
Manager können fast alles. Sie drücken auf den Knopf, wenn es ums Geld geht, sie drücken auf den Knopf, wenn es um die Ehe geht, sie drücken auf den Knopf, wenn's um die Geliebte geht. Doch auf einmal ist kein Knopf mehr da.
Um halb drei kam ich vom Mittagessen ins Büro zurück. Meine Sekretärin hob den Kopf, als ich die Tür öffnete.
»Sind die Verträge vom Rechtsanwalt schon da?« fragte ich.
Sie nickte. »Ich habe sie Ihnen reingelegt, Brad.«
Ich ging in mein Büro, setzte mich an den Schreibtisch, nahm die Dokumente in die Hand und blätterte sie durch. Diese Bogen, eng mit Maschinenschrift bedeckt, voll von vertrackten Wenngleichs und Indems: das war's! Einfach großartig! Ich schwelgte in tiefster Genugtuung. Das tat noch viel wohler als ein Kognak nach dem Essen.
Das Telefon summte. Ohne aufzuschauen, nahm ich den Hörer ab.
»Paul Remey ruft aus Washington auf Apparat zwei«, sagte meine Sekretärin.
»Sehr gut!« Ich drückte den Knopf runter. Meine Stimme war voll Selbstzufriedenheit. »Paul, ich hab' den Vertrag ...«
»Brad!« Seine Stimme klang rauh und abgehackt. Irgendwas ließ mir das Herz stocken.
»Was ist, Paul?«
Seine Antwort traf mich wie ein Kinnhaken. »Elaine hat Selbstmord begangen!«
»Nein! Paul!« Der Vertrag glitt mir aus den Fingern, die weißen Blätter flatterten über Tisch und Fußboden. Eine eiserne Kompresse legte sich um meine Brust. Zweimal versuchte ich zu sprechen, beide Male mißlang es.
Ich sank in meinen Sessel zurück. Das Zimmer begann sich zu drehen. Ich schloß die Augen. »Elaine«, stöhnte ich leise. »Elaine, Elaine.«
Mit einiger Anstrengung bekam ich meine Stimme wieder in die Gewalt, sie klang gebrochen, fremd. »Wie denn, Paul? Und warum?«
»Letzte Nacht«, antwortete er. »Schlaftabletten.«
Ich holte tief Luft. Meine Selbstbeherrschung kehrte allmählich zurück.
»Warum, Paul?« Ich zwang mich zu dieser Frage, obwohl ich die Antwort wußte. »Hat sie irgendeine Nachricht hinterlassen?«
»Keinerlei Nachricht. Nichts. Kein Mensch weiß, warum sie's tat.«
Erleichtert atmete ich auf. Die Kleine hatte ganze Arbeit geleistet.
Meine Stimme klang jetzt fester: »Das ist ein furchtbarer Schlag, Paul.«
»Für uns alle, Brad«, sagte er. »Gerade jetzt, wo für sie alles gut auszugehen schien. Noch vor einigen Wochen meinte Edith, Elaine sehe so glücklich aus, wo du ihr bei der Kinderlähmungskampagne hilfst. Elaine hat sich wieder gefangen, sagte sie, seit sie etwas für andere Menschen tut.«
»Ich weiß«, antwortete ich schwach, »ich weiß.«
»Deshalb habe ich auch angerufen, Brad. Sie mochte dich sehr gern. Sie schwärmte beinahe von dir. Sie erzählte Edith immer wieder, wie nett du zu ihr warst.«
Seine Worte taten weh. Ich mußte ihn zum Schweigen bringen, oder ich würde die Fassung verlieren. »Ich fand sie auch ganz reizend«, bemerkte ich heiser.
»Der Meinung waren wir alle«, versicherte Paul. »Wir haben uns immer gefragt, wo sie diesen Mut und diese Kraft hernahm, um mit all dem fertig zu werden, was sie zu tragen hatte. Jetzt werden wir es wohl nie erfahren.«
Ich schloß die Augen. Sie werden es nie wissen, aber ich weiß es.
Ich wußte eine Menge. Zu viel. »Wann ist der Trauergottesdienst?« hörte ich mich automatisch fragen.
»Übermorgen«, antwortete er und nannte mir den Namen der Kirche. »Um elf Uhr«, fügte er hinzu. »Sie wird neben ihrem Mann und den Kindern beigesetzt.«
»Ich komm 'rüber«, sagte ich. »Ich treffe euch dort. Wenn ich in der Zwischenzeit noch irgendwas tun .«
»Nein, Brad. Es ist schon alles erledigt. Es gibt nichts mehr, was wir für sie tun können.«
Ich legte den Hörer auf, seine Worte klangen mir noch im Ohr. Ich saß da und starrte auf die Papiere, die am Boden und auf dem Schreibtisch verstreut lagen. Automatisch bückte ich mich, um sie aufzuheben, und plötzlich liefen mir die Tränen übers Gesicht.
Ich hörte, wie die Tür geöffnet wurde, aber ich schaute mich nicht um. Mickey stand vor mir. Ich fühlte ihre Hand auf meiner Schulter.
»Es tut mir so leid, Brad«, sagte sie.
Ich richtete mich auf und schaute sie an. »Sie wußten es?«
Sie nickte. »Er sagte es mir, bevor ich zu Ihnen durchschaltete«, antwortete sie sanft. »Eine furchtbare Geschichte.« Sie streckte ihre Hand aus und hielt mir ein Glas Whisky entgegen. Ich nahm ihr das Glas ab und setzte es an die Lippen, während sie die restlichen Blätter vom Boden aufsammelte. Bis sie alles beisammen hatte, war ich mit dem Whisky fertig. Sie schaute mich fragend an. Ich brachte eine Grimasse zustande, die man gerade noch als Lächeln gelten lassen konnte. »Es geht schon wieder«, sagte ich. »Lassen Sie die Verträge hier. Ich schau sie mir später an.« Sie stapelte sie säuberlich auf meinem Schreibtisch und war schon auf dem Weg hinaus, als ich ihr nachrief: »Keine Anrufe, Mickey - und keine Besuche. Ich bin für eine Weile nicht zu sprechen.« Sie nickte und schloß behutsam die Tür hinter sich. Ich ging zum Fenster und starrte hinaus. Der Himmel war von einem kalten winterlichen
Blau, in das die weißen Häuser der Stadt unbarmherzig hinaufstießen.
Tausendachthundert Quadratmeter Baufläche in der Madison Avenue, das bedeutete Mieteinnahmen für ungefähr viertausendsechshundert Quadratmeter. Und überall wuchsen die Neubauten wie riesige Ameisenhaufen in die Höhe. Das war ein Teil der großen Konjunktur, und die große Konjunktur war ein Teil von mir.
Das war's, was ich mir von Jugend an gewünscht hatte. Jetzt wußte ich, wieviel es wert war. Nichts. Aber auch gar nichts. Ein einziger, unbedeutender Mensch auf der Straße war mehr wert als die ganze Stadt zusammen.
Sie war tot, und ich konnte es nicht glauben. Ich hatte doch noch vor kurzem ihre warmen Lippen gespürt, ihre Stimme an meinem Ohr gehört.
»Elaine.« Ich sprach den Namen laut vor mich hin. Bisher war das ein sanfter, zärtlicher Laut gewesen; jetzt durchbohrte er mich wie ein Dolch. Warum hast du das getan, Elaine?
Das Telefon summte. Ich kehrte an den Schreibtisch zurück und nahm ärgerlich den Hörer ab: »Ich bilde mir ein, ich hätte gesagt: keine Anrufe!« schnauzte ich Mickey an.
»Ihr Vater ist hier«, antwortete sie leise.
»In Ordnung«, erwiderte ich und wandte mich zur Tür. Unbeholfen betrat er das Zimmer. Vater schaute immer unbeholfen aus, wenn er lief. Manierlich sah er nur aus, wenn er hinter dem Steuer eines Autos saß. Er blickte mich forschend von der Seite an. »Hast du schon gehört?« fragte er.
Ich nickte. »Paul hat angerufen.«
»Ich hab's im Autoradio gehört. Da bin ich gleich rübergekommen.«
»Danke.« Ich ging an den Schrank und nahm eine Flasche heraus. »Ich werd' schon damit fertig.« Ich goß zwei Gläser voll und hielt ihm eins hin.
Ich kippte meinen Whisky hinunter, er aber behielt sein Glas noch in der Hand.
»Was wirst du jetzt machen?« erkundigte er sich.
Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Als ich mit Paul telefonierte, dachte ich, ich würde rüberfahren. Aber jetzt weiß ich nicht, ob ich's kann. Ich weiß nicht, ob ich ihr gegenübertreten kann.«
Er blickte mich immer noch forschend an. »Warum?«
Ich starrte ihn eine Weile an, dann platzte ich heraus: »Warum? Du weißt genausogut wie ich, warum. Weil ich sie umgebracht habe! Hätte ich mit einem Gewehr auf sie gezielt und abgedrückt, hätte ich auch keine bessere Arbeit leisten können!« Ich ließ mich neben dem Schrank auf einen Stuhl fallen und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen.
Er setzte sich mir gegenüber. »Woher weißt du das?«
Meine Augen brannten, als ich ihn anschaute. »Weil ich mit ihr ins Bett gegangen bin, sie belog, ihr Versprechungen machte, obwohl ich wußte, daß ich sie nie halten würde. Weil sie mich liebte, mir glaubte, mir vertraute und sich nicht vorstellen konnte, daß ich sie verlassen würde. Als ich es dann tat, gab es nichts mehr für sie auf dieser Welt, weil ich ihre Welt geworden war.«
Er trank schluckweise seinen Whisky und schaute mich an. Schließlich fing er an zu sprechen. »Du glaubst das wirklich?«
Ich nickte. Er überlegte einen Augenblick. »Dann mußt du rüberfahren und mit ihr Frieden machen, oder du kommst nie zur Ruhe.«
»Aber wie kann ich das denn, Vater?« rief ich aus.
Er stand auf. »Doch, du kannst das«, erklärte er zuversichtlich. »Weil du mein Sohn bist, Bernhard. Du hast viele meiner Schwächen und Fehler, aber ein Feigling bist du nicht! Es mag schwer sein, aber du wirst dich mit ihr aussöhnen.«
Die Tür schloß sich hinter ihm, und ich war wieder allein.
Ich blickte auf das Fenster. Die frühe Dämmerung des Winters hatte den Tag bereits ausgelöscht. Es war noch gar nicht so lange her, daß ich sie - an einem Tag wie diesem - zum erstenmal gesehen hatte.
Irgendwie, in der Zeit zwischen damals und heute, würde ich die Antwort finden.
Während ich mich rasierte, beobachtete ich sie in der einen Ecke des Spiegels. Die Badezimmertür stand offen, ich konnte sie aufrecht im Bett sitzen sehen. Ihr rötlichbraunes Haar fiel über die schlanken weißen Schultern, die durch das Nachthemd schimmerten. Sie hat sich gut gehalten, dachte ich stolz. Niemand hätte vermutet, daß wir in etwa drei Wochen zwanzig Jahre verheiratet waren.
Zwanzig Jahre. Zwei Kinder - ein Junge von neunzehn und ein Mädchen von sechzehn -, und trotzdem sah sie noch wie ein junges Mädchen aus. Sie war schlank, zartgliedrig und trug immer noch die gleiche Größe achtunddreißig wie damals, als wir heirateten. Ihre grauen Augen waren genauso groß, strahlend und frisch wie einst, ihr Mund weich und voll. Er gefiel mir auch ohne Lippenstift. Er war warm, frisch und natürlich, ihr Kinn voll, vielleicht ein bißchen eckig.
Ich sah, wie sie aus dem Bett stieg und in ihren Morgenmantel schlüpfte. Ihre Figur war genau dieselbe geblieben, jung, gesund und aufregend. Ich beobachtete sie, wie sie aus dem Blickfeld des
Spiegels verschwand, und wandte mich dann wieder der ernsten Beschäftigung des Rasierens zu. Ich fuhr mit den Fingern über mein Kinn. Immer noch rauh. Jeden Morgen dasselbe. Ich mußte mich stets zweimal rasieren, bevor sich meine Haut glatt anfühlte. Ich griff wieder nach dem Rasierpinsel und begann, mein Gesicht von neuem einzuseifen. Plötzlich merkte ich, daß ich vor mich hinsummte.
Mit einiger Überraschung schaute ich mein Spiegelbild an. Denn gewöhnlich summe ich nicht beim Rasieren. In der Regel bin ich dabei alles andere als vergnügt, weil ich Rasieren hasse. Wenn es nach mir ginge, ließe ich mir einen schwarzen Vollbart stehen.
Marge lacht mich immer aus, wenn ich über das Rasieren jammere. »Warum suchst du dir keine Stellung, bei der du Gräben ausschachten kannst?« sagt sie dann stets. »Die Figur dazu hast du!«
Das Gesicht dazu hatte ich auch. Woran man mal wieder deutlich sieht, daß man einem Menschen nicht am Gesicht ansehen kann, was er von Beruf ist. Ich habe eines jener breiten grobschlächtigen Gesichter, die man eigentlich bei einem Holzfäller vermutet. Dabei kann ich mich nicht erinnern, wann ich das letztemal draußen gearbeitet habe. Ich mache keinen Finger krumm, um im Garten zu helfen.
Ich summte also leise vor mich hin und rasierte mich zum zweitenmal. Ich war glücklich - warum sollte ich das unterdrücken? Es ist doch großartig, wenn einem Mann das nach zwanzigjähriger Ehe passierte!
Ich rieb mein Gesicht mit etwas Rasierwasser ein, spülte den Apparat ab und kämmte mein Haar. Das war ein Pluspunkt für mich. Ich hatte immer noch einen ganz beachtlichen Haarwuchs, obwohl ich in den letzten fünf Jahren ziemlich grau geworden war.
Als ich ins Schlafzimmer zurückkam, war es leer. Aber Unterwäsche, Socken, ein sauberes Hemd, Krawatte und ein Anzug lagen ausgebreitet auf meinem Bett. Ich grinste vor mich hin. Marge ging im Hinblick auf meinen Geschmack kein Risiko ein. Ich war mehr für kräftige Farbzusammenstellungen. Aber sie meinte, das ließe sich nicht mit meiner Stellung vereinbaren, ich müsse seriös aussehen.
Das war nicht immer so, erst in den letzten acht oder neun Jahren. Vorher hätte ich eine Pferdedecke umhaben können, und kein Mensch hätte daran Anstoß genommen. Aber jetzt war ich kein simpler Presseagent mehr. Jetzt war ich Werbeberater mit einem Einkommen von dreißigtausend Dollar im Jahr anstelle von dreitausend und einem piekfeinen Büro in der Madison Avenue anstelle einer Küchentischbreite in einem Raum von der Größe einer Telefonzelle.
Als ich angezogen war und in den Spiegel schaute, mußte ich Marge recht geben. Der alte Knabe sah solid aus. Die Kleidung machte etwas aus mir. Sie milderte die Derbheit meines Gesichts, sie verhalf mir zu einem guten Eindruck und einem vertrauenswürdigen Ausdruck. Als ich ins Speisezimmer kam, saß Marge bereits am Frühstückstisch und las einen Brief. Ich ging zu ihr hinüber und küßte sie auf die Wange. »Morgen Kleines«, sagte ich.
»Morgen, Brad«, erwiderte sie, ohne von dem Brief aufzuschauen. Ich blickte über ihre Schulter. Eine vertraute Handschrift. »Brad?« fragte ich. Das bedeutete Brad Rowan junior. Er war das erste Jahr auf dem College und gerade lange genug fort, um nur noch einmal wöchentlich statt täglich zu schreiben. Sie nickte.
Ich setzte mich an meinen Platz. »Na, was schreibt er denn?« erkundigte ich mich und nahm mein Glas Orangensaft in die Hand. Ihre grauen Augen blickten mich über den Rand des Briefes hinweg klar an. »Er hat sein Examen mit durchschnittlich achtzig bestanden. Nur in Mathematik hatte er einige Schwierigkeiten.«
Ich grinste sie an. »Kein Grund zur Aufregung. Das hätte mir auch Kummer gemacht, wenn ich aufs College gegangen wäre.« Ich war gerade mit meinem Orangensaft fertig, als Sally, unser Mädchen, meine Eier mit Speck brachte.
Zwei Dinge mochte ich besonders gern. Eier zum Frühstück und am Morgen eine Dusche. Beides waren Genüsse, die ich als Kind nicht gekannt hatte. Wir hatten nie viel Geld. Mein alter Herr verdiente sich als Taxifahrer seinen Lebensunterhalt. Noch heute, trotz seiner vierundsechzig Jahre. Das einzige, was ich für ihn tun durfte, war: ihm ein eigenes Taxi kaufen. In vieler Hinsicht war er ein Kauz. Er wollte nicht zu uns ziehen, nachdem Mama gestorben war. »Würde mich nicht wohl fühlen, so weg von der Hochbahn an der Third Avenue.«
Es war aber auch noch etwas anderes. Er wollte nicht von Mama weg. In dieser langgestreckten Wohnung an der Bahn würde es immer etwas geben, was an sie erinnerte. Ich konnte es ihm nachfühlen, und so ließen wir es dabei bewenden.
