Matt Brady war ziemlich klein, und nie sah ich ihn lächeln. Seine Augen waren groß, blau und wachsam. Sie blickten einen geradeheraus an und durch einen hindurch. Ich mochte ihn nicht. Ich weiß nicht, warum. Aber in dem Augenblick, als ich ihn sah,
wußte ich, daß ich ihn nicht leiden konnte.
Vielleicht war es der Nimbus von Macht, der ihm wie ein unsichtbarer Mantel um die Schultern hing. Vielleicht wegen der Art und Weise, wie sich die übrigen Mitglieder des Vorstands ihm gegenüber benahmen. Jeder von ihnen war auf seinem Gebiet ein großer Mann. Jeder leitete ein Unternehmen, das mehrere Millionen Dollar wert war. Und trotzdem katzbuckelten sie alle vor ihm und nannten ihn >Mister Brady<, als wäre er der liebe Gott persönlich. Und er behandelte sie wie den letzten Dreck.
Ich warf Chris einen raschen Blick zu, um an seiner Reaktion zu sehen, wie ich bei den Leuten >angekommen< war. Sein Gesicht war völlig teilnahmslos. Innerlich verfluchte ich ihn, weil er so verdammt rechtschaffen dasaß.
Ich drehte mich wieder zu Matt Brady. Dessen Stimme war so kalt wie der ganze Rest von ihm. »Junger Mann«, sagte er, »ich kann meine Zeit hier nicht mit läppischer Konversation vergeuden. Ich bin es gewohnt, mich kurz zu fassen und komme gleich zur Sache. Kein Wort Ihrer Ausführungen hat mich davon überzeugt, daß wir mit Ihren Vorstellungen von Werbung den Mann auf der Straße gewinnen können, daß er überhaupt kapiert, was wir von ihm wollen.«
Gelassen erwiderte ich seinen Blick. Ich konnte beim besten Willen nicht verstehen, was Elaine so reizend an ihm fand.
»Mr. Brady«, entgegnete ich, »ich bin Berater für sogenannte Öffentlichkeitsarbeit. Sie wissen, was das ist? Eine reichlich verrückte Bezeichnung für den Mann, der lange vor dem Zirkus in der Stadt eintrifft, um überall die Plakate anzukleben. Nur sage ich den Leuten nicht, daß sie in den Zirkus gehen sollen. Sondern ich sage ihnen, wie schön das Leben ist, weil es den Zirkus gibt.«
Man konnte den alten Bussard nicht ablenken. Worte bedeuteten ihm überhaupt nichts. Sein Verstand arbeitete wie eine Maschine. Mir wurde allmählich klar, auf welche Weise er dorthin gelangt war,
wo er jetzt war.
»Ich zweifle nicht an Ihren Fähigkeiten, junger Mann«, erklärte er, »ich bezweifle lediglich den Wert Ihrer Vorschläge. Sie erscheinen mir zu oberflächlich, nicht genügend durchdacht. Sie scheinen mir mehr daran gedacht zu haben, viel Geld zu verdienen, als Ihren Kunden nützlich zu sein.«
Mit Angabe kommt man eine ganze Strecke vorwärts. Aber dann muß man auch das Blaue vom Himmel herunterreden. »Mr. Bra-dy«, lächelte ich möglichst freundlich, »wenn ich für mich das gleiche Recht zur Offenheit in Anspruch nehmen darf, das Sie für sich geltend machen, dann möchte ich Ihnen sagen, daß Sie nicht die leiseste Ahnung haben, wovon ich gerade gesprochen habe. Weil es Ihnen nämlich viel wichtiger ist, was aus dieser Kampagne für Matt Bradys persönliche Interessen herausspringt, und weil Ihnen die Ergebnisse für die Stahlindustrie als Ganzes ziemlich gleichgültig sind.«
Ich fühlte die Erregung, die sich der Tischrunde bemächtigt hatte, mehr, als daß ich sie erkannte. Chris starrte mich entsetzt an. Matt Bradys Stimme klang verdächtig ruhig. »Fahren Sie fort, junger Mann.«
Ich blickte ihn an. Vielleicht war ich übergeschnappt, aber ich bildete mir ein, den Funken eines Lächelns in seinen Augen zu entdecken. »Mr. Brady«, fuhr ich ruhig fort, »Sie machen Stahl, ich mache Meinungen. Ich nehme an, Sie verstehen Ihr Geschäft, und wenn ich etwas kaufe, das aus Ihrem Stahl hergestellt ist - ein Auto oder einen Kühlschrank -, dann verlasse ich mich darauf, daß Sie das geeignete Material für diese Arbeit verwendet haben. Das Vertrauen, daß Sie es tun, veranlaßt mich zum Kauf.« Ich wandte mich von ihm ab und blickte den Tisch entlang zu seinen Kollegen.
»Meine Herren«, fuhr ich fort, »in Ihren Geschäftsbüchern befindet sich bei jedem ein Posten, der >Vertrauen< heißt. Bei manchen macht dieser Posten einen Dollar aus, bei anderen eine Million und mehr. Ich kenne die Buchungsmethoden nicht, mit denen man den Wert von etwas Immateriellem festsetzt. Ich bin kein Buchhalter. Ich verkaufe Nichtgreifbares. Sie können das, was ich Ihnen verkaufe, nicht in der Hand halten, Sie können es nicht auf die Waagschale legen und wiegen; Sie können es nicht zusammenzählen und in der Bilanz nicht auf die Liste der Vermögenswerte setzen.«
Jetzt hörten sie interessiert zu, das konnte ich an ihren Gesichtern ablesen. »Ich handle mit dem Posten, den Sie >Vertrauen< nennen. Wenn Sie gestatten, möchte ich Ihnen kurz einige Dinge ins Gedächtnis zurückrufen, die die Leute vor einiger Zeit über ihre Branche gesagt haben. Es sind keine angenehmen Erinnerungen, aber sie sind für mein Plädoyer leider notwendig.
Nach dem Angriff auf Pearl Harbour konnte man überall hören, daß uns die Japaner mit ihren Bomben die angebliche Hochbahn wieder zurück gegeben hätten, die Sie, die Stahlindustrie, ihnen verkauft hatten. Es spielt keine Rolle, daß die Wahrheit ganz anders aussah, als das Gerücht behauptete. Wichtig ist, daß man Ihnen dieses Geschäft lange Zeit übelgenommen hat. Aber das kümmerte sie nicht sonderlich. Sie waren nur hinter Rüstungsaufträgen her. Wären Sie damals von Privatkunden abhängig gewesen, hätte das eine sehr große Rolle gespielt. Ich weiß das.
Ich wurde nämlich neunzehnhundertzweiundvierzig nach Washington beordert, um die Schrottsammlung anzukurbeln. Einer der Hauptgründe, warum diese Sammlung nicht recht vorankam, war der, daß die Leute nicht sicher waren, was Sie mit dem Schrott anfangen würden. Wir starteten eine Aufklärungsaktion, und die Bevölkerung kapierte die Sache. Ergebnis: das Vertrauen in die Stahlindustrie war wiederhergestellt, der Verwendungszweck des Schrotts war genau erklärt, und der Strom von Altmetall, der in Ihre Fabriken floß, war erheblich.«
Ich machte eine kurze Pause, um zu verschnaufen und einen
Schluck Wasser aus der Karaffe zu trinken, die vor mir stand. Aus dem Augenwinkel heraus konnte ich sehen, daß selbst Matt Brady mir zugehört hatte.
»Vertrauen zu schaffen, meine Herren«, begann ich erneut, »das ist mein Beruf. Ich versuche, dazu beizutragen, daß die Leute gut von Ihnen denken. Ich könnte mit meinen Künsten vermutlich nicht mal einen Büchsenöffner für zehn Cents verkaufen. Aber wenn ich mit dem hier Erfolg habe, wird die Bevölkerung eine bessere Meinung von Ihnen haben, als sie sie im Augenblick hat. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden sich die vielen Dinge, die Sie herstellen, leichter verkaufen, wenn die Leute gut auf Sie zu sprechen sind. Ob Sie's wahrhaben wollen oder nicht, meine Herren, es ist für Sie ebenso wichtig wie für den Bonbonladen um die Ecke, daß Ihre Kunden Sie mögen. Und ob Sie es nun gern hören oder nicht, meine Herren, ich bin der Meinung, daß Sie nichts weiter sind als Geschäftsleute im größten Bonbonladen an der größten Ecke der Welt.«
Ich nahm meine Unterlagen auf und steckte sie in die Aktentasche. Was mich anbelangte, so war die Sitzung beendet. Ich mußte erst gar nicht zu Chris am Ende des Tisches hinüberblicken, um das bestätigt zu bekommen, was ich bereits fühlte: In unseren Büchern würde eine halbe Million niemals in Erscheinung treten ...
Als wir mit dem Aufzug nach unten fuhren, sprach Chris kein einziges Wort. Trotz des Sonnenscheins schien die Luft draußen kalt. Ich schlug meinen Mantelkragen hoch.
Er winkte ein Taxi herbei. Ich wollte gerade einsteigen, als ich es mir plötzlich anders überlegte und ihm meine Aktentasche in die Hand drückte. »Fahren Sie zurück ins Büro, Chris, ich vertrete mir noch ein bißchen die Beine.«
Er nickte, nahm die Aktentasche und bestieg das Taxi. Ich sah zu, wie es abfuhr, und tauchte zurück in die Menschenmenge auf der Fifth Avenue. Ich senkte den Kopf, vergrub die Hände tief in die
Manteltaschen und setzte mich in Richtung Manhattan-Nord in Bewegung.
Ich war doch der größte Dummkopf der Welt. Ich hätte vernünftiger sein sollen. Und trotzdem hätte ich es unter Umständen doch noch geschafft, wenn nicht Matt Brady gewesen wäre - mit seinen kalten Augen und seinem skeptischen Mund. »Nimm dich vor kleinen Männern in acht«, hatte Vater mal gesagt. Ein kleiner Mann mußte gewitzter sein, um zu überleben. Vater hatte recht. Matt Brady war ein kleiner Mann. Und gerissen. Er hatte mein Geschwätz glatt durchschaut. Ich begann ihn zu hassen. Er wußte alles, er hatte auf alles eine Antwort. Zumindest war er davon überzeugt. Aber er täuschte sich. Niemand wußte alle Antworten.
Ich weiß nicht, wie lange ich so herumgelaufen war und in welcher Gegend ich mich befand. Aber plötzlich stand ich vor ihrem Hotel. Ich schaute an der Hausfront hinauf. Das goldene Zigarettenetui, das ich seit dem Morgen bei mir trug, fühlte sich kalt an.
Sie stand schon an der Tür, als ich vom Aufzug aus den Gang entlang kam. Sobald ich ihr Gesicht sah, wußte ich, daß sie mich erwartet hatte.
Ich folgte ihr ins Zimmer mit dem Zigarettenetui in der Hand.
»Du hast es absichtlich im Wagen liegenlassen«, sagte ich.
Sie nahm es mir schweigend ab, ohne etwas zu erwidern. Sie wich meinem Blick aus. »Vielen Dank, Brad.«
»Warum?«
Langsam drehte sie mir ihr Gesicht zu. Und wieder lag dieser verlorene Ausdruck in ihren Augen. Sie öffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen, aber dann füllten sich ihre Augen mit Tränen. Ich streckte meine Arme aus, und sie schmiegte sich hinein, als würde sie dorthin gehören. Ihr Gesicht lag auf meiner Brust. Ihre Tränen schmeckten salzig.
So stand ich eine ganze Weile und hielt sie fest. Allmählich versiegten ihre Tränen. Ihre Stimme klang sehr tief. »Es tut mir leid,
Brad, es ist schon wieder vorbei.«
Ich sah, wie sie durch das Zimmer ging. Sie verschwand im Schlafzimmer. Ein paar Sekunden später hörte ich Wasser plätschern. Ich warf meinen Mantel über den Stuhl und ging zum Telefon.
Die Zimmerbedienung in diesem Hotel klappte vorzüglich. Ich hatte gerade etwas Whisky in die Gläser gegossen, als sie zurückkam. Ihr Gesicht sah sauber und frisch aus, und in ihren Augen war keine Spur mehr von Tränen zu sehen. Ich hielt ihr ein Glas hin. »Du kannst einen gebrauchen.«
»Es tut mir leid, Brad«, entschuldigte sie sich erneut. »Ich wollte nicht weinen.«
»Denk nicht mehr dran«, antwortete ich rasch.
