So etwas Ähnliches hätte ich mir gleich denken können. Aber ich hatte eben meine Gedanken nicht beisammengehabt. Wie der Buchmacher, der nach vielen Jahren ein ehrliches Gewerbe begann. Es war für ihn ein völlig neues Lebensgefühl, er konnte gar nicht begreifen, daß es so etwas wie Diebstahl im Geschäftsleben überhaupt gab. Er rannte so tugendhaft immer geradeaus, daß er, ehe er sich's versah, seinen ganzen Einsatz verloren hatte und zum Start zurück mußte. So war's auch bei mir. Ich hatte mich zu sehr von Äußerlichkeiten beeindrucken lassen. Diese Bosse unterschieden sich in gar nichts von irgend jemand anders. Sie verbuddelten ihren Schmutz nur tiefer, so daß man beharrlicher kratzen mußte, um ihn zu finden.
»Haben Sie Beweise?« fragte ich und wischte mir den Alkohol von der Hose.
Er schüttelte den Kopf. »Ich bin der Sache nie richtig nachgegangen. Ich stieß ganz zufällig darauf. Es hatte damals mit der Regierungsklage nichts zu tun, und deshalb ließ ich es fallen.«
»Es hätte Ihnen aber damals die Stellung retten können«, sagte ich. Ich konnte nicht begreifen, daß er dieses Material nicht schon früher verwertet hatte.
Er schaute mir fest in die Augen. »Hilde hätte trotzdem nicht hierbleiben können.« Er nahm eine Zigarette. »Als ich Sandra vorhin in Ihrem Büro traf, da fiel mir plötzlich alles wieder ein. Ich dachte, Sie wüßten es.«
»Und wie steht's mit Sandy?« erkundigte ich mich. »Weiß sie was davon?«
»Nein. Niemand außer ihren Eltern. Aber soviel ich weiß, ist ihr Vater tot. Bleibt also nur die Mutter, um die Wahrheit zu beweisen. Aber ich bezweifle, daß sie den Mund aufmacht.«
Ich gab ihm Feuer. Ich war jetzt hellwach, in meinem Hirn kreisten gewaltige Räder. Ich goß zwei Whiskys ein und reichte ihm ein Glas hinüber. »Fangen wir doch mal ganz von vorn an«, bat ich ihn.
Er nahm mir das Glas ab und setzte sich mir gegenüber in den Sessel. »Ich überprüfte damals die Liste der Stammaktien von Con Steel. Von neunzehnhundertzweiundzwanzig, wo Matt Brady seiner jungen Braut einige Anteile überschrieben hatte, bis neunzehnhundertfünfundzwanzig verkaufte oder transferierte er keinen einzigen mehr. Im Gegenteil, er vergrößerte seinen Besitz durch Garantien und Optionen. Aber neunzehnhundertfünfundzwanzig übertrug er fünfhundert Anteile auf Joseph und Marta Wolenciwicz. Diese Anteile sollten bis zu seinem Tod treuhänderisch verwaltet und dann Alexandra überschrieben werden.«
Er nippte an seinem Whisky. »Zum Zeitpunkt dieser Übertragung hatten die Anteile einen Wert von ungefähr fünfzigtausend Dollar. Heute sind sie doppelt soviel wert. Deshalb war ich natürlich neugierig. Zum erstenmal hatte Brady etwas verschenkt. Ich ging also der Sache nach. Sandras Mutter war in Bradys Haus in Pittsburgh Dienstmädchen gewesen. Nach allem, was ich herausfinden konnte, war sie damals Sandra sehr ähnlich.« Er lächelte. »Oder richtiger gesagt: andersrum. Sie hatte Figur, wenn Sie wissen, was ich meine.«
Ich nickte. Ich wußte, was er meinte.
»Brady war damals ungefähr fünfzig. Er hatte spät geheiratet, und bevor er sich noch in diese Rolle richtig hineingefunden hatte, wurde seine Frau bei dem Autounfall zum lebenslänglichen Krüppel. Ein Mädchen wie Marta konnte wohl einem Mann schon ziemlich zusetzen, selbst einem, dessen Frau nicht krank war. Naja, Sie können sich denken, was passierte.«
Er hatte seinen Whisky halb ausgetrunken. Ich wollte nachschenken, aber er schüttelte den Kopf. »Drei Jahre lang hatte sie bei den Bradys gearbeitet, als sie plötzlich eines Tages verschwand. Bradys Frau wunderte sich zwar über die kurzfristige Kündigung, gab Marta aber trotzdem ein sehr nobles Geschenk zum Abschied.
Etwa drei Monate später tauchte Joe Wolenciwicz in seiner Arbeitskluft in Matt Bradys Büro auf. Worüber die beiden sich unterhielten, weiß ich nicht. Sie waren alte Freunde, sie hatten viele Jahre lang zusammen in der Gießerei gearbeitet. Ich weiß aber, daß Joe dann Bradys Büro mit einem Scheck über fünftausend Dollar verließ. Er ging schnurstracks in seine Unterkunft, zog sich seinen einzigen guten Anzug an und marschierte zum Rathaus, wo er Marta traf. Sie wurden noch an diesem Nachmittag getraut. Vierzig Tage später kam Sandra zur Welt. Genau einen Tag später überschrieb Matt Brady die Aktien.«
Ich starrte schweigend in mein Glas. Eines mußte man Brady ja lassen: knausrig war er nicht. Er war bereit, für seine fürstlichen Privilegien zu bezahlen. Er war sogar mehr als das. Auf seine eigene, sonderliche Art liebte er Sandra sogar. Sie war sein einziger Nachkomme. Jetzt verstand ich auch, warum er sie nicht aus den Augen verlieren wollte. Neben seinem Beruf war sie vielleicht die einzige Erinnerung daran, daß er mal ein Mann gewesen war.
Ich goß mir noch einen Schluck nach. Das Leben ging schon seltsame Wege! Die Besitzgier, mit der Brady seine Tochter in der Nähe halten wollte, löste bei ihr Haß aus. Ich fragte mich, ob er wohl wußte, was sie empfand - und wenn ja, ob das für ihn von Bedeutung wäre.
»Indizienbeweis, wie Ihr Juristen sagt«, bemerkte ich.
»Auf diese Weise bekommt man eine Menge guter Fälle«, lächelte er.
Mein Entschluß war gefaßt. Mir blieb kein anderer Weg, ich mußte den K.-o.-Schlag riskieren. »Wie lange brauchen Sie, um von allen notwendigen Unterlagen Kopien zu bekommen?«
»Ein paar Stunden«, antwortete Bob. »Ein paar habe ich sogar noch, zum Beispiel die von der Aktienumschreibung. Das andere Zeug müßte ich in Pittsburgh beschaffen.«
Ich durchquerte den Raum und stellte die Flasche in den Schrank zurück. »Klemmen Sie sich dahinter. Wir treffen uns morgen mittag um eins in Bradys Büro.«
Ein seltsamer Ausdruck trat in sein Gesicht. Er wollte sprechen, zögerte jedoch.
»Was ist los?« fragte ich. »Angst?«
Er schüttelte den Kopf. »Nicht meinetwegen. Ich bin schon bedient. Aber Sie?«
Ich blieb stehen. Ich wußte, was er meinte. Aber ich sah keinen anderen Weg. Schließlich lächelte ich ihm zu. »Wieviel Jahre gibt es in Pennsylvanien für Erpressung?«
Er schaute mich offen an. »So aus dem Handgelenk kann ich das nicht sagen.«
»Stellen Sie das ebenfalls fest, wenn Sie dort sind. Ich möchte gern wissen, was passiert, wenn ich verliere.«
Der Portier vom >Towers< begrüßte mich freundlich. »Guten Abend, Mr. Rowan.«
Ich schaute auf die hinter ihm hängende Uhr. Es war nach neun. »Können Sie mich bitte mit Mrs. Schuyler verbinden?«
»Selbstverständlich, Mr. Rowan.« Er nahm den Hörer ab. Nach einigen Sekunden blickte er auf. »Es meldet sich niemand, Sir.« Er schaute auf das Regal, das hinter ihm stand. Ihr Schlüssel hing dort. Er drehte sich wieder zu mir um. »Sie muß fortgegangen sein, bevor ich meinen Dienst angetreten habe.«
Ich nickte und streckte meine Hand nach dem Schlüssel aus. »Sie wird vermutlich jeden Augenblick zurück sein. Ich werde oben auf sie warten.«
»Das ist reichlich ungewöhnlich, Sir«, zögerte er, bis er den Geldschein in meiner Hand entdeckte. Da schlug seine Stimme plötzlich um. »Aber ich nehme an, daß es in Ordnung ist, nachdem ich gesehen habe, wer Sie sind«, schloß er und händigte mir den Schlüssel aus.
Ich bedankte mich und ging in die Wohnung hinauf. Ich schloß auf, drehte das Licht an, ließ den Hut und den Mantel auf einem Stuhl neben der Tür liegen und mixte mir einen Whisky mit Wasser. Der Raum war warm, ich öffnete das Fenster einen Spalt und setzte mich gegenüber in einen Sessel.
Schwach drangen die Straßengeräusche an mein Ohr. Ich fragte mich, ob sie wohl Sandras Geschichte kannte. Wahrscheinlich nicht, sonst hätte sie mir sicher davon erzählt. Oder nicht? Schließlich gehörte Matt Brady immerhin zu ihrer Familie.
Es war fast zehn, als ich aufstand, um mir noch einen Whisky einzugießen. Ich drehte das Radio an und setzte mich wieder hin. Ich war müde, meine Augen brannten. Ich schaltete das Licht aus und saß im Dunklen. Die leise Musik beruhigte. Ich spürte, wie sich meine Nerven allmählich entspannten. Ich setzte das Glas vorsichtig auf den Tisch neben mir und döste ...
Irgendwo aus der Ferne vernahm ich die Nationalhymne. Mühsam riß ich die Augen auf, die schwer waren vor Müdigkeit. Ich drückte auf den Schalter, Licht überflutete den Raum. Die Hymne kam aus dem Radio, der Sender verabschiedete sich für die Nacht. Ich schaute auf meine Uhr: es war drei.
