Kapitel 3
Mutterschuld
Kaum habe ich die überwältigenden Erlebnisse der
Geburt grob verdaut, werde ich abgeschoben. Es ist nicht mehr wie
zu den Zeiten meiner Mutter, die nach einer normalen Entbindung 14
Tage Vollpension im Krankenhaus hatte.
»Heute geht es nach Hause«, ruft mir die
Krankenschwester fröhlich zu, als sie ins Zimmer rauscht.
Ich bin nicht begeistert. Ich bin erschöpft, das
Familienzimmer gefällt mir gut, die Aussicht ist schön, das Essen
ist prima. Außerdem laufen überall Experten herum und die
Nachtschwester ist äußerst praktisch. Draußen lauert die Gefahr und
das Ungewisse.
»Ich bin doch erst seit drei Tagen hier. Kann ich
nicht bleiben?«
»Es gibt dafür keinen Grund. Sie sind fit!«
»Vielleicht überlegen Sie es sich noch mal?«,
versuche ich es mit beschwörendem Unterton und füge triumphierend
hinzu:
»Schließlich war ich Risikopatientin!«
Sie belächelt mich mitleidig ob meines schwachen
Versuchs und rennt wieder hinaus. Es hilft nichts. Ich kann laufen,
ich kann stillen, ich darf gehen. Von nun an stehen wir auf eigenen
Füßen. Da sind keine Großeltern, die um die Ecke wohnen, oder
sonstige Verwandte, die sich bereitwillig
ausbeuten lassen. Ein paarmal kommt die Hebamme ins Haus, mein
Mann nimmt sich zwei Wochen Urlaub, dann bin ich frischgebackene
Mutter tagsüber auf mich allein gestellt. Zum ersten Mal habe ich
die Verantwortung für etwas Lebendiges, das nicht nur überleben
soll, sondern sich auch zu seinem Besten entfalten soll - und sich
eines Tages detailliert beschweren kann.
Väter machen es sich da oft leichter. Sie bedienen
sich einer raffinierten Rückzugstaktik - sie gehen davon aus, dass
Mütter auf magische Weise mehr über das Kind wissen als sie selbst
(»Du bist doch die Mutter!«): Warum schreit es jetzt? Was
macht es da? Was will es denn? Es gibt sogar Menschen, die an
geheimnisvolle Hormone glauben, die es Frauen viel leichter machen
als Männern, Babygeschrei und häuslichen Stress zu ertragen. Mit
einem derart beruhigten Gewissen bleiben viele Väter laut
offiziellen Studien die ersten Familienjahre dann lieber länger
außer Haus.
Doch geben wir Frauen es doch ruhig offen zu - wir
wissen meist genauso wenig über unsere Kinder wie unsere Partner.
Es ist fraglich, ob das jemals anders war, aber im Zeitalter der
pränatalen Diagnostik bleiben Intuition und naturgegebene Weisheit
ganz sicher zu großen Teilen auf der Strecke.
Anfängerglück
Mein Kind - das Abenteuer. Das Baby ist wie der
Besuch vom anderen Stern. Es setzt mich durch seine Laute,
Bewegungen und Hungeranfälle ständig in Erstaunen. Ich wusste
nicht, dass Babys so unterschiedliche Grimassen und Geräusche
machen können. Ich wusste nicht, wie wichtig die Verdauung ist. Mir
wird einiges klar im Leben.
Ich blicke in das Körbchen. Da schlummert mein
winziges Töchterchen ruhig in ihrem Bettchen, ganz
selbstverständlich, als wäre sie immer schon da gewesen. Es ist ein
Wunder! Ich bin selig. Genau so hatte ich mir das vorgestellt.
Genau so muss es sein. Wann war mir jemals ein Mensch so nah? Wen
habe ich schon von Kopf bis Fuß gewaschen, gewindelt, gestillt,
getröstet, gestreichelt, geherzt und geküsst? Wen habe ich so
hingebungsvoll im Schlaf beobachtet und auf jeden seiner Atemzüge
gelauscht? Wen habe ich stundenlang auf dem Arm getragen und innig
seinen süßen Duft eingeatmet? Welche glucksenden Laute haben mich
jemals so in Verzückung geraten lassen wie das Brabbeln dieses
winzigen Kindes? Ich schaue auf mein schlafendes Kind und bin
gerührt, tief ergriffen vor Mutterliebe.
Auf einmal öffnet das Baby seine goldigen Augen -
und die sind erschreckend düster. Ich sehe die süßen Mundwinkel
rasant im Bogen nach unten wandern, die Nase kraust, der Hals wird
rot, der Mund öffnet sich - und im nächsten Augenblick dröhnen mir
die Ohren wie unter Paukenschlägen. Baby schreit, und zwar kräftig.
Das Kind hat eine gute Lunge. Vorsichtig nehme ich das Kind aus der
Wiege, schleppe es umher, singe, schwinge, hüpfe, versuche es zu
stillen. Es hilft alles nichts. Es will sich partout nicht
beruhigen lassen. Je länger es dauert, umso elender fühle ich mich.
Anflüge von Hysterie steigen in mir auf. Mein Kind schreit um Hilfe
und ich weiß nicht, warum! Ich flehe es an, endlich Ruhe zu geben.
Es dauert lange, bis ich den Zwiebackkrümmel im Strampler entdecke.
Als mein Mann nach Hause kommt, schläft unser Kind zufrieden im
Bettchen und ich sitze verheult am Küchentisch. Wer hatte denn die
blöde Idee, ein Kind zu bekommen? (Ich habe vergessen, dass ich es
war.) Und nun muss ich es ausbaden und der feine Herr macht sich
derweil ein schönes Leben!
Jeder, der Babyschreie hört, versteht sofort, warum
es international zu den schwer erträglichsten Geräuschen zählt. Die
Natur hat es zum Überleben der Kleinsten so eingerichtet, dass alle
sofort alles tun würden, nur um ein Baby nicht mehr schreien zu
hören, aber Eltern können bei Strafandrohung nicht weglaufen.
Besänftigungskunst ist gefragt, aber die schlägt leider nicht immer
an. Es gibt - auch wenn einige Menschen dies nicht verstehen -
keinen Knopf zum Ausschalten. Ein Kind, so klein es auch sein mag,
hat durchaus Gründe zu schreien. Und wenn die Gründe nicht erkannt
und behoben werden, gibt es kein Pardon.
Leider habe ich mir den Mutterschuld-Virus
eingefangen, der da heißt: Mutter ist an allem schuld, ob
Birnenfigur, falsche Partnerwahl oder sonstiges lebenslanges
Unglück. Früher fand ich es irgendwie praktisch, meiner Mutter die
Schuld an allem zu geben. Jetzt bin ich selbst Mutter, bin nicht
mehr nur Tochter und Opfer. Da ändert sich die Perspektive. Ich bin
jetzt Täterin und dieses Wissen macht mich fertig, wenn ich meine
Tochter schreien höre. Mir fällt gar nicht auf, dass Schreien
eigentlich normal ist für ein Wesen, das nicht dezidiert
argumentieren kann oder die Zeichensprache beherrscht. Mir fällt
nicht mal auf, dass sie eigentlich wenig schreit.
Aber es winkt der Erfolg des Kindes, es winkt sein
Ruhm - und auf der anderen Seite lauert der Abgrund. Keine Mutter,
die sich im öffentlichen Raum anerkannt sehen will, kann mal locker
so in den Tag hinein leben, schon gar nicht, seit es diese
Kehrseite der Medaille gibt, die Mutterschuld. Der Grundgedanke
lautet hier: Die Weichen für die Karrieren der Kinder müssen
frühzeitig gestellt werden. Glück ist machbar - Pech allerdings
auch. Die beunruhigende Botschaft der Psychologen ist: Wenn die
Kinderstube versagt, droht lebenslanges Unglück.
Der Psychoboom, der hier Müttern heute arg zu
schaffen macht - denn sie sind es nun mal, die sich immer noch
hauptsächlich um die Kinder kümmern -, kam in den 70er-Jahren des
letzten Jahrhunderts auf. Bis heute hält sich hartnäckig die These
- so beschreibt es 1975 der Psychoanalytiker Kurt Eissler, zitiert
von Ursula Nuber in ihrem Buch Der Mythos vom Frühen Trauma
-, dass
»… die Ereignisse der ersten fünf Lebensjahre
darüber entscheiden, ob aus dem Kind später ein Verbrecher oder ein
Heiliger wird, ein Durchschnittsbürger oder ein Spitzenkönner, ein
gesunder, angepaßter Mensch oder einer, den Neurose und Depression
zerreißen.«
Obwohl es zunehmend kritische Stimmen gibt, die es
etwas übertrieben und einseitig finden, dass Hinz und Kunz ihre
desaströsen Gefühle und missratenen Handlungen bis
an ihr Lebensende mit dem Verhalten ihrer Mütter rechtfertigen
können, ist der Gedanke in unser aller Leben an eine übermächtige
Mutter allzu plausibel, als dass er sich schnell verflöge, und er
wird immer wieder gerne in der ein oder anderen Form verbreitet. Es
ist doch viel zu umständlich, in irgendwelchen komplexen Systemen
zu suchen wie etwa auch in den biologischen Veranlagungen,
vielleicht sogar die Lebensgeschichte eingehend zu untersuchen oder
gar die Entwicklungen in einer Gesellschaft und den Umgang des
einzelnen Menschen näher zu beleuchten. Nein, es ist weitaus
einfacher, eine klare, greifbare Ursache zu haben, die auch noch
schuldbewusst und stumm den Kopf senkt.