»Was schreibt der Junge denn sonst noch?« fragte ich. Ich hatte mir aus irgendeinem Grund vorgestellt, daß Jungens im College in ihren Briefen nach Hause stets um Geld bitten würden. Insgeheim war ich direkt enttäuscht, daß Brad nie um irgendwelche Sonderzahlungen bat. Sie schaute beunruhigt aus, als sie mich jetzt ansah. Sie deutete mit dem Finger auf den Brief: »Hier unten schreibt er, daß er sich schon acht Tage lang, seit dem Examen, mit einer Erkältung herumplagt und daß er den Husten nicht los wird.« Ihre Stimme klang besorgt. Ich lächelte ihr zu. »Er kommt schon wieder in Ordnung«, versicherte ich ihr. »Schreib ihm, er soll zu einem Arzt gehen.«
»Das macht er ja doch nicht, Brad«, entgegnete sie. »Du weißt doch, wie er ist.«
»Sicher«, antwortete ich zwischen zwei Bissen. »So sind nun mal alle Jungens. Aber eine Erkältung ist wirklich eine Kleinigkeit. Die schüttelt er schon wieder ab. Er ist ja ein kräftiger Bursche.«
In diesem Augenblick kam Jeannie zum Frühstück. Wie üblich, war sie sehr in Eile. »Bist du schon fertig, Dad?« erkundigte sie sich.
Ich schaute sie lächelnd an. Das war meine Tochter! Sie war wie ihre Mutter, nur verwöhnt. »Na, wo brennt's denn? Ich muß noch meinen Kaffee trinken.«
»Aber dann komme ich doch zu spät zur Schule!« protestierte sie. Ich betrachtete sie liebevoll. Sie war maßlos verwöhnt. Und ich allein war schuld daran. »Die Omnibusse sind den ganzen Morgen lang gefahren«, sagte ich zu ihr. »Du hättest nicht auf mich zu warten brauchen.«
Sie legte ihre Hand auf meinen Arm und küßte mir die Wange. An so einem Kuß, den eine Sechzehnjährige ihrem Vater gibt, ist schon was dran.
»Ach, Daddy«, schmollte sie. »Du weißt doch, wie gern ich mit dir zur Schule fahre.«
Ich grinste, obwohl ich genau wußte, daß sie schwindelte. Ich kann's nicht ändern. Mir machte es Spaß. »Du wartest ja bloß auf mich, weil ich dich fahren lasse«, neckte ich sie.
»Vergiß nicht, daß ich dein neues Kabrio auch recht gern mag«, zahlte sie es mir heim, und ihre braunen Augen lachten. Ich blickte zu Marge hinüber. Ein stilles Lächeln lag um ihren Mund, während sie uns beobachtete. Sie wußte, wie es weitergehen würde.
»Was mache ich bloß mit diesem Mädchen?« stöhnte ich und tat völlig hilflos.
Sie antwortete immer noch lächelnd: »Zu spät, um das zu tun, was du längst hättest tun müssen! Jetzt nimmst du sie am besten mit.«
Ich leerte meine Kaffeetasse und stand auf: »Na schön«, sagte ich.
Jeannie grinste mich an: »Ich hol' dir Hut und Mantel, Dad.« Sie rannte in den Flur.
»Kommst du heute zeitig nach Hause, Brad?«
Ich drehte mich zu Marge um. »Weiß noch nicht«, antwortete ich. »Kann sein, daß ich mit Chris über dem Projekt für die Stahlfritzen festsitze. Aber ich tue mein möglichstes, darauf kannst du dich verlassen.«
Sie stand auf und kam um den Tisch herum auf mich zu. Ich beugte mich hinunter und küßte sie auf die Wange. Sie war weich und zart. Sie hielt mir ihre Lippen entgegen. Ich küßte sie. Es schmeckte gut.
»Arbeiten Sie nicht zu schwer, mein Herr.« Sie sah mich zärtlich an.
»Keine Bange, meine Dame«, sagte ich. Vor dem Haus ertönte die Hupe. Jeannie war mit dem Wagen bereits vorgefahren. Ich drehte mich um und ging auf den Ausgang zu. Plötzlich blieb ich stehen und schaute zurück. Sie lächelte mir nach.
Ich sah sie einen Augenblick lang an und lächelte dann: »Wissen Sie, gnädige Frau«, sagte ich rasch, »wenn ich zwanzig Jahre jünger wäre, würde ich Sie glatt heiraten!«
Als ich zum Auto hinunterging, spürte ich um mich herum, wie der Oktober mehr und mehr dahinschwand. Mir tat es richtig leid, wie er so erlosch. Denn es war meine Jahreszeit. Manche lieben das saftige Grün; ich würde mich jederzeit für das Rot, das Braun und das Gold des frühen Herbstes entscheiden. Die Farben bedeuteten mir etwas. Ich fühlte mich warm und munter - einfach prächtig. Ich hielt neben dem Wagen und starrte Jeannie an. Sie lächelte mir zu.
»Du willst doch nicht etwa offen fahren?« fragte ich sie und griff nach meinem Trenchcoat, der neben ihr auf dem Vordersitz lag.
Ich vollführte ein paar Schulterverrenkungen und schlüpfte hinein.
»Aber, Dad!« entgegnete sie rasch. »Was ist denn ein Kabrio, wenn du nicht das Dach runtermachst?«
»Liebes Kind«, protestierte ich und kletterte neben sie. »Wir haben Herbst, der Sommer ist vorbei.«
Sie schaltete, und bevor sie antwortete, waren wir bereits die Auffahrt hinunter. Ihr Tonfall klang jetzt nüchtern, in ihm lag die ganze geduldige Nachsicht der sehr Jungen gegenüber den sehr Alten.
»Sei nicht so zimperlich, Dad«, sagte sie klar und unmißverständlich.
Ich lächelte leise vor mich hin und schaute dann zu ihr hinüber. Sie fuhr mit der ihr eigentümlichen, drolligen Aufmerksamkeit. Als sie in die Straße einbog, kam ihre rosa Zungenspitze zwischen den Lippen zum Vorschein. Das tat sie immer, es mußte wohl an der Kurve liegen. Sie drückte das Gaspedal runter, ich merkte, wie der Wagen schneller wurde. Ich warf einen Blick auf den Tacho. Wir fuhren auf diesem kurzen Stück bereits neunzig, und die Tachonadel stieg noch weiter. »Rase nicht so, Liebling«, warnte ich sie. Ihr kurzer Blick war vielsagend genug. Ich begann mich direkt alt zu fühlen. Ich schwieg schuldbewußt und starrte geradeaus auf die Straße. Nach ein paar Minuten fühlte ich mich schon besser. Sie hatte recht. Was für einen Sinn hatte ein Kabrio, wenn man nicht das Dach runtermachte. Es war schon was dran, im Herbst offen über die Landstraße zu brausen: über sich der freie Himmel und ringsumher die leuchtenden Farben.
Ihre Frage überraschte mich: »Was schenkst du Mutter zum Hochzeitstag, Dad?«
Ich schaute sie an. Ihre Augen waren auf die Straße gerichtet. Ich stolperte über meine Antwort. Ich hatte noch nicht darüber nachgedacht. »Ich weiß nicht«, gestand ich.
Sie warf mir einen kurzen Blick zu: »Solltest du dich nicht bald entschließen?« sagte sie in diesem praktischen Ton, den Frauen
immer an sich haben, wenn sie über Geschenke reden. »Es sind nur noch drei Wochen.«
»Jaja«, murmelte ich, »ich sollte mal darüber nachdenken.« Mir kam eine Idee. »Vielleicht kannst du mir sagen, was sie gern hätte?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich nicht. Darüber zerbrich du dir mal den Kopf. Ich war ja nur gespannt.«
»Gespannt worauf?« Ich wurde neugierig, was wohl in ihrem hübschen, kleinen Kopf vorging.