Ich stand auf und stellte das Radio ab. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie müde ich war. Wo mochte sie nur stecken? Einer plötzlichen Eingebung folgend, ging ich in ihr Schlafzimmer und öffnete den Schrank.
Also doch. Ihr Reisegepäck war nicht da. Ich schloß den Schrank und kehrte in den anderen Raum zurück, nahm Hut und Mantel und verließ die Wohnung. Während der Aufzug hinunterfuhr, quälte mich ein eigenartiger Schmerz. Schließlich hätte sie mir die Möglichkeit zu einer Erklärung geben müssen. Ich warf den Schlüssel auf den Tisch der Anmeldung, ging hinaus und rief ein Taxi.
Während ich mich anzog, kam Marge ins Zimmer. Ich stand vor dem Spiegel und wollte mir eine Krawatte binden. Ich unternahm bereits den vierten Versuch, sie saß nicht richtig, und ich fluchte leise vor mich hin.
»Laß mich das machen«, sagte sie.
Ich drehte mich um, geschickt band sie die Krawatte und rückte sie zurecht. »Der einzige Mann auf der Welt mit zehn Daumen.« Sie lächelte.
Ich schaute sie verwundert an. War der Kriegszustand beendet? Seit einer Woche war das ihr erstes nettes Wort für mich. »Keine Möglichkeit, mich jetzt noch umzukrempeln«, lächelte ich zurück. »Dazu bin ich zu alt.«
Mit leiser Wehmut blickte sie mir ins Gesicht. »Davon bin ich nicht so überzeugt«, sagte sie langsam. »In gewisser Hinsicht hast du dich schon verändert.« Ich wußte, was sie meinte, aber ich wollte die Streitfrage nicht schon wieder aufgreifen. »Ich fliege heute nach Pittsburgh, um mit Matt Brady zu sprechen«, sagte ich.
»Rührt sich was?« fragte sie voll Hoffnung.
»Die letzte Chance. Entweder schaffe ich es heute, oder ich muß kapitulieren.«
Sie schaute zur Seite. »Ist es denn so schlimm?«
»Ja. Das Büro ist geschlossen, und die Rechnungen beginnen sich zu türmen.«
»Was wirst du ihm sagen?«
Ich nahm meine Jacke vom Bett und schlüpfte hinein. »Ich versuche eine kleine Erpressung, das ist alles.«
»Ist so was nicht gefährlich?« fragte sie bekümmert.
»Ein bißchen. Aber ich habe nichts mehr zu verlieren.«
Sie antwortete nicht sofort. Geistesabwesend strich sie die Bettdecke glatt. »Die Firma bedeutet dir so viel?«
»Wir müssen ja schließlich essen, du kannst die Kinder nicht mit warmer Luft großziehen.«
»Wir könnten mit viel weniger auskommen, wenn es sein müßte. Das wäre besser, als wenn du in noch mehr Schwierigkeiten gerätst.«
Ich lachte. »Noch mehr können es gar nicht werden.«
»Hoffentlich weißt du, was du tust«, sagte sie zweifelnd.
»Ich werde schon damit fertig.«
Wir gingen zur Tür und stiegen schweigend die Treppe hinunter.
Während wir am Tisch saßen und auf den Kaffee warteten, kam Jeannie herein. Sie ging zu Marge und küßte sie auf die Wange. »Leb wohl, Mami.«
Sie ging an mir vorbei zur Tür.
»Augenblick, Jeannie«, rief ich, »ich nehm' dich mit zur Schule, sobald ich einen Schluck Kaffee bekommen habe.«
Sie schaute mich kühl an. »Vielen Dank, Dad«, sagte sie förmlich. »Ich treffe mich mit ein paar anderen an der Bushaltestelle.« Sie drehte sich um und rannte hinaus.
Ich blickte zu Marge. Die Haustür fiel zu. Einen Augenblick lang fühlte ich mich wie ein Fremder in meinem eigenen Haus.
»Sie ist noch ein Kind, Brad«, sagte Marge schnell. »Es gibt gewisse Dinge, die sie noch nicht versteht.«
Ich erwiderte nichts. Sally goß Kaffee ein. Das heiße Gebräu brannte in der Kehle, aber es wärmte mich ein bißchen auf.
»Wird Mrs. Schuyler auch da sein?« fragte Marge.
Ich schüttelte den Kopf.
»Was hält sie von deiner Idee?« fuhr sie fort. »Ist sie damit einverstanden?«
»Sie weiß nichts davon. Sie ist gestern abend abgereist.«
Marge hob fragend die Augenbraue. »Wohin denn?«
»Wie soll ich das wissen?« brummte ich mürrisch. »Ich habe genug eigenen Ärger am Hals, ich kann mich nicht auch noch um sie kümmern.«
Marge lächelte schwach. »Entschuldige, Brad, es war nicht meine Absicht, meine Nase da hineinzustecken.«
Ich hatte genug Kaffee und stand auf. »Ich gehe.«
Sie blieb sitzen und schaute mich an. »Wann wirst du zurück sein?«
»Heute abend. Wenn sich etwas ändert, rufe ich dich an.« Ich ging zur Tür.
»Brad!« Sie kam auf mich zu, ihr Gesicht hob sich mir entgegen.
»Viel Glück!«
Ich küßte sie auf die Wange. »Danke. Ich werde es brauchen können.«
Sie schlang die Arme um meinen Hals. »Egal, was auch passiert, Brad«, flüsterte sie, »denk daran, daß wir alle auf deiner Seite sind.«
Ich blickte ihr ernst in die Augen, um zu ergründen, was wohl in ihrem hübschen kleinen Kopf vorging.
Sie wandte das Gesicht zur Seite und legte den Kopf auf meine Brust. Ich konnte sie kaum verstehen. »Bestimmt, Brad«, flüsterte sie. »Ich werde mich über nichts beklagen, egal, was auch kommt. Keiner von uns wird mit einer Eheversicherung geboren.«
»Marge«, sagte ich heiser.
»Bitte, sprich nicht, Brad«, flüsterte sie rasch. »Nur sei ehrlich, was immer du auch tust. Wenn du dich endgültig entschlossen hast, sag es mir. Ich versuche, dir zu helfen.« Sie löste ihre Arme von meinem Hals und rannte in die Küche.
Ich starrte auf die pendelnde Tür. Endlich blieb sie stehen, und ich ging hinaus zum Wagen.
Ich fuhr sofort zum Flughafen und rief von dort aus im Büro an. »Haben Sie schon etwas von Levi gehört?« fragte ich Mickey.
»Ja. Er will Sie am Flughafen in Pittsburgh erwarten.«
»Hat er alles beisammen?«
»Das hat er nicht gesagt.«
»Sonst Anrufe?«
»Nichts wichtiges. Moment mal. Mrs. Schuyler hat aus Washington angerufen. Sie möchten bitte zurückrufen.«
Ich schaute auf die Uhr. Gerade genug Zeit, um die Maschine noch zu erwischen. »Ich werde sie aus Pittsburgh anrufen«, sagte ich schnell. »Ich muß rennen.«
Ich legte den Hörer auf und ging hinaus zur Maschine. Mir war jetzt wohler. Sie hatte angerufen. Leise pfiff ich vor mich hin, als ich über die Rollbahn ging.
Das Taxi setzte uns genau vor dem eisernen Tor ab. Wir gingen durch und betraten das Verwaltungsgebäude. Mißtrauisch beäugte der Portier Bobs Aktentasche, als wir die Anmeldung betraten.
»Mr. Rowan zu Mr. Brady«, sagte ich.
Der große Zeiger der Uhr stand gerade auf der Eins, als er den Hörer abhob. Er schaute uns an. »Mr. Brady ist im Augenblick verhindert. Sie sollen mit Mr. Proctor sprechen.«
Ich war nicht hergekommen, um mit Chris zu reden. »Kann ich Mr. Bradys Sekretärin sprechen?«
Er telefonierte wieder, warf mir einen neugierigen Blick zu und wies zum Aufzug.
Als wir ausstiegen, erwartete Sandy uns auf dem Flur. »Brad!« flüsterte sie. »Was wollen Sie denn?«
Ich wartete, bis sich die Türen des Aufzugs hinter uns geschlossen hatten. Dann ging ich den Flur entlang zu ihrem Büro. »Ich will Ihren Chef sprechen.«
»Sie können jetzt nicht hinein. Mr. Proctor ist bei ihm.«
»Sehr gut«, grinste ich. »Man hat mir bestellt, ich soll Mr. Proctor aufsuchen.« Ich öffnete die Tür zu ihrem Büro und ging weiter auf Bradys Zimmer zu.
Sandy umklammerte meinen Arm. »Bitte, tun Sie das nicht, Brad«, bettelte sie. »Das macht es für uns beide nur noch schlimmer.«
Ich blickte sie an. In ihren Augen lag das reine Entsetzen; ich spürte, wie ihre Hand auf meinem Arm zitterte. Kalte Wut stieg in mir hoch. Was für ein Mensch war das, der ein anderes menschliches Wesen so einschüchtern und so völlig hilflos machen konnte?
In ihrem Fall war das sogar noch schlimmer, denn sie war seine Tochter - wenn sie es auch nicht wußte. Ich legte behutsam meine Hand über ihre.
»Sandy«, sagte ich leise. »Sie brauchen keine Angst mehr vor ihm zu haben. Wenn wir aus diesem Büro wieder herauskommen, dann wird er sich in nichts mehr von uns unterscheiden.«
Sie riß die Augen weit auf. »Was haben Sie denn vor, Brad?«
»Ihm zeigen, daß er nicht der liebe Gott ist.« Und damit öffnete ich die Tür.
Chris hatte uns den Rücken zugekehrt; er blickte auf Brady, der hinter seinem Schreibtisch saß. Brady bemerkte uns zuerst. Ärgerlich stand er auf. »Ich habe Ihnen doch sagen lassen, daß ich Sie nicht sprechen will.«
»Ich aber wollte Sie sprechen«, entgegnete ich und betrat das Zimmer. Bob folgte mir und schloß die Tür.