Das besonders Nette an der Mutterschuld ist, dass
man trotz aller Kritik erstens nicht genau weiß, was eine Mutter
denn nun tun muss, damit ihr Kind ein Heiliger oder ein
Spitzenkönner wird, und zweitens eigentlich überall Menschen
verbrecherisch, neurotisch und depressiv werden, auffallend wenige
aber als Spitzenkönner, Heilige und gesunde, angepasste Menschen
durch die Welt wandeln, sodass generell erst einmal ein
abgrundtiefes Mißtrauen gegen jedwede Erziehung einer jeden Mutter
besteht. Und heillose Verwirrung entsteht, wenn selbst
Spitzenkönner von Depressionen zerrissen werden und
Durchschnittsbürger zu Verbrechern werden. Im Grunde ist die
gesamte Kinderaufzucht verrottet.
Mütter von Superhelden werden selten geehrt, Mütter
von Verbrechern und Kranken werden täglich millionenfach verachtet.
Jeder Mensch wäre makellos und zu wahrhafter Größe fähig - wenn ihn
nicht die Kinderstube in den ersten fünf Jahren versauen
würde.
Der kleine Nachteil dieser so überaus beliebten
Erstenfünf-Jahres-Theorie ist, dass sie jeden einzelnen Menschen
zum lebenslangen Opfer seiner Kinderstube verdonnert. Wie soll ich
mein Leben gestalten, wenn alles schon zu Hause vorherbestimmt ist?
Bei manch einem empfindsamen Individuum löst dieser Gedanke
hilfloses Entsetzen und lebenslanges Opfergefühl aus - denn wie
soll man die Vergangenheit ändern? Der freie Wille, der jeden
Menschen theoretisch befähigt, trotz allem oder gerade deswegen
anders zu leben,
als man aufgrund seiner oder ihrer Kinderstube vermuten könnte,
spielt in der Fünf-Jahres-Theorie keine Rolle.
Auch ist es fragwürdig, ob tatsächlich alle
Neurosen, Psychosen oder Depressionen in unserer Gesellschaft in
den ersten fünf Lebensjahren begründet liegen. Ja, vielleicht sind
sie sogar ganz gesunde Reaktionen auf ungesunde Verhältnisse. Es
ist zwar verständlich, aber doch etwas naiv gedacht, dass der
Mensch, selbst wenn er perfekt entwickelt ist und gefördert wurde,
stets glücklich, gesund und erfolgreich ist. Leben wir denn im
Paradies? Na also.
Aber diese kleinen Haken der Fünf-Jahres-Theorie
sind offenbar nicht gewichtig genug, um die Schuldenlast von
Müttern zu mindern. Es hat sich nicht rumgesprochen, dass da etwas
nicht logisch oder zu kurz gedacht ist. Oder dass man die
Entwicklung eines Menschen nicht einfach berechnen kann. Macht
nichts. Wir haben ja Mütter. Meine Mutter konnte früher noch
unbefangen schimpfen: »Mein Gott, ist das Kind laut! Was ist nur
mit ihm los?«
Ich stammele verzweifelt: »Mein Gott, ist das Kind
laut! Was habe ich nur falsch gemacht?«
Angst, meine ständige Begleiterin
Leider bin ich nicht nur schuldbewusst, sondern zu
allem Überfluss extrem auf Risiko und Gefahr geeicht. Damit wir uns
nicht falsch verstehen - eine gewisse Nervosität und Angst gehört
als Mutter in den ersten Wochen, Monaten und Jahren unbedingt dazu,
ja, sie sind sogar unerlässlich. Denn da niemand vorhersehen kann,
was einem hilflosen Baby oder Kind in der nächsten Minute zustoßen
kann, sind es gerade diese Ängste, die eine gute Mutter ausmachen
und keinesfalls Anzeichen eines tief neurotischen Homo sapiens. Das
bestätigen Experten wie Nadia Bruschweiler-Stern und Daniel N.
Stern in ihrem Buch Die Geburt einer Mutter. Intuition zu
besitzen bedeutet eben gerade nicht, frei von Angst und Sorgen zu
sein - sind sie doch der Motor, der junge Mütter schön auf Zack
hält und sie tödliche Gefahren wittern
lässt. Ein Mensch, der sich um ein Neugeborenes kümmert, muss in
allen Sinnen sensibilisiert und ständig in Alarmbereitschaft sein,
um blitzschnell einschreiten zu können.
Nur wittere ich Unglück und Tod auf 1000
Meilen.
Mir fehlt nicht nur die Erfahrung, dass und wie ein
Kind bei mir wachsen und gedeihen kann, was mich jetzt ein
gehöriges Stück aufmuntern würde, sondern ich habe durch diese
wunderbar fokussierte Schwangerschaft meine Risiko-Gefahren-Antenne
auf gefühltes Satelliten-Maß ausgefahren. Ich bin mir eigentlich
nie sicher, ob ich es richtig mache oder gerade dabei bin, meine
Tochter für ihr gesamtes Leben zu ruinieren. Ich traue mich nicht,
einfach auf meine Intuition zu hören, denn habe ich nicht in der
Schwangerschaft gelernt, dass das völlig verantwortungslos
wäre?
Ständig gehen mir quälende Fragen durch den
Kopf:
Halte ich das Köpfchen gut? Oder kriegt mein Kind
jetzt einen Halswirbelschaden? Ich denke an das gefürchtete
Schütteltrauma!
Trinkt das Kind genug oder zu viel? Oder verhungert
es allmählich vor meinen Augen? Wird es zu fett und kriegt diese
elenden Fettzellen nie wieder weg?
Ist meine Tochter nach Vorschrift gewindelt? Oder
bekommt sie schreckliche Infektionen, die ich mit Antibiotika
behandeln muss? Wird das nicht ihr gesamtes Imunsystem lebenslang
ruinieren?
Ist sie zu warm oder zu leicht angezogen? Bekommt
sie einen Hitzeschock oder eine tragische Lungenentzündung? Muss
sie dann ins Krankenhaus und an einen schmerzhaften Tropf? Ist
meine Milch gut genug? Oder kann ich von Anfang an einfach nicht
das Beste geben?
Bekommt sie genügend Schlaf, frische Luft, Pflege,
Aufmerksamkeit, Liebe? Oder wird sie langsam unter meinen
liebenden, aber leider unfähigen Händen dahinwelken?
Es ist furchtbar. Und es sind nicht nur die
handwerklichen Fragen, die mich zermürben. Ständig habe ich Angst,
meiner Tochter könne etwas zustoßen. Verhungern, ersticken, vom
Wickeltisch fallen, in der Badewanne ertrinken oder schlicht
aufhören zu atmen.
Manchmal wird mir alles zu viel, die Nähe, die
Verantwortung, die Angst. In diesen Momenten sehne ich mich nach
meinem alten, einfachen Leben zurück, fange an, biestig zu grübeln,
ob andere Mütter nur von der Mutterschaft schwärmen, damit sie
nicht alleine in der Falle sitzen. Und dann wieder schüttelt es
mich vor Mitleid mit dem armen Wurm - wie soll das arme Kind mit
solchen dilettantischen Eltern überhaupt leben? Wie kann es
überhaupt, frage ich mich düster logisch denkend, wenn bei uns
schon Topfpflanzen verkümmern?
Stillen nach Bedarf
Nicht nur die Ängste machen mich zu einem kleinen
Nervenbündel. Nein, es ist auch die Ernährungsweise meines Kindes,
die mich langsam, aber sicher an den Rand des Wahnsinns treibt.
Denn ich stille nach Bedarf. Stillen ist das Beste für das Kind.
Das sagen die Hebammen, die Krankenhäuser, die Stillgruppen, es
steht in jedem Ratgeber, in jedem Artikel zur Baby-Ernährung, ja,
wir hören es sogar in Werbespots und lesen es auf Kartons von
Milchpulver, die die Muttermilch ersetzen kann. Eine gute Mutter
stillt ihr Baby für mindestens sechs Monate nach Bedarf, am besten
ein ganzes Jahr, und - wie auf den Internetseiten von Stillforen
und Stillgruppen zu lesen ist - gerne auch mehr als zwei Jahre. Die
Stillberaterinnen von La Leche Liga Deutschland e. V. - ein Verein,
der eng mit der WHO (der Weltgesundheitsorganisation)
zusammenarbeitet - weisen darauf hin, dass es (zwar offensichtlich
eine Untergrenze, aber) keine Obergrenze für die Stilldauer
gibt.
»Anthropologische Forschungen ergaben Hinweise
darauf, dass das natürliche Abstillalter beim Menschen zwischen
zwei, fünf und sieben Jahren liegt. Als Stillorganisation in
Deutschland sehen wir es als unsere Aufgabe an, jede Familie dabei
zu unterstützen, so lange zu stillen, wie es ihren individuellen
Bedürfnissen und Möglichkeiten entspricht.«
Nun sind meine individuellen Bedürfnisse zu
stillen bei einem halben Jahr relativ gut befriedigt, aber ich
traue mich nicht abzustillen. Muttermilch soll zum Beispiel die
emotionale Bindung zum Kind fördern und bietet Nestschutz, die
Abwehr von Krankheitserregern. Sie ist auch ein gutes Mittel gegen
Babyschnupfen und soll Allergien vorbeugen, aber dafür muss eine
Mutter schon wenigstens ein Jahr lang die Brust hinhalten.
Leider wird »Stillen« überdies als Synonym für
»Stillen nach Bedarf« verwendet, eine Ernährungsweise, die in den
letzten Jahren sehr in Mode gekommen ist. Wenn ich von »Bedarf«
rede, erübrigt es sich nach all dem bisher Gesagten, darauf
hinzuweisen, dass hier natürlich nicht der Bedarf der Mutter
gemeint ist. Auf so etwas würde gar keiner mehr kommen. Von Müttern
wird ganz selbstverständlich erwartet, sich bedingungslos auf die
Bedürfnisse des Kindes einzustellen. Stillen nach Bedarf meint, das
Kind anzulegen, wann immer es möchte. Acht bis zwölf Mal in 24
Stunden gilt da als völlig normal, so heißt es in Stillgruppen, in
Ratgebern, im Internet. Auch 12 bis 24 Mal sei akzeptabel,
vermelden Still-Blogs. Und La Leche Liga e. V. verkündet energisch,
es sei ein Ammenmärchen, dass ein Mindestabstand zwischen den
Stillmahlzeiten von zwei Stunden eingehalten werden sollte.
