gibt
zwar einen gewissen Argwohn bei Schulamt und Kollegen, wenn alle
Arbeiten einer Klasse überragend gut ausfallen, weil jeder Lehrer
die Vergleichsarbeiten seiner Klasse benotet - in Bayern wurde 2008
eine Lehrerin aus diesen Gründen strafversetzt -, aber im
Allgemeinen gilt: Je besser die Zensuren einer Klasse, als desto
besser gilt der Lehrer. Und je besser alle Klassen, desto besser
die Ergebnisse einer Schule, desto höher das Ansehen dieser Schule,
desto mehr Anmeldungen von neuen Schülern und desto gesicherter ist
die Zukunft der Schule und desto netter ist der Schulleiter und
desto entspannter ist das Schulklima. Und wenn ein Bundesland viele
Schulen hat, die gut bei den Lernstandserhebungen abschneiden, ist
die Bildungspolitik des Landes angesehen und desto zufriedener sind
die Politiker und desto weniger knifflige Schulreformen gibt es.
Mit anderen Worten: gute Noten, schönes Lehrerleben. Schlechte
Noten, schlechtes Lehrerleben.
Alle lernen für die Tests. Und man merkt gleich:
Der Druck, bei internationalen Vergleichsstudien besser abschneiden
zu müssen, kann Lehrer und Politiker heutzutage die Freude an ihrer
Arbeit gründlich verderben. Und dies erklärt, warum alle Lehrer und
Bildungspolitiker in Deutschland es lieber als je zuvor sehen, wenn
die lieben Kleinen gute Zensuren in der Schule haben. Ja, man
könnte sogar von einem gewissen Leistungsdruck auf die Kinder
sprechen, Höchstleistungen zu bringen nicht mal ausschließlich um
der Zukunft der Kinder willen, sondern auch um der Zukunft
einzelner Lehrer und Politiker willen.
Nun gibt es natürlich verschiedene Ansätze, ein
Kind dazu zu bekommen, die aus verschiedenen Gründen erwünschten
Leistungen zu erbringen. Der erste Ansatz ist der, den Experten
in den letzten Jahren verschärft seit den allerzartesten Anfängen
eines Kindes verfolgt haben: Sie instruieren die Mütter.
Wann ist der richtige Zeitpunkt zur Einschulung?
Ich als Mutter, jetzt kurz vor Schulanfang meiner
Tochter, habe bereits etliche Jahre Mütterbelehrungen hinter mir.
Belehrungen, die mir immer wieder freundlich und bestimmt
eintrichtern, wie ich zu sein habe, damit mein Kind wird, wie es zu
sein hat. Und nun, kurz bevor ich meinen Nachwuchs fix und fertig
der öffentlichen Hand mit Dokumentation der Kita für die
Schullaufbahn übergebe, ist eine meiner letzten Aufgaben, hier an
diesem wichtigen Wendepunkt dieses jungen Lebens zu entscheiden,
wann meine Tochter denn überhaupt eingeschult werden soll.
Der Zeitpunkt der Einschulung ist überaus wichtig
für die gesamte zukünftige Entwicklung meines Kindes. Ein Schulkind
muss die nötigen körperlichen, geistigen, sprachlichen, emotionalen
und sozialen Voraussetzungen mitbringen, um Spaß am Lernen zu
haben. Sonst hat es von Anfang an die Nase voll und die Noten sind
schlecht. Ein »Special Einschulung« 2006 der Stiftung Warentest
mahnt eindringlich.
»Alle Eltern müssen sich die Frage stellen: Ist
unser Kind schulfähig und schulbereit? (…) Die ersten Lern- und
Schulerfahrungen prägen die gesamte Schullaufbahn - oft negativ.
Folge: Viele Kinder lehnen Schule und schulisches Lernen frühzeitig
und dauerhaft ab.«
Mir als erfahrene Mutterschuldnerin wird bei
diesem Gedanken schon ganz flau. Ich sehe die
Besserwisser-Kommentare von Familie, Freunden und anderen Müttern
direkt vor mir, wenn mein Kind keine Lust hat, in die Schule zu
gehen:
»Ich habe dir doch gleich gesagt, du hast das Kind
zu früh/ zu spät eingeschult! Das war doch absehbar, dass das nicht
klappen kann!«
Vor einigen Jahren hätten Eltern eine derart
gelagerte Verantwortung auf das Bundesland abschieben können, aber
merkwürdigerweise war es damals kaum Thema. Ein Kind musste
mindestens sechs Jahre alt sein, bis es in die Schule gehen konnte,
auf Antrag auch älter. Das war dann die ganze Diskussion. Diese
Altersgrenzen gibt es heute nicht mehr. Kinder dürfen bei
entsprechender Eignung in vielen Bundesländern bis zu einem
bestimmten Stichtag im Jahr auch schon mit fünf Jahren eingeschult
werden, denn es gilt, das Kind mit seinen Fähigkeiten, sozialen
Kompetenzen und Begabungen dort abzuholen, wo es steht. Und diese
neue Regelung heißen einige Eltern, Politiker und Arbeitgeber sehr
willkommen. Kommt sie doch dem Profil des idealen Bewerbers mancher
Unternehmen entgegen, der optimalerweise mit 25 Jahren fünf
Sprachen spricht, sportlich-schlank ist, Berufs- und
Auslandserfahrung hat und einen Doktortitel vorweisen kann. Je
früher die Kleinen anfangen, desto besser sind die Chancen,
vielleicht sogar tatsächlich einmal einen solchen idealen
Arbeitnehmer darzustellen.
Allerdings sind Kinder für diesen kleinen
Wettbewerbsvorteil nicht so einfach zu verplanen, wie man es gerne
hätte. Die Experten sind sich generell nicht recht einig, ob eher
eine Einschulung mit fünf oder sechs Jahren oder eine späte mit
sechs oder sieben Jahren von Vorteil ist - es gibt immer wieder in
einigen Abständen interessante Studien zu diesem Thema, die sich
gerne gegenseitig widersprechen. Aber offenbar sind sich alle
einig, dass der falsche Zeitpunkt verheerende Folgen haben kann,
welcher auch immer das individuell sei.
So, und wie bekommen wir den falschen Zeitpunkt
heraus? Unsere Tochter ist im September geboren und daher ein
Kann-Kind - entweder wird sie mit fünf Jahren eingeschult oder mit
fast sieben. Ist das zu früh oder zu spät? Eine zu frühe
Einschulung kann ein Kind überfordern, so heißt es, und in der
gesamten Schullaufbahn zu schlechten Noten führen. Bei einer zu
späten Einschulung, munkelt man, langweilt sie sich im
Kindergarten, was zur Verkümmerung ihrer Kompetenzen und - wer
hätte es anders gedacht? - in der
gesamten Schullaufbahn zu schlechten Noten führt. Mein Gott, bin
ich froh, dass unsere zweite Tochter ein Muss-Kind ist! Die muss
dann ihre schlechten Noten erst einmal selbst verantworten.
Aber ich komme ins Grübeln. Ich bin doch auch mit
sieben Jahren eingeschult worden. Die Schule fiel mir leicht, ich
hatte Spaß und Freunde und die Hausaufgaben passierten in der
Grundschule im Handumdrehen. Was will das jetzt sagen? War ich noch
gerade ausreichend begriffsstutzig, um mich nicht zu langweilen und
zu verkümmern? Oder ist Schule heute völlig anders als früher und
ich kann froh sein über die Gnade der frühen Geburt? Oder stimmt
etwas nicht mit der Theorie einer schädlichen späten
Einschulung?
Wie dem auch sei, nach gründlichem Nachdenken sind
mein Mann und ich bereit, die Verkümmerung einiger Kompetenzen und
etwaige Langeweile unserer Tochter in Kauf zu nehmen. Wir möchten
unsere Tochter ein bisschen länger dem Kontroll- und Leistungswahn
entziehen, der uns in der Dokumentation der Kita irgendwie
verdächtig aufstieß. Das Kind soll mit sieben Jahren in die Schule
gehen und bis dahin einen (Kinder) Garten genießen dürfen, den es
sonst nicht hätte. Der Ernst des Lebens beginnt auf den Schulhöfen.
Unsere Kita ist bunt, grün und anregend gestaltet, aber die meisten
Schulen in unserer Stadt strotzen vor gräulicher Tristesse, in der
die einzigen optischen Highlights farbig dick bepinselte Betonwände
sind.
Aber unser Kind macht uns einen Strich durch die
Rechnung. Sie will unbedingt in die Lehranstalt, und so rede ich,
verantwortungsbewusste mütterliche Hobby-Pädagogin, die ich nun
einmal bin, mit anderen Müttern, wie sie das halten, lausche
fachkundigen Erzieherinnen (»Lieber jedes Kind spät einschulen! Ich
habe meinen Sohn zu früh eingeschult. Das war überhaupt nicht
gut!«), besuche stundenlange Informationsveranstaltungen der Stadt
zu diesem Thema und lese und recherchiere im Internet. Zu allem
Unglück ist unser Kind ein Mädchen. Jungen würden die meisten
Berater später einschulen. Mädchen aber seien früher entwickelt. Da
ist es schwieriger.
Es ist zum Haareraufen! Am Ende folgen wir
widerwillig der Empfehlung der Kinderärztin, die nach einer
schulärztlichen Untersuchung soziale Kompetenzen abgeholt sehen
will. Aber viel entscheidender: Wir beugen uns dem Herdentrieb,
denn alle aus der Kita-Gruppe, ob fünf oder sechs Jahre alt, werden
bald zur Schule gehen. Es geistert gerade eine Studie durch die
Presse, die die frühe Einschulung wärmstens empfiehlt und offenbar
alle beflügelt. Bliebe unsere schulbegeisterte Tochter in der Kita,
wäre sie das einzige Relikt ihres Jahrganges und würde uns
wahrscheinlich auf ewig hassen, weil sie ein Jahr lang mit den
Kleinen spielen musste. Ja, viel tragischer: Sie würde glauben, sie
sei dümmer als die anderen und dass sie deshalb nicht in die Schule
durfte. Die ganze schöne von Experten geforderte Arbeit an ihrem
Selbstbewusstsein in den ersten fünf Jahren wäre für die
Katz!
Zähneknirschend entscheiden wir uns also für die
vorzeitige Einschulung. Damit ist das Thema aber nicht vom Tisch.