Sie schüttelte heftig den Kopf. »Ich hasse Tränen«, fuhr sie beharrlich fort. »Es ist nicht fair.«
Ich ließ mich neben meinen Mantel in den Sessel fallen. »Alles in der Liebe ist fair, und -«
Der Ausdruck auf ihrem Gesicht ließ mich verstummen.
Schweigend nippte ich an meinem Whisky. Meine Nerven hörten auf zu zucken, als der Whisky in meinem Magen landete und alles wohlig in mir kribbeln ließ. Sie saß mir gegenüber.
Wie lange wir so da saßen, werde ich nie genau wissen. Bis ich mir den zweiten Whisky eingegossen hatte und Ruhe und Zufriedenheit mich erfüllten, sagte ich kein Wort. Die Welt und das Geschäft waren so weit weg! Selbst die Enttäuschung von vorhin.
Die Dämmerung hatte das Fenster hinter ihr verhüllt. Meine Stimme hallte durch den Raum. Ich hatte mein Glas erhoben und schaute hinein. Ganz selbständig sprach mein Mund die Worte.
»Ich liebe dich, Elaine.«
Ich stellte das Glas ab und sah sie an.
Sie nickte mit dem Kopf. »Und ich liebe dich«, antwortete sie.
Dann begriff ich, warum sie genickt hatte. Es war, als ob wir es von Anfang an gewußt hätten. Ich rührte mich nicht von meinem
Stuhl.
»Ich weiß nicht, wie es passiert ist oder warum.«
»Das ist egal«, unterbrach sie mich. »Von dem Augenblick an, wo ich dich sah, fing ich wieder an zu leben. Ich war einsam.«
»Jetzt bist du nicht mehr einsam«, antwortete ich.
»Nein?« fragte sie sanft.
Wir trafen uns in der Mitte des Zimmers. Glut brannte in meinem Innern.
Ich spürte, wie sich meine Muskeln mit einer fast vergessenen Kraft strafften. Meine Arme wurden wieder stark, ich preßte Elaine an mich.
Sie schlang ihre Arme um meinen Hals. Ich wandte ihr mein Gesicht zu. Mit verschleierten Augen schaute sie mich an. Nur ihre Lippen bewegten sich. »Nein, Brad. Bitte nicht.«
Ich hob sie auf meine Arme.
Meine Stimme klang rauh, als ich auf sie hinunterblickte. »Dafür gibt es keine Worte. Das ist so einmalig. Das ist noch nie vorher geschehen.« Ich preßte meinen Mund auf ihre Lippen. »Nur uns.«
Ihre Lippen waren warm und bebten. Allmählich aber wurden sie still und strahlten nur noch Wärme aus. Sie lag in meinem Arm wie eine Figur aus altem Elfenbein, die orangefarbenen Strahlen der untergehenden Sonne verwandelten ihre Haut in zartes Gold. Ihr Körper war wie ein Feuer, das zu lange auf den Funken gewartet hatte, damit es brennen durfte. Wir waren in einer anderen Welt, ganz für uns allein, auf einer Wolke genau über dem Mond, schneller als eine Rakete, schneller als das Licht.
Ich fand ihren Mund. Ein Komet traf mich und zerbarst in mir wie tausend Sternschnuppen. Es folgte ein verwirrender Moment der Stille, dann stürzte ich in ein unergründliches Nichts - und ein verrückter Gedanke durchfuhr mich.
Was für eine ausgefallene Art, sich an Matt Brady zu rächen, der mich eine halbe Million Dollar gekostet hatte!
Ich erwachte durch das Geräusch von fließendem Wasser. Ich lag ganz still und gewöhnte meine Augen allmählich an die eigenartige Finsternis. Instinktiv griff ich nach meinen Zigaretten. Sie lagen nicht an ihrem gewohnten Platz. Jetzt erst wurde mir klar, wo ich war.
Ich rollte mich hinüber bis zur Bettkante und setzte mich auf. Ich drehte das Licht auf dem Nachttisch an und schaute auf meine Uhr. Neun. Marge würde sich Sorgen machen. Ich nahm den Hörer ab und gab der Vermittlung meine Nummer.
Ich hörte, wie die Badezimmertür geöffnet wurde. Elaine kam herein. Sie blieb einen Augenblick stehen und schaute auf mich herunter. Das Licht in der Türöffnung rahmte sie ein. Sie hatte ein kleines Handtuch um den Kopf geschlungen und ihren Körper in ein großes Frottiertuch gehüllt.
»Rufst du zu Hause an?« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.
Ich nickte.
Sie sagte nichts. In dem Moment hörte ich Marges Stimme am Apparat: »Brad?«
»Ja«, antwortete ich, »ist alles in Ordnung, Kleines?«
»Ja, Brad. Wo steckst du denn? Ich habe mir schon solche Sorgen gemacht!«
»Mir geht's gut«, sprach ich ins Telefon und schaute dabei Elaine an, die immer noch in der Tür stand. »Ich hab' ein bißchen getrunken.«
»Und dir geht's wirklich gut?« fragte sie beharrlich weiter. »Du sprichst so komisch.«
»Ich habe dir doch gesagt, daß es mir gutgeht«, erwiderte ich ungeduldig. »Ich hab' nur ein paar Whisky getrunken.«
Elaine ging zurück ins Badezimmer und machte die Tür hinter sich zu. Ich angelte mir eine Zigarette heraus und versuchte sie anzuzünden.
»Wo bist du denn?« erkundigte sich Marge. »Das Büro hat schon den ganzen Nachmittag versucht, dich zu erreichen.«
»In einer Bar in der Third Avenue«, schwindelte ich. »Was wollten sie denn?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete sie. »Chris sagte, es sei irgendwas mit dem Stahlverband. Du möchtest ihn zu Hause anrufen.« Sie zögerte einen Moment. »Was ist passiert, Brad? Hat's nicht geklappt?«
»Nein«, antwortete ich brüsk.
Ich konnte direkt sehen, wie sie mir durch das Telefon ermutigend zulächelte. »Nimm's dir nicht zu Herzen, Brad. So wichtig ist es doch auch wieder nicht. Wir kommen auch ohne die aus.«
»Ja«, sagte ich.
»Chris meinte, du müßtest unter Umständen zu ihrem Hauptbüro nach Pittsburgh fliegen. Er wußte es noch nicht genau, als ich vorhin mit ihm telefonierte. Ich habe dir inzwischen einen Koffer gepackt und ins Büro geschickt, für den Fall, daß du ihn brauchst. Rufst du ihn jetzt gleich an?«
»Ja«, antwortete ich.
»Hoffentlich hast du nicht zuviel getrunken«, sagte sie. »Du weißt, wie sehr dir das schadet.«
»Nein, nein«, antwortete ich. Plötzlich wollte ich von dem Telefon loskommen. »Ich rufe jetzt Chris an und melde mich dann noch mal.« Ich legte den Hörer auf, während mir noch ihr »Auf Wiedersehen« in den Ohren klang. Wie auf ein Zeichen öffnete Elaine die Tür des Badezimmers und trat wieder heraus.
»Das wäre nicht nötig gewesen«, sagte ich, »es war nichts Vertrauliches.«
Sie blickte mich gedankenvoll aus großen Augen an. »Ich konnte hier einfach nicht stehenbleiben und zuhören, wie du lügst.«
Ich versuchte es auf die scherzhafte Tour. »Keinen Mut, hm?«
Ein Schatten huschte über ihr Gesicht. »Keinen Mut«, antwortete sie ernst. »Das habe ich dir schon vorher gesagt.«
Ich griff nach ihr, aber sie wich aus.
»Du mußt doch noch mal telefonieren, nicht wahr?« bemerkte sie spitz.
»Das hat Zeit«, sagte ich und hielt sie fest. Ich küßte sie. Ich spürte die Wärme ihres Körpers durch das Handtuch hindurch.
Ihre Arme lagen um meinen Hals. »Brad . Liebling . Brad .«
Ich küßte sie in die Halsgrube, wo noch ein paar Tropfen Wasser vom Duschen hingen. »Ich liebe dich, Elaine«, flüsterte ich. »So wie ich noch nie in meinem Leben geliebt habe, wie ich es nie für möglich gehalten hätte.«
Ich konnte ihren zufriedenen Seufzer hören, als sie sich enger an mich schmiegte. »Sag es mir, Brad. Sag es mir. Zeig mir, daß du nicht lügst, daß du nicht mit mir spielst. Sag mir, daß du mich genauso liebst, wie ich dich liebe. Sag's mir.«
Als ich schließlich Chris anrief, klang seine Stimme ganz aufgeregt. »Wo zum Teufel haben Sie denn nur gesteckt?«
»Hab' was getrunken«, antwortete ich lakonisch. »Was ist denn los?«
»Ich habe den ganzen Nachmittag versucht, Sie zu erreichen«, erklärte er. »Brady will Sie morgen früh in seinem Büro in Pittsburgh sprechen.«
Seine Erregung steckte mich an. Der alte Gauner hatte seine Karte doch noch ausgespielt, und jetzt wäre es schwachsinnig gewesen, weiter zu bluffen.
»Ich komme sofort rüber und besorge Flugkarten!« sagte ich.
»Habe ich schon erledigt«, entgegnete er rasch. »Sind am Flugplatz auf Ihren Namen hinterlegt. Ihr Koffer ist auch schon draußen - bei der Gepäckaufbewahrung.« Ich schaute auf meine Uhr. Es war gleich zehn. Ich mußte mich beeilen. »In Ordnung, Chris. Bin schon auf dem Weg.«
Erleichterung klang aus seiner Stimme: »Hals- und Beinbruch, Chef! Wenn Sie den Auftrag in der Tasche haben, können wir uns alle gesundstoßen.«
»Na, dann wischen Sie mal im Kassenschrank Staub«, grinste ich, legte den Hörer auf und drehte mich zu Elaine um. »Hast du gehört?«
Sie nickte. »Beeil dich«, antwortete sie. »Du hast nicht mehr viel Zeit.«
»Beeil du dich lieber«, entgegnete ich. »Pack ein paar Sachen zusammen. Du kommst mit.«
Sie richtete sich entgeistert auf. »Brad, sei nicht albern. Das kannst du nicht machen.«
Ich packte schon meine Sachen zusammen. »Mein Engel«, sagte ich, »du kennst mich nicht. Ich kann alles machen. Du bist mein Talismann. Ich laß dich jetzt nicht mehr aus den Augen, bis der Vertrag unterzeichnet, versiegelt und übergeben ist.«
Während Elaine ihren Koffer packte, rief ich noch mal zu Hause an.
»Ich nehme die Elfuhrmaschine nach Pittsburgh«, erklärte ich.
»Ich hab' mich schon gewundert, warum du nicht sofort wieder zurückgerufen hast«, erwiderte Marge.
»Ich konnte nicht«, antwortete ich eilig, »Chris' Leitung war besetzt. Gerade eben habe ich ihn erst erwischt. Brady will mich sprechen.«
»Herrlich«, lachte sie ins Telefon. »Ich bin so stolz auf dich, Brad
- ich wußte ja, du würdest es schaffen.«
Chris hatte wirklich an alles gedacht. An meinem Koffer hing ein Zettel, daß im Brook-Hotel ein Appartement auf meinen Namen reserviert wäre. Ich füllte das Anmeldeformular aus, und um zwei Uhr früh gingen wir auf unser Zimmer.
Sie stand mitten im Wohnraum, während der Hotelpage nochmals die Räume überprüfte. Schließlich kam er auf mich zu und übergab mir den Zimmerschlüssel. Ich drückte ihm einen Dollar in die Hand, und dann schloß sich die Tür hinter ihm.
Ich drehte mich zu ihr und lächelte. »Und sei's auch noch so bescheiden, am schönsten ist's zu Hause.«
Sie antwortete nicht.
»Schau nicht so finster, mein Engel«, sagte ich, »so gräßlich kann Pittsburgh gar nicht sein.«
Endlich machte sie den Mund auf. »Ich muß verrückt gewesen sein, daß ich mitgekommen bin. Was ist, wenn du einen Bekannten triffst?«
»Na, und was ist, wenn du jemanden triffst?« entgegnete ich.
»Ich bin niemandem Rechenschaft schuldig«, erwiderte sie, »aber du -«
Ich ließ sie nicht aussprechen. »Das laß nur meine Sorge sein.«
»Brad«, protestierte sie, »du weißt nicht, was die Leute alles reden werden, wie sie sind und was sie tun -«
»Und mir ist das alles egal«, unterbrach ich sie erneut. »Mir sind die Leute völlig egal. Der einzige Mensch, der mir wichtig ist, bist du. Ich will dich in meiner Nähe haben, ganz dicht bei mir. Ich will nicht schon wieder von dir getrennt sein, wo ich dich gerade gefunden habe. Ich habe schon zu lange auf dich gewartet.«
Sie kam ganz nahe zu mir und studierte mein Gesicht.