Sie brachte den Wagen an einer Verkehrsampel zum Halten und schaute mich an. »Nur so«, lächelte sie mir zu. »Ich war nur neugierig, ob du auch diesmal wieder mit dem üblichen Blumenstrauß in letzter Minute ankommen würdest.«
Ich merkte wie ich rot anlief. Ich hatte nicht damit gerechnet, daß diese jungen Augen so viel sehen würden. »Ich weiß nie so recht, was ich ihr schenken soll.«
Sie blickte mich an. »Du hast keine Phantasie, Dad.«
Allmählich wurde ich ärgerlich. »Moment mal, Jeannie«, sagte ich. »Ich bin ein ziemlich vielbeschäftigter Mann und kann nicht an alles denken. Außerdem hat deine Mutter alles, was sie braucht. Was soll ich ihr also sonst noch kaufen?«
Sie fuhr wieder an. »Gewiß«, antwortete sie trocken. »Sie hat alles, was sie braucht. Einen neuen Kühlschrank, einen Herd, eine Waschmaschine ...« Ihr Blick kehrte wieder zu mir zurück. »Hast du jemals daran gedacht, ihr etwas ganz Persönliches zu schenken? Was vielleicht nicht so schrecklich praktisch ist, woran sie aber einfach Freude hätte?«
Langsam wurde ich verzweifelt. Sie hatte etwas auf Lager. »Was zum Beispiel?«
»Einen Nerzmantel zum Beispiel«, antwortete sie rasch und starrte auf die Straße.
Überrascht blickte ich sie an. »Das wünscht sie sich?« fragte ich beinahe ungläubig. »Sie hat mir immer gesagt, sie wolle keinen
Nerzmantel.«
»Daddy, du bist wirklich naiv! Die Frau möchte ich sehen, die nicht gern einen Nerzmantel hätte, egal, was sie auch behauptet.« Sie lachte. »Also wirklich. Ich weiß nicht, was Mom an dir gefunden hat. Du bist kein bißchen romantisch.«
Jetzt mußte ich selbst lachen. Fast hätte ich sie gefragt, ob sie etwa noch an den Klapperstorch glaube. Aber so kann man mit einer Sechzehnjährigen nicht mehr reden, die über alles Bescheid weiß - auch wenn es die eigene Tochter ist. Ich sprach jetzt ganz
ernsthaft mit ihr. »Du meinst also, ich sollte ihr wirklich einen
Nerzmantel schenken?«
Sie nickte und hielt vor der Schule.
»Na gut, dann mach ich's!« antwortete ich.
»Du bist in Wirklichkeit gar nicht so übel, Dad«, behauptete sie und lehnte sich gegen die Tür des Wagens.
Ich rutschte ans Steuer hinüber und beugte mich dicht zu ihr. »Vielen Dank auch«, sagte ich feierlich.
Sie gab mir rasch einen Kuß.
Gegen elf Uhr war ich im Büro. Ich war bester Laune. Don hatte mir versprochen, für Marge etwas ganz Besonderes anzufertigen. Er besaß noch ihre Maße von dem Persianer, den sie sich im letzten Sommer hatte machen lassen. Ich war überzeugt, daß er sein Bestes tun würde. Das wollte ich ihm auch geraten haben. Schließlich schüttelte man sechstausendfünfhundert Dollar nicht so einfach vom Baum runter.
Mickey blickte auf, als ich hereinkam. »Wo haben Sie denn gesteckt, Chef?« erkundigte sie sich und nahm mir Hut und Mantel ab. »Paul Remey hat schon den ganzen Morgen aus Washington angerufen.«
»Einkaufen«, erklärte ich ihr und ging in mein Büro. Sie folgte
mir. Ich drehte mich um. »Was wollte er denn?«
»Das hat er nicht gesagt. Nur - daß er Sie sofort sprechen müßte.«
»Na, dann rufen Sie gleich zurück«, ordnete ich an und setzte mich an meinen Schreibtisch. Die Tür schloß sich hinter ihr, und ich fragte mich, was Paul wohl auf dem Herzen haben könnte. Ich hoffte nur, daß alles in Ordnung war. Bei einem Regierungsposten konnte man nie sicher sein, egal wie begabt man auch war - selbst als persönlicher Assistent des Präsidenten nicht, wie Paul es war.
Ich mochte ihn wirklich gern. Wenn es ihn nicht gegeben hätte, wäre ich niemals so weit gekommen, wie ich heute war. In gewisser Hinsicht war es sein Verdienst, und es reichte weit zurück, bis in die ersten Kriegstage.
Mit Entschiedenheit war ich damals von allen Waffengattungen abgewiesen worden, bis ich schließlich bei der Propagandaabteilung im Überwachungsamt für Kriegsproduktion landete. Da traf ich zum erstenmal mit Paul zusammen. Er leitete eine Abteilung, die vor allem für den Ausbau der Schrottverwertungskampagne verantwortlich war. Ich wurde damals seinem Büro zugeteilt.
Und wie's halt manchmal so geht: wir waren zwei Menschen, die sich auf Anhieb sympathisch fanden. Er war drüben im Westen ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann gewesen, hatte seinen ganzen Laden verkauft und war nach Washington gekommen, um sich der Regierung zur Verfügung zu stellen. Ich hatte für eine Filmgesellschaft gearbeitet und war nach Washington gekommen, weil es hieß, die Erwerbsmöglichkeiten wären dort gut, und weil mich meine bisherige Firma gerade rausgeworfen hatte. Er leistete eine Mordsarbeit, und denselben Eindruck hatte er auch von mir. Als der Krieg zu Ende war, rief er mich in sein Büro: »Was wirst du denn jetzt anfangen, Brad?«
Ich erinnere mich noch, wie ich mit den Achseln zuckte: »Mich vermutlich nach einem Posten umschauen.« »Hast du jemals daran gedacht, dich selbständig zu machen?« fragte er.
Ich zuckte wieder mit den Achseln. »So was ist eine große Sache. Das kann ich mir nicht leisten. Dazu habe ich nicht das Geld.«
»Das meine ich auch nicht«, erklärte er. »Ich meine in der Werbung. Ich kenne da einige Geschäftsleute, die an dieser Art von Hilfe, wie du sie ihnen geben könntest, unter Umständen interessiert wären. Für den Anfang brauchst du nichts weiter als ein kleines Büro.«
Ich hatte ihn über den Schreibtisch hinweg angestarrt. »Das ist das Luftschloß jedes Presseagenten«, sagte ich und zog mir einen Stuhl heran. »Aber erzähl mir mehr darüber. Sprich dich ruhig aus.«
Das war der Anfang. Es begann mit einem Einzimmerbüro und Mickey als Sekretärin; und daraus entstanden die ausgedehnten Büroräume, in denen jetzt fünfundzwanzig Angestellte saßen. Paul hatte viele Freunde, und diese Freunde hatten wieder Freunde.
Das Telefon summte, ich nahm den Hörer ab. Mickeys Stimme klang an mein Ohr. »Mr. Remey ist am Apparat, Brad.«
Ich drückte den Knopf runter: »Hallo, Paul«, rief ich, »wie stehen die Aktien?«
Paul gluckste stillvergnügt vor sich hin und gab es mir zurück. »Sie werden nicht mehr steigen.«
»Lassen Sie noch nicht alle Hoffnung fahren, Chef«, sprach ich ihm Mut zu. »Man kann nie wissen.«
Er lachte wieder, aber dann fuhr er ernsthaft fort: »Ich wollte dich fragen, ob du mir einen Gefallen tun kannst, Brad?«
»Jederzeit, Paul«, antwortete ich. »Worum geht's?«
»Es dreht sich mal wieder um eine von Ediths Wohltätigkeitsveranstaltungen«, sagte er. Edith war seine Frau. Eine reizende Person, aber sie hatte an dem Washingtoner Rummel Geschmack gefunden und nahm diese Betriebsamkeit ein bißchen zu wichtig. Ich war ihr schon früher manchmal behilflich gewesen. Das gehörte zu den
Dingen, die man einfach tun mußte; und solang es für Paul war, machte es mir auch nichts aus.
»Selbstverständlich, Paul«, sagte ich rasch. »Sehr gern. Schieß los!«
»Viel weiß ich auch nicht, Brad«, antwortete er. »Edith hat mir nur aufgetragen, dich ganz bestimmt anzurufen und dir zu sagen, daß eine Mrs. Hortense E. Schuyler heute nachmittag bei dir vorbeikommen und dir alles Nähere erzählen wird.«
»Geht in Ordnung, Paul«, sagte ich und schrieb mir den Namen auf einen Zettel. »Ich werd' mich drum kümmern.«
»Und Brad«, fügte Paul noch hinzu, »Edith bat mich noch ausdrücklich, dir zu sagen, du möchtest besonders nett zu dem Mädchen sein. Sie sagte, es läge ihr sehr viel daran.«
Mir machte es immer Spaß, wie Edith die Bezeichnung >Mäd-chen< gebrauchte. Edith war Mitte fünfzig, und alle ihre Freundinnen waren für sie >Mädchen<.