Denn jetzt laufen die Erzieherinnen auf Hochtouren, die entsetzt
all ihre Schäfchen aus der Kita davonlaufen sehen. Mehrere reden
gleichzeitig auf mich ein, um Himmels willen meinem Kind das
Schicksal der frühen Einschulung zu ersparen: »Frühe Einschulung
ist immer ganz schlecht!«
Ich bin den Tränen nahe. Ich fühle mich elend. Ich
stecke in der Klemme. Ich bin schuldig, was immer ich auch
entscheide. Und keine sagt: »Mach mal! Es wird schon. Wer weiß,
wozu’s gut ist!« Alle präsentieren mir das
Untergangsszenario.
Es tröstet da wenig, dass ich mich jetzt im
Gruppenkonsens bewege und zumindest nicht als überbehütende Mutter
gebrandmarkt werde, die ihr Kind nicht loslassen will. Ich weiß
inzwischen: Die Reputation ist nur eine Frage der Zeit. Sobald die
nächste Studie im Umlauf ist, die die späte Einschulung propagiert,
ist mein Ruf eh wieder dahin. Dann gelten wir alle, die wir hier
kämpfen, als überehrgeizige Mütter, die ihre Kinder dem
Leistungswahn opfern.
Wir suchen die perfekte Schule
Herdentrieb hat für mich zunehmend einen schalen
Beigeschmack. Es ist ja auch nicht schöner, zusammen zur
Schlachtbank zu traben. Die anderen Mütter von Kann-Kindern und ich
haben jetzt diesen gequälten Ausdruck im Gesicht, wenn wir über
Schule reden. Diese Diskussionen, diese Zweifel, das
Damoklesschwert einer missratenen Schulkarriere, eines
unglücklichen Kinderlebens. Wir können das Wort »Einschulung« schon
kaum mehr hören, dabei hat die Sache an sich ja noch gar nicht
angefangen.
Denn jetzt geht sie ja erst richtig los, die
Schullaufbahn. Und damit wären wir bei dem zweiten Ansatz zu
versuchen, ein Kind zu den gewünschten Leistungen zu bringen: Wir
schicken es auf die perfekte Schule. Wir schicken es auf die
Schule, die seine Potenziale bestmöglich ausbaut und die Defizite
effizient ausbügelt. Wir suchen die Lehranstalt, die profundes
Wissen und höchstmögliche Bildung verspricht.
Es ist unnötig zu sagen, dass die Suche nach dieser
besten aller möglichen Schulen um einiges belastender ist als die
Suche nach dem perfekten Kindergarten. Denn es geht ja nicht nur
darum, als eine Art Kunde Schulen zu prüfen. Sondern jetzt geht es
ans Eingemachte, jetzt zeigen wir Flagge. Es gibt bald Noten für
die Leistungen unserer Kinder und wenn man so will, ernten wir
Mütter jetzt die Früchte unseres jahrelangen Einsatzes. Wird unser
Kind im Schulsystem bestehen? Ist es selbstständig genug? Kann es
Frustration tolerieren? Wird es auch schön lernen wollen? Es wird
sich bald zeigen. Die berüchtigten ersten fünf Jahre sind vorbei,
in der wir die optimalen Grundlagen legen sollten. Das Einzige, was
wir jetzt vor der Einschulung noch tun können, ist, die Schule zu
finden, die auch ohne unser individuelles Coach-Programm einen
bestmöglichen Start garantiert.
Früher musste ein Kind die Schule besuchen, die
seinem Wohnort am nächsten war. Diese Regelung gilt heute nicht
mehr. Heute geht das Kind in den meisten Fällen in die Schule, die
den Eltern am besten gefällt. Diese Schule aber
zu finden, ist recht knifflig, weil Schulen heutzutage einem
steten Wandel unterworfen sind.
Schulreformen und Grundschulprogramme
Wenn ich ein Buch über Schulreformen schreiben
wollte, wären die vielen innovativen Schulprogramme der letzten
Jahre Stoff genug für mehrere Bände. Und dies nicht nur, weil sich
die Schulpolitik von einem Bundesland zum anderen Bundesland
gehörig unterscheidet. Nein, das Thema »Wie mache ich die beste
Bildung mit möglichst wenig Geld?« ist ein sehr komplexes Gebilde,
auf das unzählige Pädagogen und Experten angesetzt sind und welches
wahrscheinlich in seiner Schwerfälligkeit und Unüberschaubarkeit
Grund ist für viele nette kleine Depressionen im Land. Wer einmal
in einer Großstadt auf einer Informationsveranstaltung zum Thema
»Frühzeitige Einschulung« war, weiß, wovon ich spreche. Viele
Gremien und Ausschüsse zerbrechen sich jahrelang den Kopf,
präsentieren stundenlang das, worauf sie sich letztendlich nach
unzähligen zähen Diskussionen und Sitzungen einigen konnten, und
der Laie denkt, das hätte er auch in 15 Minuten erzählen können.
Bildungspolitik ist eine sehr undankbare Aufgabe.
Es gibt äußere Schulreformen, die auf die Änderung
von Schulformen hinzielen (wie etwa die Einführung von
Ganztagsschulen), die Änderung des Einschulungsalters, das
Einführen von Vergleichsarbeiten, die Regelungen der Versetzung
oder die Ordnung der Leistungsbewertungen. Und es gibt innere
Schulreformen, die auf der Ebene einzelner Schulen erfolgen, wie
der verstärkte Einsatz von Projektarbeiten, die Verminderung des
Frontalunterrichts, klassen-übergreifende Lehre oder bilinguale
Ausrichtung. In den meisten Bundesländern hat jede Schule die
Pflicht, ihr eigenes Schulprogramm zu entwickeln, ihr Profil zu
definieren und zu beschreiben. Diese Schulprogramme sollen von
verantwortungsvollen Eltern gelesen und schließlich bewertet
werden.
Grundschulprogramme werden aber nicht von allen
Eltern studiert. Da machen wir uns besser gar nichts vor. Einige
Familien wissen mit theoretischen Ansätzen wenig anzufangen. Andere
informieren sich zwar eingehend über Klassengrößen,
-zusammensetzungen und Betreuungszeiten, sind aber generell vor
allem an dem Ruf der Schule interessiert. Sie wollen erkunden, ob
die Lehrerschaft fähig ist. Aber es gibt auch Eltern, für die diese
Schulprogramme spannende Lektüre sind und die sich intensiv und
gewissenhaft in pädagogische Konzepte und Kultusminister-Beschlüsse
einarbeiten, um von Anfang an kompetent mit Lehrern und
Schulleitern auf Augenhöhe zu diskutieren und Einfluss nehmen zu
können.
Das Phänomen dieser Art aufgeklärter, engagierter
Eltern hat gerade unter Akademikern seit den Ergebnissen der ersten
PISA-Studien beachtlich zugenommen, und von Studie zu Studie, von
Schulreform zu Schulreform werden nicht nur einzelne Eltern immer
fordernder im Schulalltag, sondern es entstehen auch immer mehr
Elterninitiativen, Vereine und Verbände, die nicht bereit sind, den
Lehrern ihrer Kinder und den Beschlüssen ihres Bundeslandes blind
zu vertrauen. Prominentes Beispiel dieses Engagements sind die
Eltern im Hamburger Schulstreit. Rund 184 000 Unterschriften
sammelte die Initiative »Wir wollen lernen!« gegen die Reformpläne
der schwarz-grünen Regierung, wobei »wir« natürlich nicht die
Eltern sind, sondern die Kinder. Bundesweit erstmalig ergriffen
deutsche Bürger damit im Sommer 2010 die Chance, in einem
Volksentscheid über ihr Schulsystem selbst zu entscheiden. Die
Reformpläne wurden gekippt.
Bemerkenswert an diesem Fall ist nicht nur, wie
weit Eltern inzwischen auf die Barrikaden gehen. Interessant ist
auch die Ausrichtung der Initiative. Denn die Einführung einer
Primarschule, die das Modell der bisherigen Grundschule ablöst und
bis zum sechsten Schuljahr alle Kinder länger gemeinsam lernen
lässt, erschien vielen Hamburger Eltern nicht leistungsstark genug
für Kinder, die besser und leichter lernen. Sie hatten Sorge,
leistungsstarke Kinder würden nicht genügend gefördert.
Unabhängig von der Diskussion, ob diese Sorge
berechtigt ist oder nicht - das Volksbegehren der Eltern zeigt
einen ganz wesentlichen Wandel in unserer Nation: Die
Leistungsgesellschaft hat erstens nicht nur die Erwachsenen,
sondern jetzt auch mit voller Wucht die Grundschulkinder erreicht.
Und zweitens scheuen sich immer mehr Eltern nicht, öffentlich zu
zeigen, dass ihnen die Leistung und das Wohl des eigenen Kindes
sehr viel mehr bedeutet als der Solidaritätsgedanke in einer
Schulklasse. Viele Eltern denken heutzutage nicht an Gemeinschaft
und Gruppenidentität, die ihr Kind in der Grundschulklasse erleben
und erlernen soll. Es ist nicht ihr vorrangiges Ziel - wie es
jahrelang von engagierten Pädagogen verfolgt wurde - jedes Kind
mitzunehmen und keines zurückzulassen. Sondern immer mehr Eltern
möchten, dass sich ihre Kinder von den Schwachen der Gruppe lösen
können, um nicht von ihnen aufgehalten oder gar geschwächt zu
werden.
Nie zuvor hatten Eltern in Deutschland damit so
stark das Gefühl, dass ihre Kinder in den Schulen nicht genug
lernen. Und nie zuvor standen die individuelle Leistung und der
Erfolg von Grundschulkindern so stark im Vordergrund wie
heute.
Wunschziel Gymnasium
Da ist es logisch, dass die meisten Mütter und
Väter ihr Kind nach der Grundschule am liebsten das Gymnasium
besuchen sehen, am zweitliebsten die Gesamtschule oder die
Realschule, aber gar nicht die Hauptschule. Da möchte kaum ein
Elternteil heute mehr freiwillig sein Kind hinschicken. Denn in
unserer Gesellschaft, in der es nicht mehr Arbeit für alle gibt und
die bestehenden Arbeitsplätze unsicherer denn je sind, ist ein
guter Bildungsabschluss die beste Vorsorge, überhaupt Arbeit zu
finden. Nach Daten des Bundesinstituts für Berufsbildung (BiBB)
2010 sind 18,5 Prozent der Ausbildungsabsolventen mit
Hauptschulabschluss erwerbslos, 12,3 Prozent mit Mittlerer Reife,
aber nur 7,5 Prozent mit Abitur.