Schön. Einige Babys brauchen ewig, bevor sie mit
dem Trinken fertig werden. Man sitzt da und wartet. Es ist sehr
zeitaufwendig und manch eine Mutter könnte gleich wach bleiben, um
den nächsten Bedarf zu stillen. Aber egal. Das Kind ist wichtiger
als der Schlaf der Mutter und natürlich hat eine gute,
aufopferungsvolle Mutter das tiefe Bedürfnis, ihr Kind jahrelang
rund um die Uhr zu stillen. Was denn sonst?
Einmal abgesehen von einigen Schwierigkeiten in der
Alltagsgestaltung von Frauen, die neben dem Kind auch andere
Aufgaben haben, wie sieht es denn mit der Bewältigung von
Schlafmangel aus? Wer hier Antworten bei La Leche e. V., in
Ratgebern, Broschüren oder im Internet sucht, wird meistens nicht
fündig, denn dafür gibt es ja auch keine Lösung. Dafür finden wir
viele gute Ratschläge, wie wir mit anderen
Schwierigkeiten beim Stillen fertigwerden können, um
durchzuhalten.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich stille
gerne. Stillen ist schön - wenn man einmal die blutenden Bisswunden
am Anfang überstanden hat, deren Schmerzen einem jedes Mal beim
Anlegen des Kindes die Fußnägel aufrollen. Kleine Babys haben
ungeheuer starke Kiefer und sind gierig. Da kann man zwar »Na, na,
na!« brüllen, es bringt aber rein gar nichts, und so schließt man
die Augen und denkt ans Vaterland. Aber nach zwei Wochen ist der
Spuk meist vorbei, die Brust hat sich gewöhnt oder das Baby ist
erzogen, was weiß denn ich. Ich habe in meinem Leben nur eine
Mutter getroffen, die an der Brust von Anfang an völlig
unempfindlich war, und ich war zwischen Unglauben, Ehrfurcht und
Mitleid hin- und hergerissen. Die meisten Mütter behelfen sich mit
Quarkwickel, Stillhütchen, Globuli oder sonstigem
Hilfswerkzeug.
Aber Stillen ist nicht schön, wenn man sich dazu
gezwungen fühlt. Nicht wenige Mütter stehen tapfer stillend
schmerzhafte blutige Brustentzündungen durch und kämpfen sich
eisern durch die gesamte Stillzeit, weil sie glauben, keine guten
Mütter zu sein, wenn sie es nicht tun. Unseren Müttern wurde oft
noch nach wenigen Stillversuchen gesagt, sie seien zum Stillen
nicht geeignet, und damit war das Thema erledigt, der Stillversuch
nach wenigen Tagen abgebrochen. Es wurde kein großes Gewese
gemacht, sondern die ganze Sache pragmatisch gesehen, von Schuld
noch keine Spur. Davon mag man halten, was man will, aber heute
scheint es in das andere Extrem verfallen zu sein. Es gibt
Stillberaterinnen, Stillratgeber und Still-Krankenhäuser, die
helfen und überzeugen sollen, unter allen Umständen die erste
schwierige Zeit zu überstehen. Es wird auch unter Müttern nicht
gern gesehen, wenn Frauen beim Stillen nicht mitziehen. Die eine
oder andere Mutter fühlt sich da argwöhnisch beobachtet, wenn sie
dem Stillen lieber entsagt. Ja, manche munkeln sogar von einer
regelrechten Still-Mafia, die Abweichlerinnen mit Vorwürfen und
lebenslangem Kontakt-Entzug drohen.
Allerdings muss man sich fragen, was langfristig
schlimmer ist - soziale Ächtung oder eklatanter Schlafmangel?
Wache Nächte
Wenn ich von Schlafmangel rede, meine ich nicht
die schwebende Müdigkeit, die mich früher nach einer durchtanzten
Nacht umgab. Ich meine auch nicht die wohlige Müdigkeit nach einem
munteren Ausdauertraining oder einem kleinen Schäferstündchen. Ich
spreche von einer Müdigkeit, die jenseits von bleiern ist. Von
einem Druck in deinem Kopf, der deine Kiefer wie Granit
zusammenpresst und dir das Gefühl gibt, langsam über Asphalt zu
schrammen. Hätte mir jemand vor zehn Jahren gesagt, ich würde
später mal für meine Kinder jahrelang jede Nacht zwei bis acht Mal
aufstehen, ich hätte ihn nur mitleidig belächelt, denn ich gehöre
zu den Menschen, die sehr gerne und ausgiebig schlafen, und so ein
Irrsinn stand komplett außerhalb meines Vorstellungsvermögens. Ich
hätte sogar vermutet, dass dieses ungesunde Verhalten langsam, aber
sicher zum Tode führt.
Eines Tages lese ich mit grimmiger Genugtuung in
der Zeitung, dass Schlafentzug schon seit Urzeiten zu den gängigen
Foltermethoden gehört. Manche zivilisierte freie Welt hat diese
Methode übernommen: Um Menschen geständig zu machen, wird ihnen der
Schlaf geraubt und gleichzeitig werden sie permanent mit
Kinderliedern beschallt, vorzugsweise, wie ich lese, aus der
Sesamstraße. Ich habe sofort weitere Interpreten der
Kindermusikszene auf der Zunge, die Inhaftierte mürbe werden lassen
könnten, aber ich verkneife mir wohlweislich alle lauten
Kommentare. Ich will nicht geschmacklos und undankbar erscheinen
und mein Mutterleben mit dem harten Dasein von Häftlingen
vergleichen oder aber krasse Verhörmethoden verniedlichen. Trotzdem
bin ich seit diesem Tag etwas beruhigt. Erklärt das nicht so
manchen meiner hysterischen Anfälle? Ich bin nicht verrückt - ich
werde quasi gefoltert! Millionen Frauen weltweit rennen Nacht für
Nacht mit einem Kind umher, und kaum eine von
ihnen fragt sich mal, ob sie nicht einfach mal selbst nach Bedarf
schlafen sollte.
Zugegeben: Schlafen geht natürlich am besten, wenn
das Kind schläft. Es ist lustig, was Mütter und Väter alles
unternehmen, um den Nachwuchs zur Ruhe zu bringen. Schreien lassen
darf man das Kind nicht, weil das Trauma droht. DAS TRAUMA! Keiner
weiß Genaues über dieses furchtbare Phänomen, aber alle wissen,
dass das Trauma unsere Kinder tief verstört und schneller da ist,
als man bis drei zählen kann. Lässt man ein Kind schreien - das
Trauma kommt! Nimmt man ihm zu früh den Schnuller weg: traumatisch!
Setzt man es zu früh aufs Töpfchen: lebenslanger
Trauma-Schaden!
Wir können uns nur immer wieder fassungslos fragen,
wie die Menschheit sich jemals entwickeln konnte bei all den
furchtbaren Traumata, die in der Kinderstube lauern - und ich bin
sicher, der eine oder andere ist überzeugt, dass wir uns wegen
ihnen nur sehr schlecht entwickelt haben.
Also, schreien lassen geht nicht, da sind wir uns
Hobby-Pädagoginnen im neuen Jahrtausend einig. Höchstens vielleicht
ein paar Minuten unter Anleitung von ausgeklügelten Ratgebern, die
einem immer wieder versichern, dass jedes Kind schlafen lernen
kann, dass es normal ist, wenn das Baby in diesen Minuten schreit
und uns und der Menschheit auch in Zukunft vertrauen wird. Und
jeder, der das mal gemacht hat, weiß, dass uns Eltern in den paar
Minuten trotzdem das Herz bricht, weil wir glauben, das Kind zu
traumatisieren und unwiderruflichen Verlustängsten auszusetzen, und
das Kind erst dann so richtig in Fahrt kommt. Trotz aller
Erfolgsmeldungen, die hier und da durch die Presse geistern: Der
Preis der wenigen Minuten ist vielen eindeutig zu hoch.
Ich habe mich unter müden Eltern umgehört: Einige
fahren ihr Baby im Pkw durch die nächtlichen Straßen, weil der
Kleine Brumm-brumm-Geräusche beim Einschlafen liebt. Andere legen
ihren Sprössling auf die Waschmaschine im Schleudergang, weil ein
sanftes Vibrieren ihn einschlafen lässt (Vorsicht - die Maschine
braucht einen guten Stand!). Die dritten singen tapfer ellenlange
Schlaflieder, bei denen sie selbst kaum die Augen offen halten
können, die ihre Babys
aber offenbar gut unterhalten. Eltern halten Händchen, hören mit
ihren Kindern spezielle Babymusik oder tragen Babys in
Gewaltmärschen durch die Wohnung. Ich für meinen Teil versuche es
mit ausgeklügelten Fußmassagen, was aber eigentlich unsinnig ist,
denn meine Tochter sieht mich nachts gern alle zwei Stunden an
meiner Brust, auch gern mit Massage.
Die lieben Mitmenschen … wissen alles besser
Ich nehme den Begriff »Stillen nach Bedarf«
bitterernst. Um es neutral zu sagen: All dies greift die Nerven
zusätzlich an.
Wundert es da noch, dass ich überaus sensibel auf
launige Bemerkungen meiner Mitmenschen reagiere? Sprüche wie
»Solltest du sie nicht einfach schreien lassen?« oder »Findest du
nicht, dass du etwas wenig schläfst?« bohren nicht nur in den
Existenzängsten einer todmüden Frau, sondern legen den Finger in
die offene Wunde: meine Ohnmacht. Ich kann meiner Mutterschuld
nicht entkommen.