»Sag Edith, sie kann ganz beruhigt sein«, versicherte ich Paul, »die Dame wird bei mir Vorzugsbehandlung genießen.«
Er lachte. »Vielen Dank, Brad. Du weißt ja, was diese Dinge Edith bedeuten.«
»Ich weiß«, antwortete ich. »Du kannst dich auf mich verlassen.«
Wir tauschten noch ein paar Worte miteinander, dann legte ich auf und schaute auf den Notizzettel. Hortense E. Schuyler. Alle diese Damen aus Washington hatten ähnlich klingende Namen. Und danach sahen sie dann auch aus. Ich drückte auf den Knopf.
Mickey kam herein, Block und Bleistift in der Hand.
»Jetzt ran an die Arbeit«, befahl ich. »Sie haben heute morgen hier schon genug Zeit verbummelt.«
Ungefähr um halb fünf Uhr nachmittags, als ich mit Chris gerade über der Kostenaufstellung für die Werbung des Verbands der Stahlindustrie brütete, rief mich der Summer der Sprechanlage von der Wandtafel weg. Rasch ging ich zu meinem Schreibtisch hinüber und kippte den Schalter um.
»Keine Anrufe, Mickey!« fauchte ich ärgerlich. »Das habe ich Ihnen doch schon vorhin gesagt.« Ich schaltete wieder ab und kehrte an die Tafel zurück. »So, jetzt geben Sie mir mal die Zahlen, Chris.«
Seine fahlen blauen Augen glänzten hinter der Nickelbrille. Er sah direkt glücklich aus. Wenn er von Geld sprechen konnte, sah er immer zufrieden aus. »Einmal wöchentlich in vierhundert Zeitungen«, erläuterte er mit seiner dünnen, näselnden Stimme, »das macht fünfhundertfünfzehntausend Dollar. Unsere fünfzehnprozentige Kapitaleinlage dabei beträgt siebenundsiebzigtausend Dollar. Künstlerische Gestaltung, Abzüge und Aufmachung belaufen sich wöchentlich auf tausend Dollar, das heißt im Jahr zweiundfünfzig-tausend Dollar.«
»Großartig, großartig«, unterbrach ich ihn ungeduldig. »Aber können wir uns das auch leisten? Ich will nicht wieder in der Klemme sitzen - so wie letztes Jahr bei dem Mason-Projekt.«
Er schaute mich ruhig an. Ich hatte damals einen Auftrag über fünfunddreißigtausend angenommen, der uns hernach in der Ausführung sechzigtausend Dollar gekostet hatte. Er lächelte kühl. »Dafür bezahlen Sie mich ja schließlich«, meinte er, »damit Sie nicht wieder so einen Fehler begehen.«
Ich nickte. »Wieviel also?«
»Das kostet Sie wöchentlich vierhundert Dollar«, antwortete er.
»Dabei haben wir immer noch hundertachtzigtausend Dollar Überschuß.«
Ich lächelte ihn an. »Gut so!« sagte ich und klopfte ihm auf die Schulter. »Jetzt lassen Sie uns noch einen Blick auf die Werbetexte werfen.«
Er rang sich die Spur eines Lächelns ab, bevor er sich wieder der Tafel zuwandte, auf der die erste Serie von Anzeigenentwürfen montiert war.
Ich hörte, wie die Tür hinter uns geöffnet wurde. Ich drehte mich um. Mickey kam auf mich zu. »Habe ich nicht gesagt, daß ich nicht gestört werden will!« fuhr ich sie an.
»Mrs. Schuyler ist da, um Sie zu sprechen«, sagte sie ruhig und achtete überhaupt nicht auf meine schlechte Laune. Ich schaute sie verwirrt an.
»Mrs. Schuyler? Wer zum Teufel ist denn das?«
Mickey schaute auf eine schmale Visitenkarte, die sie in der Hand hielt. »Mrs. Hortense E. Schuyler«, las sie. Sie streckte mir die Karte entgegen. »Sie sagt, sie hätte mit Ihnen eine Verabredung.«
Ich nahm ihr die Karte ab und schaute sie mir an. Nur der Name, in einfachen Buchstaben. Er sagte mir gar nichts. Ich gab sie ihr zurück. »Ich kann mich an keine Verabredung erinnern«, sagte ich. »Ich habe mir extra den ganzen Nachmittag freigehalten, um mit Chris dieses Projekt hier zu Ende zu bringen.«
Ein eigenartiger Ausdruck lag in Mickeys Blick, als sie mir die Karte wieder abnahm. »Was soll ich ihr sagen?« erkundigte sie sich.
Ich zuckte mit den Achseln. »Sagen Sie ihr irgend etwas. Ich sei verreist oder in einer Konferenz oder sonst was. Damit wir sie loswerden. Ich will jetzt das hier erst fertigmachen.« Und schon hatte ich mich wieder der Tafel zugewandt.
Mickeys Stimme klang über meine Schulter. »Sie sagt, sie hätte volles Verständnis, wenn Sie keine Zeit für sie haben, nachdem sie so kurzfristig angemeldet worden sei. Aber sie wird morgen nach-mittag in Washington zurückerwartet. Sie möchten ihr doch sagen, wann es Ihnen zu einem späteren Zeitpunkt paßt.«
Jetzt fiel der Groschen! Nun erinnerte ich mich: das war doch eine von Edith Remeys >Mädchen<. Rasch drehte ich mich um.
»Warum haben Sie denn das nicht gleich gesagt?« fragte ich sie. »Deshalb hat mich Paul ja heute morgen angerufen. Ich muß mit ihr sprechen.« Ich dachte nach. »Sie möchte sich einen Moment gedulden. Sagen Sie ihr, wie sehr ich diese Verzögerung bedaure. Ich rufe zurück, sobald wir hier fertig sind.«
Der eigenartige Ausdruck in Mickeys Blick verschwand, sie sah erleichtert aus. »In Ordnung, Chef«, antwortete sie munter.
Ich schaute Chris an. »Ja, das war's für heute«, sagte ich ärgerlich.
»Da bleibt Ihnen aber nicht viel Zeit«, entgegnete er. »Um zwei Uhr sollen Sie Matt Brady und den Vorstand treffen, und bis dahin müssen Sie den ganzen Plan ja beinahe auswendig können!«
Ich kehrte an meinen Schreibtisch zurück. »Ich kann es nicht ändern, Chris«, sagte ich. »Wenn ich steckenbleibe, muß ich eben improvisieren; das habe ich schon öfter gemacht.«
Er stand vor dem Schreibtisch und schaute mich mißbilligend an.
»Das sind immerhin gewitzte Burschen!«
Ich setzte mich. »Machen Sie sich keine Sorgen, Chris«, beruhigte ich ihn. »Es sind auch nur Menschen, oder nicht? Genau wie wir. Die mögen auch gern Geld, Frauen und Schnaps und tragen Kleider und keine Flügel. Wir werden sie schon kriegen, genau wie alle anderen. Jeder Mensch kann gewonnen werden, wenn man erst mal weiß, worauf er hinaus will. Und wenn wir das herausbekommen, kriegen wir auch den Auftrag. Einfache Sache.«
Er schüttelte den Kopf, während ich auf den Knopf der Sprechanlage drückte. Ich lachte vor mich hin. Armer, alter Chris! Er lebt immer noch in einer altmodischen Welt, wo es nur ums Geschäft und um sonst gar nichts ging. Ich erinnerte mich noch, als er zum erstenmal hörte, daß ich für einen Kunden eine >Dame< besorgte.
Er lief so rot an, daß ich Angst hatte, es würde auf seinen weißen, steifen Kragen abfärben.
»Also los, Mickey. Schicken Sie die alte Schachtel rein«, rief ich in die Sprechanlage.
Ich hörte durch den Lautsprecher, wie sie überrascht die Luft anhielt. »Was haben Sie gesagt, Brad?« hallte ihre Stimme an mein Ohr.