Ein guter Bildungsabschluss bietet in Deutschland anders als in
vielen anderen europäischen Staaten die größte Sicherheit gegen
Arbeitslosigkeit. Auch wenn nicht alle die Statistiken kennen, so
weiß doch jeder, wie schwer es für Hauptschüler in unserem Land
geworden ist, Ausbildung und Arbeit zu finden.
Darüber hinaus berichten Medien nicht oft über
Hauptschulen, an denen gute Arbeit geleistet wird, sondern häufig
über Schulen, in denen skandalträchtige Gewalt, Aggressivität,
Respektlosigkeit und Ignoranz eskalieren, weil immer mehr Kinder
von Armut bedroht sind, nicht behütet werden und keine
Zukunftsperspektiven sehen. 16 Prozent der ausländischen und 6,5
Prozent der deutschen Jugendlichen - so ein Bericht der
Integrationsbeauftragten der Bundesregierung 2009 - verlassen die
Schule sogar ohne Abschluss. Und seit 2006 die Rütli-Schule in
Berlin-Neukölln in die Schlagzeilen kam, weil verzweifelte Lehrer
die Senatsverwaltung Berlin in einem offenen Brief um Hilfe baten,
sind Fernsehsendungen und Berichte über die verkommenen Kinder und
Jugendliche in den Hauptschulen so angestiegen, dass man glauben
könnte, alle Hauptschulen seien Gettos, in denen nette Kinder und
Jugendliche vom Aussterben bedroht sind.
Die Wirklichkeit sieht anders aus. Zwar gibt es
häufiger verbale Aggressionen als früher unter den Schülern und
generell gibt es in den Haupt- und Sonderschulen mehr physische
Gewalt als an den Gymnasien, aber Wissenschaftler betonen, dass die
Gewalt an Schulen bis auf wenige Extremfälle nicht zugenommen,
sondern sogar eher abgenommen hat. Doch diese Realität kommt bei
den meisten Bürgern nicht an. Hauptschulen sind die Verlierer eines
neuen Medien-Hypes und der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Auf
ihnen lastet der Ruf der Ausbildung einer Loser-Elite, und ein
kleinster Verdacht reicht hier schon, um viele Eltern vor dieser
Schulform instinktiv zurückweichen zu lassen. In der Folge sinkt
das Niveau der Hauptschule erneut, denn nur noch die Schüler, die
gar keine andere Alternative mehr finden, verschlägt es zunehmend
auf diese Schulform.
Was bedeutet das jetzt für uns Eltern angehender
Grundschüler? Sehr viel. Denn da Eltern zunehmend fixiert auf das
Gymnasium sind, ist man dazu übergegangen, ihnen in einigen
deutschen Bundesländern das alleinige Entscheidungsrecht zu
entziehen oder stark einzuschränken, auf welche Schule das Kind
nach der Grundschule gehen soll. Kinder sollen einerseits nicht
durch die ehrgeizigen Ziele ihrer Eltern überfordert werden,
andererseits sollen sie aber auch nicht das Lerntempo der anderen,
besseren Kinder drosseln. Denn es gilt ja, den Bildungsstand im
internationalen Vergleich zu heben. Das heißt: Früher, als die
Eltern noch selbst oder allein entscheiden konnten, ob das Kind auf
das Gymnasium geht, konnten Lehrer nicht gegen den Willen der
Eltern verfügen. Heute ist das in vielen Bundesländern anders und
genau deshalb sind gute Leistungen der Kinder auf der Grundschule
für Eltern so überaus wichtig geworden. Sie sind immer die besten
Argumente, einem Kind den Übertritt ins Gymnasium zu ermöglichen,
egal, wie die jeweilige Schulpolitik einer Landesregierung gerade
aussehen mag.
Gleichzeitig sitzt uns Eltern schon jetzt die
G8-Reform im Nacken, der Weg zum Abitur in acht Jahren, die die
Schulzeit auf dem Gymnasium um ein Jahr verkürzt, ohne die
Lehrpläne bisher entsprechend verschlankt zu haben. Wir hören es
von Bekannten und Freunden, deren Kinder auf dem Gymnasium sind.
Wir sehen es in den Medien. Es sitzt uns in den Knochen wie ein
böser Virus: Wer nicht schon bestens vorbereitet auf das Gymnasium
kommt, droht aus dem Leistungskarussell dieser Schulform schnell
wieder herauszufliegen.
»Die mustern nach zwei Jahren rigoros aus«, munkelt
es unter den Eltern. »Da überleben nur die Besten«.
Sorgenvoll legen wir unsere Stirne in Falten. Und
verstehen schnell. Es geht nicht nur darum, schöne Noten zu ernten.
Noten sind subjektiv, willkürlich und dem jeweiligen Niveau einer
Schulklasse angepasst. Das wissen wir alle. Es geht vielmehr darum,
dass diese Noten Substanz haben und von einer Schule zur nächsten
gültig bleiben.
Die Frage ist also: Wo finde ich die Grundschule,
auf der mein Kind so gute Noten schreibt, dass ihm nicht nur keiner
mehr das Gymnasium verwehren kann, sondern es auf dem Gymnasium
auch erfolgreich bestehen kann? Wo hat mein Kind den bestmöglichen
Start?
Wie sehr man sich aber auch in Schulprogramme und
-konzepte vertiefen mag - es ist vertrackt, die beste aller
möglichen Schulen zu finden. Denn letztlich hängt alles vom
jeweiligen Lehrer und den Schulkameraden ab. Ein fruchtbares
Arbeitsklima kann man nicht unbedingt vorhersehen. Für mich sehen
alle Schulen in unserem bunt gemischten Stadtteil irgendwie gleich
aus. Die Klassengröße ist überall dieselbe, die Schülerzahlen und
der Ausländeranteil schwanken, aber das will bei uns wenig über die
Qualität der Lehre sagen. Und jedes Jahr ist offenbar eine andere
Schule der Liebling der Eltern. War letztes Jahr die Schule XY
gefragt, so ist es dieses Jahr die Schule XYZ, die sich über hohe
Anmeldezahlen freuen kann. Es gibt keine eindeutigen Favoriten und
auch keine offiziellen Zensuren für die einzelnen Institutionen,
die ich bequem einsehen könnte. Zwar bestehen Internetportale, in
denen jeder seine subjektive Meinung über Schulen und Lehrer
veröffentlichen kann, aber diese finde ich oft wenig
aussagekräftig, weil ich nicht weiß, wer hier warum was
schreibt.
Und so gehen sie dann etwas ratlos los, die Besuche
vor Ort an den Tagen der Offenen Tür, die Gespräche mit
Schulkindereltern, die Informationssuche im Internet, die
Meinungsumfrage unter Bekannten, die Suche nach dem Heiligen
Gral.
Wir wählen letztlich die Schule in Reichweite. Die
Schule in der Nachbarschaft hat keine negativen Schlagzeilen, das
Kind kann zu Fuß gehen und ihre Freunde werden um die Ecke wohnen.
Das hätten wir eigentlich auch gleich einfacher haben können.
Nun haben wir also das Einschulungsalter und
unsere Schule der Wahl bestimmt, und wir können tatsächlich zum
offiziellen Teil des Projekts Schullaufbahn übergehen. Damit sind
wir beim dritten Ansatz, ein Kind zu den Höchstleistungen zu
bringen, die es aus unterschiedlichen Gründen erbringen soll:
natürlich das Kind höchstselbst.
Die gläserne Familie: Der Schultauglichkeitstest
Was wären die Instruktionen der Mütter, die Wahl
des Alters und der perfekten Schule ohne unsere Protagonistin in
diesem Projekt? Ist sie überhaupt reif für die Schule? Es gilt, die
letzten Hürden zu überwinden, und unsere Tochter kann in der Schule
endlich in Aktion treten. In Nordrhein-Westfalen gibt es nicht nur
die freiwillige U9, die Untersuchung beim Kinderarzt, sondern auch
verpflichtend ein Schulfähigkeitstest in der Schule der Wahl und
eine Schuleingangsuntersuchung beim Gesundheitsamt, die prüfen
sollen, ob ein Kind schulreif ist. Ich für meinen Teil hätte mir
diese Tests chronologisch ganz an den Anfang der Vorbereitungen
gewünscht, dann hätten wir uns unter Umständen diesen ganzen Stress
vorerst ersparen können, aber Schulfähigkeitstests werden in der
Schule der Wahl gemacht. Das setzt die Wahl derselben voraus, auch
die Entscheidung zur Einschulung, eben den ganzen Klimbim eines
Kann-Kindes.
Der Test in der Schule ist kurz und schmerzlos.
Ich muss einen einfachen Antrag ausfüllen und unser Kind wird von
einem Lehrer geprüft. Geschicklichkeitsspiele, logisches Denken,
Sprachfähigkeiten und anderes. Es ist erfreulich unbürokratisch und
wir haben keine Probleme.
Ganz im Gegensatz zu der Schuleingangsuntersuchung,
die beim Gesundheitsamt Monate später stattfindet, nachdem wir uns
bei der Schule anmelden konnten. Schon die Einladung zu dieser
Untersuchung lässt keinen Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Sache
aufkommen. Im strengen Ton werden wir daran erinnert, dass eine
schulärztliche Untersuchung rechtzeitig vor der Einschulung durch
Gesetz und Rechtsverordnung festgelegt ist, und wir werden sachlich
aufgefordert, zahlreiche Unterlagen mitzubringen, unter anderem
alle Impfbescheinigungen, das Vorsorgeheft des Kindes und den
Dokumentationsbogen des Kindergartens. Ich bin sehr froh, dass ich
das mit der Freiwilligkeit des Impfens, der Kinderuntersuchungen
und des Dokumentationsbogens sowieso nie ernst genommen habe, sonst
würde ich mich jetzt sehr aufregen.
Dummerweise kann ich aber das Impfbuch meiner
Tochter nicht finden. Ich suche in der ganzen Wohnung, ziehe jede
einzelne Schublade, durchforste die Aktenordner. Nichts! Ich muss
ohne die geforderte Unterlage zur Schuleingangsuntersuchung.
Ich melde mein Versagen mit klopfendem Herzen
gleich der Sekretärin bei der Anmeldung.
Schuleingangsuntersuchungen sind eine aufregende Sache. Wir haben
schon eine lange Vorbereitungsphase hinter uns. Werden wir jetzt
kurz vor dem Ziel noch gestoppt? Es ist alles so amtlich.
Meine Tochter und ich sitzen auf Stühlen im
Warteflur und scharren nervös mit den Füßen. Und dann geht es los.