Wenn ich dann noch Kommentare meiner Mitmenschen zu
hören kriege, die versuchen, mir weitere, neue Schuldgefühle
einzureden, von denen ich bisher noch gar keine Ahnung hatte, kann
es schon mal sein, dass ich am Rande eines Nervenzusammbruches
daherschrabbe. Wenn ich mir als Mutter den richtigen emotionalen
Kick geben will, brauche nur mit meinem Baby in die Öffentlichkeit
zu gehen. Wenn ich Glück habe, treffe ich auf schlaue Leute.
»Ach, ist die Kleine niedlich«, sagt die
hochgewachsene Rentnerin und schaut erfreut in den
Kinderwagen.
»Danke«, sage ich zufrieden.
Sie schaut mich streng an.
»Sie müssen es immer auf die Seite legen. Das
wissen Sie ja wohl. Sonst kriegt es einen platten Kopf.«
»Äh ja, mache ich«, stammele ich verwirrt über die
unerwartete Wendung des Gesprächs.
»Und Sie müssen dem Kind von Anfang an Grenzen
setzen.
Von Anfang an!« Sie blitzt mich aufgeregt an. »In unserem Haus, da
ist ein Kind, das können Sie sich nicht vorstellen. Frech ist das,
frech!«
Ein Tropfen ihrer Spucke landet auf meiner
Lippe.
»Das hat Ausfälle, sage ich Ihnen. Ausfälle! Das
schreit rum und ist laut. Unfassbar! Erschütternd!« Sie blickt
finster auf mich runter. »Man müsste dem Bengel mal eins gründlich
hinter die Löffel geben. Und die Mutter macht nichts! Nichts!
Unfähig, sage ich Ihnen, vollkommen unfähig!«
»Wie alt ist denn das Kind?«, frage ich mit Kloß im
Hals. In Gedanken sehe ich mich schon als neuesten Gesprächsstoff
im Viertel kursieren.
Sie starrt mich an.
»Drei oder so.«
»Oh«, sage ich und lächele gequält. »Das soll ja
auch kein leichtes Alter sein.«
»Sind Sie auch so eine von diesen
Antiautoritären?«, fährt sie mich an. »Das hätte es früher nicht
gegeben. Sind Sie etwa auch so eine?«
Ich ziehe meinen Kopf ein, drehe meinen Kinderwagen
und mache mich davon.
»Ich geh hier immer spazieren!«, schreit sie mir
hinterher und schüttelt fröhlich ihren Stock in der Luft.
Ohne Kind war ich wie ein Blatt im Herbstwind,
konnte unbeachtet durch die Straßen gleiten. Mit Kind bin ich so
etwas wie Freiwild. Ich muss auf einmal so etwas Putziges,
Hilfloses oder Armseliges an mir haben, anders kann ich mir nicht
erklären, warum mich völlig Fremde abfangen und Ratschläge geben.
Und nicht nur die Rentner des Viertels lauern geradezu darauf, mich
in ein beratendes Pläuschchen zu verwickeln. Auch »das Mittelalter«
hält sich nicht zurück. Schon in der Schwangerschaft haben mir
Fremde neckisch auf den Bauch gefasst. Jetzt halten sie mir ab und
an kleine Vorträge. Und ich bin da keine Ausnahme. Ich habe mich
erkundigt. Jede Mutter hat ihre eigenen Anekdoten. Die Palette
reicht von netten Komplimenten über das Baby bis hin zu hässlichen
Bemerkungen über Aussehen von Mutter und
Kind. Man mag es kaum glauben, aber manche Mitmenschen fühlen sich
offenbar aufgerufen, nicht nur ein Baby ungeniert nach
Erscheinungsbild und Fähigkeiten zu bewerten - und die Mängelliste
reicht von spärlicher Kopfbehaarung über mehr oder weniger opulente
Körperformen bis hin zu auffälliger Säuglingsakne oder
Neurodermitis -, sondern sind sehr interessiert daran, auch den
Müttern mal eben so im Vorbeigehen eine Standpauke zu halten. Jeder
meint, sein Scherflein zu einer gelungenen Kinderaufzucht beitragen
zu können. Zwar haben längst nicht mehr alle eigene Kinder, aber
alle haben eine eigene Mutter. Da kann man doch mitreden. Gibt es
heutzutage eine Frau mit Kindern, die wegen solch charmanter
Wortbeiträge nicht schon einmal Tränen in den Augen hatte?
Besonders verblüffend ist für mich immer noch die
Gruppendynamik im Supermarkt. Ich wusste nicht, dass Deutsche
öffentlich so leidenschaftlich agieren können, wenn sie sich durch
eine Mutter ihrer Ruhe beraubt fühlen. Ich wusste nicht, dass
Risiko und Gefahr im Einzelhandel lauern.
Wir stehen an der Kasse in der Schlange. Es ist
kurz vor Feierabend. Die Luft ist stickig. Draußen ist es schon
dunkel. Es riecht nach muffigen Mänteln und kaltem Zigarettenrauch.
Mein Kind liegt vor mir im Kinderwagen und schläft. Und dann
schläft es nicht mehr. Es wacht auf und schreit und sieht nicht
ein, dass das gerade ungünstig ist. Mit anderen Worten: Ich bin mit
einem schreienden Kind in der Warteschlange im Supermarkt fest
verkeilt. Sofort steigt Panik in mir auf. Jetzt geht es gleich los.
Jetzt entfaltet sich das teutonische Temperament.
Der Mittvierziger hinter mir wirft theatralisch die
Augen zum Himmel und seufzt herzzerreißend laut. Die Frau vor mir
schüttelt stumm und erschüttert den Kopf. Menschen an anderen
Kassen und um uns herum fangen an, nervös mit den Füßen zu scharren
und eindeutiges Fluchtverhalten zu zeigen. Und von hinten brüllen
sie aufmunternde Kommentare:
»Meine Ohren!!!«
»Ruhe!«
Oder:
»Wo ist die Mutter?«
Die Kassiererin kaut genervt auf ihrem
Kaugummi.
Ich würde vielleicht etwas erwidern, würde
vielleicht an gesunde Höflichkeitsformen erinnern oder auch mal
»Ruhe!« brüllen, wenn ich nicht so müde wäre, so erschöpft,
unsicher und verzagt und überhaupt das Gefühl hätte, es sei alles
meine Schuld. Ich weiß ja, dass ich das Kind nicht im Griff habe.
Ich lächele schwach. Entschuldigt, dass wir auf der Welt sind. Mit
einem großen Kloß im Hals eile ich mit dem schreienden Kind davon.
Und merkwürdigerweise ist da auch niemand, der ein gutes Wort für
uns einlegt.
Denn warum auch?
Störfaktor Kind
Die Abneigung gegen Kinderlärm findet
interessanterweise ihre Entsprechung in der deutschen Gesetzgebung.
In der Verfassung sind Rechte von Kindern nicht verankert. Obwohl
immer mehr Gerichte kinderfreundlich entscheiden, können Familien
prinzipiell immer noch aus der Wohnung geklagt werden oder
Kindergärten können geschlossen werden, wenn sich Nachbarn von der
Lautstärke belästigt fühlen. In einer Welt, in der immer weniger
Menschen Kinder bekommen, sind viele Erwachsene das Leben mit
Kindern nicht mehr gewöhnt. In der ersten Hälfte des vergangenen
Jahrhunderts waren nur 10 Prozent aller Frauen kinderlos. Heute
sind es mehr als 30 Prozent. In Hamburg zum Beispiel wohnen nur
noch in jedem zehnten Haushalt Kinder.
Das macht das Leben für Eltern nicht einfacher.
Tagsüber gehe ich mit meiner Tochter nicht nur wegen der frischen
Luft viel spazieren, sondern auch, damit andere sich nicht vom
Babygeschrei gestört fühlen. Nachts hetze ich zu meinem brabbelnden
Baby und versuche es ruhig zu wiegen, bevor es überhaupt anfangen
könnte zu schreien. Meinem Mann diese Aufgabe zu erteilen, ist
zwecklos. Er kann nicht nur
nicht stillen, er wird auch erst dann wach, wenn ich schon
hellwach neben ihm liege und energisch mit den Fingern auf der
Matratze trommle. Nein, das kann ich mir gleich sparen.
So gebe ich mir keine Ruhe, damit die Ruhe der
anderen nicht gestört wird. Und je mehr Horrorgeschichten ich aus
dem Bekanntenkreis über aggressive Nachbarn höre - wie die von den
Menschen, die einen Eimer Wasser vom Balkon auf ein brüllendes Baby
auf dem Balkon unter ihnen schütteten -, desto gehetzter fühle ich
mich.
Freies Lachen, Singen, unbekümmertes Schreien,
Brüllen und Jauchzen - ach, wäre das schön! Bilde ich mir das nur
ein oder stören sich wirklich mehr Menschen an Kinderlärm als am
Geräusch mehrspuriger Straßen? Vielleicht denken sie, dass
Automobile nicht schlecht erzogen sind.
Wahrscheinlich ist es da nur logisch, dass
Automobile in unserer Gesellschaft mehr Raum als Kinder haben.
Jeder einzelne Parkplatz für ein Auto ist größer als der Platz, der
einem Kind in der Wohnung von Stadtplanern durchschnittlich als
Lebensraum zugestanden wird. In der Stadt können Kinder nicht an
frischer Luft frei spielen, weil Pkws freie Fahrt haben. Die
kleinen eingezäunten Areale, in die Kinder deshalb zurückgedrängt
werden, heißen »Spielplätze«, weil es tatsächlich die einzigen
Plätze zum Spielen sind. Kaum einem fällt auf, wie verdreht eine
Welt ist, in der Vehikel Kinder verdrängen dürfen. Ja, es ist
eigenartig, dass sich nur Mütter voll auf die Bedürfnisse von
Kindern einstellen müssen, alle anderen offenbar nicht.