»Sie haben Anweisung erhalten, Mr. Proctor Bericht zu erstatten«, wies mich Brady zurecht. Chris war aufgestanden und starrte uns an. Ich blickte durch ihn hindurch.
»Ich erstatte niemandem Bericht. Am allerwenigsten dem Büroboten.«
Ich machte ein paar Schritte auf den Schreibtisch zu. Chris trat auf mich zu, als wollte er mich zurückhalten. Ich musterte ihn von oben bis unten, und er wich zur Seite, um mich vorbeizulassen. Bradys Hand tastete nach dem Knopf an seinem Schreibtisch.
»Ich an Ihrer Stelle würde den Polizisten nicht rufen, Brady«, sagte ich rasch. »Es könnte Ihnen hinterher leid tun.«
Seine Hand erstarrte. »Was wollen Sie damit sagen?«
»Wissen Sie, daß Ihre Tochter Sie haßt?«
Sein Gesicht wurde plötzlich weiß. Ich spürte es körperlich, wie angestrengt er in mich hineinstarrte. Es gab jetzt nur noch uns beide in diesem Raum.
Er fuhr mit der Zunge über seine trockenen Lippen, der Mund zitterte. »Sie lügen!« explodierte er schließlich, und langsam kehrte die Farbe in sein Gesicht zurück.
»Gehen Sie schon, Brad«, hörte ich Chris hinter mir sagen. »Mr. Brady ist an Ihren leeren Drohungen nicht interessiert.«
Ich drehte mich nicht einmal um. Ich fixierte immer noch Brady. »Ich lüge nicht, Brady. Ich kann es beweisen.«
»Mr. Brady hat mir gerade Anweisung gegeben, Ihnen jede nur mögliche Rücksichtnahme angedeihen zu lassen. Aber unter diesen Umständen würde es Ihnen selbst dann nichts nützen, wenn Sie auf allen vieren angekrochen kämen«, fuhr Chris dazwischen.
Zum erstenmal, seit ich das Büro betreten hatte, schaute ich ihn an. Diesmal würde ihm seine ganze kunstvolle Arithmetik nichts helfen.
»Ich habe eine Menge von Ihnen gelernt, Chris«, entgegnete ich kühl. »Aber das Kriechen bestimmt nicht. Das ist Ihre Spezialität.«
Chris blickte zu Brady hinüber. »Soll ich die Wache holen, Sir?«
Brady starrte noch immer mich an. Er sprach, als ob er uns gar nicht gehört hätte. »Ich habe versucht, alles für sie zu tun, was ich konnte. Ich habe darauf geachtet, daß sie immer alles hatte, was sie brauchte. Eine Wohnung, Geld .«
Plötzlich erblickte ich einen müden, alten Mann, der sein Kind verloren hatte. Ich dachte an meine Jeannie, und ein seltsames Mitgefühl ergriff mich. »Menschen sind keine Fabriken«, sagte ich leise. »Man kann sie nicht kaufen und verkaufen wie anderen Besitz. Man kann sie auch nicht in einen Tresor einsperren und dann noch glauben, daß ihnen das gefällt.«
Seine Hände ruhten auf dem Schreibtisch, die Finger waren kalkweiß, es schien kein Blut durch seine Adern zu fließen. »Woher wissen Sie das, Mr. Rowan?«
»Sie kam gestern abend in mein Büro und bat mich, irgendwo eine Stelle für sie zu finden, die sie von Ihnen befreite.«
»Weiß sie über die verwandtschaftlichen Beziehungen Bescheid?«
Seine Worte kamen sehr langsam.
Ich schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Sie haben es ihr nicht gesagt?«
Ich sagte ihm nicht, daß ich es erst erfahren hatte, nachdem sie wieder gegangen war. »Das war nicht meine Aufgabe, Mr. Brady. Sie sind ihr Vater. Ich bin nur ihr Freund.«
Lange Zeit starrte er auf seine Hände, schließlich schaute er auf. »Proctor, gehen Sie in Ihr Büro«, sagte er, »ich rufe Sie, wenn ich Sie brauche.«
Chris warf mir nach dieser wortkargen Entlassung einen haßerfüllten Blick zu. Ich lächelte ihn freundlich an. Das machte ihn noch wütender, und er stolzierte aus dem Zimmer. Ich wandte mich wieder Brady zu.
»Setzen Sie sich, Mr. Rowan«, sagte er erschöpft.
Ich nahm den Stuhl, auf dem Chris gesessen hatte. Bradys Blick glitt an mir vorüber zu Bob. Er erkannte ihn offenbar nicht.
»Mein Teilhaber, Mr. Robert M. Levi«, stellte ich vor.
Brady nickte. Er erkannte ihn noch immer nicht.
»Sie werden sich vielleicht an ihn erinnern«, fügte ich hinzu, »er war der junge Anwalt, der den Antitrustfall gegen Ihre Gesellschaft vorbereitete.«
Bradys Gesicht veränderte sich ein wenig, es zeigte so etwas wie Verachtung. »Jetzt erinnere ich mich«, sagte er und wandte sich wieder mir zu. »Wir zahlten ihm damals fünfundzwanzigtausend Dollar, damit er den Staatsdienst quittierte.«
Ich schaute Bob an. »So habe ich es aber nicht gehört!«
Bob errötete. »Ich habe keinen Cent genommen, Brad«, sagte er ärgerlich.
Ich wandte mich wieder an Brady. »Ich glaube ihm, Brady.«
»Aber ich selbst habe dem Privatdetektiv das Geld übergeben, den ich damals zu Levis Überwachung eingestellt hatte. Er sagte mir, das sei die einzige Möglichkeit, Levi zum Gehen zu bewegen«,
empörte sich Brady.
»Dann haben Sie eben Pech gehabt, Brady«, entgegnete ich. »Sie waren zwar der Anlaß, nicht aber der Grund dafür, daß Bob den Regierungsdienst quittierte. Er ging, weil er seine Frau vor Ihren Drohungen schützen wollte. Das Geld, das ihm angeboten wurde, hat er nicht angerührt.«
Brady blickte zu Bob hinüber. Der nickte. »Das war der einzige Grund, der mich zur Kündigung zwingen konnte. Von Ihrem Geld wollte ich nichts.«
Brady schloß erschöpft die Augen. »Ich weiß nicht, was ich glauben soll.« Er blickte zu Bob auf. »Aber wenn ich unrecht habe, tut es mir leid.«
Brady wandte sich wieder an mich. »Wie sind Sie hinter die Sache mit Sand - äh - meiner Tochter gekommen? Ich habe mir immer eingebildet, es sei ein wohlgehütetes Geheimnis.«
Ich deutete mit dem Kopf auf Bob. »Ich war reichlich verzweifelt, Mr. Brady. Ich ging zu Bob und bat ihn um Hilfe. Eigentlich hat er die ganze Geschichte entdeckt. Es kam durch die Aktienüber-schreibung heraus, die Sie am Tag nach ihrer Geburt vornahmen. Bob stieß darauf, als er damals den Antitrustfall bearbeitete.«
»Ich verstehe«, nickte er. »Sie sind genau wie ich, Mr. Rowan. Ich glaube, ich habe das früher schon einmal gesagt. Sie kämpfen.«
Ich antwortete nicht.
Er faltete seine Hände auf dem Schreibtisch. »Wahrscheinlich hätte ich es Nora längst sagen sollen.« Er sprach wie zu sich selbst. »Aber ich konnte es einfach nicht. Ich hatte immer Angst, es könnte sie umbringen. Sie ist invalid und sehr stolz. Wenn ihr bewußt würde, daß ich mehr erwartet habe, als sie mir geben konnte, dann würde sie sterben.«
Er drehte seinen Stuhl herum und schaute durch das riesige Fenster auf die qualmenden Schlote der Gießereien. »Ich konnte es Nora nicht sagen, aber ebensowenig konnte ich es ertragen, meine
Tochter zu verlieren. Ich mußte eine Möglichkeit finden, sie jeden Tag zu sehen.« Bitterkeit lag in seiner Stimme. »Ich bin ein alter Mann. Der Arzt sagt, ich hätte schon längst aufhören sollen. Aber ich konnte nicht.« Er drehte sich wieder herum und schaute mich an. »Der einzige Grund, warum ich immer noch hierher komme und arbeite, ist der, daß ich sie sehen kann. Auch wenn es nur für ein paar Minuten am Tag ist. Einmal, als sie von mir fortging und irgendwo anders eine Stellung annahm, fand ich heraus, daß sie dort nicht genug verdiente, um davon anständig leben zu können. Ich zwang sie, zurückzukommen. Ich wollte nicht, daß sie sich durchhungerte.« Seine Stimme verebbte. Für einige Augenblicke schwieg er, dann schaute er wieder zu mir. »Aber offenbar habe ich alles falsch gemacht«, fügte er hinzu.
Bob und ich schwiegen. Die Sekunden tröpfelten langsam dahin, während der alte Mann hinter seinem Schreibtisch saß und auf seine Hände starrte. Ich steckte mir eine Zigarette an.
»Sie haben es ganz hübsch verstanden, sich in meine Familienangelegenheiten einzumischen«, bemerkte Brady plötzlich.
Ich wußte, wie er das meinte. »Mrs. Schuyler ist eine sehr gute Freundin«, sagte ich. »Ich versuche, ihr bei ihrer Kinderlähmungskampagne zu helfen.«
»Den Zeitungsberichten nach zu urteilen, sind Sie aber ziemlich häufig mit ihr zusammen!«
Ich lächelte. »Sie kennen doch die Zeitungen. Sie sind immer auf der Suche nach Stoff.«
»Ich dachte, Sie hätten es meinetwegen versucht, Elaine zu erobern«, meinte er nüchtern.
»Ich kannte Elaine schon, bevor ich Sie kennenlernte oder etwas von Ihren verwandtschaftlichen Beziehungen wußte. Sie ist eine wundervolle und tapfere Frau, sie hat Kummer genug gehabt. Ich bin sehr stolz, daß sie mich mag.«
Er schaute mir in die Augen. »Ich weiß. Sie hält sehr viel von
Ihnen.«
Ich schwieg.