»Ich sagte: Schicken Sie die alte Schachtel rein. Was ist denn heute nachmittag los mit Ihnen? Sind sie taub oder was?«
Ihr Flüstern wurde zu einem Kichern: »Haben Sie sie denn schon jemals gesehen?«
»Nein«, fuhr ich sie an, »und ich hoffe auch, sie nach dem heutigen Tag nicht noch einmal sehen zu müssen!«
Jetzt lachte sie richtig. »Zehn zu eins, daß Sie Ihre Meinung ändern! Wenn nicht, dann muß ich Ihnen das nächstemal allerdings wohl glauben, daß das Kapital Frauen für Sie abgeschlossen ist.«
Der Lautsprecher knackte. Ich schaute zu Chris hinüber. »Sie ist völlig übergeschnappt!«
Er lächelte traurig und ging auf die Tür zu. Bevor er sie erreichte, wurde sie von der anderen Seite geöffnet. Er trat rasch zur Seite, damit er nicht im Weg war.
Ich erhob mich langsam, als Mickey zur Tür hereinkam. Chris starrte an ihr vorbei in das angrenzende Büro. Sein Gesicht zeigte einen Ausdruck, den ich bei ihm noch nie gesehen hatte.
Dann kam sie herein, und ich wußte, was der Ausdruck auf seinem Gesicht bedeutete. Schließlich flossen keine Dollarscheine durch seine Adern.
Meine Miene muß wahrhaftig den Preis des Eingeständnisses wert gewesen sein, denn Mickey lachte, als sie die Tür hinter sich und Chris schloß. Ich merkte, wie ich unsicher um meinen Schreibtisch herum und auf sie zuging. »Mrs. Schuyler«, sagte ich und streckte ihr meine Hand entgegen, »ich bin Brad Rowan.«
Sie lächelte zurück und ergriff meine Hand. »Ich freue mich. Sie kennenzulernen, Mr. Rowan«, antwortete sie leise. »Edith hat mir schon so viel von Ihnen erzählt.« Ihre Stimme klang, als ob im Büro plötzlich Glocken läuteten.
Ich schaute sie an. Ich hatte schon früher Frauen gesehen. Viele. Als ich damals für die Filmgesellschaft arbeitete, hatte ich die schönsten Frauen der Welt um mich. Das war mein Beruf. Sie beunruhigten mich nicht. Aber diese hier war etwas Besonderes. Sie war Klasse: wie die Königin auf dem Schachbrett, das goldene Vorbild, die weiße Orchidee im Fenster eines Blumenladens, Musik von Rodgers und Hammerstein, die träge Sonne an einem Sommermorgen, die grüne, freundliche Erde, Ruby-Portwein nach dem Essen, ein Liebeslied von Billy Eckstine.
Ihr Haar hatte einen vollen, warmen braunen Ton. Vorn war es kurz geschnitten, hinten reichte es ihr fast bis auf die Schultern. Ihre Augen waren dunkelblau, beinahe lila, mit so großen schwarzen Pupillen, daß man fast hineintauchen konnte. Ihr Gesicht war nicht ganz rund, mit hohen Backenknochen, ihr Mund war weich und voll. Ihr Kinn war nicht ganz gerade, ihre Nase kaum gebogen. Ihre Zähne strahlten weiß und ebenmäßig, kein Verdienst des Zahnarztes, sondern der Natur.
Ich holte tief Luft und zog meinen Bauch ein. Plötzlich wünschte ich, ich hätte im letzten Sommer ein bißchen eifriger Tennis oder Golf gespielt, so daß mich der leichte Bauch, den ich in letzter Zeit angesetzt hatte, jetzt nicht irritieren würde.
»Sagen Sie Brad«, lächelte ich und holte einen Stuhl für sie herbei. »Bitte, nehmen Sie Platz.«
Sie setzte sich, und ich ging, noch immer halb benommen, an meinen Schreibtisch zurück, um mein Gleichgewicht wiederzufinden. Ich blickte zu ihr hinüber. Sie zog ihre Handschuhe aus. Ich sah ihre weißen, schlanken, schmalgliedrigen Hände. Ihre Fingernägel waren korallenrot lackiert. An ihrer linken Hand trug sie einen großen hellen Diamantring, das war ihr ganzer Schmuck.
»Paul hat Sie bereits angekündigt«, begann ich unbeholfen. »Aber ich hatte Sie noch nicht so bald erwartet. Was kann ich für Sie tun, Mrs. Schuyler?«
Sie lächelte wieder. Es schien, als ob kein anderes Licht mehr im Raum vorhanden wäre. »Sagen Sie Elaine«, entgegnete sie.
»Elaine«, sprach ich ihr nach, genauso wie sie es betont hatte.
»Hortense konnte ich nie leiden«, lachte sie. Ihre Stimme klang leicht vertraulich. »Das habe ich meiner Mutter nie verziehen.«
Ich grinste. »Ich weiß genau, was Sie meinen. Ich wurde von meinen Eltern Bernhard getauft. Alle Welt nannte mich Bernie.«
Sie nahm eine Zigarette aus ihrem goldenen Etui. Ich brach mir fast das Genick bei dem Versuch, möglichst rasch um den Schreibtisch herumzukommen und ihr Feuer zu geben. Sie machte einen kräftigen Zug und stieß den Rauch langsam wieder aus.
Ich ging zu meinem Stuhl zurück und setzte mich. Ich stritt immer noch mit mir selbst herum. Ich konnte es nicht begreifen. Mit großen Augen schaute sie mich an. »Edith riet mir, Sie aufzusuchen, weil« - sie lachte freundlich - »Sie der einzige Mensch auf der Welt wären, der mir helfen könnte.«
Ich lachte mit ihr. Allmählich fühlte ich mich wohler. Ich hatte mich wieder unter Kontrolle. Ich hatte wieder Grund unter den Füßen. Die alte Form. Ich sah sie wieder an. Ich glaube, es hatte mich deshalb so erwischt, weil ich jemand völlig anderen erwartet hatte. Ich hätte nie geglaubt, daß Ediths >Mädchen< etwas anderes als der Abklatsch ihrer selbst sein könnten.
»Wie?« erkundigte ich mich.
»Man hat mich zur Präsidentin unserer örtlichen Kommission für die Kinderlähmungskampagne gewählt. Ich dachte, Sie könnten mir bei der Planung einer solchen Aktion behilflich sein, damit auch wirklich etwas dabei herauskommt.« Sie schaute mich erwartungsvoll an.
Ich fühlte einen bitteren Zynismus in mir aufsteigen. Sie war eben doch eine von Ediths >Mädchen<, egal, wie sie aussah. Das einzig Wichtige bei der ganzen Sache war für sie, möglichst groß in der Presse herauszukommen - als Entschädigung für ihre Bemühungen. Ich war enttäuscht.
Ich wußte eigentlich nicht, warum. Aber trotzdem. Diese Damen der guten Gesellschaft waren doch alle gleich. Klasse oder nicht Klasse, sie waren alle durch die Bank reklamesüchtig, auf der Jagd nach möglichst fetten Artikeln über sie selbst. Ich stand auf.
»Ich werden Ihnen selbstverständlich gern behilflich sein, Mrs. Schuyler«, erklärte ich brüsk. »Hinterlassen Sie doch bitte Ihren Namen und Ihre Adresse bei meiner Sekretärin. Halten Sie uns auf dem laufenden über alle Unternehmungen Ihrer Organisation, und natürlich auch über Ihre persönliche Aktivität. Wir werden dafür sorgen, daß Sie die entsprechende Reklame und Berichterstattung darüber bekommen.«
Sie starrte mich überrascht an. Bestürzung lag in ihren Augen, daß unser Gespräch ein so abruptes Ende gefunden hatte.
Ihre Stimme klang ungläubig: »Ist das alles, was Sie in dieser Hinsicht tun können, Mr. Rowan?«
Ich schaute sie nun gleichfalls verwirrt an. Ich hatte alle diese Heuchlerinnen so satt, die in Nerzmänteln in irgendwelchen Versammlungen beisammensaßen! »Entspricht das denn nicht Ihren Wünschen, Mrs. Schuyler?« fragte ich boshaft. »Schließlich können wir Ihnen ja keine schriftliche Garantie dafür geben, wieviel Platz wir für Sie in der Presse herausschlagen können. Aber Sie werden schon auf Ihre Kosten kommen. Das ist doch der Grund, warum Sie mitmachen - oder nicht?«
Plötzlich schloß sie den Mund. Ihre Augen blickten dunkel und kalt. Schweigend stand sie auf und drückte ihre Zigarette in den Aschenbecher neben ihrem Stuhl aus. Sie nahm ihre Handtasche auf, und als sie sich zu mir drehte, war ihr Gesichtsausdruck genauso finster und abweisend wie ihre Augen. Der Ton ihrer Stimme übertraf sogar den meinen.