Und nun komme ich mit meinem Kind. Ich wittere
wunschgemäß jede Gefahr, wie von der Natur vorgesehen, und meine
Alarmbereitschaft läuft auf Hochtouren. Aber leider hat die Natur
nicht an Reizüberflutung und Diesel-Feinstaub gedacht. Früher
vielleicht als anregend empfundene Straßengeräusche, Gerüche und
Farben wirken auf einmal brüllend laut, penetrant und grell und die
Sorge um das Baby lässt ständig mein Herz rasen. Nicht selten falle
ich hektisch in Galopp, um mein Baby aus dem ohrenbetäubenden Krach
und den stinkenden Abgasen herauszubringen. Wie um Himmels willen
soll ich mein Kind vor Umweltgiften schützen
? Wie soll ich das einhalten, was in den Ratgebern so unermüdlich
und dringend gefordert wird?
Meine Empfindsamkeit nimmt mit den Wochen zwar ab,
dafür nimmt mein Kind zu. Die körperliche Anstrengung wird größer.
Ich kann alle Frauen mit starkem Kreuz nur beglückwünschen. Schön
für euch! Ich selbst kann mein Baby nicht im Tragetuch tragen. Mein
Rücken schmerzt unter dem Gewicht nach wenigen Minuten. Mit dem
Kinderwagen allerdings komme ich vor jeder Bordsteinkante,
U-Bahn-Treppe oder Ladenstufe ins Schwitzen, denn ich muss den
Wagen möglichst ruckelfrei hieven und dann geschickt durch enge
Zugänge manövrieren. Meterhohe Eingänge bei Bus und Bahn sind
eindeutig etwas für Fortgeschrittene. Mit hochrotem Kopf lerne ich
schnell, meinen Radius einzuschränken. Es ist mir zunehmend
unerklärlich, warum das Fahren eines Kinderwagens nicht wie Windeln
und Baden im Geburtsvorbereitungskurs erlernt wird oder zumindest
psychologisch schonend auf dieses Alter Ego einer Gefängniskugel
vorbereitet wird. Denn Mutter, Kind und Wagen verschmelzen quasi zu
einer klobigen Einheit.
Adieu, ihr engen Discountläden, Boutiquen und
Weihnachtsmärkte! Lebt wohl, ihr netten Cafés, Gaststätten und
Kinos! Wir Mütter halten uns jetzt im Freien auf - auf
Spielplätzen, in Parks und Biergärten, im Winter in Einkaufszentren
und Restaurants schwedischer Möbelgeschäfte. Macht euch nicht vor,
dass euch das Tragetuch vor dem gesellschaftlichen Abseits rettet -
Kinder, weil laut lebend, sind selten erwünscht.
Hilfe! Wie soll ich mein Kind vor dieser Welt
retten? Wo bitte ist die Idylle, die ich dem Kind bieten soll? Es
hilft nichts. Ich brauche einen Experten.
Und wieder mal geht es zur Kinderärztin.
Bei der Kinderärztin: Von der U1 bis zur U11
»Ja, das ist doch prima!« Die Kinderärztin schaut
lächelnd auf die Untersuchungsergebnisse.
»Sie können zufrieden sein. Ihr Kind entwickelt
sich gut.«
Dankbar schaue ich sie an. So eine nette Frau. So
sympathisch. Mir fällt ein riesiger Stein vom Herzen. Ich bin bei
einer Kinderuntersuchung, einer sogenannten »U«.
Glücklicherweise hat jedes Kind in Deutschland ein
Anrecht auf regelmäßige Untersuchungen bei Kinderärzten, die in
unregelmäßigen Abständen kontrollieren, ob das Kind sich gut
entwickelt und gesund ist. Die erste Untersuchung - kurz U1 genannt
- findet direkt nach der Geburt statt, die U2 nach drei bis zehn
Tagen, die U3 in der vierten bis sechsten Lebenswoche, die U4 im
vierten Lebensmonat, dann U5 bis zur U9 in den folgenden Jahren bis
zum 64. Lebensmonat des Kindes, sodass kein kleiner Mensch in den
ersten fünf Jahren längere Zeit unbeobachtet bleibt. Neuerdings ist
man dazu übergangen, zwei zusätzliche Untersuchungen für Sieben-
oder Achtjährige und Neun- bis Zehnjährige einzuführen. U10 und U11
sollen psychische Probleme, Verhaltensstörungen und auch
schädlichen Medienkonsum der Kinder aufdecken.
Praktischerweise sind diese Untersuchungen der
Kinder mit der Ermittlung von schlechten Eltern gekoppelt.
Ärztliche Untersuchungen sind oft die einzigen Möglichkeiten,
Gewalt und Vernachlässigung in Familien zu entdecken. Deshalb wird
ein Fernbleiben der kleinen Patienten äußerst kritisch gesehen. Die
Untersuchungen sind theoretisch freiwillig, aber das System des
Kinderuntersuchungshefts funktioniert wie eine Rasterfahndung: Man
sucht nach den Merkmalen, von denen man annimmt, dass sie auf den
gesuchten Personenkreis zutreffen. Und im Falle von gewalttätigen
Eltern oder solchen, die ihre Kinder vernachlässigen, nimmt man an,
dass diese zunächst einmal ein gemeinsames Merkmal haben,
nämlich das, zu den Untersuchungen überhaupt nicht zu
erscheinen.
Nordrhein-Westfalen startet den Modellversuch für
das neue Meldesystem des Bundes: Kommen Kinder nicht zu den
Untersuchungen, müssen die Kinderärzte das melden und die Daten
werden mit den Daten der Einwohnermeldeämter verglichen. Wenn trotz
schriftlicher Ermahnungen
die Eltern mit dem jeweiligen Kind nicht innerhalb weniger Wochen
bei den Regeluntersuchungen erscheinen, wird das Jugendamt
eingeschaltet.
Das heißt für uns frischgebackene Eltern:
1. Wenn wir nicht an den Pranger gestellt werden
möchten, vergessen wir das mal ganz schnell mit der Freiwilligkeit,
planen unsere Urlaube sorgfältig außerhalb der Meldezeit und nehmen
pflichtschuldigst alle anberaumten Termine wahr. Was den meisten
Eltern kein Kopfzerbrechen machen dürfte, weil wir sowieso
inzwischen alle überzeugt sind, dass nur regelmäßige Kontrollen
durch Experten das Beste für unsere Kinder sind, und weil überdies
hinaus kaum jemand von uns weiß, dass die Untersuchungen freiwillig
sind. Das verschweigen Ärzte gern.
2. Wir können uns darauf verlassen, kontrolliert
zu werden. Schädliches Versagen unsererseits bleibt nicht
unbeobachtet. Wir können gar nicht großen Blödsinn machen. Man
passt auf uns auf. Ja, wären unsere Kinder Salatköpfe, könnte man
das »kontrollierten Anbau« nennen.
Die Untersuchungen sind zeitlich so angelegt, dass
verschiedene Entwicklungsstufen der Kinder berücksichtigt werden
und schwere Fehlentwicklungen und Erkrankungen meist rechtzeitig
entdeckt werden dürften. Dabei ist das Kinderuntersuchungsheft in
der Mutterschaft das, was der Mutterpass in der Schwangerschaft
ist. Dieses gelbe Heft vom Bundesausschuss der Ärzte und
Krankenkassen - oder in letzter Zeit auch schlicht »Gemeinsamer
Bundesausschuss« genannt - soll Eltern und Kind in den ersten
gemeinsamen Jahren begleiten. In ihm werden die Ergebnisse und
Messungen der Untersuchungen eingetragen.
Kinderuntersuchungen sind prima. Es ist für alles
gesorgt. Im Prinzip könnten sich Eltern nun relativ entspannt
zurücklehnen. Tun sie aber nicht. Im Gegenteil, viele Eltern fangen
an zu schwitzen. Denn einerseits sind für einige Eltern die
Texte im Heft der erste beunruhigende Kontakt mit der berüchtigten
Fünf-Jahres-Theorie. Gleich auf der ersten Seite des
Kinderuntersuchungshefts werden Mütter und Väter auf den Ernst der
Lage eingeschworen:
»Wichtig für die Eltern
(Erziehungsberechtigte)
Zweck dieser Untersuchungen ist die Früherkennung
von Krankheiten, die die normale körperliche oder geistige
Entwicklung Ihres Kindes in nicht geringfügigem Maße gefährden.
Früherkennung ist Voraussetzung für eine erfolgreiche
Behandlung.
Bedenken Sie, dass die Entwicklung in den ersten
fünf Lebensjahren entscheidend für die spätere körperliche und
seelische Gesundheit Ihres Kindes ist.«
Es ist das alte Lied von Krankheit, Risiko und
Gefahr, die nur Experten sicher erkennen können. Es reicht nicht,
den Arzt um Hilfe zu bitten, wenn das Kind nach Meinung der Eltern
krank ist. Wenn die mütterliche Intuition oder der väterliche
Instinkt sich melden, könnte es schon zu spät sein.
Und als wäre das nicht schon beunruhigend genug:
Für alle Eltern ist das Kinderuntersuchungsheft eine Art
Ergebnisheft, in das der Entwicklungsstand des Kindes schwarz auf
weiß über lange Zeiträume festgehalten wird. Die Angst, vielleicht
doch nicht ständig das Beste gegeben zu haben, etwas versäumt oder
bei seinem Kind übersehen zu haben und dies dann auch noch
peinlichst genau protokolliert zu finden, erfasst ironischerweise
gerade oft die, die es besonders gut machen wollen. Es ist ein
bisschen wie in der Schule. Die, die fleißig lernen, haben meist
den größten Respekt vor Zensuren und Autoritäten, wobei, um bei dem
Bild zu bleiben, der Zustand des Kindes das Zeugnis der Eltern
begründet. Und bei aller Sorge um das Kind und dem Wunsch, jeder
Makel solle entdeckt werden, damit man ihn beheben kann - es ist
einfach nicht schön, Angst vor Zensuren zu haben. Da kann man schon
mal Schwitzehändchen kriegen.