Wir werden in einen Untersuchungsraum gebeten. Mein Kind wird auf
Herz und Nieren von einer Krankenschwester geprüft, ob sie hören,
sprechen, greifen kann, wird gemessen und gewogen, und dann werden
wir der Amtsärztin vorgeführt. Diese führt weitere Tests mit meiner
Tochter durch, die alle klären sollen, ob das Kind schulreif ist.
Gleichgewichtssinn, Raumwahrnehmung, Aufmerksamkeit, Sprache und so
weiter und so fort.
Diese Ärztin ist eine sehr spröde Person. Ich bin
froh, dass meine Tochter sich nicht einschüchtern lässt von ihrer
Art, wie sie mit ihr spricht. Soziale Kompetenz ist wichtig für die
Einschulung, das weiß ich ja.
Die Ärztin nickt mir kühl zu.
»Bitte füllen Sie das hier aus.« Sie gibt mir einen
Vordruck.
»Es ist anonym«, sagt sie. »Sie können sich da
vorne hinsetzen und schreiben.«
Sie zeigt auf einen Stuhl an einem Tischchen ihr
gegenüber. Mein Blick fällt auf die Fragen. Sie gehen ans
Eingemachte. Wie meine Tochter ist, das wissen sie ja schon. Sie
haben die Dokumentation des Kindergartens und sind außerdem gerade
dabei, sie zu testen. Jetzt wollen sie offenbar wissen, warum das
Kind so ist, wie es ist. Das gläserne Kind und die gläserne
Familie.
»Welchen Schulabschluss haben Sie? Nennen Sie
bitte nur den höchsten Abschluss. Bitte für beide Elternteile
angeben.«
»Haben Sie eine abgeschlossene Berufsausbildung?
Wenn ja, welche?«
Es geht detailliert weiter: Ob, als was und wie
viele Stunden sind mein Mann und ich berufstätig? Bei wem lebt das
Kind? Wie lange hat es eine Kita oder ähnliche Tageseinrichtungen
besucht? Mit wie vielen Geschwistern lebt es zusammen? Hat es ein
eigenes Zimmer und falls nicht, mit wie vielen muss es ein Zimmer
teilen?
Das Fernsehen hat es ihnen besonders angetan.
Offenbar macht gerade wieder jemand eine Studie.
»Hat Ihr Kind/Haben Ihre Kinder einen Fernseher
im Kinderzimmer?« - »Wie lange sieht Ihr Kind im
Durchschnitt fern?« (Sieben mögliche Antworten von »gar nicht«
bis »über 4 Stunden«). Alleine oder im Beisein der Eltern? -
Während der Mahlzeiten? - Isst das Kind »beim Fernsehen
Süßigkeiten/Chips«?
Es ist wirklich interessant, welche Informationen
zur Einschulung heutzutage vonnöten sind.
Die Fragen gehen über zu Computerbenutzung,
Gameboy, Playstation (wie lange? Fünf mögliche Antworten) und
werden dann elegant auf den Freizeitbereich ausgerichtet. Spielt
das Kind täglich im Freien außerhalb des Kindergartens, wenn ja,
wie lange (vier mögliche Antworten), überwiegend alleine, in
Begleitung von Eltern, Geschwistern oder Freunden? Ist das Kind in
einem Sportverein, in einer Musikschule oder Sonstigem?
»Wie oft lesen Sie Ihrem Kind ein (Bilder) Buch
vor?«
Und schließlich: »Rauchen Sie?«
Ich bekomme gleich wieder ein schlechtes Gewissen,
wenn mir auch nicht ganz klar wird, warum eigentlich. Ich rauche ja
gar nicht. Aber Hut ab vor dem Gesundheitsamt! Sehr raffiniert!
Nicht nur, dass sie uns Eltern noch einmal eben so im Vorbeigehen
elegant übermitteln, dass wir Eltern unter Beobachtung stehen,
sondern auch die Art und Weise, wie sie
uns diese Angaben entlocken. Hätte man mir diesen Bogen in der
Fußgängerzone vor die Nase gehalten und um Antworten gebeten, hätte
ich den Bogen gesichtet, abgewunken und wäre weitergelaufen. Jetzt
sitze ich in der Falle. Ich kann schlecht davonlaufen, während sie
mein Kind haben. Und wer hat schon die Traute, sich bei einer
Schuleingangsuntersuchung, die ja offenbar über die gesamte Zukunft
des eigenen Kindes entscheiden kann, aufzulehnen?
Das hier funktioniert in etwa so wie bei den
Kinderuntersuchungen beim Arzt und den Dokumentationen der Kita:
Wenn ich nicht mitmache, mache ich mich verdächtig. Und das wird
doch dokumentiert, oder? Soll die Kleine von Anfang an unter ihrer
renitenten Mutter leiden? So allmählich gehen mir diese
Überwachungsmanieren gehörig auf die Nerven. Bin ich die Einzige,
die diese Fragen unverschämt und diskriminierend findet? Was geht
das Schulamt mein Bildungsniveau, meine Arbeitssituation und mein
Privatleben an? Was sagt das über meine Qualitäten als Mutter aus?
Mit hochroten Wangen vor Scham, derart ausgefragt zu werden, fülle
ich den Bogen aus und reiche ihn der Ärztin. Ich fühle mich wieder
einmal an den Pranger gestellt und in Schubladen gesteckt und habe
doch gar nichts getan, außer ein Kind zu haben. Im Stillen frage
ich mich, wie ich diesen Bogen ausfüllen würde, wenn ich
Kettenraucherin wäre, mein Kind stumpf vor dem Fernseher hockte und
wir nur Chips äßen. Würde ich da nicht gnadenlos schummeln?
Die Ärztin legt meinen ausgefüllten Bogen offen
neben sich auf einen Stapel Papiere, gleich neben unsere
Dokumentation. In der Tat, sehr anonym.
Sie schaut auf.
»So«, sagt sie. »Sie können Ihr Impfbuch nicht
finden?«
»Ja«, sage ich. »Ich habe überall gesucht. Ich kann
es mir nicht erklären.«
Sie schaut mich an. Ich sehe sofort: Sie glaubt mir
nicht. Sie verdächtigt mich zu lügen.
»Sie wissen schon, wie wichtig Impfungen sind?«,
fragt sie barsch.
»Ja«, sage ich sanft. Das hier fängt an, mir
grimmigen Spaß zu machen. Wenn mich einer für ein böses Mädchen
hält, obwohl ich gar nichts getan habe, werde ich sauer.
»Aber sie sind doch freiwillig, nicht wahr?«, flöte
ich mit einem strahlend falschen Lächeln.
Sie antwortet nicht, sondern notiert etwas in ein
Dokument, das vor ihr liegt.
»Ich kann es gerne nachreichen«, sage ich.
»Das ist nicht nötig.« Sie hebt den Kopf und schaut
emotionslos.
Ich starre sie an. Wie? Das war alles? Ich gehorche
nicht und werde nicht sanktioniert?
»Ihr Einladungsbrief klang so streng«, sage ich.
»Ich dachte, ohne Impfbuch würden Sie uns gar nicht
empfangen.«
Sie blickt mich schweigend an.
Und in diesem Moment begreife ich es. Auf einmal
ist es so klar wie Quellwasser: Ich bin und war immer frei. Sie
können mir gar nichts. Ich habe gehorcht und ich hätte es gar nicht
tun müssen. Ich habe gar keine Vorgesetzten, auch wenn alle immer
so tun. Eine Ahnung rieselt mir heiß den Rücken runter.
»Wie ist das mit dem Bogen, den ich gerade
ausgefüllt habe?«, frage ich mit belegter Stimme.
»Der war freiwillig«, sagt sie.
Als ich zu Hause bin, rufe ich im Amt an und lasse
mir die Fragebogen zuschicken. Man weiß nie, wozu es vielleicht
noch einmal gut ist.
Es geht los!
Und dann ist er endlich da: der Tag der
Einschulung. Mit bunter Schultüte, Schultornister und Mäppchen
(natürlich getestet durch Stiftung Wartentest), geputzten Schuhen,
gekämmten Haaren, gebügelten Kleidern, feuchten Händen
und Augen. Ach, wir sind gerührt! Unser Kind, schon so groß! Nur
gut, dass wir noch die Kleine haben.
Natürlich gab es zwischendurch noch Kennenlerntage
in der Schule und den ersten Elternabend und auch einige private
Elterninitiativen, die vor dem ersten Schultag verzweifelt
versuchten, die Klassenlehrerin oder den Klassenlehrer ihrer Kinder
herauszufinden, ja, vielleicht sogar ein bisschen Einfluss auf die
Lehrerauswahl zu nehmen. Sie hatten sich erkundigt, sie hatten eine
Meinung. Aber da bissen sie auf Granit. Da ist »unser« Schulleiter
eisern. Das war bei der Einschulung unserer zweiten Tochter auch
so. Solche Informationen gibt es an »unserer« Schule am ersten
Schultag. Und so kommt es, dass - ich bin sehr verblüfft, dass
offenbar andere noch viel aufgeregter sind, als ich es bin - Eltern
mit Tränen in den Augen herumlaufen, nicht nur weil sie ergriffen
sind von den Ereignissen der Stunden oder weil der Ernst des Lebens
ruft, sondern weil sie fest überzeugt sind, die mieseste
Klassenlehrerin an der Schule bekommen zu haben. Mies meint hier
nicht unfreundlich und herzlos, sondern mies im Sinne von unfähig,
nicht gymnasialtauglich. Schlicht schlecht. »Unser Kind lernt nicht
genug!«, weint es um mich herum.
Auf Einschulungen der letzten Jahre kann man
zunehmend auch Schultüten entdecken, auf denen Aufschriften wie
»Abi 2022« programmatisch prangen. Ist es harmloser Witz, inniger
Wunsch, ruhige Überzeugung oder verbissenes Ziel? Glück ist
machbar, Pech allerdings auch. Es winkt der Erfolg des Kindes, es
winkt sein Ruhm - und auf der anderen Seite lauert der Abgrund. Und
er lauert so früh.