»Brad, das ist doch dein Ernst, nicht wahr?«
Ich nickte. »Wir sind hier zusammen, oder? Ist das nicht Antwort genug?«
Ihre Augen ruhten immer noch auf meinem Gesicht. Ich wußte nicht, was sie da suchte. Doch sie mußte wohl gefunden haben, was sie wollte. Meine Stimme ließ sie kurz vor der Tür stehenbleiben. Sie drehte sich um und blickte mich fragend an.
»Warte einen Augenblick, Elaine«, sagte ich. »Wir müssen die Sache richtig machen.«
Ich nahm sie auf meinen Arm und trug sie über die Schwelle.
Das Verwaltungsgebäude der Consolidated Steel war neu und strahlend weiß. Es lag unmittelbar hinter dem Drahtzaun, der den ganzen Komplex abgrenzte. Hinter dem Gebäude erstreckten sich die schwarzen, rußbedeckten Gießereien, deren Schlote Flammen und Rauchschwaden in den klaren blauen Himmel spuckten. Als ich durch das Portal trat, hielt mich ein uniformierter Werkpolizist an.
»Mr. Rowan zu Mr. Brady«, sagte ich.
»Haben Sie einen Paß?« erkundigte er sich.
Ich schüttelte den Kopf.
»Eine Verabredung?«
»Ja.«
Dicht neben ihm auf seinem Tisch stand ein Telefon. Er nahm den Hörer ab, flüsterte hinein und behielt mich die ganze Zeit im Auge. Während ich darauf wartete, daß er mich durchlassen würde, steckte ich mir eine Zigarette an. Ich konnte gerade einen Zug machen, bevor er wieder auflegte. »Mit diesem Aufzug bitte, Mr. Ro-wan«, sagte er höflich und drückte auf einen Knopf. Die Fahrstuhltür öffnete sich, und ein zweiter Werkpolizist in Uniform stand vor mir. »Mr. Rowan zu Mr. Bradys Büro«, erklärte der erste, während ich den Aufzug betrat.
Die Tür schloß sich hinter mir, und der Aufzug setzte sich in Bewegung. Ich schaute den Fahrstuhlführer an. »Das ist ja beinahe so schlimm, als wenn man den Präsidenten besuchen wollte«, lächelte ich.
»Mr. Brady ist Aufsichtsratsvorsitzender«, erklärte er einfältig.
Einen Moment lang war ich versucht, ihm zu erklären, daß ich eigentlich den Präsidenten der Vereinigten Staaten gemeint hatte; aber es wäre vergebene Liebesmüh gewesen, und so hielt ich den Mund. Der Fahrstuhl hielt, die Tür öffnete sich, ich stieg aus.
Der Polizist ging dicht hinter mir. »Hier lang bitte, Mr. Rowan.«
Ich folgte ihm auf einem langen, marmorverkleideten Korridor, vorbei an einer Anzahl holzgetäfelter Türen. Neben jeder Tür befand sich eine Lampe in Form einer Fackel, die von einer Figur aus der griechischen Klassik gehalten wurde. Jeden Augenblick wartete ich darauf, daß sich eine der Türen öffnen und ein Leichenbestatter uns zu irgendwelchen sterblichen Überresten geleiten würde.
Er blieb vor einer der Türen stehen, klopfte kurz an, öffnete sie und schob mich hinein. Nach dem Marsch durch den düsteren Flur blieb ich geblendet stehen und hörte, wie sich die Tür hinter mir wieder schloß.
»Mr. Rowan?« Das Mädchen hinter dem halbrunden Schreibtisch schaute mich fragend an.
Ich nickte und trat näher.
Sie stand auf und ging um den Schreibtisch herum. »Mr. Brady ist noch beschäftigt und läßt sich entschuldigen. Würden Sie bitte so freundlich sein und einen Augenblick im Wartezimmer Platz nehmen.«
Ich stieß einen leisen Pfiff aus. Sollte mir noch mal einer weismachen, daß Matt Brady ausschließlich der Stahl am Herzen lag! Nicht bei einer Sekretärin wie dieser! Die Kleine war für gemeinsame Freiübungen wie geschaffen und besaß auch die nötige Ausrüstung dafür.
»Muß ich?« lächelte ich.
Das Lächeln war völlig umsonst, denn sie machte kehrt und führte mich zu einer anderen Tür. Ich folgte ihr langsam und ergötzte mich an ihrem Gang. Sie war eine Frau, die wußte, was sie hatte, und sie zeigte es auch. Sie hielt mir die Tür auf. Ich blieb stehen und musterte sie. »Wie kommt's, daß Sie keine von diesen Spezialpolizeiuniformen tragen?« fragte ich sie.
Sie verzog keine Miene. »Machen Sie sich's bequem«, sagte sie förmlich. »Wenn Sie irgend etwas wünschen, rufen Sie mich bitte.«
»Ist das ernst gemeint?« grinste ich.
Zum erstenmal verriet ihr Gesicht eine Regung. Sie war verwirrt. Ich lachte laut. »Meinen Sie das wirklich?« fragte ich deutlicher.
Das verdutzte Stirnrunzeln verschwand. »Natürlich«, erwiderte sie. »Zigarren und Zigaretten sind in dem Behälter auf dem Tisch. Zeitungen und Zeitschriften in dem Ständer daneben.« Sie schloß die Tür, bevor ich noch Gelegenheit hatte, etwas zu sagen.
Ich schaute mich in dem Raum um. Er war kostspielig, aber dezent eingerichtet: mit Eichenholz getäfelte Wände, schwere lederne Polstermöbel, dicke Teppiche; man versank fast bis zu den Knöcheln darin. Mein Blick fiel auf eine Reihe säuberlich gerahmter Fotografien, die, zu einer Gruppe angeordnet, an der gegenüberliegenden Wand hingen.
Ich ging hinüber. Einige sehr bekannte Gesichter schauten da auf mich herab. Sechs Fotografien, alle mit persönlicher Widmung für Matt Brady. Lauter Präsidenten der Vereinigten Staaten. Woodrow Wilson, Harding, Hoover, F.D. Roosevelt, Truman und Eisenhower. Ich drückte meine Zigarette im Aschenbecher aus. Kein Wunder, daß der Fahrstuhlführer von meinem Scherz nicht begeistert war. Präsidenten kommen und gehen, aber Matt Brady bleibt bestehen. Ich setzte mich hin und starrte auf die Fotografien. Zäher kleiner Mann, Matt Brady. Gerissen. Er hängte die Bilder nicht in seinem Büro auf, wo er seine Besucher damit beeindrucken konnte, wie das jeder andere Mann getan hätte: entweder, indem er darauf hinwies, oder aber, indem er darauf hinzuweisen unterließ. Er häng-te sie in sein Wartezimmer, als wenn er die Leute damit von vornherein in ihre Schranken weisen wollte.
Allmählich begann ich mich zu fragen, was ich eigentlich hier sollte. Jemand, der ein so hochentwickeltes Gefühl für Massenpsychologie besaß wie Matt Brady, brauchte so jemanden wie mich überhaupt nicht. Ich schaute auf meine Uhr. Ungefähr fünf Minuten war ich bereits in diesem Raum. Wenn meine Gedankengänge stimmten, würde er mich nach zehn Minuten rufen lassen. Dann hätte der psychologische Effekt dieses Raumes seine Wirkung getan.
Ich grinste vor mich hin. Beinahe hätte er mich gehabt. Aber bei einem solchen Spiel gibt's immer zwei. Ich stand auf und öffnete die Tür. Das Mädchen schaute verwirrt zu mir auf. Ich nahm mir eine Illustrierte aus dem Ständer und erkundigte mich: »Wo ist der Waschraum?«
Schweigend deutete sie auf die gegenüberliegende Tür. Ich durchquerte eilig den Raum. Als ich die Tür öffnete, hörte ich gerade noch ihre Stimme: »Mr. Brady wird in ein paar Minuten frei sein!«
»Bitten Sie ihn zu warten«, antwortete ich und machte rasch die Tür hinter mir zu.
Ich hatte ungefähr zehn Minuten in der Toilette verbracht, als sich die Tür auftat und jemand hereinkam. Unter dem Türschlitz konnte ich ein Paar Herrenschuhe erkennen, die zögernd vor der Toilettentür stehenblieben. Es waren die Schuhe eines Uniformierten. Um das zu erkennen, mußte ich nicht erst die grauen Hosenaufschläge sehen. Ich grinste und verhielt mich ruhig. Nach einigen Sekunden verschwanden die Schuhe wieder, und die Tür wurde zugeschlagen.
Eine von Vaters Prophezeiungen hatte sich jetzt, nach vielen Jahren, doch noch erfüllt. Ich erinnerte mich, daß er einmal zu Mutter gesagt hatte, man könne mich nur aus dem Klo herausbekommen, wenn man mir die Polizei auf den Hals schicke.
Ich saß da also und blätterte in der Illustrierten. Fünf Minuten später flog die Tür wieder auf. Ich schaute auf den unteren Türspalt. Ein Paar kleine, glänzende Schuhe gingen daran vorbei. Ich lächelte grimmig vor mich hin. Eine Runde für mich.
Ich ließ die Illustrierte zu Boden fallen. Eine Sekunde später trat ich aus der Toilette und ging hinüber zum Waschbecken. Der kleine Mann, der dort stand, schaute mich prüfend an. Sichtlich erstaunt grinste ich auf ihn nieder. »Mr. Brady«, sagte ich, »was haben Sie für reizende Büros hier!«
Matt Bradys eigenes Büro war riesig; es hätte leicht als Foyer für einen Konzertsaal dienen können. Es war ein Eckzimmer, und an zwei Wänden befanden sich riesige Fenster, durch die man ein Gebäude hinter dem anderen erkennen konnte, alle mit dem glitzernden, rostfreien Firmenzeichen von Consolidated Steel. Bradys Schreibtisch füllte die große Ecke aus, in der die beiden Fenster aneinanderstießen. Um seinen Schreibtisch waren drei Sessel mit dem Blick zu ihm gruppiert. Gegenüber befand sich ein langer Konferenztisch mit zehn Stühlen. Dann war da noch eine lange Couch, davor ein niedriger Tisch mit einer Marmorplatte und zwei weitere Stühle.
Durch einen Wink forderte er mich auf, Platz zu nehmen, während er hinter seinen Schreibtisch trat. Schweigend setzte er sich hin und musterte mich. Ich wartete, daß er endlich sprechen würde. Die erste Frage kam von links außen. »Wie alt sind Sie, Mr. Ro-wan?«
Ich schaute ihn neugierig an. »Dreiundvierzig«, antwortete ich.
Die nächste Frage kam aus dem Abseits. »Wieviel verdienen Sie im Jahr?«
»Fünfunddreißigtausend«, antwortete ich fix, noch ehe ich eine Möglichkeit hatte zu lügen.
Er nickte schweigend und starrte auf seinen Schreibtisch. Da lagen ein paar Seiten mit Schreibmaschine beschrieben. Er schien sie zu studieren. Ich wartete darauf, daß er fortfuhr. Nach einer Weile schaute er mich wieder an. »Wissen Sie, warum ich Sie herbestellt habe?« fragte er.
»Ich dachte eigentlich, ich wüßte es«, sagte ich aufrichtig, »aber jetzt bin ich nicht mehr ganz sicher.«
Er lächelte freudlos. »Ich halte viel von einer ehrlichen Aussprache, junger Mann«, sagte er. »Deshalb will ich keine Zeit verplempern und gleich zum Kern der Sache kommen. Wollen Sie sechzigtausend im Jahr verdienen?«
Ich lachte nervös. So wie der Bursche da mit Zahlen umher warf
- ich fühlte mich wie damals in Washington. »Mit Vergnügen«, antwortete ich.
Er beugte sich vertraulich zu mir herüber. »Auf der Sitzung gestern haben Sie einen Werbeplan für die ganze Stahlindustrie vorgelegt. Erinnern Sie sich?«
Ich nickte. Ich traute mich nicht, den Mund aufzumachen. Ich erinnerte mich sehr wohl, daß er ihm nicht sonderlich gefallen hatte.
»Da waren einige Fehler drin«, fuhr er fort, »aber grundsätzlich war er in Ordnung.«
Ich atmete auf. Der fette Brocken war also am Ende doch noch nicht davon geschwommen. Mich packte ein Siegestaumel. »Freut mich sehr, daß Sie dieser Meinung sind«, sagte ich rasch.