Was ist eine Hyperbilirubinämie?
Alles beginnt mit dem Apgar-Test gleich nach der
Geburt, benannt nach einer Ärztin. Er ist der erste Test für das
Kind außerhalb der Gebärmutter. Er sagt zwar nichts aus über den
späteren Gesundheitszustand des Kindes, ist aber so schön
praktisch. Schnell und einfach können hier Punkte von eins bis zehn
für den Zustand des Kindes vergeben werden. Ein selbst ernanntes
Babycenter im Internet erklärt die Bedeutung der Punkte für Eltern
so schön, dass ich es hier gerne wiedergebe:
»Eine perfekte Zehn ist Musik in den Ohren
stolzer Eltern, aber auch eine Acht oder Neun sind gute
Neuigkeiten. (…) Mit einem Wert zwischen Fünf und Sieben befindet
sich das Neugeborene in angemessenem Zustand und bekommt vielleicht
eine Atmungshilfe. (…) Neugeborene mit einem Wert unter Fünf sind
wahrscheinlich in schlechter Verfassung und benötigen Hilfe.
(…).«
Jede weitere Untersuchung bis zur U11 hat zwar
keinen Punktestand, aber gehörigen Raum im Heftchen und hat auch
ein Feld für »Sonstige Bemerkungen«, wo man Bemerkungen wie
»sonniges Gemüt«, »etwas faul«, »Windelsoor« oder »zeitgerecht
entwickelt« finden kann, kurz das, was dem Arzt bei der
Untersuchung zusammenfassend besonders auffällt. Es halten sich
nicht alle an medizinische Fakten. Ich bin sehr froh, dass es
solche Heftchen nicht für Erwachsene gibt. Ich habe weder Lust noch
Neugier, meine Punktezahl oder etwaige hervorstechende Eigenarten
in dieser Form ausgestellt zu sehen. Für Kinder gilt das natürlich
nicht. Wir wollen ja alle nur das Beste für die lieben Kleinen. Da
fragt man nicht lange und die Frage der Würde und Diskretion ist da
nur ein unpassender Aspekt. Vor allem beim Arzt.
Damit auch alle Eltern unabhängig vom Punktestand
ihres eigenen Kindes wissen, wie ein normales Kind aussieht, sind
dem Kinderuntersuchungsheft praktische Tabellen beigefügt, in denen
ich auf Anhieb sehen kann, ob ich mir Sorgen
machen muss, weil mein Kind zu stark vom Durchschnitt abweicht.
Diese sogenannten Somatogramme sagen mir, ob mein Kind im Vergleich
mit anderen Kindern groß, klein, leicht oder schwer ist und wann
man von Übergewicht oder Untergewicht ausgehen sollte. Wir merken
gleich: Reines Augenmaß wäre viel zu grob gehandhabt. Wer weiß, ob
wir Eltern überhaupt merken würden, wenn unser Kind bedenklich
moppeliger, hagerer, riesiger oder winziger ist als die anderen und
ob es nicht dann schon zu spät wäre, für was auch immer? Ja, sogar
an einen frontooccipitalen Kopfumfang wird gedacht. Je nach Mädchen
oder Junge kann ich hier ganz leicht in Diagrammen erkennen, ob der
frontooccipitale Kopfumfang normal ist. Was frontooccipital ist?
Keine Ahnung, irgendetwas mit Kopfumfang halt. Wer wird denn hier
pingelig sein und über die Sprache mäkeln? Dann könnte ich das
ganze Heft ja gleich in den Eimer schmeißen. Und dann wäre es um
diesen schönen »Kennziffernkatalog« und die »Risikonummern zu U1«
schade. »Asphyxie«, »Phenylketonurie«, »Hypothyreose«,
»Isthmozervikale Insuffizienz« - was für wunderbare Wortgebilde. Im
Geiste sehe ich schon meine Mediziner-Freunde wissend lächeln.
Dagegen können »Kleinwuchs«, »Schielkrankheit« oder
»Harnwegsinfektion« auf Seite 3 kaum mithalten und wirken so
schnöde profan. Im Internet in den diversen Foren wird dann auch
lustig gefahndet nach den Bedeutungen im
Kinderuntersuchungsheft.
»Hallo an alle. Was bedeutet P97 hinten an der
Perzentilkurve?«
Oder:
»Hilfe! Kann mir jemand sagen, was 03 Schwere
Hyperbilirubinämie ist? Ich möchte meine Ärztin nicht
anrufen.«
Und tatsächlich findet sich doch immer wieder
jemand, der hier weiterhelfen kann. Ich nehme an, es sind
Medizinerinnen in der Babypause. Kleine Frage: Ist das
Kinderuntersuchungsheft vielleicht extra für die behandelnden Ärzte
geschrieben? Warum sind dann Somatogramme angefügt? Haben die Damen
und Herren ihre Hausaufgaben nicht gemacht
? Interessanterweise fehlt in neueren Ausgaben des
Kinderuntersuchungsheftes der blumige Kennziffernkatalog, aber ich
durfte noch wie viele andere Eltern als junge Mutter in den vollen
Genuss kommen.
Dummerweise bin ich seit der Schwangerschaft sehr
argwöhnisch, wenn Ärzte mein Kind bewerten wollen. Solche Heftchen
mit seitenlangen Listen von Krankheiten, Auffälligkeiten und
Normkurven wie das gelbe hier machen mich irgendwie nervös. Man
stelle sich vor, man würde seinen Mann mit derartigem
Begleitmaterial nach Hause geliefert bekommen. Ich würde ihn
jahrelang argwöhnisch beobachten und klammheimlich vermuten, dass
jeden Augenblick die Bombe platzt und er gefährliche Krankheiten
entwickelt. Und genau das mache ich jetzt bei meinem Kind.
Es ist ja nicht so, dass so ein Dokument mir die
ganze Mutterschaft versauen könnte. Das wäre ja albern. Eine
Schwalbe macht noch keinen Sommer. Aber ein Steinchen kommt zum
anderen und es scheint sich so langsam ein Mosaik zu bilden. Das
Mosaik eines Kindes, das stets von Experten untersucht werden muss,
um drohendes Unheil, Unglück, Krankheit und lebenslanges Leid
abzuwehren. Ist es denn vermessen, sich als Mutter ein wenig mehr
Gelassenheit und Sorglosigkeit zu wünschen?
Einer spontanen, privaten, nicht
wissenschaftlichen, aber meiner Meinung nach sehr repräsentativen
Umfrage zufolge leben die Mütter und Väter am besten, die das
Kinderuntersuchungsheft gar nicht erst lesen, sondern es stoisch
von einer »U« zur nächsten schleppen und es ansonsten unbeachtet in
die Schublade feuern. Aber ich weiß, was von mir erwartet wird, und
nehme pflichtbewusst von Anfang an die regelmäßigen
Gesundheitschecks bei der Kinderärztin wahr - die ersten Stationen
auf dem langen Weg der Förderung. Es ist anfangs nicht so leicht zu
begreifen, dass hier keine diskriminierende Fleischbeschau meiner
Tochter mit anschließender Mängelliste stattfindet, sondern die
ersten Schritte zur Erschließung des gesamten kindlichen
Potenzials. Die Ärztin dreht und wendet mein Baby geschickt wie ein
nacktes Hühnchen zwischen ihren Händen. Und während mir der
Schweiß ausbricht, stellt sie fachkundig fest, wo wir handeln
müssen.
Alles ist machbar
Seit in den 50er- und 60er-Jahren des letzten
Jahrhunderts Medizin, Psychologie und Pädagogik große Fortschritte
verzeichnet haben, glauben wir fest daran, das Leben unserer Kinder
maßgeblich gestalten zu können. Schicksal ist machbar, vom ersten
Zeichen der Schwangerschaft an. Gottvertrauen wird durch
Wissenschaftsglauben abgelöst. Nahezu alles scheint möglich. Die
Soziologin Elisabeth Beck-Gernsheim beschrieb Ende des letzten
Jahrhunderts in ihrem Buch Die Kinderfrage ausführlich, dass
ein Kind aus diesen Gründen »immer weniger hingenommen werden
(darf), so wie es ist, mit seinen körperlichen und geistigen
Eigenheiten, vielleicht auch Mängeln«.
Und zu den Mängeln von damals sind inzwischen noch
mehr hinzugekommen, die früher noch als kleine Macken hingenommen
wurden. Körperliche Behinderungen sind vermeidbar oder zunehmend
behandelbar, Wahrnehmungsstörungen und Schönheitsfehler sind
ausgleichbar. Schielen, Stottern, Bettnässen, Nuscheln,
Schlafstörungen, Zahnfehlstellungen, abstehende Ohren,
Konzentrations- und Leistungsschwäche, Spätentwicklung,
Schüchternheit und Wutanfälle sind heute keine Sachverhalte mehr,
unter denen Kinder leiden müssen und mit denen man sich abfinden
will. Zwar sind die Mängel manches Mal so gering, dass sie nur ein
Arzt entdeckt. Therapien gibt es dann trotzdem. Nicht-Förderung und
Nicht-Verbesserung sind keine Kavaliersdelikte mehr, sondern gelten
als unterlassene Hilfeleistung und werden im sozialen Umfeld
engagierter Eltern äußerst kritisch gesehen. Schließlich wird hier
einem Kind das Leben unnötig erschwert, in einer Gesellschaft, in
der alle anderen auf der Überholspur zu sein scheinen. Schön ist
der Mensch, hilfreich und gut - wenn er tadellos, gesund und
leistungsfähig ist.