»Aber damit ist die Sache, derentwegen Sie mich aufgesucht haben, noch nicht erledigt«, sagte er.
»Nein«, stimmte ich zu.
»Wenn ich mich nicht bereit erkläre, mit Ihnen zusammenzuarbeiten, zerren Sie die Sache mit meiner Tochter an die Öffentlichkeit, nicht wahr?«
»Ja, so ungefähr«, gab ich zu.
»Und wenn ich mich dennoch weigere?«
Ich antwortete ihm erst nach einer ganzen Weile. »Vor vielen Jahren hat mir mein Vater einmal gesagt, ich könnte wählen: zwischen der Hölle auf Erden oder der Hölle nach dem Tod. Ich verstand damals nicht, was er damit sagen wollte. Aber ich beginne zu lernen. Mir wäre die Hölle im Jenseits lieber.«
»Das heißt, Sie werden nichts sagen?« fragte er und blickte mir ins Gesicht.
Ich schüttelte den Kopf. »Das ist nicht meine Sache. Es ist Ihre eigene, private Hölle. Ich will damit nichts zu tun haben.«
Er seufzte leise. »Ich bin froh, daß Sie das gesagt haben. Wenn Sie mich erpreßt hätten, wäre es auf einen Kampf um jeden Preis hinausgelaufen, egal, was passiert wäre.«
Ich stand auf. »Das Gefühl hatte ich, als ich das letzte Mal hier war.« Ich ging auf die Tür zu. »Kommen Sie, Bob«, sagte ich.
»Augenblick mal, Mr. Rowan!«
Ich drehte mich um. »Ja?«
Der kleine Mann war aufgestanden, auf seinem sonst so reservierten Gesicht lag so etwas wie ein warmes Lächeln. »Wie können wir denn die Einzelheiten des Auftrages besprechen, wenn Sie weglaufen?«
Ich spürte, wie mein Herz klopfte. Ich hatte es geschafft - ich hatte es geschafft! Der Versuchsballon war gelandet. Ich blieb stumm.
Er kam um den Schreibtisch herum auf mich zu. Ich ergriff seine ausgestreckte Hand. Dann öffnete er die Tür. »Sandra, kommen Sie bitte mal einen Augenblick herein.«
Sie erschien, ihr ganzes Gesicht war eine einzige Frage. »Ja, Mr. Brady?«
»Mr. Rowans Firma übernimmt die Public-Relations-Kampagne für uns. Es wäre vielleicht ganz günstig, wenn Sie mit nach New York gingen, um unsere Interessen dabei ein bißchen im Auge zu behalten.« Aber in seinen Augen lag deutlich eine Bitte.
Sie schaute ihn einen Augenblick lang an und warf dann mir aus den Augenwinkeln einen Blick zu. Beinahe unmerklich schüttelte ich den Kopf. »Später«, formulierte ich mit den Lippen.
Sie war ihrem Vater ähnlich genug, um schnell zu begreifen. »Wenn es Ihnen recht ist, Mr. Brady«, sagte sie rasch, »möchte ich lieber noch eine Zeitlang bei Ihnen bleiben.«
Der alte Mann konnte seine Freude nicht verbergen. Das strahlende Lächeln auf seinem Gesicht erhellte den ganzen Raum.
Es war eine jener von Parks umgebenen Villen, die der vorneh-_men Wohngegend an der Peripherie von Washington ihren Akzent verliehen. Am Eingang brannte kein Licht, und so zündete ich ein Streichholz an, um das Namensschild zu finden.
Schuyler. Ich drückte auf den Knopf. Innen erklang ein Glockenspiel. Das Streichholz erlosch, ich wartete im Dunkeln. Nach ein paar Minuten drückte ich noch einmal auf den Knopf. Keine Antwort. Das Haus lag noch immer im Dunkeln. Ich setzte mich auf die Stufen. Es war völliger Wahnsinn, ich wußte es selbst. Selbst wenn sie mich von ihrer Wohnung aus angerufen hatte, wie Mickey behauptete, mußte sie ja jetzt nicht zu Hause sein. Schließlich konnte sie über das Wochenende irgendwohin gefahren sein, es war ja Freitag abend.
Ich steckte mir eine Zigarette an. Vielleicht lag ich überhaupt schief. Konnte ja sein, daß ich gar kein so toller Hecht war. Vielleicht betrog sie mich schon die ganze Zeit. Vielleicht gab es einen anderen - oder andere. Ich wußte es ja nicht. Ich wußte von ihr nur das, was sie mir erzählt hatte. Und da stand nichts davon drin, daß sie mich nicht betrügen konnte, wenn sie wollte.
Die Zigarette schmeckte bitter, ich warf sie fort. Die Funken sprühten auf dem Boden auf wie winzige Glühwürmchen. Die Nacht wurde kühl, ich schlug meinen Mantelkragen hoch. Ich konnte nichts weiter tun; ich war bereit, notfalls bis zum Jüngsten Tag hierzu warten.
Seit ich auf dem Pittsburgher Flughafen versucht hatte, sie anzurufen, und keine Antwort bekam, war ich dieses Gefühl nicht losgeworden, daß ich sie um jeden Preis sprechen mußte. Es gab keinen anderen Ausweg. Ich nahm eine Flugkarte nach Washington und rief zu Hause an. Ich versuchte, unbeschwert zu klingen, als ich log. »Marge, Brady hat mir den Auftrag nun doch gegeben. Aber ich muß noch den Präsidenten des Verbands in Washington aufsuchen.«
»Hat das nicht Zeit bis Montag?« fragte sie. »Ich habe so ein ungutes Gefühl, wenn ich an dieses Wochenende denke.«
Ich konnte direkt sehen, wie sie die Stirn runzelte - das tat sie immer, wenn sie deprimiert war.
»Es geht nicht, Liebling«, entgegnete ich rasch und versuchte, ihr den Schwindel glaubhafter zu machen. »Du weißt, daß dieser Auftrag unsere letzte Hoffnung war. Wir waren praktisch erledigt, bis Brady nun ja sagte. Ich kann es mir nicht leisten, jetzt noch irgendwas schiefgehen zu lassen.«
Ich hatte das unbestimmte Gefühl, daß sie mir nicht glaubte. »Na schön, Brad. Wenn du mußt...«
»Natürlich muß ich. Wenn ich nicht müßte, würde ich nicht hingehen, das weißt du ja.«
Ihre Stimme klang sehr matt. »Ich weiß überhaupt nichts mehr«, sagte sie und legte auf.
Ich hängte den Hörer ein und ging gedankenvoll zur Rollbahn. Die Maschine kam gerade an, und kurz nach neun war ich in Washington. Es war beinahe zehn, als ich das erstemal läutete.
Von der Rückseite des Hauses hörte ich Motorengeräusch, dann das Schließen des Garagentores. Eine Sekunde war es still, dann klapperten hohe Absätze den zementierten Weg entlang und bogen um die Ecke.
Ich raffte mich auf, lauschte auf das Geräusch, und plötzlich zitterten mir die Beine. Sie kam auf mich zu, sah mich aber nicht. Der Mond fiel voll in ihr Gesicht, wunderschöne, traurige Einsamkeit stand darin. Eigenartigerweise freute ich mich über diese Feststellung.
»Elaine!« flüsterte ich.
Sie blieb stehen, ihre Hand fuhr an die Kehle. »Brad!« hauchte sie. Eine plötzliche Freude erhellte ihr Gesicht.
Sie kam auf mich zu. Ihre Stimme klang tief und angespannt. »Brad, warum bist du gekommen? Wir wissen doch beide, daß es vorbei ist.«
»Ich mußte dich sehen. Du kannst mich doch nicht einfach so mir nichts, dir nichts abschieben.«
Sie blieb einige Schritte von mir entfernt stehen und schaute mir ins Gesicht. »Hast du nicht schon genug angerichtet?« Sie weinte. »Du hast mich billig und gemein gemacht wie all die anderen.
Kannst du denn keine in Ruhe lassen?«
»Das Mädchen bedeutet mir überhaupt nichts«, erwiderte ich. »Sie hat sich bei mir bedankt, weil ich ihr helfen wollte.«
Sie sagte kein Wort, starrte mich nur aus ihren dunklen, schmerzerfüllten Augen an. Irgend etwas gab mir zu verstehen, daß sie mir glauben wollte.
Ich streckte meine Hand aus, aber sie wich einen Schritt zurück. »Sag mir, daß du mich nicht liebst, und ich gehe«, sagte ich.
»Geh fort«, flüsterte sie bitter. »Laß mich allein!«
»Ich kann nicht. Du bedeutest mir alles. Ich kann dich nicht einfach so gehen lassen. Nur, wenn du mir sagst, daß du mich nicht liebst.«
Sie senkte den Blick zu Boden. »Ich liebe dich nicht«, sagte sie mit schwacher Stimme.
»Ich bilde mir ein, daß du noch vor ein paar Tagen das Gegenteil behauptet hast. Du hast mir in die Augen gesehen und gesagt, du liebst mich von ganzem Herzen. Du hast mir gesagt, daß du noch bei keinem dieses Gefühl von Lieben und Geliebtwerden erlebt hast. Schau mich jetzt an und sag mir, daß du gelogen hast. Sag mir, daß du die Liebe wie einen Wasserhahn an- und abstellen kannst. Dann will ich dir glauben.« Langsam wandte sie mir ihr Gesicht zu, ihre Lippen zitterten. »Ich . ich .« Sie konnte nicht sprechen.
Ich streckte ihr meine Arme entgegen, und sie suchte Schutz in ihnen. Sie preßte ihr Gesicht in meinen Mantel und weinte; heftige, schmerzliche Seufzer erschütterten ihren ganzen Körper. Ich konnte kaum verstehen, was sie sagte. »Einen Moment lang ... im Büro ... ich war das Mädchen ... und ich war deine Frau ... plötzlich schämte ich mich so . es war so unrecht . so furchtbar unrecht .«
Ich drückte sie fest an mich, ihr Haar streichelte meine Lippen, als ich flüsternd zu ihr sprach. Tränen liefen mir über die Wangen und fielen in ihr Haar.