»Als ich die Sitzung verließ, war ich ziemlich verärgert, das muß ich gestehen«, erläuterte er, immer noch in diesem vertraulichen Ton. Seine Augen waren auf mich geheftet. »Wegen Ihrer Beschuldigungen.«
»Das tut mir leid, Sir«, erwiderte ich. »Es war nur wegen -«
Mit einer Handbewegung unterbrach er mich. »Sie brauchen nichts weiter zu sagen. Ich gestehe, ich habe Sie hinreichend provoziert. Aber was Sie sagten, hat mich beeindruckt. Sie waren in der ganzen Runde der einzige, der den Mut hatte, das Kind beim richtigen Namen zu nennen.« Er lächelte schief. »Es ist schon zu lange her, daß jemand so zu mir gesprochen hat.«
Bis jetzt drehte ich mich im Kreis. Ich wußte nicht, worauf er hinaus wollte, deshalb verhielt ich mich ruhig. Noch niemals war einer gehängt worden, weil er seinen Mund gehalten hatte.
Er deutete mit seiner Hand auf die hinter ihm liegenden Fenster. »Sehen Sie das da, Mr. Rowan?« fragte er. »Das ist Consolidated Steel, und das ist bei weitem noch nicht alles. Es gibt in Amerika noch zwanzig weitere Gießereien dieser Art. Es handelt sich hier um eine der fünf größten Aktiengesellschaften der Welt - und ich habe sie zu dem gemacht, was sie heute ist. Vielen Leuten haben meine Methoden nicht gepaßt, aber das ist mir gleichgültig. Was viel wichtiger war: Ich habe einen Traum realisiert. Als Zwölfjähriger war ich Wasserträger in einer Gießerei. Seitdem habe ich praktisch mit Stahl gelebt.« Von meinen eigenen Interessen einmal abgesehen - dieser kleine Mann beeindruckte mich. In seiner Stimme lag die Leidenschaft eines Missionars. Ich schwieg.
»Als Sie gestern sagten, ich würde eigennützig denken, hatten Sie vollkommen recht. Ich entschuldige mich deswegen nicht. Zu viele Jahre sind seither vergangen, und ich bin alt, ich kann mich nicht mehr ändern.«
Ich sah immer noch nicht, worauf er eigentlich hinaus wollte. Ich wartete ab. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und musterte mich. Ich steckte mir eine Zigarette an. Er ließ mich einmal ziehen, bevor er weitersprach. Und das war gut so, denn was er jetzt sagte, warf mich fast vom Stuhl.
»Sie gefallen mir, Mr. Rowan«, sagte er ruhig. »Weil Sie genauso sind wie ich. Alles, was Sie mir gesagt haben, trifft für Sie genauso zu. Hart. Egoistisch. Rücksichtslos. Ich würde es anders nennen: praktisch. >Die Anerkennung der Naturgesetze, die einem das Überleben ermöglichen/ Deshalb habe ich Sie gebeten, zu mir zu kommen. Ich biete Ihnen den Posten als Vizepräsident und Direktor der Abteilung für Public Relations an mit einem Jahresgehalt von sechzigtausend Dollar. Ich brauche einen Mann mit Ihrem Organisationstalent. Sie sollen die Projekte, die Sie für die ganze Stahlindustrie ausgearbeitet haben, für Consolidated Steel durchführen.«
Ich hielt mich an meinem Stuhl fest. »Aber was wird dann aus der Kampagne für die Industrie?« fragte ich.
Er lachte kurz. »Darüber sollen die sich selbst Gedanken machen«, erwiderte er lakonisch.
Ich sagte kein Wort. Das war's. Mein ganzes Leben lang hatte ich auf so einen Volltreffer gewartet. Jetzt, wo er da war, konnte ich es einfach nicht glauben.
Matt Brady begann wieder zu sprechen. Offensichtlich hatte er mein verblüfftes Schweigen für Zustimmung gehalten. Wieder lag dieses unfrohe Lächeln auf seinem Gesicht. Er tippte auf den Papierbogen auf seinem Schreibtisch. »Mr. Rowan, dies hier sind die Unterlagen über Ihren Lebenslauf, soweit ich sie in so kurzer Zeit beschaffen konnte. Wie Sie sehen, liegt mir daran, so viel wie möglich über meine Mitarbeiter zu wissen. Und ich glaube, da ist nur ein geringfügiger Punkt, über den wir sprechen müssen.«
Ich blickte ihn fragend an. Mein Kopf drehte sich immer noch. Worüber redete er denn jetzt schon wieder?
Er schaute auf die Unterlagen und fuhr fort. »Ihr beruflicher Leumund ist tadellos. Da gibt es nichts, über das ich mit Ihnen sprechen müßte. Ihr Familienleben ist auch in Ordnung. Es gibt aber etwas in Ihrem Privatleben, vor dem Sie sich, glaube ich, in acht nehmen sollten.«
Ich bekam eine Gänsehaut. »Und das wäre, Mister Brady?« »Letzte Nacht sind Sie mit einer Frau im Brook-Hotel abgestiegen, die nicht Ihre Frau ist, Mr. Rowan. Das ist sehr unklug. Wir von Consolidated Steel dürfen nicht vergessen, daß wir beobachtet werden.«
Ich wurde ärgerlich. Wie lange hatte mich der Kerl schon überwachen lassen? War das alles vielleicht nur sein Preis, um mich von Elaine zu trennen?
»Von wem beobachtet, Mr. Brady?« fragte ich kalt. »Wer könnte so viel Interesse an mir haben, zu erfahren, was ich tue?«
»Jeder, der in Pittsburgh etwas mit Stahl zu tun hat, muß damit rechnen, überwacht zu werden, Mr. Rowan«, antwortete er.
Ich mußte herausfinden, was in diesen Unterlagen stand. »Ich nehme an, Ihre Spione haben Ihnen auch den Namen der Dame mitgeteilt, die letzte Nacht mit mir zusammen war?« fragte ich.
Er schaute mich frostig an. »Die Namen Ihrer Bettgenossinnen interessieren mich nicht, Mr. Rowan. Ich erwähne das nur im Hinblick auf unsere geplante Zusammenarbeit.«
Ich stand auf. »Ich bin an Ihrem Angebot nicht interessiert, Mr. Brady.«
Er erhob sich. »Seien Sie nicht albern, junger Mann«, sagte er rasch. »So viel ist keine Frau wert.«
Ich lachte kurz auf. Was würde er wohl sagen, wenn er wüßte, daß es seine Nichte war, über die wir uns unterhielten!
»Das hat damit nichts zu tun, Mr. Brady«, sagte ich kühl.
Ich ging zur Tür und öffnete sie.
Ein Werkpolizist, der direkt neben der Tür saß, schnellte hoch. Er schaute mich erwartungsvoll an.
Ich blickte noch einmal zurück in das Büro, wo der kleine Mann hinter seinem Schreibtisch stand. »Sie übertreiben die Sache mit den Polizisten ein bißchen, Mister Brady«, sagte ich. »Selbst die Gestapo konnte Hitler nicht mehr helfen, nachdem die Würfel gefallen waren.«
Ich kochte vor Wut, als ich auf die Straße hinausstürzte. Die gleißende Sonne stach mir derart in die Augen, daß ich blinzeln mußte. An der nächsten Ecke lag Oscars Bar. Der kühle, dämmrige Raum war genau das Richtige. Ich zwängte mich durch die Drehtür. Es war eine von diesen Bars mit anschließendem Restaurant. Ich ging zur Theke und kletterte auf den Hocker. Das Lokal wimmelte von Consolidated-Steel-Leuten. Ich konnte das aus den Abzeichen an ihrer Kleidung ersehen. Das hier war das Lokal für die Angestellten; die Arbeiter hatten offensichtlich ihre eigene Stammkneipe. Der Barmixer schob sich zu mir herüber.
»Doppelten Whisky mit Eis«, bestellte ich, »und Zitrone.« Er warf drei Eiswürfel in ein Glas und schob es mir vor die Nase. Er griff nach rückwärts, angelte eine Flasche >Black Label< herunter und füllte das Glas dreiviertel voll. Dann preßte er ein Stück Zitronenschale über dem Glas aus und ließ es anschließend hineinfallen.
Entweder taugte der Barkeeper nichts oder das Zeug war gepanscht. Ich legte fünf Dollar auf die Theke und nahm mein Glas. »Stimmt so«, sagte ich. Ich brauchte Zeit zum Nachdenken.
Dieses Schriftstück auf Matt Bradys Schreibtisch beunruhigte mich. Derjenige, der den Bericht geschrieben hatte, könnte unter Umständen wissen, daß es Elaine gewesen war, die ich bei mir gehabt hatte. Das wäre fatal. Was ich gesagt hatte, konnte Matt Brady noch ignorieren. Aber ich war sicher, er würde mir nie verzeihen, daß ich mit Elaine geschlafen hatte. Meinen Augenzahn würde ich dafür opfern, um zu erfahren, wer ihm diesen Bericht geschickt hatte!
Ich dachte an Elaine, die jetzt im Hotel auf mich wartete. Ich er-
innerte mich, wie sie sich heute morgen beim Frühstück benommen hatte. Ich war nervös gewesen. Mein Magen hatte sich zusam-mengekrampft. »Nur ruhig, Liebling, ruhig«, hatte sie mich zu besänftigen versucht. »Onkel Matt ist kein Unmensch. Er wird dich schon nicht fressen. Er will doch nichts weiter, als ein Geschäft mit dir machen.« Mir war nicht danach zumute, aber ich hatte ge-lächelt. Für Matt Brady war es vielleicht nur irgendein Geschäft, für mich aber bedeutete es den großen Abschluß.
Ich trank noch einen Schluck Whisky, aber es war nur noch das reine Wasser. Ich gab dem Barmixer ein Zeichen, er solle noch mal nachgießen. Das war also endgültig im Eimer. Ich schaute auf die Uhr. Zwei. Gräßlicher Gedanke, jetzt ins Hotel zurückzugehen und ihr zu erzählen, was passiert war.
Ich war bei meinem zweiten doppelten Whisky, als ich zufällig in den Spiegel über der Bar schaute. Mir war, als hätte mir ein Mädchen zugelächelt. Tatsächlich. Das Mädchen im Spiegel lächelte wieder. Ich drehte mich auf meinem Hocker herum und lächelte zurück. Sie winkte mir, ich nahm mein Glas und ging an ihren Tisch. Es war Matt Bradys Sekretärin. Ich fühlte mich leicht angeheitert. »Wie kommt's, daß der Alte Sie zum Mittagessen gehen läßt?« erkundigte ich mich. »Das Arbeitsamt wird ihm auf die Pelle rücken!«
Sie überhörte meine Stichelei. »Mr. Brady verläßt um halb zwei das Büro«, erklärte sie mir, »und kommt auch nicht mehr zurück.«
Ich verstand ihren Wink und ließ mich auf dem Stuhl neben ihr nieder. »Gut«, sagte ich, »ich trinke sowieso nicht gern allein.«
Sie lächelte. »Bevor er ging, rief er bei Ihnen im Hotel an und hinterließ eine Nachricht für Sie.«
»Bestellen Sie ihm einen schönen Gruß, er soll sie für sich behalten«, entgegnete ich herausfordernd. »Ich will nichts mit ihm zu tun haben.«
Sie erhob die Hände, so als wollte sie einen Schlag abwehren.
»Lassen Sie doch Ihre Wut nicht an mir aus, Mister Rowan«, sagte sie, »ich arbeite ja nur für ihn.«
Sie hatte recht. Ich war albern. »Entschuldigen Sie, Miß ... äh ... Miß ...«
»Wallace«, ergänzte sie. »Sandra Wallace.«
»Miß Wallace«, sagte ich formell, »darf ich Ihnen was zu trinken bestellen?« Ich winkte den Kellner herbei und schaute sie fragend an.
»Ganz trockenen Martini«, bestellte sie. Der Kellner entfernte sich. »Mr. Brady mag Sie«, sagte sie.
»Na schön«, antwortete ich. »Ich mag ihn nicht.«
»Er möchte, daß Sie für ihn arbeiten. Er war sicher, daß Sie annehmen würden. Er hatte sich sogar schon bei der Rechtsabteilung einen Vertrag für Sie aufsetzen lassen.«
»Haben seine Spitzel auch einen Anstellungsvertrag?« fragte ich.
Der Kellner stellte den Martini vor sie hin und verschwand wieder. Ich nahm mein Glas und trank ihr zu. »Den einzigen Posten, den ich momentan von ihm annehmen würde, wäre, Sie anzuschauen.«
Sie lachte. »Sie sind ja verrückt!«
»Worauf Sie sich verlassen können«, bestätigte ich. »Für diesen Job müßte er mich nicht mal bezahlen.«
»Vielen Dank, Mr. Rowan«, bedankte sie sich und hob ihr Glas an die Lippen.