Es kostet uns Mütter fast genauso viel Zeit, mit
unseren Kindern zu Ärzten, Ergotherapeuten, Logopäden,
Krankengymnasten, Osteopathen oder Lerntherapeuten zu gehen wie von
Anfang an die eingehende Recherche zu betreiben nach weiteren
Verbesserungswegen. Denn es gibt die Qual der Wahl. Es gibt keinen
vorgeschriebenen Pfad. Nur vorgegebene Ziele. Jeder ist seines
Glückes Schmied, oder eben auch nicht.
Das glückliche Leben eines glücklichen Kindes, ohne
Macken und Kanten, ohne Versagensängste und Schwermut, dafür aber
erfolgreich, fröhlich und vital, perfekt in die Gesellschaft
eingegliedert. Am besten noch ungemein beliebt und überall gern
gesehen. Respektiert und akzeptiert und ohne Angst vor den anderen.
Der Gedanke ist so verführerisch. Scheitern, Trauer, Angst und
Sorgen - wer möchte das noch als natürlich hinnehmen? Wer will sich
damit abfinden, dass Macken menschlich sind und Menschen durch
Misserfolge und Kummer lernen? Der Erfolg ist so nah.
In meinem Regal häufen sich die Ratgeber, die ein
besseres Leben für mein Kind versprechen. »Es ist alles machbar«,
flüstern sie. »Du musst dich nur anstrengen.«
Her mit den Ratgebern!
Ich bin süchtig nach diesen Büchern, nach den
Zeitschriften und Internetforen für Eltern, nach den Broschüren aus
dem rosa Pappkoffer. Diese Ratgeber geben alle vor, das Gelbe vom
Ei zu präsentieren, doch wissen sie nicht zwangsläufig mehr als die
eigene Mutter, denn Bücher darüber, wie eine Mutter ihr Kind am
besten zu pflegen und zu erziehen hat, gibt es schon seit mehreren
Hundert Jahren und bisher hat offensichtlich keines die Weisheit
mit Löffeln gefressen. Aber sie versprechen die goldene Zukunft,
die Idylle, den Erfolg, die Karriere meines Kindes, das lebenslange
Glück. Sie geben mir das Gefühl, dass ich es schaffen kann, ich
muss es nur ganz fest wollen.
Und machen wir uns nichts vor: Ratgeber sind
ungemein
praktisch. All das, was ich bisher in meinem Leben über Babys nie
gelernt habe, kann ich hier anschaulich gegliedert nachlesen. Von
der perfekt eingerichteten Wickelkommode über Anleitungen zum
Füttern und Schlafen bis zum Kurzlehrgang über Kinderkrankheiten
und Unfallursachen. Leider bedeutet mehr Wissen nicht unbedingt
mehr Seelenruhe. Ich lese entsetzt über Gefahrenpunkte und Risiken,
an die ich noch gar nicht gedacht hatte. Gut, dass ich mich
informiere! Schlecht, dass mir keiner sagen kann, was ich schon
ganz gut mache. Ich starre ständig nur auf das, was ich nicht kann.
Mein Fokus ist sehr deutsch, sehr nüchtern, sehr schwer. Das Glas
ist immer halb leer, nie halb voll.
Dafür habe ich niemals unter ungebetenen
Ratschlägen zu leiden. Ich kann Rat jederzeit einholen oder
risikofrei ablehnen, ganz wie es mir beliebt. Ich bleibe völlig
anonym und bewege mich auf absolut sicherem Terrain, denn ob ich
mich an die Ratschläge halte oder nicht, merkt meist sowieso
keiner. Ich kann kostengünstig die verschiedensten Experten zurate
ziehen und flatterhaft von einem zum nächsten wechseln, ohne
entdeckt zu werden.
Schon in der Schwangerschaft konnte ich ja gar
nicht genug bekommen von diesen Texten, in denen ich im wahrsten
Sinne des Wortes immer der Nabel der Welt war. Jede Regung von mir
wurde wichtig genommen - selbst Blähungen, Sodbrennen und eine
schwache Blase. Wo konnte ich schon jemals so viel über mich selbst
lesen wie in einem Schwangerschaftsratgeber, das meistens auch noch
stimmte? Es war oft ein warmes, wohliges Bad der Aufmerksamkeit und
zarten Einfühlung.
Was mir in meiner Hilflosigkeit und Not um das
Überleben des Kindes erst entgeht - das Bad ist nach der Geburt des
Sprösslings merklich kühler geworden. Als hormonanfällige Wöchnerin
erhalte ich zwar noch eine gewisse Schonfrist in puncto
Allgemeinzustand, Launen und Schwächeanfälle, doch schon bald ist
von meinem Befinden keine Rede mehr. Auf einmal steht nicht mehr
mein Wohl im Mittelpunkt der hehren Betrachtungen, sondern das,
worum es eigentlich von Anfang an ging - das Wohl meines Kindes. Da
dies
offensichtlich stark von meinem Verhalten abhängt, werde ich
penibel instruiert, das Ganze harmonisch dekoriert und garniert mit
wunderschönen Fotos, die selig lächelnde Babys und immer glückliche
Mütter in gebügelten Kleidern zeigen, ganz wie in der Werbung.
Nicht selten bekomme ich ein schales Gefühl im Mund, wenn ich den
Blick vom Hochglanzfoto auf mein brüllendes Baby fallen lasse. Ich
sehe im Spiegel mein blasses, müdes Gesicht, mein zerknautschtes
Sweatshirt und die Sabberflecken auf der Brust und habe das dumpfe
Gefühl, irgendetwas nicht richtig zu machen. Und wenn ich dann
Ratgebertexte lese, die sich offenbar an eine völlig
begriffsstutzige Person richten, kann ich nur schamerfüllt den Kopf
senken. So lese ich Anfang des dritten Jahrtausends liebevoll
mahnend unzählige Sätze wie diese an die unbedarfte Mutter, zum
Beispiel in einem »Leitfaden für Eltern« der
Bundesgesundheitszentrale:
»Jetzt ist das Baby ein eigenständiges Wesen,
aber es braucht weiterhin Ihre körperliche Nähe, Ihre Wärme und
liebevolle Zuwendung. (…) Wenn Sie wieder zu Hause sind, müssen Sie
sich zunächst ganz auf die Bedürfnisse Ihres Babys einstellen. Es
muss rund um die Uhr betreut werden.
Gut, dass mir das gesagt wird. Ich werde auch für
den Fall, dass ich ihn vergessen sollte, an den Kindsvater
erinnert. Er hat in der Schwangerschaft kaum eine Rolle spielen
können. Jetzt wird er konsequent in die Kinderbetreuung
einbezogen:
»Sie sollten auch überlegen, ob nicht andere
Mitglieder der Familie - z. B. die Großeltern -, wenn sie zur
Verfügung stehen, einbezogen werden könnten. Vor allen Dingen
sollte der junge Vater mithelfen.«
Nicht dass ich auf die Idee komme, er solle sein
Kind betreuen und ich würde ihm dabei helfen …
Später wird der Ratgeber richtig zutraulich:
»Mal ganz ehrlich: Keine Frau kommt als
perfekte Mutter auf die
Welt, und kein Mann hat zwei linke Hände, nur wenn es um das Baby
geht. Beide, Mutter und Vater, müssen erst lernen, mit dem Kind
richtig umzugehen, und gemeinsam schaffen sie es am leichtesten.
Das hat sich allerdings noch nicht überall herumgesprochen. Auch
bei manchen Müttern noch nicht …«
Wenn ich nicht so müde wäre, würde es mich
vielleicht empören, dass hier von mir nichts weiter erwartet wird,
als perfekt zu werden, während es mein Mann allenfalls zum guten
Handlanger bringen soll. Vielleicht wäre ich auch wütend, einen
leichten Tadel herauszuhören, wie ich mit meinem Mann umgehe, er
aber weitgehend ungeschoren davonkommt. Doch ich merke zu diesem
Zeitpunkt nicht einmal, wie die Daumenschrauben angezogen werden.
Ich stecke bis zum Hals in Ängsten und ich bin müde, sehr müde.
Mein Blick ist vernebelt. Und letztendlich stoße ich ja hier auf
nichts anderes als auf ein uraltes vertrautes Prinzip der
traditionellen Familie, das mir jetzt nicht ungewöhnlich auffällt:
Eines ist - und das soll ich mir offenbar gut merken - mindestens
ebenso empfindsam wie der unschuldige Nachwuchs - und das ist: der
Mann. Siehst du, du bist jetzt Die Mutter!
Die perfekte Mutter
Stoßen mir solche Feinheiten in Ratgebern nicht
sauer auf, wenn ich ausgeruht bin, ist mit Fug und Recht zu
vermuten, dass ich das Idealbild der perfekten Mutter und Ehefrau
im traditionellen Sinne, unbewusst oder bewusst, schon prima
übernommen habe. Wogegen ja im Prinzip erst einmal nichts zu sagen
wäre. Ein Ideal an sich ist etwas Positives. Ich kann nach ihm
streben. Ich kann versuchen, über mich hinauszuwachsen. Ich kann
einen besseren Menschen aus mir machen. Aber vorher sollte ich mir
gründlich überlegen, ob ein erklärtes Ideal mir erstens in seiner
Tragweite überhaupt bewusst ist, und zweitens, ob es tatsächlich
auch ideal für mich ist und nicht für meine Großmutter oder
sonstige Vertreterinnen untergehender Kulturen. Und dann wäre es
vielleicht
noch ratsam, sich ganz schnell darüber klar zu werden, dass Ideale
Wunschgedanken sind. Träume. Holder Schein. Kurz: etwas, das ich
nie erreichen kann.