»Bitte, Elaine«, bettelte ich, »bitte, weine nicht!«
Ihre Lippen preßten sich wild auf meine. »Brad, Brad, ich liebe dich so!« weinte sie, und ihre Küsse schmeckten salzig. »Laß mich nicht wieder von dir davonlaufen! Verlaß mich nie!«
»So ist es gut, Liebling«, sagte ich, plötzlich zufrieden. Ich schloß die Augen, als sie mich wieder küßte. »Ich werde dich nie verlassen.«
Es war ein Wochenende, an dem ich am liebsten die Uhr angehalten hätte. Zeit spielte keine Rolle - es war die Hochzeitsreise, die nie stattfindet, der Traum, der sich nie erfüllt.
Wir lebten zusammen wie nie zuvor zwei Menschen; wir aßen, wenn es uns gerade einfiel; wir schliefen, wenn wir erschöpft waren.
Wir zogen einen Vorhang vor unser Leben, und das Wichtigste dahinter waren unsere Gefühle füreinander. Wir lachten über all die albernen alltäglichen Dinge wie Rasieren, Baden, Anziehen, über Kaffee, der überkochte, über Toast, der anbrannte. Es war unsere Welt, von uns zu unserem Vergnügen geschaffen.
Aber wie alle Dinge, die von Menschenhand geschaffen sind, hatte auch das ein Ende, und zwar schneller, als wir es beabsichtigt hatten. Die Zeit rückte uns sowieso immer näher auf den Pelz, und wir merkten es beide, wenn wir auch nicht darüber sprachen. Und dann, als wir angefangen hatten, darüber zu sprechen, läutete das Telefon. Das Wochenende zerplatzte wie eine Seifenblase, die unser Gesicht berührt.
Ich lag auf dem Boden vor dem offenen Kamin und räkelte mich träge in der Hitze der Flammen. Elaine war gerade aus der Dusche gekommen und spazierte um mich herum. So etwas hatte ich bei einer Frau noch nie erlebt. Sie war eine Duschfanatikerin. Sie hätte pausenlos duschen können.
Die Flammen warfen einen rötlich-goldenen Schimmer auf ihre Beine, die unter dem Handtuch hervorschauten. Ich rollte über den Teppich und griff nach ihr, sie purzelte lachend neben mich. Ich zog ihr das Handtuch weg, sie kämpfte, um es an sich zu halten, aber sie kämpfte nicht besonders nachdrücklich.
Sie schaute mich aus ihren dunklen Augen an, als ich ihre Nase küßte, und lächelte ein wenig. Zum erstenmal seit zwei Tagen lag wieder Schmerz in ihrer Stimme. »Brad, was wird nun mit uns geschehen?«
Ihre Frage war berechtigt, aber sie ernüchterte mich unsagbar. Natürlich, Elaine hatte Anspruch auf eine Antwort. Nur hatte ich mir bisher eigentlich noch keine rechten Gedanken darüber gemacht. »Ich weiß nicht«, sagte ich.
»Wir können ja nicht den Rest unseres Lebens so weitermachen.«
Ich versuchte es mit der spaßigen Tour. »Was gefällt dir denn nicht daran? Ich finde es großartig!«
Sie überhörte es. »Du kannst nicht den Rest deines Lebens damit verbringen, ständig zu lügen und dich vor anderen Menschen zu verstecken. Früher oder später mußt du Farbe bekennen.« Sie nahm das Handtuch auf. »Ich weiß nicht, wie du darüber denkst. Aber ich kann so nicht leben.«
Ich zündete mir eine Zigarette an, stieß den Rauch aus und steckte sie ihr zwischen die Lippen. Meine Antwort war ehrlich: »Ich hasse es auch.«
Während ihre Augen mich musterten, fragte sie ruhig: »Was werden wir tun, Brad?«
Ich dachte lange Zeit nach, bevor ich antwortete. Das hier war kein Wochenendausflug, den man mit einem Scherzwort beendete -das hier verlangte eine klare Entscheidung.
Ich fuhr ihr mit den Fingern durchs Haar. »Es gibt nur eine Möglichkeit«, sagte ich und drehte ihr Gesicht zu mir. »Heiraten.«
Ihre tiefe Stimme zitterte leicht. »Bist du auch sicher, Brad, daß du das wirklich willst?«
Ich holte tief Luft. »Ich bin sicher.«
»Mehr als alles andere auf dieser Welt möchte ich mit dir leben, mit dir zusammen sein«, sagte sie und hielt meinen Blick fest. »Aber was wird aus deiner Frau? Aus deinen Kindern?«
Das schmerzte. An so vieles hatte ich gedacht, nur nicht an meine Familie. Jetzt wurde mir plötzlich bewußt, daß ich die ganze Zeit immer nur an mich gedacht hatte. Ich schaute sie an. »Weder habe ich dich gesucht noch du mich.«
Ich erinnerte mich an Marges Worte an jenem Morgen, als ich zu Matt Brady fuhr. Jetzt erkannte ich, daß Marge noch vor mir die Antwort gefunden hatte. »Ich glaube, Marge weiß bereits, was ich für dich empfinde. Vor ein paar Tagen sagte sie, daß kein Mensch eine Eheversicherung besitze. Sie ist die erste, die Verständnis für uns hat, wenn wir nichts anderes sein wollen als wir selbst.«
Sie lehnte den Kopf an meine Brust. »Nun gut, so denkt deine Frau. Aber du hast noch nichts über die Kinder gesagt.«
»Sie sind keine Kinder mehr«, antwortete ich. »Sie sind erwachsene Menschen. Jeannie ist sechzehn, Brad beinahe neunzehn. Sie kennen das Leben. Ich bin sicher, daß sie es verstehen werden. Sie sind bald alt genug, um für sich selbst sorgen zu können.«
»Aber nehmen wir mal an, sie würden es ablehnen, was du tust, und wollten in Zukunft nichts mehr mit dir zu schaffen haben? Wie würdest du dann darüber denken? Vielleicht wirst du mich eines Tages hassen, weil ich sie dir entfremdet habe!« Ihre Stimme wurde immer undeutlicher.
Mir schnürte es die Kehle zu, ich konnte kaum sprechen. »Ich . ich glaube nicht, daß das geschehen wird.« »Aber es könnte doch sein«, beharrte sie, »es wäre ja nicht das erstemal, daß so etwas passiert.«
Ich mochte einfach nicht daran denken. »Damit kann ich mich immer noch auseinandersetzen, wenn es nötig ist.«
»Und dann das Geld«, fuhr sie beharrlich fort.
»Was ist damit?« fragte ich rasch. Aber ihre Antwort zerstreute meinen Verdacht.
»Eine Scheidung wird dich eine Stange Geld kosten«, erwiderte sie. »Ich kenne dich doch. Du wirst dich krumm legen, um deiner Frau gegenüber möglichst fair zu sein. Gib ihr alles, was sie will -das solltest du wirklich! Sie hat ein Recht darauf nach all den Jahren, die ihr zusammen wart. Aber vielleicht wirst du dich später mal darüber ärgern, daß du ihr all das Geld gegeben hast - meinetwegen.«
»Ich hatte nicht viel, als ich anfing, und es macht mir nichts, wenig zu haben, wenn ich gehe.« Ich lächelte ihr zu. »Das heißt, wenn es dir nichts ausmacht!«
Sie drückte meine Hand. »Ich mache mir nichts aus Geld. Nur aus dir. Ich möchte, daß du glücklich bist, alles andere ist mir egal.«
Ich küßte ihre Hand. »Du wirst mich glücklich machen.«
Sie zog meinen Kopf zu sich hinunter und küßte mich auf die Lippen. »Das will ich«, versprach sie.
Ich lehnte mich gegen einen Stuhl. »Ich werde morgen mit Marge darüber sprechen.«
»Vielleicht.« Sie zögerte. »Vielleicht solltest du damit noch ein bißchen warten, bis du ganz sicher bist.«
»Ich bin sicher«, wiederholte ich zuversichtlich. »Aufschieben wird nicht viel nützen. Dadurch werden die Dinge nur noch schlimmer.«
»Was wirst du ihr sagen?« fragte sie.
Ich fing an zu sprechen. Doch dann legte sie einen Finger auf meine Lippen. »Nein«, sagte sie rasch, »sag es mir nicht. Ich will es nicht hören. Du wirst das zu ihr sagen, was jede Frau im Innersten ihres Herzens, in ihren schlimmsten Alpträumen fürchtet. Wir leben alle in der Angst, daß er eines Tages kommen wird, um uns zu sagen, daß er uns nicht mehr liebt. Ich will nicht wissen, was du ihr sagst. Versprich mir nur eines, Liebling.« Ihr Blick senkte sich tief in meinen.
»Und was ist das?«
»Sei behutsam, sei nett zu ihr«, flüsterte sie. »Und sag es nie zu mir.«
Ich küßte sie auf die Stirn. »Ich verspreche es dir.«
»Du wirst meiner nie überdrüssig werden, Brad?«
»Niemals«, antwortete ich. Da läutete das Telefon.
Wir fuhren erschrocken auseinander. Es war das erstemal an diesem Wochenende. Sie schaute mich fragend an. »Ich möchte wissen, wer das sein könnte? Kein Mensch weiß, daß ich an diesem Wochenende zu Hause bin.«
Ich lächelte. »Es gibt nur eine Möglichkeit, das zu erfahren.«
Sie stand auf und nahm den Hörer ab. »Hallo!«
Ein Krächzen ertönte in der Leitung, und ein seltsamer Ausdruck trat in ihr Gesicht. Ihre Stimme wurde kühl und abweisend. »Nein, ich habe ihn nicht gesehen.« Sie warf mir einen sonderbaren Blick zu. Wieder krächzte es im Apparat. Und während sie zuhörte, weiteten sich ihre Augen, ein furchtbarer Schmerz lag darin - der gleiche Schmerz, den ich an ihr entdeckt hatte, als ich sie das erstemal traf. Sie schloß die Augen und schwankte leicht.