Denn in den meisten Bundesländern ist man in den
letzten Jahren dazu übergegangen, nicht nur immer jüngere Kinder
einzuschulen und demzufolge schon im ersten Halbjahr der 4. Klasse
für Achtjährige eine Empfehlung für die weiterführende Schule zu
verfassen, sondern man hat auch in vielen Schulen eine flexible
Schuleingangsphase eingeführt, in anderen Bundesländern als JÜL,
Flex oder jahrgangsübergreifender Unterricht bekannt. In
Nordrhein-Westfalen werden zum Beispiel in den Klassen 1 und 2 und
den Klassen 3 und 4
Kinder zusammen unterrichtet. In offenen Lernformen wie
Freiarbeit, Wochenplanarbeit und Projektarbeit sollen Kinder
verschiedener Altersstufen sich gegenseitig bereichern, zusammen
und voneinander lernen. Böse Zungen behaupten, Kombiklassen seien
nur eine Sparmaßnahme oder ein Mittel, kleine Grundschulen zu
erhalten. Aber das ist bestimmt nur ein Gerücht übellauniger
Lehrer. Offiziell heißt es, diese neue Schuleingangsphase
ermögliche es Kindern, drei bis fünf Jahre lang die Grundschule zu
besuchen, und könne sich damit den individuellen Leistungen eines
Kindes viel besser anpassen. Schwächere Kinder können ein Schuljahr
daranhängen, ohne dass sie in einen ganz neuen Klassenverbund
wechseln müssen. Und stärkere Kinder können leicht eine Klasse
überspringen. Jedes Kind kann ganz gemäß seiner Fähigkeiten und
seines Lerntempos lernen. Von Anfang an ist die individuelle
Leistung im Vordergrund, nicht die Klassengemeinschaft, so wie es
auch die Eltern der Hamburger Initiative gern sehen.
Wer Flexibilität unter den kleinsten Schülern mag,
wird dieses Schulmodell lieben. Das merken wir schnell im
Schulalltag. Unsere Tochter hat nicht nur alle paar Wochen einen
neuen Sitznachbarn (offenbar gilt das Rotationsprinzip) und jedes
Jahr eine andere Klassenzusammensetzung (eine Klasse geht, eine
kommt neu), sondern auch jedes Jahr eine neue Klassenlehrerin.
Jahrgangsübergreifender Unterricht für 25 Kinder scheint irgendwie
kraftraubend zu sein. Die Fluktuation im Lehrpersonal ist
erstaunlich hoch, der Krankenstand erschreckend. Geplant ist ein
Klassenlehrerwechsel etwa alle zwei Jahre, aber offenbar zehrt es
ein wenig an den Nerven, bei steigenden Ansprüchen von
Schulministerium und Eltern zwei putzmuntere Klassen auf einmal wie
in Klasse 1/2 in einer Altersspanne von fünf bis acht Jahren in
Freiarbeit zu unterrichten, wenn es darüber hinaus wenige
Möglichkeiten gibt, die erheblichen Lern- und Leistungsunterschiede
durch individuelle Förderung auszugleichen. Da sind junge und
ältere Kinder, faule und fleißige, langsame und schnelle, leise und
laute, schüchterne und freche, behütete und vernachlässigte,
begüterte und arme, deutsch- und fremdsprachige.
Nicht viele Schulen haben genügend Förderlehrer, Sonderpädagogen
oder Schulpsychologen. Oder kennen Sie einen? Da machen selbst die
jüngsten Lehrerinnen manchmal schlapp. Ein Fest für Kinder, die
gern jedes Jahr eine nette Abwechslung an der Tafel haben.
Wer es aber gerne ruhiger und geborgen hat, wer
sich gerne im vertrauten Rahmen bewegt und dazu neigt, eine
Lehrerin zu verehren und nur für sie zu lernen, kleine Bildchen zu
malen und ihr in Schönschrift stolz die ersten Buchstaben zu
präsentieren, wer nicht versteht, warum die Lehrerin oft so
angespannt und ungeduldig ist und wenig Zeit hat, ja, manches Mal
sogar zu Wutanfällen neigt, wer seine Mitschüler mag und sein Herz
an sie hängt und leidet, wenn die Lehrerin und die Hälfte der
Klasse jedes Jahr wieder wechseln, der muss aufgebaut werden.
Dringend.
Zensuren: gute und schlechte Kinder
Natürlich sind Schulen nicht doof. Sie haben ihre
Methoden, mit denen sie gedenken, alle Kinder aufzubauen und zu
motivieren. Und wie werden seit jeher Kinder in Schulen zur Arbeit
angetrieben? Was ist das älteste Instrument, das kleine und große
Menschen immer wieder zu Höchstleistungen motiviert? Was ist das,
was Menschen bewegt, Dinge zu tun, an die sie vielleicht sonst nie
im Traum gedacht hätten? Das Lob. Was gibt es Schöneres als ein
kräftiges Lob? Und das Lob des Lehrers schlechthin ist die gute
Note. Auf der anderen Seite aber lauert dummerweise die Bestrafung.
Das vernichtende Urteil. Die Geringschätzung. Sprich: die schlechte
Note. Und damit ist das Ganze ein einfaches, aber ungemein
wirkungsvolles System, das einfach nicht totzukriegen ist und von
uns Eltern, die wir immer noch das Trauma fürchten, mit Argwohn
betrachtet wird. Der Lehrer erklärt den Kindern gewisse Ziffern
zwischen 1 und 6 aus seiner Feder zu erstrebenswerten Gütern, die
man nur erlangt, wenn man sich nach den Vorgaben vorbildlich
verhält (das funktioniert wie bei Orden und Titeln bei
Erwachsenen), und schon wollen
alle diese »guten« Ziffern haben und die »bösen« unbedingt
vermeiden.
Nun ist Notengebung in der 1. Klasse nicht in allen
Bundesländern verfügbar. Deswegen haben manche Lehrer andere Wege
gefunden, dem Kind schon früh zu zeigen, ob es Freude macht oder
Anlass zu Sorge gibt. Es müssen ja keine Ziffern sein. Man kann ja
auch Symbole mit Bedeutung belegen. Blümchen- und Pferdchen-Stempel
wie zu meiner Schulzeit sind offenbar out. Sie sind nicht
differenziert genug. Aber wofür haben wir denn diese süßen
Punkt-Punkt-Komma-Strich-Gesichter, die sich so wunderbar variieren
lassen? Ein Smiley ist so schön fröhlich, dass dem Kind das Herz
lacht und es sofort versteht: Es hat etwas Schönes getan. Sein
Pendant mit herabgezogenen Mundwinkeln und hängenden Augenstrichen
ist dagegen so eindrücklich traurig, dass das Kind schweren Herzens
ohne viele Worte begreift, wie viel Kummer es macht.
Um es gleich zu sagen - wie sicher und geborgen
sich ein Kind in der Schule mit diesem System fühlt, steht und
fällt mit dem Lehrer. Die Kinder bringen eine gewisse Prägung und
ein bestimmtes Elternhaus mit, aber der Lehrer oder die Lehrerin
ist es hauptsächlich, der oder die in einer Klasse darüber
entscheidet, ob die Kleinen eifrig motiviert lernen oder ob sie
angsterfüllt erstarren. Bestätigt und ermuntert eine Lehrerin ein
Kind, sieht sie die Stärken und positiven Entwicklungen der kleinen
Person, kann das Kind auch mit Kritik in der Regel gut umgehen. Ist
die Lehrkraft aber überfordert, eher kühl und rigide, ja,
vielleicht sogar verachtend oder demütigend, wird selbst ein Kind
es schwer haben, mit Freude zu lernen, das von zu Hause die beste
Unterstützung erfährt. Kinder sind noch recht kindlich, wie der
Name schon sagt. Das heißt, sie lassen sich leicht von schlechten
Urteilen entmutigen und ängstigen, wenn sie sich nicht sicher und
geborgen fühlen. Es braucht da schon einen gewissen liebevollen
Rahmen, wenn sie trotz weinender Gesichter auf ihren Schulheften
eifrig weiterlernen sollen.
Mein neuer Job für die Schule: Coach, Motivationstrainer, Seelentrösterin
Diese Abhängigkeit von der Art des Pädagogen macht
es besorgten Eltern heutzutage ausgesprochen schwer, ihr Kind in
der Schule sich selbst zu überlassen. Denn was in der einen Klasse
wunderbare Ergebnisse erzielt, kann in einer anderen zum Desaster
führen. Holzauge, sei wachsam! Und je wachsamer ich bin, desto mehr
erschließt sich mir ganz deutlich, warum die Experten verlangen,
dass es gerade die ersten fünf Lebensjahre eines Kindes sind, in
denen es wie ein zartes Pflänzchen gehegt und gepflegt werden soll,
und nicht etwa seine ersten zehn Lebensjahre zum Beispiel. Denn
einmal in der Schule, ist nicht mehr viel los mit hegen und
pflegen. Die ersten fünf Jahre Betütteln, das ist alles, was es
kriegen kann. Da der neue Staatsbürger flexibel, eigenständig,
strebsam, intelligent und bienenfleißig sein soll, glaubt man
offenbar, gar nicht früh genug damit anfangen zu können, die Kinder
auf selbstständige, effektive Arbeit einzuschwören. Ein gutes Kind
zu sein meint da nicht nächstenliebend, freundschaftlich,
solidarisch, hilfsbereit und gütig, sondern konkurrenzfähig,
zielstrebig, leistungsstark, ehrgeizig und schnell. Wer da nicht
von Anfang an mithalten kann, kann in diesem auf individuelle
Leistung aufgebauten System schnell den Anschluss verlieren.
Also mache ich das, was von mir als gute Mutter
erwartet wird. Ich lasse nicht das System auflaufen und zeige ihm
durch das Versagen meines Kindes, dass das Bildungssystem selbst
versagt, sondern ich fange mein Kind auf und unterstütze damit die
ganze Sache. Zur Schule lasse ich sie alleine gehen, aber zu Hause
werde ich engagierte Assistenzlehrerin, miesepetrige
Hausaufgabenbetreuerin und hektischer morgendlicher
Tornister-Checker. Das Kind muss auf Vordermann gebracht werden. Es
gilt unter allen Umständen zu vermeiden, dass die angestrengte
Lehrerin sie auf den Kieker kriegt. Hat sie ihre Hausaufgaben
ordentlich gemacht? Hat sie alles verstanden? Sind auch alle
geforderten Sachen da? Haben wir sämtliche Eltern-Briefe erhalten,
gelesen und beantwortet?