Es ist geradezu absurd - dieser Gedanke scheint für
Mutterideale irgendwie verloren gegangen zu sein. Die »gute Mutter«
ist ein Synonym für die »perfekte Mutter« geworden. Gut ist nicht
gut genug. Perfekt muss es sein. Und es gibt bis ins kleinste
Detail in Deutschland präzise Vorstellungen darüber, was perfekt
genannt werden darf. Man versuche erst gar nicht, der verstörenden
Logik auf den Grund zu gehen, dass nach den gängigen deutschen
festen Vorstellungen, wie Mütter zu sein haben und wie sie handeln
müssen, jede andere Kultur außer der unseren unweigerlich dem
Untergang geweiht sein müsste, denn Mütter anderer Kulturen machen
es eben anders als wir, und zwar ebenso überzeugt wie wir. Ich kann
nur eindringlich davor warnen, darüber mit Fanatikern zu
diskutieren. Möglicherweise werden sofort grausige Statistiken aus
der Tasche gezogen, die eindeutig beweisen sollen, wie kriminell
die Franzosen, wie arbeitslos die Engländer und wie unglücklich die
Finnen sind. Eine Argumentationslogik, die jede Diskussion an die
Wand fährt.
Aber wie sieht es denn nun heute aus, das deutsche
Ideal der guten perfekten Mutter? Werte ich Ratgeber und
Empfehlungen von Institutionen, Familie, Freunden und Fremden aus,
verfolge ich aufmerksam Beiträge über Mütter in Funk, Fernsehen und
den Printmedien, sehe ich Werbung und lese ich Anzeigen, komme ich
zu folgender grober Zusammenfassung:
Eine gute Mutter in Deutschland liebt ihr Kind
bedingungslos, achtet aufmerksam auf all seine Bedürfnisse und
verbringt viel Zeit mit ihm. Sie lässt es nie unbeobachtet.
Sie bleibt nach der Geburt für etwa drei Jahre zu
Hause.
Sie freut sich stets, wenn sie sich um ihren
Nachwuchs kümmern darf, ist verständnisvoll, sanft und
geduldig.
Sie lobt ihr Kind, damit es Selbstvertrauen
entwickelt und später glücklich wird.
Sie glaubt an ihr Kind. Sie klammert nicht. Sie
kennt immer das richtige Maß.
Sie ist konsequent. Sie kann ihrem Kind eindeutige
Grenzen setzen, ohne seine Kreativität zu ersticken.
Sie bietet einen verlässlichen Tagesrhythmus mit
Ritualen, der optimal an die Bedürfnisse des Kindes angepasst
ist.
Eine gute Mutter kann sich jederzeit beherrschen.
Selbstverständlich darf sie auch mal wütend werden, aber sie lässt
ihre Wut nicht an den Kindern aus, sondern boxt, wenn es denn sein
muss, zur Aggressionsabfuhr stumm ein Kissen hinter der
Badezimmertür.
Sie ist sich darüber im Klaren, dass das Verhalten
des Kindes nur das Verhalten der Eltern widerspiegelt.
Sie weiß intuitiv, was am besten für ihr Kind ist
und wie sie es behandeln muss, damit es ein »liebes« Kind
ist.
Sie kennt alle kindlichen Entwicklungsstufen.
Sie lässt ihr Kind an frischer Luft gedeihen.
Sie legt höchsten Wert auf Sicherheit und schaltet
präventiv sämtliche Gefahrenquellen aus.
Sie besucht möglichst zeitig sorgfältig ausgewählte
Mutter-Kind-Gruppen, um sich weiterzubilden und ihr Kind umfassend
zu fördern und ihm den sozialen Umgang mit anderen Kindern zu
ermöglichen.
Sie kauft pädagogisch wertvolles, schadstofffreies
Spielzeug und hölzerne Kindermöbel.
Sie beherrscht Homöopathie und Naturheilmethoden
für Kinder, schätzt aber durchaus die Fortschritte der modernen
Medizin und lässt das Kind in den geforderten Abständen medizinisch
untersuchen.
Sie hört auf Experten.
Sie stillt mindestens ein halbes Jahr voll, kocht
vollwertig, ausgewogen und gesund und vermeidet allergieauslösende
Substanzen.
Sie raucht nicht.
Im Sommer fährt sie mit dem Kleinkind in das
gemäßigte Klima der Nord- oder Ostsee.
Den Vater bezieht sie in ihre Bemühungen so weit
ein, dass er sich nicht überflüssig vorkommt und seine wichtige
Rolle als Vater zum Tragen kommt.
Sie engagiert sich im Kindergarten und in der
Schule.
Sie ist selbstlos und bringt gerne Opfer.
Das Glück ihres Kindes ist ihr wichtiger als ihr
eigenes, denn sie will immer nur das Beste für ihr Kind.
Wenn ihr Kind glücklich ist, ist sie es auch.
Nun bin ich natürlich etwas geschmeichelt, dass
mir ein solch edles Verhalten zugetraut wird, ich muss mich nur ein
wenig anstrengen. Zwar ist es merkwürdig, dass mir gleichzeitig
eingebläut wird, ich bedürfe lückenloser Kontrolle und stetiger
Anleitung, aber ich will nicht kleinlich sein und nach Logik
suchen. Frauen - so lerne ich - haben das Potenzial, geradezu
himmlische Charaktere zu werden, vor Weisheit, Wissen, Kraft,
Opferbereitschaft und Güte nur so strotzend. Sie müssen nur ein
Kind kriegen und von einer Minute auf die andere sind sie durch die
Mutterliebe geläutert.
Erst viel später fällt mir auf, dass ich keine
Mutter kenne, die den oben genannten Merkmalen entspricht, auch
wenn einige vielleicht so tun. Aber vielleicht halte ich mich in
den falschen Kreisen auf? Ich will gar nicht bestreiten, dass es
dieses göttliche Wesen irgendwo gibt. Rudimente von Güte, Kraft und
Weisheit kann ich durchaus auch in mir entdecken, nur nicht rund um
die Uhr, 24 Stunden am Tag. Fachwissen in Pädagogik, Psychologie,
Ernährungswissenschaften, Schadstoffkunde und Medizin versuche ich
mir anzueignen - es gibt ja genügend Lektüre -, und auch die
Urlaubsplanung versuche ich zu bewerkstelligen. Aber bei der stets
richtigen Lösung, der immerwährenden Freude und Geduld und dem
allzeit richtigen Maß muss ich passen. Auch habe ich das dumpfe
Gefühl, mir eigentlich mehr für mein Leben zu erhoffen als
aufopfernde Selbstaufgabe. Und was der ganzen Sache eine
zusätzliche Brisanz gibt: Ich bin ein extrovertierter Typ, nicht
der gewünschte introvertierte, besonnene Muttertyp mit der stummen
Aggressionsabfuhr. Ich bin mehr der Sophia-Loren-Muttertyp, die
Filmmutter der 60er-Jahre, nur ohne ihr Gesicht und ihre Figur.
Leider sind Mütter völlig out, die keineswegs stumm ihr
Kissen boxen, sondern spontan laut lachen und schreien, wenn ihnen
danach zumute ist.
Was mache ich nun? Ich bin keine Halbgöttin,
sondern eine Frau mit Ecken und Kanten. Schmeiße ich die Ratgeber
an die Wand, haue auf den Putz und wettere gegen weltfremde
Forderungen, die jegliche Authentizität über den Haufen werfen?
Erkenne ich, wie rigide hier das Bild einer Mutter entworfen wird,
an dem ich mich messen lassen soll? Frage ich mich, wie eine echte
Liebesbeziehung zu meinem Kind entstehen soll, wenn ich mich nicht
so geben darf, wie ich bin? Erkenne ich, dass hier ein Leben mit
Kind zur Farce mutiert, zur weltfremden Idee, zur Karikatur, zum
sinnentleerten Rollenverhalten? Nein, mitnichten. Ich kriege
Schuldgefühle - wie Millionen andere Frauen, weil sie den
Erwartungen an eine gute Mutter nicht zu entsprechen scheinen. Wie
Statistiken zeigen, fühlen sich die meisten Mütter mit ihren
Kindern hoffnungslos überfordert und suchen die Gründe für ihr
Unbehagen mit der Situation bei sich selbst. Sie sind voller
Selbstzweifel und massiv verunsichert im Umgang mit ihren Kindern,
gerade die, die es besonders gut machen wollen. Und das wollen wir
entgegen aller anders lautenden Gerüchte doch fast alle.
Das Dumme an schönen Mutteridealen sind nicht die
Wunschvorstellungen an sich. Das Dumme ist, dass Mütter am Anfang
der Mutterschaft zu wenig Erfahrung haben, um diese Ansprüche, die
Tag für Tag unaufhörlich aus Ratgebern, Gruppen, Organisationen,
Foren, Zeitungen, Zeitschriften, Büchern und Gesprächen auf sie
einprasseln, realistisch einschätzen zu können. Es ist wie die
ersten Wochen in einem großen Unternehmen: Man versteht die wahren
Hierarchien und Machtspielchen noch nicht. Man ist noch nach allen
Seiten bemüht, einen guten Eindruck zu machen und alle Aufgaben
gewissenhaft zu erfüllen. Nur mit dem Unterschied, dass es für
Mütter keine Vorgesetzten gibt - auch wenn uns das gerne
vorgegaukelt wird. Weil uns unsere natürliche Führungsrolle
gegenüber unserem Kind von Anfang an kaum zugestanden wird, ja, im
Gegenteil wir auf Expertenmeinungen, Gehorsam und Ideale
eingeschworen werden, kommen viele von uns gar nicht auf den
Gedanken, tatsächlich Herrin im Haus zu sein. Wir erkennen nicht,
welche Ratgeber uns haarsträubend einseitige, ja absurde
Mutterbilder präsentieren. Die meisten von uns bekommen stattdessen
Schuldgefühle, Minderwertigkeitskomplexe und das latente Bedürfnis,
beim besten Experten des Landes das Lager aufzuschlagen, damit er
uns sagt, wie wir denn als Mutter zu sein haben, damit unser Kind
wird, wie es denn zu sein hat.
Aber wenn wir nicht unterstützt, gelobt und
bestätigt werden - wie bitte sollen wir Anfängerinnen ein gesundes
Selbstbewusstsein aufbauen und dem Wahnsinn trotzen?