Ich sprang auf und legte meinen Arm um sie. »Was ist los?« flüsterte ich.
Ihr Gesicht war geisterhaft blaß. »Macht nichts, Mister Rowan«, sagte sie, und ihre Stimme klang hohl. »Er ist hier.« Sie gab mir den Hörer.
»Vater?« rief ich in die Muschel und schaute ihr nach, als sie das Zimmer verließ.
Er versuchte, ruhig zu bleiben. »Marge bat mich, ich solle versuchen, dich zu finden. Der Junge ist sehr krank. Sie fliegt zu ihm.«
Der Boden unter meinen Füßen begann zu schwanken. »Was ist denn los?«
»Kinderlähmung. Er liegt im Krankenhaus. Marge läßt dir sagen, daß du für uns alle beten sollst.«
Einen Augenblick lang konnte ich nicht sprechen.
»Brad! Brad!« rief er nervös. »Bist du noch da?«
»Ich bin hier. Wann ist Marge abgeflogen?«
»Heute nachmittag. Sie bat mich, ich solle dich suchen.«
»Wo ist Jeannie?«
Ich hörte ein Klicken in der Leitung. »Ich bin hier, Dad!«
»Geh aus der Leitung, du Lauser!« schrie Vater.
»Ist schon gut, Pap«, beschwichtigte ich ihn. Sie mußte am Anschluß im oberen Stockwerk mitgehört haben. Früher oder später würde sie es ohnehin erfahren. »Wie geht es dir, mein Schatz?«
Sie heulte ins Telefon.
»Na, na«, beruhigte ich sie. »Das hilft gar nichts. Ich fahr hier sofort los und werde sehen, was ich tun kann.«
»Wirklich, Dad?« fragte sie ungläubig. »Du verläßt uns nicht?«
Ich schloß die Augen. »Natürlich nicht«, sagte ich. »Geh jetzt aus der Leitung und marsch ins Bett!«
Ihre Stimme klang jetzt erleichtert. »Gute Nacht, Daddy.«
»Gute Nacht, mein Kleines.« Wieder klickte es in der Leitung.
»Pap?« rief ich.
»Ja, Bernhard.«
»Ich fahr sofort los. Soll ich Marge etwas ausrichten?«
»Nein«, sagte er. »Nur daß ich für euch bete.«
Ich legte auf, mit einem bitteren Geschmack im Mund. Marge hatte nicht angerufen, weil sie Bescheid wußte. Pap hatte angerufen, weil er Bescheid wußte.
Der einzige, den ich hatte täuschen können, war ich selbst gewesen.
Ich ging durch den Raum zu Elaine. »Hast du gehört?«
Sie nickte. »Ich fahr dich zum Flughafen.«
»Danke.« Ich ging ins Badezimmer. »Ich muß mich jetzt anziehen«, bemerkte ich einfältig.
Sie gab keine Antwort, drehte sich um und ging ins Schlafzimmer. Einige Minuten später betrat sie, fertig angezogen, das Bad. Ich betrachtete sie im Spiegel, während ich mir die Krawatte band. Es wurde nichts Gescheites. Aber diesmal war es mir egal.
Voll Mitgefühl schaute sie mich an. »Es tut mir so schrecklich leid, Brad!«
»Es heißt immer, wenn man es früh genug feststellt, wird es nicht so schlimm.«
Sie nickte. »Sie haben jetzt schon weit mehr Erfahrung als damals, als wir .« Die schmerzliche Erinnerung trieb ihr die Tränen in die Augen.
»Liebling!« Ich drehte mich um und zog sie an mich. Sie schob mich zurück. »Beeil dich, Brad.«
Am Flugzeug küßte ich sie. »Ich ruf dich so bald als möglich an, Liebling!«
Sie schaute mir ins Gesicht. »Ich bin ein Unglücksrabe«, sagte sie düster. »Ich bringe jedem Pech, den ich liebe.«
»Sei nicht töricht«, protestierte ich. »Es ist doch schließlich nicht deine Schuld!«
Geistesabwesend starrte sie mich an. »Ich bin nicht so sicher.«
»Elaine!« rief ich scharf.
Sie erschrak und kam wieder zu sich. »Ich werde beten, daß er wieder gesund wird.« Sie drehte sich um und rannte zu ihrem Wagen.
Ich bestieg die Maschine und fand einen Fensterplatz. Ich spähte durch die kleine Scheibe, aber ich konnte sie nirgends entdecken. Der Motor begann zu dröhnen. Ich lehnte mich nach vorn und barg den Kopf in den Händen. Ein düsterer Gedanke kam mir.
Wenn irgend jemand Schuld hatte, dann sicherlich nicht Elaine, sondern ich.
Was stand in der Bibel über die Sünden der Väter?
Es war kurz vor Mitternacht, als ich am Eingang des Krankenhauses einer Schwester in blauer Tracht meinen Namen nannte. Während sie die Karteikarten durchblätterte, zog ich meinen Mantel aus. Durch die Tür sah ich, wie das Taxi, das mich vom Flughafen hierher gebracht hatte, wieder abfuhr. Eine Ordensschwester in grauer Tracht kam bei der Anmeldung vorbei.
»Schwester Angelika!« rief die Empfangsschwester.
Die andere wandte sich um. »Ja, Elisabeth?«
»Das ist Mr. Rowan. Wären Sie so nett, ihn mit hinaufzunehmen auf acht-zweiundzwanzig? Sein Sohn liegt dort.«
Die Ordensschwester hatte ein sanftmütiges Gesicht. »Kommen Sie mit mir«, sagte sie leise.
Wir stiegen in einen Lift. »Nach zehn sind keine Fahrstuhlführer mehr da«, entschuldigte sie sich und drückte auf den Knopf.
Im achten Stockwerk verließen wir den Aufzug, gingen einen langen, blaugestrichenen Korridor entlang und bogen dann in einen Seitengang. An dessen Ende saß auf einer Bank vor einem der Zimmer eine zusammengekauerte Gestalt.
Ich begann zu rennen und ließ die Schwester hinter mir. »Marge!« rief ich.
Sie hob den Kopf, als ich näher kam. Leid und Erschöpfung standen in ihrem Gesicht. »Brad!« sagte sie heiser, die Stimme klang nach vielen Tränen. »Brad, daß du da bist!«
Sie schwankte und wäre hingefallen, wenn ich sie nicht aufgefangen hätte. »Wie geht es ihm?« erkundigte ich mich ängstlich.
Sie fing an zu weinen. »Ich weiß es nicht. Die Ärzte behaupten, es sei noch zu früh, um etwas sagen zu können. Er hat die Krise noch nicht erreicht.« Sie schaute zu mir auf. Ihre grauen Augen erinnerten mich an Elaine. Es war der gleiche Schmerz.
Ich konnte ihr nicht ins Gesicht sehen, ich starrte auf die geschlossene Tür. »Können wir zu ihm?« fragte ich.
»Gegen Mitternacht dürfen wir mal kurz hineinschauen.«
»Das ist es ja gleich!« Fragend drehte ich mich zur Schwester um.
»Ich werde den Arzt verständigen«, versprach sie, ging den Flur wieder zurück und verschwand in einer der Türen.
»Setz dich lieber hin«, sagte ich zu Marge, geleitete sie zur Bank zurück und setzte mich neben sie.
Ihr Gesicht war bleich und verzerrt. Ich zündete eine Zigarette an und steckte sie ihr zwischen die Lippen. Nervös zog sie daran.
»Hast du etwas gegessen?« erkundigte ich mich.
Sie schüttelte müde den Kopf. »Ich habe keinen Appetit.«
Schritte hallten den Gang entlang. Wir schauten auf. Schwester Angelika kam mit einem Arzt zurück. »Sie können jetzt hinein«, sagte er freundlich und hielt uns die Tür auf. »Aber nur ganz kurz.«
Schweigend betraten wir den Raum. Ich merkte, wie Marge den Atem anhielt, als wir ihn sahen. Ihre Fingernägel gruben sich in meine Hand.
Er lag unter einer riesigen eisernen Lunge, man konnte nur den oberen Teil seines Kopfes erkennen. Sein wirres schwarzes Haar war fettig und glänzte von Schweiß. Die Augen in seinem wachsbleichen Gesicht waren fest geschlossen. Eine schwarze Kanüle führte von seinen Nasenlöchern zu einem Sauerstofftank, der dicht neben ihm stand. Sein Atem kam mühsam und gequält.
Marge trat einen Schritt vor, um ihn zu berühren, aber der Arzt hielt sie flüsternd zurück. »Stören Sie ihn jetzt nicht, er hat den Schlaf bitter nötig.«
Still blieb sie stehen, ihre Hand lag in meiner, und so schauten wir auf unseren Sohn hinunter. Ihre Lippen bewegten sich, als ob sie zu ihm spräche, doch kein Laut kam aus ihrem Mund.
Ich trat ganz nahe heran und schaute Brad an. Das war mein eigenes Fleisch, ich fühlte seine Schmerzen. Das war der aus meinen Lenden gezeugte Riese - und da lag er nun hilflos, ein Stück meiner selbst, und doch konnte ich ihm seine Leiden nicht erleichtern.
Ich erinnerte mich an unser letztes Gespräch, bevor er im Herbst zur Schule zurückgekehrt war. Ich hatte ihn ausgelacht, weil er zu leicht war, um in die Fußballmannschaft aufgenommen zu werden. Bei der Länge, hatte ich ihm geraten, solle er sich mal lieber auf Korbball verlegen - das sei weniger gefährlich, und wenn er was tauge, könnte er auch damit fünfzigtausend Dollar im Jahr verdienen. Ich erinnerte mich nicht mehr, was er darauf geantwortet hatte; aber mir war noch sein entsetzter Gesichtsausdruck gegenwärtig, daß ich über so etwas Witze machte.
Und jetzt war er in ein Stück Metall eingepackt, das statt seiner atmen mußte, weil sein Körper zu schwach war, um das allein zu schaffen. Mein Kleiner! Früher war ich nachts immer mit ihm auf und ab marschiert, wenn er schrie. Die stärksten Lungen der Welt, hatte ich damals gestöhnt. Ich wollte mich nie mehr beklagen. Nichts war stark genug, nicht einmal ich konnte für ihn atmen -nur ein Monstrum aus Metall, dessen weiße, sterile Wände in der fahlen Krankenhausbeleuchtung hintergründig funkelten.