Die Post der Schule an uns Eltern ist so umfangreich, dass sich
ein eigener Briefkasten lohnen würde. (Aus einer amerikanischen
Fernsehserie weiß ich, dass dies ein Indiz für eine hervorragende
Schule sein soll. Also mucke ich nicht laut auf, aber ich fluche
leise vor mich hin.) Mein Mann bereitet unsere Tochter dagegen
sorgfältig auf manche Klassenarbeiten vor und besucht die
Elternabende. Letzteres ist für meinen Mann leichter, weil er,
warum auch immer, nicht so schnell Ehrenämter kriegt wie ich. Ich
übernehme die Elternsprechtage und wir wechseln uns täglich ab mit
gesund geschmierten Pausenbroten und geschnippelten
Obstbeilagen.
Bei all dem ist klar - je besser wir als Eltern
ausgebildet sind, umso schöner können wir Mathematik, Englisch und
Grammatik coachen, können wir Aufsätze und Vorträge begleiten,
können wir konstruktive Gespräche mit den Lehrern führen. Es ist
unnötig zu sagen, dass schulbildungsferne Familien hier den
Kürzeren ziehen. In kaum einer anderen Nation in Europa ist die
Herkunft der Familie für den Bildungsabschluss so bedeutend wie in
Deutschland. Die Unterschiede zwischen den Kindern werden generell
immer größer und können durch die Schule kaum aufgefangen werden.
Selbst in Bayern, dessen Schulsystem einige der besten
PISA-Ergebnisse einbrachte, sind 99 Prozent der
Grundschullehrerinnen bei einer Umfrage des Bayerischen Lehrer- und
Lehrerinnenverbandes 2008/2009 der Meinung, dass es bessere
Unterrichtsbedingungen braucht, um der zunehmenden Heterogenität
gerecht zu werden. Und 90 Prozent der Lehrer und Lehrerinnen
stimmen zu, dass »Fördern und Fordern, Erziehen und Disziplinieren
von einer Person« in der Klasse nur mehr schwer zu leisten ist. Je
mehr wir Mütter und Väter aber einspringen, um dieses Manko
auszugleichen, desto unverzichtbarer machen wir uns. Das System
baut inzwischen auf unserem Engagement auf. Es fällt schmerzlich
auf, wenn wir ausfallen. Das Lerntempo ist hoch. Irgendwelche
Kinder mit engagierten Eltern sind immer mit der Nase vorweg und
bestimmen das Leistungsniveau und den Notenspiegel in einer Klasse.
Zensuren werden ja stets in Relation zu anderen gegeben.
Wir fühlen uns etwas wie in einem Trainingslager.
Wir sind ein bisschen atemlos. Wir helfen unserem Kind, den
Anforderungen gerecht zu werden, und genau das wird auch von uns
erwartet. Die Buchhandlungen, Internetforen und Zeitschriften sind
voll guter Ratschläge, wie wir Eltern unsere Schulkinder
erfolgreich coachen können. Und neben sorgfältiger
Hausaufgabenbetreuung, ehrenamtlichem Engagement und gesunder
Frühstücksproduktion ist vor allem die Motivation des Schulkindes
ein ganz wichtiger Faktor. Es ist wieder diese alte Frage, um die
sich alles dreht: Wie kriege ich das Kind dazu, trotz aller
Umstände gerne zur Schule zu gehen und gute Noten zu
schreiben?
Unter Eltern grassieren verschiedene Methoden. Sehr
beliebt ist: Loben, loben, loben! Und zwar ohne Zensuren.
»SUPER! DAS MACHST DU GANZ TOLL!«
Wenn das Kind den Braten riecht und das nicht mehr
hilft: Belohnungen in Aussicht stellen. Manche Eltern versprechen
begehrte Wertsachen, die andere Kinder vor Neid erblassen lassen,
oder hohe Geldbeträge, wenn die Zeugniszensuren gut sind. Aber das
ist recht risikoreich und empfiehlt sich nur für Eltern, die ihrer
Sache ziemlich sicher sind, weil es bei schlechten Noten umso mehr
Frustration und Geheul im Hause gibt. Dagegen eignen sich
Belohnungen wie Zoobesuche, Eis essen oder Kinonachmittage. Das
positive Signal kommt rüber und das Wegbleiben desselben wird von
Kindern erstaunlich gut verkraftet.
Eine beliebte und pädagogisch anerkannte Methode
bei generellem Schulfrust ist auch: »Zeigen Sie Ihrem Kind die
Vorteile der Schule auf.« Oder anders: Wie rede ich die Schule
schön?
»Schau mal«, sag ich, »die Lehrerin hat so viele
Kinder in der Klasse. Das hat sie mit dem Schimpfwort gar nicht so
gemeint. Das geht nicht gegen euch. Sie ist einfach ein bisschen
nervös.«
»Das ist doch auch eine Chance, wenn Lehrer und
Kinder kommen und gehen«, sage ich. »Da kannst du neue
Unterrichtsmethoden und neue Freunde kennenlernen.«
»In jedem Ende steckt auch ein neuer Anfang«, sage
ich.
»Das nächste Mal wird es bestimmt besser. Pass mal
auf!«, sage ich.
Und ich sage noch viel mehr solche merkwürdigen
Sachen, mit denen ich versuche, meiner Tochter Denkstrategien
aufzuzeigen, wie sie in diesem Leistungssystem gut überleben kann.
Ich werde Motivationstrainerin und Seelentrösterin, versuche Freude
aufzubauen und Frust abzubauen. Und dann beiße ich mir ab und an
traurig auf die Lippen, weil mein Kind so früh lernen muss, sich
nur auf sich selbst und Mama und Papa zu verlassen. Weil in unserer
Gesellschaft Geborgenheit in der Schulklasse nur noch so wenig
zählt.
Es gibt aber noch eine andere Methode, Kinder zur
Leistung zu motivieren: Wir erzeugen Visionen. Die eine Art ist,
ein seriöses, erfolgreiches Berufsbild in Aussicht zu stellen. Das
ist eine Vision, die Kinder zwar beflügeln kann, jedoch nicht
unbedingt antreibt, besser in Mathematik oder Sachkunde zu werden.
Das Ganze bleibt ärgerlicherweise für die Kleinen noch etwas
einseitig oder abstrakt. Viel effektiver ist es da, düstere
Prognosen abzugeben. Kinder sind so schön leicht zu
erschrecken.
»Fabian! Bist du jetzt bitte mal still!« Die
Lehrerin steht neben dem Jungen am Tisch und ihre Augen werden
schmal. »Wenn du nicht endlich Ruhe gibst, dann wirst du das hier
nie lernen!«
Fabian schaut die Lehrerin grinsend an. Es ist sein
zweiter Tag in der Schule. Es ist so aufregend, er kann nicht eine
Sekunde still sitzen bleiben.
»Is‘ doch egal!«, sagt er. »Will ich ja auch gar
nicht!« Er schüttelt sich albern wie ein Kaspar, hopst und springt
vor seinem Stuhl. Die anderen Kinder lachen.
»Hey, jetzt reicht es!«, ruft die Lehrerin.
»Frau Lehrerin, Frau Lehrerin«, ruft da der kleine
Paul und streckt eifrig seinen Finger in die Höhe. »Muss der Fabian
jetzt in die schlechte Schule?«
Die Zukunftsängste unserer Kleinen
Auch früher gab es Leistungsdruck in der Schule.
Auch früher gab es Angst vor Lehrern und Noten. Aber neu ist, dass
schon Fünf- und Sechsjährige glauben, mit schlechter Leistung in
die »schlechte Schule« zu kommen, von der wir natürlich alle
wissen, welche das sein soll. Es verbreitet sich wie ein Lauffeuer
unter den Kindern. Ich kann meiner Tochter noch so oft erzählen,
dass es gar keine schlechte Schule gibt. Sie glaubt mir nicht. Die
Hauptschule ist zur Drohung und zum Synonym für lebenslanges
Unglück geworden. Fragen Sie die Kinder: »Hauptschule« heißt
»arbeitslos, arm, unglücklich, schlechtes Kind«. »Gymnasium« heißt
»erfolgreich, Geld, glücklich, gutes Kind«.
Diese Zukunftsängste geben dem ganzen Ambiente
unter Grundschulkindern eine besondere Note. Die Angst sitzt ihnen
im Nacken. Und wir brauchen keine moderne Hirnforschung, um zu
wissen: Unter Angst lebt es sich erstens nicht gut und zweitens
lernt es sich schlecht. Die Freude am Neuen, am Lernen und am
Entdecken kann da auch schon Kindern verloren gehen, denn über
ihren Köpfen hängt das Damoklesschwert: »Bin ich gut genug, um aufs
Gymnasium zu dürfen?«
Wie viele Kinder lernen in der zweiten Klasse nur
noch für die Noten? Der Inhalt scheint zweitrangig zu werden. Und
noch nie gab es wahrscheinlich so viele Grundschüler und
-schülerinnen, die sich ernsthaft um ihre berufliche Zukunft
sorgen. Bauch- und Kopfschmerzen, Verdauungsstörungen, wache
Nächte, Tränen und schwelende Versagensängste sind Alltag bei mehr
Kindern unter zehn Jahren als je zuvor. Manche resignieren da ganz
schnell. Der Satz »Ich kann es ja doch nicht« lässt bei
aufmerksamen Eltern sämtliche Alarmglocken schrillen. Es droht der
gefürchtete Teufelskreis »Versagensangst
- schlechte Noten - mehr Ängste - noch schlechtere Noten«, aus dem
ein Kind alleine schwer wieder herausfindet. Andere Grundschüler
werden wegen ihrer Angst aggressiv, beschimpfen sich und andere
wüst, werden unruhig und panisch. Die Dritten entwickeln einen
Ehrgeiz und eine Arbeitswut, die sie auf Dauer völlig überfordern.
Ärzte berichten vermehrt von Depressionen unter Kindern, sogar vom
Burn-out-Syndrom, das bisher ausschließlich Erwachsenen vorbehalten
war. Natürlich gibt es noch Kinder, die arglos zur Schule gehen,
aber ihre Zahl sinkt. So wie sich Mütter und Lehrer zunehmend unter
Stress fühlen, so empfinden auch immer mehr Kinder einen heftigen
Leistungsdruck.
Konkurrenzdenken unter Grundschülern
Interessanterweise will es keiner gewesen sein,
der den Kindern diesen überaus unschönen Leistungsdruck vermittelt.
Eltern und Lehrer schieben sich gegenseitig den Schwarzen Peter zu.
Die Eltern, sagen die Lehrer verärgert, sind schuld an dem
stressigen Klima. Sie sind von Anfang an viel zu ängstlich und auf
gute Noten aus und reden ständig vom Gymnasium. Die Lehrer, sagen
viele Eltern empört, sind schuld an dem ewigen Druck, sie verlangen
zu viel in zu kurzer Zeit und drohen mit der Hauptschule. Und alle,
ob Eltern oder Lehrer, sind sich selbstverständlich einig, dass der
empfundene Leistungsdruck völlig übertrieben ist und den Kindern
nur schadet.