»Brad war der Name; wenn mich jemand Mister nennt, drehe ich mich immer um - weil ich glaube, die Leute reden mit meinem Vater.«
»Also gut, Brad«, lächelte sie. »Früher oder später werden Sie sich schon daran gewöhnen und das tun, was er will.«
»Sie haben mich ja gehört, als ich sein Büro verließ«, erklärte ich ihr. »Ich nehme den Posten nicht an.«
Ein seltsamer Ausdruck trat in ihr Gesicht. Fast, als hätte sie das nicht zum Erstenmal gehört. »Er wird Sie dazu bringen, Brad«, fuhr sie ruhig fort. »Sie kennen ihn nicht. Matt Brady kriegt immer das, was er will.«
Plötzlich fuhr ein Blitz durch meinen benommenen Kopf, der einiges erleuchtete. »Sie mögen ihn nicht?«
Sie senkte die Stimme zu einem Flüstern: »Ich hasse ihn!«
Umgehend wurde mein Kopf wieder klar. »Und warum bleiben Sie dann? Sie müssen doch nicht für ihn arbeiten. Es gibt doch auch noch andere Posten.«
»Als ich elf Jahre alt war, kam mein Vater in der Gießerei ums Leben - von dem Augenblick an wußte ich, daß ich eines Tages seine Sekretärin sein würde.«
»Wieso denn das?« erkundigte ich mich interessiert.
»Meine Mutter ging damals in sein Büro und zerrte mich mit. Für mein Alter war ich gut entwickelt, und Matt Brady ließ keine Möglichkeit ungenutzt. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er um seinen Schreibtisch herumging und meine Hand nahm. Ich spüre heute noch, wie kalt seine Finger waren, während er mit meiner Mutter sprach. >Machen Sie sich keine Sorgen, Mrs. Wolenciwicz<, sagte er. >Sie bekommen von mir Geld genug, um zu leben. Und wenn Alexandra alt genug ist, kann sie zu mir kommen und hier für mich arbeiten. Vielleicht sogar als meine Sekretärin.< Er vergaß nie, was er damals gesagt hatte. Hin und wieder ließ er meine Mutter kommen, um zu kontrollieren, ob ich die richtigen Kurse besuchte und wie's in der Schule ging.« Sie nahm ihren Martini und starrte in das Glas. »Wenn ich jetzt von ihm wegginge, würde er mich keine andere Stellung finden lassen.«
»Selbst wenn Sie in eine andere Stadt ziehen?«
Sie lächelte schmerzlich. »Ich hab' das einmal probiert. Mit aller Seelenruhe machte er mich fertig, und dann gab er mir großzügig meinen Posten zurück.«
Ich trank einen Schluck. Es schmeckte schal. Ich stelle das Glas wieder auf den Tisch zurück. Für diesen Nachmittag hatte ich genug. Ich holte tief Luft. »Er hält Sie also aus?« fragte ich rundheraus.
»Nein«, antwortete sie. »Viele hier glauben das. Aber er hat noch nie was zu mir gesagt, was nichts mit dem Geschäft zu tun gehabt hätte.« Sie schaute mich offen an. In ihren Augen lag ein rätselvoller Ausdruck, so als würde sie mich bitten, ihr das zu erklären. »Ich versteh' das einfach nicht«, fügte sie hinzu.
Ich starrte sie eine volle Minute lang an, bevor ich wieder sprach. »Läßt er Sie auch überwachen?«
»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Manchmal glaube ich ja, manchmal wieder nein. Er traut niemandem.«
Ich hatte das Gefühl, daß ich ihr trauen konnte. »Haben Sie den Bericht über mich gesehen?«
Sie schüttelte den Kopf. »So was kommt vom Personalbüro. Es ist ihm persönlich in einem versiegelten Umschlag übergeben worden.«
»Besteht irgendeine Möglichkeit, daß ich davon eine Kopie bekomme?«
»Es gibt nur eine Kopie, und die liegt in seinem Schreibtisch.«
»Können Sie mich da nicht rasch einen Blick reinwerfen lassen?« drängte ich. »Ich muß es sehen. Unter Umständen steht was drin, das mir große Unannehmlichkeiten bereiten könnte.«
»Das nutzt gar nichts, Brad«, sagte sie. »Wenn es da was gibt, wird er es nie vergessen.«
»Aber es wäre für mich besser, wenn ich wüßte, was er weiß«, antwortete ich rasch.
Sie sagte kein Wort. Ich sah, daß sie jetzt ein bißchen verängstigt war, weil sie mir so viel erzählt hatte. Schließlich hatte sie keine Ahnung, wer ich war. Ich konnte ja trotz allem einer von Matt Bradys Spitzeln sein.
»Eine Hand wäscht die andere«, sagte ich rasch. »Sie helfen mir, ich helfe Ihnen. Sie lassen mich schnell den Bericht anschauen, und ich helfe Ihnen, von Matt Brady wegzukommen - und zwar so, daß er Sie nicht wiederfindet.«
Sie holte tief Luft, und plötzlich kam mir zum Bewußtsein, was mir vorhin im Büro so ins Auge gefallen war. Sie hatte einen enormen Busen. Einen Moment lang glaubte ich, sie würde aus ihrem Kleid herausplatzen. Sie merkte, wie ich sie anstarrte. Ein eigenartiges Lächeln umspielte ihre Lippen.
»Da hab' ich's nicht versteckt«, erklärte sie anzüglich.
»Ich wünschte, Sie hätten's«, sagte ich und richtete meinen Blick langsam wieder auf ihr Gesicht. »Aber ich habe kein Glück. Da wäre die Arbeit ein Vergnügen.«
Eine leichte Röte überflog ihre Wangen. »Und warum glauben Sie, es könnte nicht so sein?« fragte sie mit rauher Stimme.

ir gingen durch das große Gittertor auf das Portal des Verwal
tungsgebäudes zu. Sie berührte meinen Arm. »Hier entlang«, sagte sie.
Ich folgte ihr um die Ecke des Hauses. Hier befand sich in einer verborgenen Mauernische eine Tür. Sie nahm einen Schlüssel aus ihrer Handtasche und schloß auf. »Matt Bradys Privateingang«, erklärte sie.
Wir befanden uns in einem schmalen Korridor. Einige Schritte von der Tür entfernt war der Lift. Sie drückte auf den Knopf, und die Türen öffneten sich. Wir stiegen ein, und sie drehte sich lä-chelnd zu mir. »Matt Bradys Privatfahrstuhl«, sagte sie. Ich spürte, wie sich der Aufzug in Bewegung setzte.
Sie lächelte mich immer noch an. Man konnte eine solche Einladung schlecht ablehnen. Ich zog sie an mich. Ihre Augen waren weit offen, während sie ihre Arme um mich schlang. Die Fahrstuhltüren hatten sich längst geöffnet, aber sie hing immer noch an meinem Hals.
Schließlich machte sie sich los, weil sie Atem holen mußte. Ihre Augen strahlten. »Ich mag Sie«, stellte sie sachlich fest.
Ich fabrizierte ein Lächeln. Ich mußte vorsichtig sein.
»Sie sind mein Typ«, erklärte sie. »Ich wußte das in dem Moment, als Sie ihn dazu brachten, daß er Sie aus dem Waschraum holte.«
Ich sagte kein Wort.
»Verdammt!« rief sie und schaute mich immer noch an.
Überrascht fragte ich: »Was ist los?«
Ohne nähere Erklärungen machte sie kehrt und stieg aus dem Aufzug. Ich folgte ihr in Matt Bradys Privatbüro. Sie ging um den Schreibtisch herum und nahm wieder einen Schlüssel aus ihrer Handtasche. Einen Moment zögerte sie, dann schloß sie auf und nahm den Bericht heraus. »Ich bin schön dumm«, sagte sie. »Jetzt können Sie mir die Polizei auf den Hals hetzen.«
Ich sagte nichts, ich sah sie nur an. Eine Weile verging, dann gab sie mir - ohne hinzuschauen - das Schriftstück. Zum zweitenmal innerhalb kurzer Zeit überraschte sie mich. »Wollen Sie sich das denn nicht mal ansehen?« fragte ich.
Sie ging um mich herum auf ihre Tür zu und öffnete sie. Im Türrahmen stehend, warf sie mir einen Blick zu. »Nein«, antwortete sie. »Ich weiß, Sie sind verheiratet. Das macht mir nichts aus. Aber wenn Sie ein anderes Mädchen schon geangelt hat, will ich ihren Namen nicht wissen.«
Die Tür schloß sich hinter ihr, und ich ging ans Fenster, um bes-seres Licht zu haben. Ich zog in Gedanken meinen Hut vor Matt Brady. Es war ihm ja für dieses Dossier nicht viel Zeit geblieben, aber da fehlte wirklich kaum etwas. Mein ganzes Leben war auf diesen paar Seiten festgehalten. Ich blätterte den Bericht durch und suchte ihren Namen.
Kein Grund zur Beunruhigung. Es stand lediglich drin, daß ich in Begleitung einer Frau gewesen war, die die Nacht in meinem Zimmer verbracht hatte, und daß laut Anordnung die weitere Überwachung eingestellt würde. Ich ließ die Unterlagen auf seinen Schreibtisch fallen und steckte mir eine Zigarette an.
Ich hatte gerade einen kräftigen Zug gemacht, als die Tür aufging.
»Nun?« erkundigte sie sich.
»Ich hab' ihn gelesen«, antwortete ich und deutete auf den Bericht.
»Alles in Ordnung?« Sie betrat das Büro und schloß hinter sich die Tür.
»Ja«, antwortete ich. Mir war ein bißchen komisch zumute. Ich ging auf sie zu. »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll«, fügte ich reichlich unbeholfen hinzu.
Sie sagte nichts.
Ich ging zum Fahrstuhl. »Ich glaube, ich gehe jetzt lieber.«
»Sie können jetzt nicht gehen«, entgegnete sie. »Man würde Sie entdecken. Unten in der Halle würden sie das Signal des Aufzugs auf der Kontrolltafel bemerken und nachschauen.«
Ich blieb stehen. »Und wie komme ich hier wieder raus?«
Ein seltsames Lächeln umspielte ihren Mund. »Sie müssen schon auf mich warten. Ich gehe um Viertel nach fünf, wenn der Hauptschwung weg ist.«
Ich schaute auf meine Uhr. Es war gleich vier. Sie beobachtete mich noch immer lächelnd. »Nehmen Sie Platz und warten Sie«, sagte sie. »Ich bringe Ihnen etwas zu trinken.«
Ich durchquerte den Raum und ließ mich auf der großen Couch nieder. »Ich kann was brauchen.«
Ich beobachtete sie, wie sie im Büro hin und her ging und mir meinen Whisky richtete. Die Eiswürfel klirrten beruhigend gegen das Glas, während sie es mir herüber brachte. Dankbar trank ich ein paar Schlucke.
Sie ließ sich mir gegenüber in einen Stuhl gleiten. »Was werden Sie nun machen, Brad?«
Ich trank noch einen Schluck. »Nach New York zurückgehen und die ganze Geschichte vergessen.«
»Das wird nicht so einfach sein«, sagte sie, »Matt Brady will Sie haben.«
Ich lächelte ihr zu.
»Lachen Sie nicht«, erwiderte sie ernst. »Wenn Sie in Ihr Hotel zurückkommen, werden Sie dort eine Nachricht vorfinden - eine Einladung zum Abendessen bei ihm zu Hause.«
»Ich werde nicht hingehen.«
»Sie werden doch gehen«, antwortete sie. »Bis Sie wieder in Ihrem Hotel sind, werden Sie sich alles noch mal überlegt haben. Sie werden sich an das viele Geld erinnern, das er Ihnen angeboten hat, und Sie werden sich überlegen, was Sie alles damit anfangen können.« Sie nippte an ihrem Glas. »Sie werden gehen.«
»Sie wissen wohl auf alles eine Antwort.«
Sie senkte den Blick. »Nein, leider stimmt das nicht«, erwiderte sie. »Aber ich habe das schon mehrfach erlebt. Er wird Sie rumkriegen. Geld spielt für ihn keine Rolle. Er wird es vor Ihnen aufstapeln, bis Ihnen schwindlig wird. Er wird Ihnen Honig um den Mund schmieren, er wird Ihnen erzählen, wie großartig Sie sind, er wird Ihnen erzählen, wie bedeutend Sie sein werden. Und während der ganzen Zeit werden Sie den Geldhaufen vor sich wachsen und wachsen sehen, bis Ihnen die Augen übergehen. Und darin -päng! -, dann gehen Sie in die Knie.«
Ich stellte mein Glas vor mich auf den Couchtisch. »Warum erzählen Sie mir das eigentlich alles?« fragte ich sie. »Was haben Sie davon?«
Sie stellte ihr Glas dicht neben meines. »Ich habe schon viele große und bedeutende Leute vor ihm kriechen sehen. Diese Feigheit zu beobachten macht mich ganz krank.« Ihre Stimme klang scheppernd.