»Gehen Sie jetzt lieber«, flüsterte der Arzt.
Marge warf dem schlafenden Jungen einen Handkuß zu, dann nahm ich ihren Arm, und wir folgten dem Arzt aus dem Zimmer. Leise wurde die Tür hinter uns geschlossen.
»Wann werden wir Näheres erfahren, Doktor?« fragte ich.
Er zuckte mit den Achseln. »Kann ich nicht sagen, Mr. Rowan. Die Krise ist noch nicht da. Kann sein, in einer Stunde, kann sein, in einer Woche. Es ist völlig ungewiß.«
»Wird er ... wird er dauernd gelähmt bleiben?«
»Bevor die Krise nicht eingesetzt hat, können wir überhaupt nichts sagen, Mr. Rowan. Wenn die Krise vorbei ist, machen wir eine Kon-trolluntersuchung, und dann stellen wir fest, ob Schäden zurückgeblieben sind. Ich kann Ihnen im Augenblick nur eines sagen.«
»Und was ist das?« fragte ich begierig.
»Wir tun alles nur Menschenmögliche. Machen Sie sich keine unnötigen Sorgen. Es hat keinen Sinn, wenn Sie sich selbst auch noch krank machen.« Er wandte sich an Marge. »Sie sind schon so lange hier«, sagte er freundlich, »es wird Zeit, daß Sie ein wenig zur Ruhe kommen.«
Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. »Ich bin nicht müde.«
»Sehen Sie zu, daß sie sich ausruht, Mr. Rowan«, sagte der Arzt zu mir. »Sie können Ihren Sohn morgen früh um acht wieder sehen. Gute Nacht.«
Er machte kehrt und ging den Korridor zurück.
Als er in seinem Zimmer verschwunden war, wandte ich mich zu Marge. »Du hast gehört, was er gesagt hat.«
Sie nickte.
»Na, dann komm. In welchem Hotel wohnen wir?«
»Ich habe keine Ahnung«, sagte sie schwerfällig. »Ich bin direkt vom Flughafen hierher gefahren.«
»Unten ist ein Telefon, das können Sie benutzen«, half uns Schwester Angelika. »Sie können von hier aus ein Hotel anrufen.«
Ich dankte ihr. »Wo ist dein Koffer?« fragte ich Marge.
»Beim Empfang.«
Ich ließ sie bei der Anmeldung zurück, während ich zum Telefon ging, ein Hotel anrief und ein Taxi bestellte. Als ich zurückkam, waren beide verschwunden. Ich beugte mich über den Tisch der Anmeldung. »Wo ist meine Frau?« fragte ich die Schwester.
Sie schaute von einer Illustrierten auf. »Ich glaube, sie ist mit Schwester Angelika in die Kapelle gegangen, Mr. Rowan«, antwortete sie und deutete mit der Hand in die Richtung. »Gleich hinter dem Aufzug, erste Tür rechts.«
Es war eine kleine Kapelle, erfüllt vom goldenen Licht vieler Kerzen, die vor dem Altar flackerten. Ich blieb einen Moment in der Tür stehen und schaute hinein. Marge und Schwester Angelika knieten mit gesenkten Köpfen vorn auf den Altarstufen. Langsam schritt ich durch das Seitenschiff und kniete neben Marge nieder. Ihre Finger umklammerten das Geländer am Altar, die Stirn ruhte auf ihren Händen. Ihre Lippen bewegten sich, ihre Augen waren geschlossen. Aber sie wußte, daß ich neben ihr war.
Schweigend lag ich in meinen Kissen, während Marge sich in den Schlaf weinte. Ich fand keine Ruhe. Ich erinnerte mich, was Marge gesagt hatte, bevor sie vor Erschöpfung zusammenbrach. »Ich habe solche Angst, Brad«, hatte sie geweint.
»Er wird durchkommen«, sagte ich zuversichtlicher, als ich tatsächlich war. Meine Kehle war zugeschnürt.
»Bitte, o mein Gott!« flehte sie. »Ich könnte es nicht ertragen, auch ihn noch zu verlieren.«
Nun war ich sicher, daß sie alles wußte; und dennoch konnte ich nicht darüber sprechen. Ich fand wohl Worte der Beruhigung für sie, aber über mich selbst konnte ich nicht reden. Vielleicht zu einem anderen Zeitpunkt, an einem anderen Ort. Vielleicht. Aber nicht jetzt. Ich dachte an Elaine.
Jetzt verstand ich, was sie gemeint hatte. Die vielen Jahre des Zusammenlebens ließen sich nicht auslöschen. Jetzt wußte ich, warum sie gefragt hatte, wie ich damit fertig werden würde.
Marge weinte im Schlaf immer noch leise vor sich hin. Ein Gefühl der Zärtlichkeit für sie überkam mich wie nie zuvor. Ich schob meinen Arm unter ihre Schultern und zog ihren Kopf an meine Brust. Dort ruhte sie sanft und leicht wie ein Kind, und bald hörte sie auch auf zu weinen. Ihr Atem ging ruhig und friedlich. Ich durchwachte die Nacht, bis sich der Tag langsam zu den Fenstern hereinschlich.
Es dauerte eine Woche, bis wir schließlich die Antwort erhielten. Als wir an diesem Morgen die Klinik betraten, lächelten uns alle entgegen: Schwester Angelika, die Empfangsschwester, der Fahrstuhlführer, die Krankenwärter und Aufseher, die sonst so ernst und nüchtern ihre Arbeit verrichteten. Alle freuten sich für uns. Der Arzt kam uns mit ausgestreckten Händen aus seinem kleinen Zimmer am Ende des Flurs entgegen. Ich ergriff eine Hand, Marge die andere. »Es ist vorüber«, rief er fröhlich. »Er hat's geschafft. Noch ein bißchen Ruhe, und er ist wie neugeboren.«
Wir brachten kein Wort heraus, sondern schauten uns nur an, Tränen in den Augen. Wir faßten uns bei der Hand, während wir dem Arzt den Flur entlang zu Brads Zimmer folgten.
Er lag mit dem Gesicht zur Tür, den Kopf durch ein Kissen leicht gestützt. Auf der anderen Seite des Zimmers stand die gewaltige eiserne Lunge. Beide knieten wir an seinem Bettrand nieder, küßten ihn und weinten. Schließlich lächelte er uns zu, eine leicht abgeschwächte Version seines gewohnten Grinsens. Seine Hand fuhr über die Bettdecke und deutete auf die eiserne Lunge. »Mann!« sagte er schwach, aber in seinem üblichen Jargon. »Vergrab bloß diesen verrückten Windkanal!«
Ich ging vom Flughafen aus sofort ins Büro. Vater fuhr Marge und Junior nach Hause. Es war kurz vor neun, das Büro war leer. Ich grinste vor mich hin; es gab eine Menge aufzuarbeiten. Ich schloß die Tür zu meinem Zimmer hinter mir und begann, die Papiere auf meinem Schreibtisch durchzusehen.
Bob Levi hatte sich bewährt. Als ich weg mußte, hatte er sich sofort tüchtig ins Zeug gelegt. Nachdem es sich herumgesprochen hatte, daß mit mir wieder alles >in Ordnung< wäre, wollten alle Kunden wieder zurück zu mir. Bob hatte sie wieder aufgenommen, aber zu höheren Tarifen. Ich glaube, er war der Meinung, sie sollten ruhig für ihre Treulosigkeit zahlen.
Gegen zehn schaute ich schließlich auf. Wo, zum Teufel, steckten sie denn alle? Ich drückte auf den Knopf der Rufanlage.
»Brad, sind Sie's?« ertönte Mickeys leicht aufgeregte Stimme.
»Wer sonst? Glauben Sie vielleicht, ein Geist?« polterte ich.
Dann kam einer nach dem anderen in mein Büro, vom Botenjungen angefangen, und schüttelte mir die Hand. Alle freuten sich. Mir war wohl ums Herz. Alles klappte wunderbar.
Als sie alle wieder draußen waren, blieb Bob zurück. »Um halb eins sind wir mit dem Vorstand des Stahlverbands zum Mittagessen verabredet«, sagte er.
»In Ordnung.«
»Die Rechtsanwälte haben versprochen, daß die Verträge nach Tisch vorliegen«, fügte er hinzu.
Ich schaute auf. »Ich weiß nicht, was ich ohne Sie hätte machen sollen.«
Er lächelte. »Genau das gleiche denke ich auch, was Sie betrifft. Komisch, was?«
»Aber gut«, lachte ich.
Er ging in sein Büro zurück, der Morgen kroch dahin. Kurz vor Mittag kam Mickey mit einem Paket herein. »Der Kürschner hat das für Sie abgegeben.« Sie legte es auf meinen Schreibtisch. Ich musterte das Paket. Einen Augenblick lang konnte ich mich nicht erinnern. Dann fiel es mir wieder ein. Morgen war unser Hochzeitstag. Kaum zu glauben, daß seit jenem Morgen, an dem ich Jeannie zur Schule gefahren und sie mir diesen Floh ins Ohr gesetzt hatte, erst ein Monat vergangen war. So viel war inzwischen geschehen ...
»Lassen Sie das Paket in meinen Wagen bringen«, bat ich sie.
Sie machte kehrt und nahm das Paket wieder mit, die Tür schloß sich hinter ihr. Diesen Pelz hatte ich an dem Tag bestellt, an dem ich zum erstenmal Elaine begegnete.
Elaine! Meine Finger erstarrten auf der Schreibtischplatte. Ich hatte ihr versprochen, sie anzurufen! Aber es hatte sich keine Gelegenheit geboten. Tausend Jahre waren vergangen, seit ich zum letztenmal mit ihr gesprochen hatte. Ich nahm den Hörer ab und wählte das Fernamt.