»Sie haben mich mißverstanden, Mr. Rowan. Ich habe keine persönliche Reklame beabsichtigt. Davon habe ich mehr als genug gehabt. Der einzige Grund, warum ich zu Ihnen gekommen bin, war der, den Plan für eine Kinderlähmungsaktion im nächsten Jahr auszuarbeiten. Ich habe diese Aufgabe nur deshalb übernommen, weil ich weiß, was es heißt, jemanden durch diese furchtbare Krankheit zu verlieren. Ich wünsche keiner anderen Frau oder Mutter, daß sie jemals das durchmachen muß, was ich hinter mir habe.«
Sie drehte sich um und ging zur Tür.
Ich schaute ihr einen Moment verwirrt nach. Dann, als ich flüchtig ihr Profil sah, weiß vor Zorn, wurde mir plötzlich alles klar. Ich erinnerte mich und nannte ihren Namen: »Mrs. David E. Schuyler!« Jetzt fiel mir die ganze Geschichte wieder ein. Im stillen verwünschte ich mich. Die Zeitungen waren im vergangenen Jahr voll von ihr gewesen: wie sie ihre Zwillinge und ihren Mann durch Kinderlähmung verloren hatte. Ich fing sie an der Tür ab, bevor sie die Hand auf die Klinke legte. Ich lehnte mich dagegen und versperrte ihr den Weg. Sie schaute zu mir auf, Tränen des Zorns standen in ihren Augen.
»Mrs. Schuyler«, sagte ich reumütig, »können Sie einem blöden Dummkopf aus der Third Avenue, der sich für wunder wie gescheit hält, noch einmal verzeihen? Ich schäme mich entsetzlich!«
Einen Augenblick schaute sie mir fest in die Augen, dann holte sie tief Atem und kehrte schweigend an ihren Platz zurück. Sie nahm ihr Zigarettenetui heraus und öffnete es. Ihre Finger zitterten, als sie die Zigarette in den Mund steckte. Ich gab ihr Feuer.
»Es tut mir schrecklich leid«, sagte ich, als die Flamme ihr Gesicht golden überstrahlte. »Ich glaubte, Sie wären auch eine von diesen Frauen, denen es dabei nur um die Reklame geht.«
Sie schaute mich immer noch an, und der Rauch zog bläulich an ihrem Gesicht vorbei. Plötzlich sah ich nur noch ihre dunkelblauen Augen und verlor mich in ihrem wirbelnden Schmerz.
Ihre Stimme klang sehr ruhig und sanft. »Wenn Sie mir wirklich helfen wollen, Brad, dann will ich Ihnen verzeihen.«
Das Telefon schnarrte. Es war Chris. »Der Rechnungsprüfer hat gerade den Reingewinn vom letzten Monat ermittelt«, sagte er.
Ich schaute zu Elaine hinüber. »Entschuldigen Sie mich bitte einen Moment«, lächelte ich, »geschäftlich.«
»Aber selbstverständlich«, nickte sie.
»Na, dann schießen Sie los«, forderte ich ihn auf.
»Gewinn vor Abzug der Steuern einundzwanzigtausend, nach Abzug der Steuern neuntausend«, leierte er mit seiner langweiligen, trockenen Stimme runter.
»Gut«, sagte ich, »weiter.«
»Haben Sie denn Zeit?« fragte er mit leisem Sarkasmus.
»Ich habe Zeit«, antwortete ich kühl.
Er fing an, aus der Bilanzaufstellung eine Kette von Zahlen herunterzurasseln. Ich hörte gar nicht zu. Ich beobachtete sie.
Sie war aufgestanden und zur Wandtafel hinübergegangen, wo sie die Entwürfe für die Stahlaktion betrachtete. Mir gefielen ihre Bewegungen, ihre Haltung; wie sie den Kopf auf die Seite legte, um eine Zeichnung zu studieren. Sie mußte meinen Blick im Rücken gespürt haben, denn plötzlich drehte sie sich um und lächelte. Ich erwiderte ihr Lächeln. Sie kehrte zum Schreibtisch zurück und setzte sich hin.
Endlich war Chris fertig, und ich legte den Hörer auf. »Entschuldigen Sie bitte.«
»Sie müssen sich nicht entschuldigen«, bemerkte sie, »ich verstehe das.« Sie wies auf die Zeichnungen an der Tafel. »Das sind ja ziemlich ungewöhnliche Anzeigen. Eigentlich sagen sie nichts Spezifisches aus. Sie weisen lediglich auf die Funktion des Stahls hin.«
»Das ist auch beabsichtigt«, erklärte ich. »Es ist der Teil einer Sonderaktion, die wir für den Verband der Amerikanischen Stahlindustrie vorbereitet haben.«
»Oh, Sie meinen, für die große Werbekampagne des Verbands?« rief sie aus.
»Sie wissen davon?«
»Die letzten zwei Wochen habe ich nichts anderes zu hören bekommen«, sagte sie. Verwirrt schaute ich sie an, und sie begann zu erklären: »Mein Onkel, Matthew Brady, ist Präsident von Consolidated Steel. Ich war gerade zwei Wochen zu Besuch bei ihm.«
Ich pfiff durch die Zähne. Matt Brady war einer der letzten Stahlbosse vom alten Schlag. Durch und durch ein Pirat. Scharf, eiskalt und rücksichtslos. Ich hatte mir sagen lassen, daß er die Nuß wäre, die wir knacken müßten, wenn wir etwas erreichen wollten. Er war der Bursche, vor dem Chris solche Angst hatte.
Sie fing an zu lachen: »Sie schauen mit einemmal so vergnügt drein. An was denken Sie?«
Ich suchte ihren Blick und kam zu der Überzeugung, daß sie eine Frau war, der man reinen Wein einschenken mußte. »Ich habe gerade daran gedacht, daß mich ein gütiger Geist beschützt haben muß. Beinahe hätte ich Sie aus meinem Büro hinausgeworfen. Wo Matt Brady Ihr Onkel ist! Das hätte das Ende meines Vorstoßes ins Stahlgeschäft bedeutet.«
»Glauben Sie, das wäre für mich von irgendwelcher Bedeutung gewesen?« fragte sie, und das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht.
Ich schüttelte den Kopf. »Nicht für Sie. Aber für mich schon, wenn ich ihr Onkel wäre. Wenn ich Matt Brady wäre, dann sollte sich nur einer getrauen, Sie schlecht zu behandeln!«
Das Lächeln kehrte in ihre Augen zurück. »Dann kennen Sie meinen Onkel nicht«, antwortete sie. »Wenn es ums Geschäft geht, sind ihm verwandtschaftliche Beziehungen völlig egal.«
»Davon habe ich gehört«, sagte ich. Ich hatte noch Schlimmeres erfahren, doch davon sagte ich ihr nichts.
»Aber er ist reizend, und ich mag ihn sehr gern«, fügte sie rasch hinzu.
Ich schmunzelte vor mich hin. Etwas schwierig, sich das vorzustellen: Matt Brady als reizender Mensch. Matt Brady, der bei der letzten Wirtschaftskrise alle kleinen Stahlgesellschaften an die Wand gedrückt und dann für einen Pappenstiel aufgekauft hatte. Gott allein weiß, wie viele Menschen er mit dieser simplen Manipulation zugrunde gerichtet hatte!
Ich schaute auf meine Notizen. »Genug davon«, erklärte ich. »Um auf unsere augenblicklichen Probleme zurückzukommen: die Schwierigkeit bei all diesen Unternehmungen ist die, daß die Leute die Nase voll haben von schicksalsschweren Geschichten, sie wollen das einfach nicht mehr hören. Aber dagegen kämen wir schon an - wenn Sie den nötigen Mut haben.«
Ihr Mund wurde schmal. »Ich werde alles tun, um zu helfen.«
»Gut«, sagte ich. »Dann werden wir für Sie einen ganzen Schwung von Zeitungs-, Radio- und Fernsehinterviews arrangieren. Sie erzählen denen dann Ihre eigene Geschichte. Einfach. Menschlich.«
Ein Schatten fiel auf ihre Augen. Noch nie hatte ich ein so schmerzvolles Gesicht gesehen. Impulsiv griff ich nach ihrer Hand. Sie lag ruhig und kühl in der meinen. »Sie müssen nicht«, sagte ich rasch, um sie von dem Schmerz zu befreien. »Es gibt auch noch andere Wege. Wir werden schon was finden.«
Ruhig zog sie ihre Hand wieder zurück und legte sie in den
Schoß. Ihr Blick war fest. »Wir werden es so machen«, sagte sie. »Sie haben recht. Das ist die beste Methode.«
Sie hatte Mut, wirklich Mut. Matt Brady brauchte sich seiner Nichte nicht zu schämen. »Tapferes Mädchen«, sagte ich.