»So?« fragte ich leise.
»Sie sind groß und stark und mutig. Ihnen merkt man keine Furcht an. Sie waren nicht so eingeschüchtert, daß Sie mich überhaupt nicht gesehen haben wie die meisten anderen, die mich für ein Stück Möbel hielten. Ich habe genau gesehen, wie Sie mich anschauten.«
»Wie habe ich Sie denn angeschaut?«
Sie erhob sich und stand sehr gerade vor mir. Dann ging sie ganz langsam um den Couchtisch herum auf mich zu. Ich blickte zu ihr auf und verfolgte jede ihrer Bewegungen. Sie blieb vor mir stehen und schaute auf mich herab. »Genauso, wie Sie mich jetzt anschauen.«
Ich schwieg. Ich rührte mich nicht.
Wieder lag dieses seltsame, eigenartige Lächeln um ihren Mund. »Ich weiß, wir beide kommen nicht zusammen«, sagte sie. »Ich weiß genau, daß eine andere Frau im Spiel ist. Und Sie wissen es auch. Ich habe das gemerkt, als Sie mich küßten. Aber das ändert nichts an der Sachlage. Für Sie bin ich nicht Matt Bradys Sekretärin, kein Inventar seines Büros, sondern ein menschliches Wesen, eine eigene Persönlichkeit, eine Frau. Und so betrachten Sie mich.«
Ich sagte kein Wort. Das einzig Wertvolle auf dieser Erde war, daß jeder von uns ein Individuum war und kein Rädchen an einer Maschine. Kein Mensch war durch bestimmte Umstände oder Zufälle besser als der andere, jeder für sich war wichtig.
Ich langte nach meinem Glas, aber sie ergriff meine Hand und hielt sie fest. Ich schaute sie an, unsere Blicke trafen sich und hiel-ten einander fest.
Der Puls an meinen Schläfen begann zu klopfen. Ich wußte nicht, was mich zurückhielt. Der Preis war in Ordnung. Sie besaß alles, was ein Mann bei einer Frau erwarten konnte - bis auf eines. Die Liebe fehlte. Ich machte mir nichts aus ihr.
Sanft schob ich sie zurück. Ich wollte sie nicht verletzen. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte.
Sie starrte mir ins Gesicht. »Es steckt eine andere Frau dahinter, nicht wahr?«
Ich nickte.
Sie holte tief Luft und erhob sich. Ich schaute zu ihr auf. Ihre Lippen zitterten, während sie zu lächeln versuchte. »Das ist auch was, was ich an Ihnen mag. Sie sind ehrlich. Sie betrügen nicht nur um des Betruges willen.«
Sie ging in ihr Büro zurück. Kurze Zeit später konnte ich das Klappern ihrer Schreibmaschine hören. Langsam krochen die Minuten dahin. Ich begab mich ans Fenster und schaute auf die Gießereien hinunter. Matt Brady hatte allen Grund, stolz zu sein. Wenn die Verhältnisse anders wären, könnte ich sogar lernen, den Burschen sympathisch zu finden. Aber sie waren es nun mal nicht. Vielleicht weil er mit dem, was er sagte, recht hatte. Wir waren uns zu ähnlich.
Irgendwo draußen auf dem Flur erklang ein Glockenzeichen. Der sanfte Ton hing noch in der Luft, als sie das Büro betrat. Ich wandte mich zu ihr um.
»Jetzt haben wir's geschafft«, sagte sie. »In ein paar Minuten können wir gehen.«
Vor dem Tor hielt ich ein Taxi an und war gegen Viertel vor sechs wieder im Hotel. Männlicher Stolz ist schon eine merkwürdige Sache. Ich habe schätzungsweise genug für sechs. Aber ich fühlte mich großartig. Zeigen Sie mir mal einen anderen, der sechzigtausend Dollar und ein appetitliches Mädchen ausschlägt - und das alles an einem Tag!
Ich war mächtig stolz auf mich und konnte es kaum erwarten, Elaine zu erzählen, was ich für ein großartiger Mann war. Ich stieß die Tür zu unserem Appartement auf und rief laut: »Elaine!«
Keine Antwort.
Ich schloß die Tür hinter mir und entdeckte einen Zettel auf dem Garderobentisch. Meine freudige Erregung versickerte wie Wasser im Abflußrohr, mein Herz klopfte in plötzlicher Besorgnis. War sie etwa einfach gegangen und hatte mich verlassen? Das konnte sie doch nicht!
Ich nahm den Zettel auf und war so erleichtert, als hätte mich während einer Hitzewelle plötzlich eine kühle Brise getroffen.
»Liebling, 4.30 nachmittags
Eine Weile hält es eine Frau ja aus. Dann geht sie zum Friseur. Wenn alles gutgeht, bin ich um halb sieben wieder zurück. Ich liebe Dich,
Elaine.«
Ich ließ den Zettel auf den Tisch fallen, durchquerte das Zimmer und ging zum Telefon. Ich nahm den Hörer ab und ließ mich mit dem Büro verbinden.
Chris' Stimme klang aufgeregt. »Wie ist's denn gegangen, Brad?«
»Nicht sehr gut«, antwortete ich. »Brady wollte, daß ich den ganzen Kram hinschmeiße und für ihn arbeite.«
»Was hat er denn geboten?«
»Sechzigtausend im Jahr«, sagte ich. Ich konnte Chris auch ohne Telefon pfeifen hören. »Er mag mich«, fügte ich sarkastisch hinzu.
Befriedigung klang aus seiner Stimme. »Wann fangen Sie an?«
»Überhaupt nicht«, sagte ich geradeheraus. »Ich habe abgelehnt.«
»Sie sind ja wahnsinnig!« schrie er ungläubig. »Kein normaler Mensch schlägt einen solchen Haufen Geld aus!«
»Na, dann bestellen Sie mal gleich ein Bett für mich in der Cor-nell-Klinik«, sagte ich, »denn ich habe das getan.«
»Aber Brad!« protestierte er. »Das ist doch die Chance, auf die Sie ihr Leben lang gewartet haben! Sie können doch den Posten annehmen und hier stiller Teilhaber bleiben. Ich kann den Laden hier für Sie in Schwung halten, und am Ende jeden Jahres teilen wir uns den Kuchen.«
In seiner Stimme lag ein Ausdruck, den ich bei ihm noch nie vorher bemerkt hatte. So was wie Ehrgeiz und die nackte Begierde, Chef zu werden. Mir gefiel die Art und Weise nicht, wie wir plötzlich Partner geworden waren.
»Ich habe Ihnen gesagt, daß ich den Posten nicht nehme, Chris«, erklärte ich kühl. »Noch bin ich Chef. Ich will nichts weiter als den Auftrag des Verbandes.«
»Wenn Sie Matt Brady in die Quere kommen«, sagte Chris, »dann können Sie den Auftrag in den Schornstein schreiben.« Schmerzlich erstarb der Ehrgeiz in seiner Stimme.
»Das lassen Sie meine Sorge sein!« antwortete ich schroff.
»Okay, Brad, wenn Sie's nicht anders haben wollen.«
»Nein.«
Einen Augenblick herrschte betretenes Schweigen, dann kam die Frage: »Kommen Sie heute nacht zurück?«
Ich hatte die Antwort sofort auf den Lippen.
»Nein. Morgen früh. Ich habe heute abend noch mal eine Verabredung mit Brady.«
»Soll ich Marge anrufen und ihr Bescheid sagen?« fragte er förmlich.
»Ich ruf sie selbst an. Bis morgen.«
»Hals- und Beinbruch«, sagte er, bevor wir wieder auflegten. Aber seine Stimme klang nicht begeistert.
Ich gab der Vermittlung meine Privatnummer. Bis Marge an den Apparat kam, hatte ich Zeit, mir einen Whisky einzugießen. Er schmeckte vorzüglich. Allmählich fand ich Geschmack an dem Zeug, stellte ich düster fest. Dann hörte ich ihre Stimme.
»Hallo, Kleines«, rief ich.
Ihre Stimme klang erfreut. Sie kannte mich zu gut, um zu fragen, wie alles gegangen war. Ich würde es ihr schon früh genug erzählen. »Du scheinst müde.«
Zwei Worte hatte ich nur gesagt, und doch wußte sie, daß ich erledigt war. »Mir geht's gut«, versicherte ich rasch. »Dieser Brady ist eine harte Nuß.«
»Warst du den ganzen Tag in seinem Büro?«
Ich war froh, daß sie es so formulierte. So mußte ich wenigstens nicht lügen.
»Ja«, sagte ich. »Er bot mir einen Posten an. Sechzigtausend im Jahr.«
»Na, das klingt aber nicht sehr glücklich«, meinte sie.
»Bin ich auch nicht. Ich habe sein Angebot abgelehnt. Ich mag ihn nicht.«
Ihre Antwort war so anständig, so voll Vertrauen, daß ich mich einen Augenblick lang einfach lausig fühlte. »Du weißt schon, was du tust, Brad«, antwortete sie, ohne zu zögern.
»Hoffentlich«, sagte ich. »Das kann bedeuten, daß der ganze Stahlauftrag in die Binsen geht.« »Es gibt noch andere. Das beunruhigt mich nicht.«
»Bevor die Nacht um ist, werde ich mehr wissen«, fügte ich rasch hinzu. »Er hat mich zum Essen eingeladen.«
»Was immer du tust, ich bin damit einverstanden.«
Ihr Vertrauen bereitete mir Unbehagen. Ich wechselte rasch das Thema. »Wie geht's Jeannie?«
»Gut«, antwortete sie, »sie tut sehr geheimnisvoll. Sie macht allerhand Andeutungen von einer Überraschung zu unserem Hochzeitstag. Ich bin gespannt, was sie vorhat.« Ich war bereit, jede Wette einzugehen, daß sie Marge von dem Mantel erzählen würde, bevor noch der Hochzeitstag da war. »Gibt's was Neues von Brad?«
»Heute morgen kam ein Brief. Er ist immer noch erkältet und liegt seit ein paar Tagen im Bett. Ich mache mir Sorgen.«
»Das mußt du nicht, Kleines«, beruhigte ich sie, »er wird schon wieder gesund.«
»Aber er liegt im Bett; er ist bestimmt richtig krank. Du weißt doch, wie er ist.«
»Er ist bestimmt nicht kränker als ich«, sagte ich. »Er schwänzt nur ein paar Tage die Schule.«
»Aber ...«
»Es ist schon nichts Schlimmes, Marge. Hör auf, dir Sorgen zu machen. Ich bin morgen wieder zurück.«
»Na gut«, sagte sie. »Beeil dich, du fehlst mir.«
»Du fehlst mir auch, Kleines«, sagte ich. »Wiedersehen.«
Ich legte den Hörer auf, goß mir Whisky nach, tat ein paar Eisstückchen in mein Glas und streckte mich auf die Couch. Mir war komisch zumute. Irgend etwas stimmte nicht mit mir. Aber ich kam nicht dahinter, was es war. Das berühmte Gewissen hätte mir eigentlich schon längst die Zähne einschlagen müssen, aber bisher hatte es sich überhaupt nicht um mich gekümmert. Vielleicht täuschte sich Matt Bradys Mädchen, vielleicht war ich keinen Deut anders als die anderen Kerle. Konnte durchaus sein, daß ich ein Betrüger war, der von Natur aus immer nur Platz für jeweils eine Dame hatte. Vielleicht war ich damit auch etwas zu spät dran. Ich weiß es nicht.
Elaine. Ihr Name kreuzte meine Gedanken, und ich lächelte, als ich an sie dachte. Wenn jemals eine Frau für einen Mann erschaffen wurde, dann war sie es. Alles an ihr war erstklassig und reinstes Vergnügen. Ihre Augen, ihre stramme kleine Figur und die Art und Weise, wie sie ging. Ich trank noch einen Schluck und schloß die Augen, um sie besser vor mir zu sehen. Es war, als ob man das Licht abschaltete, um zu träumen. Und das tat ich.