Aber wahr ist: Die Kinder haben einfach nur zu 100
Prozent unsere eigene leistungsbesessene, materielle Weltanschauung
übernommen. Sie spiegeln unsere Ängste und Überzeugungen, nicht
mehr und nicht weniger. Haben wir ernsthaft gedacht, unsere Kinder
würden nicht merken, wie bei uns der Hase läuft? Und wer genau
hinschaut, der sieht es deutlich: Es sind die Geister, die wir
riefen, die den Kindern zu schaffen machen. Vergleiche und
Wettbewerbe, das ist das, was wir Eltern mit den Kindern leben. Und
Vergleiche und Wettbewerbe, das ist das, was Kindern jetzt Stress
macht.
»Ha!«, schreit Alexander. »Du bist immer noch auf Seite 15? Ich
bin schon fast fertig mit dem Buch. Du bist aber langsam! Du kannst
ja nichts!«
Und Martha sitzt da und weint.
Eine Ausnahme? Bösartig? Nein, eher nicht. Das ist
normal und logisch. Früher lernten Kinder zusammen. Es gab etwa ein
Arbeitsblatt, das alle ausfüllen mussten. Es machte keinen großen
Unterschied, wer am schnellsten bei dieser Aufgabe war, denn am
Schluss mussten alle aufeinander warten. Heute ist das anders.
Heute haben Kinder ihre Wochenarbeitspläne oder Arbeitshefte, die
sie individuell nach eigenem Tempo und Fähigkeiten erarbeiten
können. Und wenn der eine Plan oder das eine Heft bearbeitet ist,
können die Kinder zum nächsten greifen. Dies scheint eine ungeheure
Wettbewerbslust unter den Kindern anzufachen. Wer ist schneller,
besser, weiter? Wer hat schon diese und jene Hefte, kann schon jene
oder diese Rechenart und schreibt fehlerlos?
»Ich bin viel besser als du!«, heißt es.
Oder:
»Du bist viel schlechter als ich!«
Der Gedanke scheint verwegen, aber haben die
Kinder vielleicht aus ihren Baby- und Kinderförderkursen ein
ausgeprägtes Konkurrenzdenken mitgebracht, das in dem neuen
Schulsystem der individuellen Entwicklung zur vollen Blüte kommt?
Und da ist es auch ganz logisch, dass Noten in der Grundschule von
Jahr zu Jahr mehr das Lebensgefühl und Selbstverständnis von
Kindern prägen. Noten sind wichtiger als je zuvor. Unter
Grundschülern ist ein neues Spiel entstanden, das meines Wissen zu
meiner Schulzeit noch völlig unbekannt war: »Welche Note gibst du
mir?«
Da stehen die Kleinen auf dem Schulhof und bewerten
sich gegenseitig in Mathematik, im Lesen, in Kunst, im Singen, im
Aussehen, in der Figur, in der Kleidung, im Lachen, im Tanzen, im
Laufen, im Sprechen und noch vielem anderen. Was gerade so kommt.
Und während früher die Kinder angesagt
waren, die schlechte Noten hatten und so herrlich unangepasst
schienen, sind es heute vermehrt die mit schlechten Noten, die von
anderen ausgestoßen werden, weil sie nicht mithalten können. Und
ausgestoßen wird oft. In einem Klima, in dem die Gruppe eine
untergeordnete Rolle spielt und die individuelle Leistung des
einzelnen Kindes im Vordergrund steht, ist Gruppenzugehörigkeit
etwas geworden, was man sich verdienen muss. Sie sind nicht mehr
alle eine Klasse und stehen zusammen, egal wie sie sind. Denn das
sind und tun sie ja auch nicht mehr. Nein, jeder ist sich selbst
der Nächste und den Letzten beißen die Hunde.
So sehr Kinder auch heute noch aneinander hängen
und Freundschaft suchen wie alle Kindergenerationen vor ihnen, so
scheinen doch Konkurrenz und Wettbewerb unter ihnen besonders
ausgeprägt zu sein. Es wird zwar nicht gern gesehen, wenn jemand
auffallend schlecht ist. Es wird aber auch nicht gern gesehen, wenn
jemand besser ist. Nicht abschreiben lassen, keine Stifte
verleihen, kein Essen abgeben, dafür nörgeln, herabsetzen, meckern,
petzen, schneiden. Und bilde ich es mir ein, oder sind Einladungen
zur Geburtstagsparty ein Instrument geworden, durch das Kinder
einander ihre Macht demonstrieren? Wie bedrängt müssen sich Kinder
fühlen, wenn sie anfangen, einander so heftig zu bekämpfen?
Förderunterricht, Nachhilfe, Therapien & Co.
Wie entwickeln wir Eltern uns im Laufe der
Grundschuljahre? Nun, Eltern sind nicht gleich Eltern. Von Hamburg
nach München, von Düsseldorf nach Dresden sind nicht nur die
Schulsysteme völlig verschieden, sondern von Schule zu Schule, ja,
sogar von Klasse zu Klasse scheinen auch die Elternschaften extrem
unterschiedlich zu sein. Generell ist auffällig, dass nicht mehr
alle Eltern da sind. Es sind mehr denn je die Mütter, die sich um
ihre Kinder kümmern, denn viele Paare haben sich inzwischen
getrennt. In manchen Schulen unserer Stadt sehen sich Lehrer an
Elternabenden ausschließlich alleinerziehenden Müttern
gegenüber.
Speziell in unserer Klasse - und sprechen wir ruhig
von »unserer« Klasse, bei dem Grad, zu dem wir Eltern heutzutage
alle in den Schulalltag unserer Kinder einbezogen werden - sind wir
Erwachsenen darüber hinaus in Temperament, Erwartungen, Interessen,
Ängsten, Sorgen, Ausbildung, Beruf, Finanzen, Humor und genereller
Weltansicht grundlegend verschieden. Aber das spielt bei uns
eigentlich keine Rolle, denn soweit ich das von meiner bescheidenen
Warte aus beurteilen kann, herrscht bei uns inzwischen ein geringes
Interesse, miteinander zu kommunizieren, worüber auch immer. Es ist
nicht so, dass wir uns anfeinden, aber es ist schon so, dass wir
nach all den Jahren gemeinsamer Aufregung um die Kinder nicht gerne
in einem Raum zusammen eingesperrt sind. Die meisten von uns haben
sich schon im Kindergarten kennengelernt und nicht alle haben sich
zu schätzen gewusst. Das macht Klassenfeste ein bisschen schwierig.
Auf der anderen Seite müssen wir uns auch nicht um gemeinsame
Förderprojekte in der Klasse kümmern. Das finde ich schön. Die gibt
es nämlich nicht. Uns reicht das, was in der Schule geboten wird.
Wir wünschen nicht, darüber hinaus gemeinsam tätig zu werden.
Schreibförderung, Kochen, Basteln, Tanz, Musik, Sport, das sind die
AGs, die an unserer Schule nachmittags zur weiteren Förderung
vorhanden sind - wenn ich da überhaupt richtig informiert bin -,
und das reicht uns auch. Mehr muss es in der Schule für uns nicht
sein. Wir lieben eine gewisse private Sphäre. Wir lieben sie so
sehr, dass der Schulleiter zunehmend Schwierigkeiten hat, Eltern
aktiv in Projektwochen, Schulfeste, Sportereignisse und
Aufführungen einzubeziehen. Und das liegt nicht daran, dass wir
alle Chips kauend vor dem Fernseher hocken und unseren dicken
Kindern beim Gameboy-Spiel zusehen. Es liegt daran, dass es etwas
viel geworden ist mit all den Projekten, Schulfesten,
Sportereignissen und Aufführungen.
Wenn ich daran denke, wie oft meine Eltern in
meiner Grundschule waren und wie oft wir hier in unserer Schule zu
finden sind, befällt mich eine tiefe Sehnsucht nach alten Zeiten
und unengagierter Freizeit.
Andere Klassenelternschaften haben da aber offenbar
ein
ganz anderes Flair. Eltern berichten von netten Müttern und
Vätern, die nicht nur unzählige ehrgeizige Projekte in ihrer
Freizeit für die Förderung der Kinder stemmen, sondern auch per
E-Mail begeistert seitenlange Pädagogikkonzepte versenden. Manche
erzählen von fantasievollen Arbeitsgemeinschaften, die Eltern
organisieren. Japanisch, Spanisch, Trommeln für Grundschüler. Im
Fernsehen sehe ich ab und an Mütter in irgendwelchen Reportagen,
die wild entschlossen ihre Fünfjährigen zu teuren
Manager-Wochenend-Workshops schicken, damit sie einmal »etwas ganz
Besonderes« werden, aber persönlich kenne ich solche Eltern nicht.
Ich glaube, für die Eltern, die ich kenne, sind ihre Kinder schon
von Natur aus etwas Besonderes, und ich vermute insgeheim, dass
diese Sendungen wieder mal so ein Medien-Versuch sind, Skandale zu
produzieren. Nach dem Motto: »Die armen Kinder!«
Mütter-Beschimpfung ist ja immer ein dankbares Thema.
Aber ich muss gestehen: Die Mutter im Fernsehen sah
echt aus. Es muss sie wohl geben. Und schließlich leben unzählige
Institutionen von der Entschlossenheit der Eltern, ihren Kindern
zum Erfolg zu verhelfen. Nachhilfeunterricht boomt heute schon bei
den Kleinsten. Pech für die, die sich privat bezahlte Förderung
nicht leisten können. Denn die Förderung mag privat sein, die
Zeugnisse sind es ja nicht. Eltern geben jährlich die unglaubliche
Summe von 1,5 Milliarden Euro für diesen privaten Zusatzunterricht
aus, und das beginnt schön früh in der Grundschule. Es geht dabei
nicht mehr nur wie früher darum, mit Nachhilfe den Kindern eine
Versetzung in die nächste Klasse zu ermöglichen, sondern es geht
darum, den Übertritt in das Gymnasium zu schaffen und aus
befriedigenden Noten gute oder sehr gute Noten zu machen. Rund 4000
Nachhilfeinstitute sind in Deutschland bislang gegründet worden,
die inzwischen so viel Geld erwirtschaften, dass sie uns in
eindringlichen Fernsehwerbespots ins Gewissen reden können, stets
für gute Noten zu sorgen. Jeder achte Schüler, so eine Studie der
Bertelsmann-Stiftung 2010, lernt nach der Schule in privat
bezahlten Nachhilfestunden.