Gerade wollte ich die Nummer angeben, als Bob den Kopf zur Tür hereinsteckte. »Wir müssen uns beeilen«, rief er. »Sie wollen doch wohl bei Ihrem ersten offiziellen Treffen mit dem Vorstand nicht zu spät kommen!«
Zögernd legte ich den Hörer wieder auf und erhob mich. Gleich nach Tisch würde ich sie anrufen. Ich nahm Hut und Mantel und ging zur Tür.
Damals wußte ich es noch nicht. Aber in diesem Augenblick war sie bereits seit zwölf Stunden tot.
Mein Kopf schmerzte, die Augen brannten - es waren die unge-weinten Tränen. Ich weiß nicht, wie lange ich so saß und aus dem Fenster starrte. Ich fand keine Antwort.
Das Telefon schnarrte. Erschöpft schlich ich hinüber zu meinem Schreibtisch und nahm den Hörer ab. »Ja, Mickey?«
»Sandra Wallace ist hier und möchte Sie sprechen.«
Ich zögerte einen Augenblick. Auf meiner Schreibtischuhr war es fast sechs. Dann entschloß ich mich: »Sie möchte hereinkommen.«
Ich war aufgestanden, als Sandra kam - kräftig, blond und voll Leben. Ihre Vitalität war gewaltig. Nichts auf dieser Welt konnte sie zerstören, davon war ich überzeugt. Sie war ganz das Gegenteil von Elaine.
Ihre blauen Augen musterten mich. »Guten Abend, Brad«, sagte sie leise und blieb an der Tür stehen.
»Sandy! Kommen Sie herein!«
Langsam kam sie näher. »Wie geht es Ihnen?«
»Okay«, sagte ich matt.
»Ich freue mich, daß es Ihrem Sohn bessergeht.«
»Danke.« Ich fragte mich, von wem sie es erfahren hatte. »Was führt Sie in die Stadt?«
»Ich habe eine Nachricht für Sie.«
»Von Mr. Brady?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein.«
Fragend schaute ich sie an.
»Von Mrs. Schuyler«, sagte sie.
Im ersten Augenblick begriff ich nicht; aber dann wurde mir bewußt, was Sandra da gesagt hatte. »Von Mrs. Schuyler? Aber sie ist . sie ist .«
»Ich weiß«, antwortete Sandra ruhig. »Heute morgen habe ich es gehört. Mr. Brady war ganz verstört.«
»Wie kommen Sie zu einer Nachricht von ihr? Haben Sie sie gesehen?«
Wieder schüttelte sie den Kopf. »Nein. Ich erhielt sie heute morgen mit der Post.« Sie öffnete ihre Handtasche, zog einen Umschlag heraus und hielt ihn mir entgegen.
Ich nahm ihn ab und betrachtete ihn. Der Umschlag war geöffnet. Ich schaute sie an.
»Der erste ist an mich«, erklärte sie rasch, »drinnen steckte noch einer. Der ist an Sie.«
Ich öffnete ihn, und der vertraute Duft von Elaines Parfüm strömte mir entgegen. Ich schloß die Augen; ich konnte sie vor mir stehen sehen. Der innere Umschlag war versiegelt. Ich schlitzte ihn auf und blickte zu Sandy; sie stand immer noch vor mir.
»Ich werde draußen warten«, sagte sie.
Ich schüttelte den Kopf. »Bleiben Sie hier.«
Sie ging zur Couch hinüber und setzte sich. Ich sank auf meinen Sessel und begann, Elaines Brief zu lesen. Sie hatte eine saubere, ordentliche Handschrift, die keinerlei Erregung verriet. Offenbar war sie mit sich schon ins reine gekommen, als sie sich hinsetzte, um diesen Brief zu schreiben. Er trug das Datum von vorgestern.
»Mein liebster Brad, seit ich Dich am Flugzeug verließ, habe ich ständig an Dich gedacht und gebetet. Meine einzige große Hoffnung ist, daß es Deinem Sohn wieder gutgeht. Das ist das Allerwichtigste auf dieser Welt.
Während ich an Dich dachte, wurde mir erst klar, wie kleinlich und lächerlich, wie selbstsüchtig wir gewesen sind. Wir, die wir bereit waren, alles in unserer Welt der Leidenschaft des Augenblicks zu opfern.
Denn in Wahrheit war dies das einzige, was wir je miteinander haben konnten, auch das wurde mir klar. Mein Leben war bereits zu Ende, ich habe nur versucht, mir etwas von dem Deinen zu borgen.
Ich glaube, ich habe Dir einmal erzählt, daß Du die gleichen Eigenschaften besitzt, die gleichen Ansichten und die gleiche Liebe zu Deiner Familie, wie er sie für uns empfand.
Das war es, was mich zuerst anzog, aber damals wußte ich das noch nicht. Du warst der gleiche Typ.
Als Du fort warst, fand ich in meiner Einsamkeit den Weg zum Friedhof, wo David und die Kinder ruhen. Ich habe mich dort auf die Bank gesetzt und den Grabstein betrachtet, der bereits meinen Namen trägt. Es ist ein Platz an seiner Seite, der Platz, den ich immer innehatte, als er noch lebte. Da begriff ich, daß ich niemals bei ihm und den Kindern sein könnte, wenn ich bei Dir wäre. Wir könnten niemals wieder vereint sein, die wir einander so viel bedeutet haben. Und so wurde mir klar, daß ich Dich nicht weniger liebe, aber daß ich David und die Kinder noch mehr liebe.
Bitte, glaube nicht, daß ich Deine Liebe verraten hätte. Sie
war mir wertvoller als ich Dir jemals gesagt habe. Bitte, denk gut von mir und bete für mich. In Liebe
Elaine.«
Meine Augen brannten noch immer von all den Tränen dieses Tages, aber ich fühlte mich jetzt besser. Ein Stein fiel mir vom Herzen. Ich stand auf. »Es war lieb von Ihnen, daß Sie mir den Brief
gebracht haben, Sandy«, bedankte ich mich heiser.
Sie stand ebenfalls auf. »Das mußte ich doch. Ich wußte, daß Sie sie geliebt haben.«
Ich holte tief Luft. »Ich habe sie geliebt«, sagte ich. »Ich hatte nur nie begriffen, wie schmerzvoll ihr Leben, wie verwundet sie gewesen war. Ich erinnerte mich einzig und allein an ihre Augen, die etwas von diesem Schmerz verraten hatten.«
Sie stand an der Tür. »Ich muß wieder zurück«, sagte sie. »Ich habe Tante Nora versprochen, um zwölf wieder zu Hause zu sein.«
»Tante Nora?« fragte ich überrascht.
Sie nickte. »Mr. Brady hat mich mit nach Hause genommen, damit ich sie kennenlerne. Er möchte gern, daß ich mich als ihre Tochter fühle. Ich bleibe eine Weile bei ihnen.« Ein etwas verwirrtes Lächeln lag auf ihren Lippen. »Ich möchte nur wissen, was Sie an diesem Tag damals zu ihm gesagt haben. Seither ist er ein völlig anderer Mensch. Allmählich beginne ich direkt, ihn gern zu haben. Wenn man ihn nämlich ein bißchen näher kennenlernt, ist er wirklich reizend.«
»Das freut mich, Sandy«, sagte ich, ging auf sie zu und schaute sie an. »Sie werden jetzt eine große Hilfe für die beiden sein.«
»Das hoffe ich.« Sie lächelte und bot mir ihre Wange.
Ich küßte sie wie ein Kind. »Auf Wiedersehen, Sandy.«
Die Tür schloß sich hinter ihr, ich ging hinüber ans Fenster und öffnete es. Ich zerriß Elaines Brief in winzige Fetzen und ließ sie aus dem Fenster flattern.
Es war ein Ende, aber es war auch ein Anfang. Ein neues Leben und ein neues Verstehen für mich. Ich unterschied mich in nichts von so vielen anderen Männern, die vergaßen, daß der Herbst die Jahreszeit der Reife war, und verzweifelt versuchten, noch einmal den Frühling zu erleben. Jetzt war ich klüger. Man kann die Uhr nicht zurückdrehen. Eine lange Strecke mit Marge und den Kindern lag noch vor mir. Jetzt wußte ich, was Elaine damit hatte sagen wollen: ein Platz an ihrer Seite. Ich holte tief Luft, die Kälte drang tief in meine Lungen. Das tat gut. Plötzlich hatte ich es eilig, nach Hause zu kommen.
Während der Heimfahrt fiel der erste Schnee dieses Jahres. Als ich in unsere Einfahrt bog, hatte er den Boden gerade mit einer dünnen Decke überzogen. Ich fuhr vor die Garage, blieb im Wagen sitzen und schaute hinüber auf mein Haus.
Hinter jedem Fenster brannte Licht, auch in Brads Zimmer, ein Schimmer Gemütlichkeit drang heraus. Vaters Taxi parkte vor der Haustür. Ich stieg aus und öffnete das Garagentor, die Angeln quietschten wie immer. Ich stieg wieder ein und fuhr den Wagen in die Garage.
Da hörte ich Jeannie rufen. »Daddy! Daddy!«
Ich stieg aus, und sie lief in meine Arme. Ich küßte sie zärtlich. »Wie geht's meiner Tochter?« erkundigte ich mich.
»Großartig«, entgegnete sie aufgeregt und senkte ihre Stimme, als ginge es um eine Verschwörung. »Hoffentlich hast du Mutters Geschenk nicht vergessen. Sie hat nämlich die schönste Armbanduhr der Welt für dich!« Sie riß ihre Hand vor den Mund. »Ach du meine Güte! Jetzt habe ich alles verraten. Und ich hatte so fest versprochen, nichts zu sagen!«
Ich schmunzelte. Vermutlich hatte sie auch Marge schon von meinem Geschenk unterrichtet. Sie konnte einfach kein Geheimnis bei sich behalten, sie würde das niemals können. »Ist schon gut, Kleines«, besänftigte ich sie, »ich laß mir schon nichts anmerken.«
Ich langte über den Sitz, ergriff das Paket und schob es mir unter den Arm. Unter unseren Füßen stob der Schnee auf, als wir Hand in Hand zum Haus hinaufgingen.