In meinem Traum war sie das kleine Mädchen, das am Sutton Place wohnte. Ich erinnerte mich, wie ich von unserer Wohnung von der Third Avenue aus durch die Unterführung der Hochbahn ging, um sie zu beobachten. Sie war sehr schön mit ihren langen blonden Haaren, und ihre sorgfältig gekleidete Gouvernante war ständig um sie herum. Niemals schaute sie mich auch nur an, bis eines Tages ihr blauroter Ball zu mir herüber kullerte. Ich hob ihn auf und streckte ihn ihr schüchtern entgegen.
Schweigend nahm sie ihn mir ab, als ob es sich so gehörte, daß ich ihr den Ball aufhob, und machte kehrt. Aber ihre Gouvernante gebot ihr, zurückzugehen und sich bei mir zu bedanken. Ihre Stimme klang wie eine helle Glocke. »Merci«, sagte sie.
Ich starrte sie einen beglückenden Moment lang an, dann machte ich kehrt, rannte den ganzen Weg heim und drei Treppen hoch, um meine Mutter zu fragen, was es bedeutete.
»Ich glaube, es heißt >Danke< auf französisch«, erklärte mir Mama.
Ich fühlte eine Hand auf meiner Schulter und erwachte. Elaine lächelte auf mich herab. »Schon wieder betrunken«, sagte sie.
Ich grinste und zog sie an mich. Ich nahm ihr Gesicht in meine Hände und küßte sie. Wir paßten so gut zueinander. Nach einer Weile riß sie sich los.
»He!« rief sie aus. »Wofür ist das?« »Gratis!« antwortete ich.
Sie lächelte und küßte mich wieder. Die ganze Welt versank, und als ich wieder auf die Erde zurückkehrte, war ich erhitzt von dem strahlenden Glanz ihrer Existenz.
»Merci«, sagte ich.
Ich beobachtete, wie sich die Scheinwerfer des Flughafens emportasteten, um uns aufzugreifen. Ich spürte, wie das Flugzeug den Boden berührte. Zunächst ganz sanft, als ob es erst prüfen wollte, ob es auch sicher genug wäre, um dann fest aufzusetzen, während die Scheinwerfer uns in ihre Arme schlossen.
»Ich halte es immer noch für töricht«, bemerkte ich und neigte mich zu Elaine hinüber.
Sie wandte sich vom Fenster weg zu mir. »Nicht törichter als deine Weigerung, heute abend noch mal mit Onkel Matt zu sprechen«, erwiderte sie. »Vielleicht hättest du doch etwas bei ihm erreichen können.«
Ich war verärgert. Ich hatte ihr alles erzählt - bis auf eine Sache. Ich hatte ihr nichts davon gesagt, daß er mich hatte überwachen lassen, seit ich in das Hotel gezogen war. Ich wollte sie nicht beunruhigen. »Ich habe dir schon vorhin erklärt«, reagierte ich kühl, »daß ich nicht für deinen Onkel arbeiten will. Ich will meine Selbständigkeit behalten.«
Das Flugzeug rollte langsam aus und blieb stehen. Ich löste den Haltegurt und beugte mich zu Elaine hinüber, um ihr zu helfen.
»Ich bin sicher, daß ihr zu irgendeiner Lösung gekommen wärt«, beharrte sie. »Ich hätte ja mitgehen und dir ein bißchen helfen können. Aber du mit deinem Stolz wolltest ja unter keinen Umständen Nutzen aus meiner Bekanntschaft ziehen.«
Ich wurde nur noch ärgerlicher, weil ich ihr den wahren Grund nicht sagen konnte: warum ich es nicht gewagt hätte, sie zu Brady mitzunehmen. Nach diesem Bericht vom Hotel hätte ein Blick auf sie genügt - und ich wäre erledigt gewesen. Ich gab ihr keine Antwort, sondern wartete, daß sie aufstand.
»Zumindest hättest du ihn anrufen und ihm sagen können, daß du nicht kommen würdest.«
Mir platzte der Kragen. »Es ist mir völlig schnuppe, was er von mir denkt«, entgegnete ich heftig.
Wir betraten die Rollbahn, ich nahm unsere Koffer und begab mich schweigend zum Taxistand. Ärgerlich stolzierte ich voraus und starrte auf den Boden.
Plötzlich fing sie an zu lachen. Ich drehte mich um und schaute sie verwundert an. »Worüber lachst du?«
»Über dich. Du siehst aus wie ein kleiner Junge, der immerzu Pech hat.«
Ich mußte lachen. Sie hatte recht. Von dem Moment an, da ich ihr erzählt hatte, daß ich bei ihrem Onkel essen sollte, daß ich aber nicht hingehen würde, war nichts so gelaufen, wie ich erwartet hatte. Ich wollte mit ihr in Pittsburgh über Nacht bleiben, aber sie bestand darauf, daß wir nach New York zurückkehrten. Wir erwischten die Neunuhrmaschine und verbrachten den ganzen Flug damit, uns darüber zu streiten, ob es besser gewesen wäre, wenn ich hingegangen wäre, oder nicht.
»So ist's schon besser«, sagte sie. »Das ist das erste Lächeln des Abends. Wenn du morgen früh wieder ins Büro mußt, ist es viel gescheiter, du bist ausgeruht und nicht völlig durchgerüttelt von einem unruhigen Flug. Bei mir im >Towers< werden wir es viel gemüt-licher haben.«
»Ist schon gut«, brummelte ich vor mich hin und winkte ein Taxi herbei.
Das Taxi rollte langsam heran und hielt vor uns. Ich machte die Tür auf, schob die Koffer hinein und stieg dann zu Elaine in den Wagen.
»Zum >Towers<«, rief ich dem Fahrer zu.
Ich hatte es mir gerade auf meinem Sitz bequem gemacht und eine Zigarette angesteckt, als ich die Stimme des Fahrers hörte.
»Das ist ja reizend, mein Lieber. Erkennst nicht mal das Taxi deines Vaters!«
»Pap!« In dem flackernden Licht des Streichholzes sah ich, wie er mich angrinste. Der Wagen fuhr an, schoß in die Kurve und auf den Ausgang zu.
»Um Himmels willen, Pap!« fluchte ich. »Schau doch, wo du hinfährst!«
Sein Hinterkopf wackelte traurig. »Eine schlimme Nacht. Eine schlimme Nacht!« Ein amüsiertes Lachen gluckste tief in seinem Hals. »Als junger Bengel, da hast du meinen Wagen schon aus sechs Häuserblocks Entfernung erkannt, und jetzt .«
»Immer noch, Pap«, fing ich an zu lachen. »Ich habe dich nie an deinem Wagen erkannt, sondern immer nur an deiner verrückten Fahrweise. Eines Tages werden sie dich erwischen!«
Er hielt vor einer Verkehrsampel und beobachtete mich durch den Rückspiegel. »Ich hab' heut nachmittag mit Marge telefoniert. Sie sagte mir, du wärst in Pittsburgh und wüßtest nicht, ob du heute abend oder morgen früh zurück wärst. Das sei 'ne große Sache, meinte sie.«
Ich lächelte vor mich hin, als der Wagen wieder anfuhr. Pap war ein ganz Argwöhnischer. Immer bereit, von jedem das Schlechteste zu denken. Es amüsierte mich, daß er nicht mal bei mir eine Ausnahme machte. »War ein großer Fisch, Pap«, sagte ich. »Aber wie's so schön in der Anglergeschichte heißt: leider ging er durch die Maschen.«
Pap konnte man nicht so leicht ablenken. »Und die Dame? Sicher eine Geschäftsfreundin?« fragte er trocken. Ich warf Elaine einen verstohlenen Seitenblick zu. Sie hatte sofort begriffen. Ein amüsiertes Lächeln lag um ihren Mund. »Sozusagen, Pap«, bemerkte ich gleichgültig und wußte, daß er sich darüber ärgern würde. Ich wandte mich an Elaine. »Elaine, das ist mein Vater. Er ist ein alter Mann und schrecklich boshaft. Aber dafür bin ich nicht verantwortlich. So war er schon, bevor ich geboren wurde.« Ich klopfte ihm auf die Schulter: »Pap - Mrs. Schuyler.«
Elaines Stimme klang sehr tief aus der Dunkelheit. »Es freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. Rowan.«
Pap nickte verlegen mit dem Kopf. Im Grunde war er immer sehr scheu, wenn er mal Freunde von mir kennenlernte.
»Mrs. Schuyler flog mit derselben Maschine«, erklärte ich. »Ich bot ihr an, sie an ihrem Hotel abzusetzen.«
»Brad ist sehr liebenswürdig, Mr. Rowan.« Elaine nahm die Rolle an und spielte sie weiter. »Ich habe ihm gesagt, er solle doch meinetwegen keinen Umweg machen, aber er bestand darauf.«
»Bernhard hat eine besondere Vorliebe für Frauen, Mrs. Schuy-ler«, erklärte Pap. »Besonders für hübsche.«
Sie lachte. »Jetzt sehe ich, von wem Ihr Sohn das Schmeicheln geerbt hat, Mr. Rowan.«
»Er ist ein feiner Kerl, Mrs. Schuyler«, sagte Pap plötzlich ernst. »Er hat zwei großartige Kinder. Hat er Ihnen das erzählt? Einen Jungen, fast neunzehn. Auf dem College. Und eine Tochter auf der High-School.« Ich konnte ihre Zähne im Dunkeln schimmern sehen, als sie lächelte. »Ich weiß.«
»Er ist ein guter Ehemann und ein guter Vater«, führ Pap fort. »Er ist mit einem sehr netten Mädchen verheiratet. Er kennt sie schon seit der Volksschule.«
Verlegen begann ich auf meinem Sitz herumzurutschen. Was war eigentlich in ihn gefahren? »Jetzt reicht's aber, Pap!« unterbrach ich ihn. »Ich bin sicher, daß Mrs. Schuyler an meinem Lebenslauf nicht sonderlich interessiert ist.«
»Aber nein, Mr. Rowan, im Gegenteil.« Ihre Stimme hatte eine sarkastische Schärfe. »Ich bin außerordentlich interessiert.«
Das war das Stichwort für ihn. Von da an bis zum Ende der Fahrt vor ihrem Hotel redete er ununterbrochen. Ich mußte zugeben, daß es eine miese Geschichte war. Wen interessierte es schon, was für ein schlechter Schüler ich gewesen war und daß ich die HighSchool nicht fertig gemacht hatte? Ich war froh, als wir endlich ihr Hotel erreichten.
»Warte auf mich, Pap«, sagte ich, nahm ihren Koffer und sprang aus dem Wagen. »Ich begleite Mrs. Schuyler nur noch hinein.«
Elaine schüttelte Pap zum Abschied die Hand, dann folgte sie mir durch die Drehtür. »Dein Vater ist sehr stolz auf dich, Brad«, stellte sie fest, während wir die Halle durchquerten.
Ich blieb vor der Tür des Aufzuges stehen. »Ich bin sein Einziger«, erklärte ich, »er ist voreingenommen.«
Ein seltsames Lächeln lag um ihren Mund. »Er hat auch allen Grund dazu. Du bist schon ein außergewöhnlicher Bursche.« Ihre Stimme klang gereizt. Ich wurde nicht schlau aus ihr. Irgend etwas an ihr wich vor mir zurück.
»Elaine«, flüsterte ich, »was ist los?«
»Nichts.« Sie schüttelte den Kopf. »Sehr viel.«
»Ich versuche ihn loszuwerden«, schlug ich vor. »Er kann mich zur Garage fahren. Dort hole ich meinen Wagen und sage ihm, daß ich selbst nach Hause fahren will.«
»Sei doch nicht albern«, zischte sie wütend. »Er hat am Flughafen doch nur gewartet, um dich nach Hause fahren zu können. Daß du das nicht begreifst!«
Das stimmte. Er konnte gar nicht gewußt haben, daß Marge erst morgen früh mit mir rechnete; er hatte mit ihr am Nachmittag telefoniert, ich aber erst am Abend. Darauf hätte ich auch gleich kommen können, denn sein Wagen war nicht aus der Schlange wartender Taxis gekommen, sondern von gegenüber, wo er auf mich gewartet hatte.
»Ich hab' dir ja gesagt, wir hätten in Pittsburgh übernachten sollen«, entgegnete ich verdrossen.
»Das spielt jetzt keine Rolle.«
Ich warf ihr einen prüfenden Blick zu. In ihren Augen lag wieder dieser schmerzvolle Ausdruck. Wir sprachen kein Wort. Ich empfand diesen Schmerz nach, er ergriff jetzt auch mich. Ich mußte zuschauen, wie er sich über ihr Gesicht in winzigen scharfen Furchen ausbreitete. Die Türen des Aufzugs öffneten sich, sie ging darauf zu. Ich reichte ihr den Koffer. »Ich rufe dich an«, stammelte ich hilflos.