Auch mit anderen Methoden wird zunehmend versucht,
Kinder an das System besser anzupassen und ihnen den Alltag zu
erleichtern. Jedes vierte Kind hat vor seinem achten Geburtstag
mindestens eine Fördertherapie hinter sich, ob Logopädie,
Ergotherapie oder Lerntherapie. 2007 - so DIE ZEIT online - bekamen
mehr als 20 Prozent aller sechsjährigen Jungen, die bei der AOK
versichert waren, eine Sprach-und 13 Prozent eine Ergotherapie. Und
bei 10 bis 11 Prozent eines Jahrganges wird ADHS festgestellt, das
Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, dessen Diagnose häufig zur Einnahme
von Tabletten führt, die die Konzentration der Kinder fördern
sollen, oft aber auch dessen Wesen grundlegend verändern. Die
Kinder werden der Umwelt angepasst, nicht die Umwelt den
Kindern.
Was ist also mit uns Eltern angesichts unserer
gestressten Kinder? Sehen wir von Jahr zu Jahr deutlicher die
hässlichen Auswirkungen des Leistungsprinzips? Sehen wir, dass
unsere Kinder Angst haben, nicht gut genug zu sein? Sagen wir
ihnen, dass sie in Ordnung sind, so wie sie sind, und dass es
normal ist, nicht alles zu können? Sind wir gelassen und beruhigen
wir sie? Ja, die meisten von uns sehen, dass sie überfordert sind.
Und versuchen, die Kinder durch Nachhilfeunterricht, Therapien und
Medikamente zu stärken. Und nein, etliche geben ihre Ansprüche
nicht auf. Und gelassen bleiben viele von uns schon gar nicht. Wie
sollten wir denn auch? Wir sind doch die, die bis über beide Ohren
im Perfektionswahn, Leistungsdruck, Konkurrenzdenken,
Schuldgefühlen, Versagens- und Zukunftsängsten stecken. Die Kinder
übernehmen sie nur. Uns muss in erster Linie geholfen werden, nicht
ihnen.
Wir wünschen uns alle, dass unsere Kinder
selbstbewusst und angstfrei leben und lernen. Aber wir sind keine
guten Vorbilder, wenn wir selbst ständig ängstlich sind, den
Ansprüchen nicht zu genügen. Und das ist eigentlich alles, was ich
jetzt noch wissen muss, um mein Leben zu ändern.
Na, und jetzt? Das gute Gefühl!
Es könnte jetzt immer so weitergehen. Nach der
Grundschule kommt die weiterführende Schule, dann vielleicht die
Lehre, die Berufsschule oder das Abitur und die Universität,
Praktika, Volontariate, die ersten Anstellungen. Es kommen
Lebenspartner, Familien, vielleicht Enkel. Ich könnte mich mein
Leben lang austoben und das Leben für meine Töchter organisieren.
Ich könnte sie zwar vermutlich irgendwann nicht mehr persönlich zu
Ärzten, Therapeuten und Experten schleppen, aber ich könnte sie
stets penibel im Auge behalten und emsig mit langen Monologen und
Blitzbesuchen einschreiten, wenn es mir sinnvoll erscheint. Ich
könnte pausenlos studieren, was in der Gesellschaft als Erfolg
versprechend gilt, und meine Kinder dahin treiben. Ich könnte sie
pushen und pampern, stetig überwachen und kontrollieren, bis es
ihnen zu den Ohren herauskommt, damit sie schön glücklich und
erfolgreich werden, wie alle es sagen. »Helicopterparents« nennen
Experten dieses Phänomen unter Eltern, das den Gerüchten nach immer
mehr um sich greift und zum Teil sogar Großeltern befällt. Eltern
schwirren um ihre Kinder wie kleine Hubschrauber, wie Motten das
Licht, weil sie überzeugt sind, dass ihren Kindern sonst Gefahr
droht und sie das Leben nicht meistern können.
Nein, vielen Dank. Ich verabschiede mich von
diesem Leistungswahn in unserer Gesellschaft, der jetzt auch nach
Müttern und Kindern greift. Ich schaue mir die Kinder an, sehe ihre
Ängste, ihr Verhalten, ihre Überforderung und ich weiß, dass ich
diesen Weg nicht weiter gehen werde. Ich bin da jetzt vernünftig
und verbiete mir diese kindischen Vorstellungen von perfekter
Lebensplanung und ewigem Glück. Nobody is perfect - das weiß
doch eigentlich jedes Kind. Was einmal spielerisch mit Babykursen
und Turnübungen begann, hat sich inzwischen zum hässlichen
Leistungsstress entwickelt. Ich bin nicht bereit, dem
Optimierungswahnsinn weiterhin Folge zu leisten, egal, wie laut uns
»Sicherheit«, »Erfolg« und »Glück« von allen Seiten
entgegenschreit.
Nach einigen Jahren in Mutterschuldgefühlen stelle
ich erstaunt fest, dass all das Gerede von Perfektion, Förderung
und Erfolg auf der einen Seite und von Risiko, Gefahr und Abgrund
auf der anderen meinen Kindern und mir eher schadet, als dass es
Gutes tut. Meines Wissens sind die Kinder nicht klüger und besser
als die Kinder der Generation vor ihnen. Im Gegenteil, sie sind
offenbar ängstlicher und gestresster als früher, weil wir Mütter
ängstlicher und gestresster sind. Wir glauben, den Ansprüchen nicht
zu genügen, und die Kinder spiegeln unser Verhalten. Wer weiß, wie
lange sie das durchhalten? Immerhin hatten wir Mütter den Luxus
einer Kindheit, in der wir nicht mit fünf Jahren vor der
»schlechten Schule« bibbern mussten, sondern uns auf eine wunderbar
aufregende Zukunft als Erwachsener freuen durften. »Wenn ich einmal
groß bin …« war bei uns ein verheißungsvolles geflügeltes
Wort.
Das Ironische an der Situation ist, dass der
Arbeitsmarkt der Zukunft für den Einzelnen wahrscheinlich nicht nur
entspannter als heute sein wird, weil unsere Kinder in
geburtenschwachen Jahrgängen geboren sind. Oder dass es heute
zahlreiche Möglichkeiten gibt, das heiß begehrte Abitur auch auf
Umwegen zu erreichen oder aber ohne Abitur zu studieren. Oder dass
es in Zukunft in unserer Gesellschaft weniger denn je zuvor auf
gute Noten und Schulwissen ankommen wird, sondern vielmehr auf
begeisterungsfähige, kreative Köpfe, die sich engagiert und
kraftvoll in unsere Gemeinschaft einbringen wollen. Es könnte
schwierig werden, diese Menschen zu finden, wenn sich jetzt schon
viele in der Kindheit restlos überfordert und bedrängt
fühlen.
Und was ist mit uns Müttern? Sind wir besser als
alle Mütter vor uns, weil wir uns ängstlich bemühen, die perfekte
Mutter zu sein? Ich kann nur für mich sprechen. Und da sage ich aus
vollem Herzen: sicher nicht. Das Ideal der perfekten Mutter hat mir
nicht dazu verholfen, ein besseres Ich meiner selbst zu entwickeln.
Im Gegenteil: Es kommt so rigide, borniert und leistungsorientiert
daher, dass es mich im Alltag erdrückt und im Umgang mit meinen
Kindern verkrampfen
lässt. Dieses Ideal kann mir nie und nimmer das Gefühl geben, eine
gute Mutter zu sein. Das ist mir inzwischen klar geworden. Und
nicht nur, weil ich keine Halbgöttin bin, sondern weil ich
eigentlich auch gar nicht so sein möchte wie diese Frau, die von
allen Seiten beschworen wird. Ehrlich gesagt kann ich mir nichts
Künstlicheres vorstellen als eine fehlerlose, ewig lächelnde
Mutter, die stets weiß, was gut für andere ist. Da könnten meine
Töchter ja gleich von einem Automaten aufgezogen werden. Ich glaube
auch nicht, dass meine Töchter das ersprießlich fänden. Ich glaube,
sie würden mich hassen. Wer hält so was denn aus?
Und so verabschiede ich mich schließlich leichten
Herzens von dem Ideal der perfekten Mutter und dem Anspruch, meinen
Kindern Tag für Tag nur das Beste geben zu müssen. Schluss mit
perfekt! Ich bleibe mir lieber selbst treu, denn darin bin ich am
besten, und laufe nicht mehr Luftschlössern von Makellosigkeit,
ewigem Glück und absoluter Sicherheit hinterher. Ich probiere,
experimentiere, lerne und staune, irre mich häufig und oft mache
ich es gut. Und den Kindern geht es bestens dabei. Eine entspannte
Mutter ist offenbar beflügelnd. Und mich kann so leicht nichts mehr
erschüttern.
Experten und Ratgeber? Mit gehöriger Skepsis und
Abstand. Ärzte und Hebammen? Wir suchen die guten und wissen jetzt,
was gut für uns ist.
Höchstleistungen? Karriere? Ja, gern - wenn der
Preis nicht zu hoch ist. Das Leben hat mehr zu bieten.
Fehler? Wir lernen daraus.
Schuldgefühle? Mit gesundem
Menschenverstand.
Perfektion in der Kindererziehung? Überflüssig wie
ein Kropf.
Zukunft? Golden! Es kann mir keiner das Gegenteil
beweisen.
Unser Motto: »Wer weiß, wozu’s gut ist!«
Stück für Stück und Tag für Tag erobere ich mir
das gute Gefühl, eine gute Mutter zu sein, mit allen Fehlern,
Schwächen
und Macken, die ich so habe. Tschüss, ihr Mutterschuldgefühle! Ich
lerne mich wieder zu schätzen.
Und was soll ich sagen? Ich stelle verblüfft fest,
dass das das Beste ist, was ich meinen Kindern bieten kann. Ich bin
nicht nur weit besser gelaunt, sondern sie lernen, dass wir uns
immer willkommen sind. Dass wir Frauen, Kinder und Männer uns ernst
nehmen und uns trotz oder vielleicht gerade wegen unserer
Unvollkommenheiten lieben. Es ist dieses gute Gefühl, respektiert
und angenommen zu sein, wie man auch sei. Genau das ist es, was
Menschen stärkt, für welche Gegenwart oder Zukunft auch immer. Und
von wem sollten Kinder das lernen, wenn nicht von uns?