In ihren Augen schimmerte es feucht. Wortlos nickte sie mit dem Kopf.
»Gute Nacht, Liebling«, sagte ich, während die Türen sich wieder schlossen.
Ich durchquerte die Halle und stieg in das Taxi. »Okay, Pap«, seufzte ich mißmutig und ließ mich in den Sitz fallen. Auf dem ganzen Weg durch die Stadt sagte er kein Wort. Erst als wir wieder auf dem Highway waren, blickte er mich durch den Rückspiegel an. »Sie ist eine sehr schöne Frau, Bernhard.«
Ich nickte. »Ja, Pap.«
»Wie hast du sie kennengelernt?«
Zögernd erzählte ich ihm die ganze Geschichte. Als ich geendet hatte, schüttelte er traurig den Kopf. »Das schreit ja zum Himmel!«
Ich war erleichtert, als der Wagen in unsere Einfahrt bog und stehenblieb. Ich mochte nicht mehr darüber reden. Ich schaute auf die Uhr. Es war Mitternacht.
»Du kannst doch genausogut bei uns übernachten, Pap«, schlug
ich vor. »Es ist zu spät, um noch heimzufahren.«
Wie gewöhnlich, regte sich sein Freiheitsdrang. »Unsinn, Bernhard. Die Nacht ist noch jung. Die einträglichsten Fahrten liegen noch vor mir.«
Wie gewöhnlich, mußte ich ihm was vorflunkern. »Bleib doch hier, Pap, wir können dann morgen früh zusammen in die Stadt fahren. Du weißt doch, wie mir die Bahnfahrt zuwider ist.«
Marge war überrascht, daß ich schon kam. Ich erklärte ihr, daß die Zusammenkunft in letzter Minute abgesagt worden war und ich dann beschlossen hatte, nach Hause zu fahren. Jeannie kam herunter, und wir tranken alle zusammen in der Küche Kaffee. Ich erinnere mich noch an Vaters seltsam mißtrauischen Blick, als ich erwähnte, auf dem Rückflug Elaine im Flugzeug getroffen zu haben. Aber der verschwand, als ich ihnen von Matt Bradys Angebot erzählte.
Es war halb zwei, als wir endlich Schluß machten. Der Drugstore, drei Häuser weiter, hatte inzwischen auch geschlossen, ich hatte keine Gelegenheit mehr, Elaine anzurufen. Und so ging ich hinauf ins Bett.
Ich hatte einen unruhigen Schlaf, ich wälzte mich hin und her. Einige Male streckte Marge ihre Hand zu mir herüber und rüttelte mich an der Schulter.
»Fehlt dir was, Brad?« Ihre Stimme klang sanft wie die Nacht. »Nein«, erwiderte ich kurz. »Ich bin wahrscheinlich ein bißchen durchgedreht.«
»Zu viele große Probleme?« flüsterte sie. Ich hörte die Decken rascheln, dann kroch sie in mein Bett. Sie schlang die Arme um meinen Hals und zog meinen Kopf an ihre Brust. »Schlaf, mein Kleiner, ruh dich schön aus.« Sie summte leise vor sich hin, als ob ich ein Kind wäre.
Zuerst verkrampften sich meine Muskeln, ich lag gespannt wie eine Spirale. Aber dann, als ich auf ihre ruhigen, gleichmäßigen
Atemzüge lauschte, löste sich allmählich alles, die Wärme ihres Körpers durchströmte mich, und ich schloß die Augen.
Sobald ich am Morgen im Büro war, rief ich Elaine an. Die Auskunft der Vermittlung überraschte mich nicht. In dem Augenblick, als sie den Aufzug betrat, hatte ich irgendwie gespürt, wie es kommen würde. Und doch wollte ich es nicht wahrhaben.
»Was ist los?« fragte ich dumm zurück, als könne ich nicht verstehen.
Die Telefonistin sprach noch deutlicher als sonst, mit der professionellen Gereiztheit einem Laien gegenüber. Ihre Stimme klang nun erschreckend an mein Ohr.
»Mrs. Schuyler ist heute morgen abgereist.«
Um drei Uhr nachmittags packte mich die Verzweiflung. Zuerst war ich ärgerlich gewesen, dann verletzt. So hätte sie auch nicht davonzulaufen brauche. Schließlich waren wir doch Erwachsene. Man verliebt sich, das ist eine stürmische Angelegenheit, aber dann läuft man nicht einfach weg. Denn es gibt keinen Platz, um sich vor der Liebe zu verstecken.
Ich stürzte mich in die Arbeit. Die einzige Möglichkeit, um darüber hinwegzukommen. Bis zum Mittag hatte ich im Büro alle verrückt gemacht. Ich fuhrwerkte herum wie ein Besessener, und ich wußte es. Ich nahm mir nicht mal Zeit zum Mittagessen. Aber es half überhaupt nichts. Langsam kroch der Schmerz wieder in mich zurück, bis ich es nicht mehr aushalten konnte.
Ich warf jeden aus meinem Büro und sagte Mickey, daß ich nicht gestört werden wollte. Ich machte eine Flasche Whisky auf und goß mir ein ordentliches Glas voll ein. Zwanzig Minuten später schmerzte mein Kopf genauso wie mein Herz.
Mein Privatapparat, der nicht über die Vermittlung lief, läutete. Eine Weile war ich unentschlossen. Ich wollte nicht 'rangehen. Marge war die einzige, die mich unter dieser Nummer anrief. Ich wollte im Augenblick nicht mit ihr sprechen. Aber es läutete ununterbrochen weiter. Schließlich stand ich auf, ging quer durch das Zimmer und nahm den Hörer ab. »Hallo?« rief ich unfreundlich.
»Brad?«
Mein Herz vollführte Sprünge, als ich die Stimme erkannte.
»Wo bist du?« grollte ich.
»Bei Onkel Matthew.«
Ich seufzte erleichtert. »Ich dachte schon, du wolltest davonlaufen.«
»Das bin ich auch«, entgegnete sie niedergeschlagen.
Einen Augenblick lang brachte ich kein Wort heraus. Der Schmerz in den Schläfen umklammerte meinen Kopf wie ein eiserner Ring. »Warum? Warum?« konnte ich lediglich fragen.
»Wir sind nicht füreinander geschaffen, Brad.« Ihre Stimme klang so leise, daß ich sie kaum hören konnte. »Jetzt weiß ich es. Besonders seit gestern abend. Ich muß völlig verrückt gewesen sein.«
»Mein Vater ist ein alter Mann«, warf ich schnell ein, »das verstehst du nicht.«
»Ich verstehe nur zu gut«, unterbrach sie mich. »Ich wünschte, ich hätte es nicht getan. Ich begreife einfach nicht, wie ich mich mit dir einlassen konnte. Ich hatte von Anfang an keine Chance.«
»Elaine!« Ich spürte, wie mich der Schmerz durchfuhr.
»Vielleicht, weil ich mich einsam fühlte«, fuhr sie fort, als hätte ich sie gar nicht unterbrochen. »Oder vielleicht, weil David mir so sehr fehlte.«
»Das ist doch nicht wahr, Liebling«, entgegnete ich verzweifelt, »und das weißt du auch.«
Ihre Stimme klang matt. »Ich weiß überhaupt nicht mehr, was noch wahr ist. Es ist auch egal. Ich weiß nur, daß ich den Kampf nicht gewinnen kann. Und so ist es besser, ich laufe rechtzeitig davon, bevor der Schaden so groß ist, daß man ihn nicht mehr reparieren kann.«
»Aber ich liebe dich, Elaine«, widersprach ich. »Ich liebe dich so sehr - seit ich dich heute morgen im Hotel nicht erreichen konnte, bin ich ganz krank! Nichts auf dieser Welt hat mir jemals mehr bedeutet als du. Wenn wir zusammen sind, dann haben wir alles, was ein Mann und eine Frau überhaupt füreinander empfinden können. Wir sind nie wie zwei Menschen, sondern ein ...«
»Es hat keinen Zweck, Brad«, schnitt sie mir das Wort ab. »Wir schaffen es nicht.«
»Elaine, du kannst mich doch nicht verlassen!«
»Ich verlasse dich nicht«, antwortete sie ruhig, »es wird so sein, als wären wir uns nie begegnet.«
Die Verzweiflung überschwemmte mich wie eine Flut. »Vielleicht für dich!« schrie ich. »Aber nicht für mich. Da kann ich mir genausogut einbilden, ich wäre nie geboren!«
Ihre Stimme klang auffallend ruhig. »In gewisser Beziehung wird es auch so sein, Brad.«
Ich antwortete nicht. Ich wußte nicht, was ich noch sagen sollte. Wie ein Messer stachen mir ihre Worte ins Herz, und ihr Ton ließ mich meinen, sie drehe es dann auch noch herum.
»Ich ruf dich übrigens nur an, um dir zu sagen, daß Onkel Matt geschäftlich in New York ist. Er will unter Umständen - wenn er es zeitlich schafft - bei dir im Büro vorbeikommen. Auf Wiedersehen, Brad.«
Die Leitung war tot. Langsam legte ich den Hörer auf, sank in meinen Sessel zurück und starrte über den Schreibtisch. Ich war innerlich wie erstarrt.
Keine Träume mehr, keine Höhepunkte mehr, keine Ekstasen.
Die Rufanlage summte. Ohne die Flasche aus der Hand zu stellen, kippte ich den Schalter um. »Mr. Brady ist da und möchte Sie sprechen«, sagte Mickey.
»Ich kann ihn nicht empfangen«, antwortete ich. »Schicken Sie ihn zu Chris.«
»Aber Mr. Rowan ...«, rief sie verwundert.
»Schicken Sie ihn zu Chris!« schrie ich sie an. »Ich sage Ihnen doch, ich bin nicht zu sprechen!«
Ich unterbrach einfach die Verbindung. Eine Weile starrte ich auf den Apparat, während der Schmerz in meinem Innern aufstieg und mir die Kehle zuschnürte. Auf Schmerz folgt Gewalttat. Mein Fuß brannte, als ich den Stuhl quer durch das Zimmer stieß.
In meinen Ohren dröhnte es, während ich von meinem Schreibtisch alles auf den Boden fegte. Die Tür wurde geöffnet. Rasch sprang ich quer durch den Raum und hielt sie zu. Mickeys Stimme klang angsterfüllt. »Brad, was ist los? Ist Ihnen nicht gut?«
Ich lehnte mich schweratmend gegen die Tür. »Mir geht's gut«, japste ich. »Gehen Sie weg.«
»Aber .«
»Mir geht's gut«, beharrte ich, »verschwinden Sie, und zwar sofort!«
Ich hörte, wie sich ihre Schritte von der Tür entfernten, dann das Quietschen ihres Stuhles, als sie sich wieder an ihren Schreibtisch setzte. Leise schloß ich die Tür ab und blickte in mein Büro zurück. Es glich einem Schlachtfeld. Ich versuchte, wieder Ordnung zu machen, aber ich konnte es nicht. Es war auch ganz egal. Ich zog mein Taschentuch aus der Brusttasche und wischte mir über die Stirn. Schweiß stand mir auf dem Gesicht. Mir war übel. Ich durchquerte den Raum und öffnete das Fenster.
Kalte Luft strömte ins Zimmer, die Übelkeit verschwand. Lange Zeit blieb ich dort stehen.
Du bist ein Esel, sagte ich zu mir selbst. Du benimmst dich wie ein Teenager. Alles, was du auf dieser Welt wolltest, hast du bekommen: Geld, eine einflußreiche Stellung, Achtung. Was willst du noch mehr? So wichtig kann eine Frau gar nicht sein. Das war's. Keine Frau war so wichtig. Das wußte ich schon die ganze Zeit. Das war's doch, was ich immer gesagt hatte. Ich schloß das Fenster und trat in mein Zimmer zurück. Ich setzte mich auf die Couch und lehnte mich in die Kissen zurück. Ich war müde und erledigt. Ich schloß die Augen - und da stand sie wieder im Raum. Ich spürte ihr weiches Haar, sah ihr sanftes Lächeln, hörte ihre Stimme. Ich wälzte mich auf die Seite und vergrub mein Gesicht in den Kissen, bis ich kaum mehr atmen konnte. Aber es half nichts.
Ich stieß den Kopf in die Kissen, um ihr Gesicht zu verscheuchen. Ich riß die Augen auf, aber sie befand sich immer noch im Zimmer, nur außerhalb meines Blickfeldes. Wütend stand ich auf und schrie: »Geh weg! Quäl mich nicht!« Schuldbewußt hielt ich mir den Mund zu, als meine Worte durch den leeren Raum hallten.