Die Sprechanlage summte, und ich schnippte den Hebel um. »Ja?«
Mickeys Stimme ertönte, flach und metallen. »Es ist halb sieben, Chef, und ich habe heute abend eine Verabredung; eine wichtige. Muß ich noch dableiben?«
Ich schaute auf meine Uhr und fluchte. Ich hatte gar nicht bemerkt, daß es schon so spät war. »Nein, gehen Sie nur, Mickey«, sagte ich zu ihr, »ich räume schon alles zusammen.«
»Vielen Dank, Chef«, klang ihre Stimme zurück. »Legen Sie die Unterlagen auf meinen Schreibtisch. Gute Nacht.«
Ich kippte den Schalter wieder um und wandte mich an Elaine. Sie lächelte mir zu.
»Ich wollte Sie nicht so lange aufhalten, Brad«, sagte sie.
»Ich Sie auch nicht.«
»Aber Sie werden zu spät zum Essen nach Hause kommen. Ich kann ja über meine Zeit frei verfügen.«
»Marge macht das nichts aus«, antwortete ich. »Sie ist schon Kummer gewöhnt.«
»Trotzdem mache ich mich jetzt besser auf den Weg«, erklärte sie, nahm einen langen, schmalen Lippenstift aus ihrer Handtasche und zog sich die Lippen nach.
Ich beobachtete sie. »Aber wir sind doch noch gar nicht fertig«, protestierte ich. Widerstrebend schaute ich zu, wie sie aufbrach. »Und morgen fahren Sie wieder nach Washington zurück.«
Sie blickte mich über den Rand ihres Spiegels an. »Aber nächste Woche bin ich wieder hier.« Sie überprüfte ihr Make-up und steckte den Lippenstift ein. »Da können wir dann die Sache weiter besprechen.« »Aufgewärmter Kaffee schmeckt nicht!« hörte ich mich argumentieren.
Prüfend musterte sie mich. »Und was schlagen Sie vor?«
Von Minute zu Minute wunderte ich mich mehr über mich selbst. »Bleiben wir doch in der Stadt und gehen zusammen essen, falls Sie keine andere Verabredung haben«, schlug ich eilig vor. »Anschließend können wir hierher zurückgehen und die Pläne zu Ende besprechen.«
Einen Moment lang schaute sie mir in die Augen und schüttelte dann kaum merklich den Kopf. »Lieber nicht«, antwortete sie. »Mir wäre nicht wohl bei dem Gedanken, Ihren ganzen Abend durcheinander gebracht zu haben. Schlimm genug, daß ich Sie so lange aufgehalten habe.«
Ich half ihr in die Pelzjacke. »Meinetwegen«, sagte ich enttäuscht. »Wie wär's dann mit einem Aperitif?«
Sie drehte sich um und blickte mich fest an. »Was erwarten Sie sich eigentlich, Brad?«
Die Überraschung auf meinem Gesicht war nicht ganz echt. »Gar nichts. Muß man denn immer etwas erwarten, wenn man mit einer Dame einen Whisky trinken geht?«
Sie verzog keine Miene. »Nicht unbedingt. Ich hatte eigentlich nicht den Eindruck, daß Sie zu der Sorte von Männern gehören, die es darauf anlegen, Frauen einen Drink zu spendieren.«
Ich merkte, wie ich rot anlief. »Das tue ich auch nicht.«
Ihr Blick ruhte immer noch forschend auf meinem Gesicht. »Warum tun Sie's dann bei mir?«
Ich fühlte mich ungemütlich und verwirrt, wie ein Junge, der sich mit einem Mädchen verabreden wollte und einen Korb bekommt. Endlich fiel mir eine passende Antwort ein: »Weil es mir leid tut, wie ich mich vorhin benommen habe, und weil ich Ihnen das beweisen wollte.«
Ihr Gesicht verlor etwas von seiner Gespanntheit. »Das müssen
Sie wirklich nicht, Brad«, sagte sie ruhig. »Sie haben das schon längst bewiesen.«
Ich schwieg.
»Gute Nacht, Brad«, sagte sie und streckte mir ihre Hand entgegen, »und vielen Dank.«
Ich ergriff ihre Hand. Sie war schlank und leicht, und die Haut fühlte sich zart unter meinen Fingern an. Ich blickte einen Moment auf sie hinunter, der korallenrote Nagellack schimmerte mir entgegen. »Gute Nacht, Elaine.«
»Montag bin ich wieder in der Stadt, und dann können wir uns verabreden, wenn es Ihnen paßt«, schlug sie vor.
»Wann immer Sie wollen«, antwortete ich und hielt immer noch ihre Hand. Ich fühlte, wie mir das Blut in den Kopf stieg.
Sie blickte auf ihre Hand und zog sie sanft zurück. Ich merkte, daß sie leicht errötete. Sie drehte sich um und ging auf die Tür zu.
»Wenn Sie früh genug in der Stadt sind«, rief ich ihr nach, »können wir doch zusammen zu Mittag essen.«
Sie blieb stehen und schaute sich um. »Wo?«
Ich stützte die Hände auf den Schreibtisch. »Holen Sie mich hier gegen ein Uhr ab.«
»Abgemacht«, sagte sie immer noch ernst.
Ich beobachtete, wie sich die Tür hinter ihr schloß, ging dann um den Schreibtisch herum und setzte mich wieder hin. Ich starrte auf die Tür. Der Duft ihres Parfüms steckte mir noch in der Nase. Ich holte tief Luft - und da hatte er sich verflüchtigt. Ich beugte mich nach vorn, um das Telefon zu erreichen und Marge Bescheid zu sagen, daß ich um acht zum Essen zu Hause wäre.
Auf dem ganzen Heimweg dachte ich über sie nach. Je mehr ich an sie dachte, umso ärgerlicher wurde ich über mich selbst. Was war eigentlich in mich gefahren? Sie war keineswegs die schönste Frau, die ich in meinem Leben gesehen hatte. Auch nicht besonders sexy. Dafür fehlte ihr die Figur.
Während des Abendessens erzählte ich Marge alles über sie, und wie ich mich ihr gegenüber benommen hatte, als sie in mein Büro kam.
Marge hörte mir schweigend zu, so aufmerksam, wie sie das immer tat. Als ich fertig war, seufzte sie leise.
»Warum seufzt du?« fragte ich rasch.
»Die arme Frau«, sagte sie langsam. »Die arme, unglückliche Frau.«
Ich starrte sie mit großen Augen an, als hätte sie plötzlich in einem dunklen Raum das Licht angemacht und ich könnte jetzt wieder sehen. Das war's! Sie hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Elaine Schuyler bedeutete mir überhaupt nichts. Mitleid war es, was ich für sie empfand.
Ich fing an, mich wieder wohler zu fühlen, mich wiederzufinden. Das muß der Grund gewesen sein. Als ich ins Bett ging, war ich davon überzeugt.
Aber ich hatte mich getäuscht. Und ich wußte es in dem Augenblick, als sie am Montag mein Büro betrat.
Als ich am Montag in mein Büro kam, fühlte ich mich wieder normal. Ich hatte mir alles schön zurechtgelegt: Ich würde mit ihr essen gehen, höflich und hilfsbereit sein und weiter nichts.
Ich lächelte, als ich mich über die Morgenpost stürzte. Um ein Haar hätte ich mich selbst zum Narren gemacht. Der Gedanke allein war albern gewesen. Über die Zeit war ich hinaus. Mit dreiundvierzig ist das vorbei.
Es gibt ein Stadium im Leben eines Mannes, in dem die Frau eine große Rolle spielt, deutlicher gesagt: Sex und Romantik. Aber das bewegt einen, solange man jung ist, und nicht mit dreiundvierzig. Mit dreiundvierzig Jahren gibt es andere Dinge, über die man nachdenkt. Das gehörte einfach zum Erwachsenwerden. Ich habe das bei fast jedem Mann, den ich kenne, festgestellt. Mit dreiundvierzig erfordern Sex und Romantik viel zuviel Anstrengung; es strapaziert die Gefühle und den Körper viel zu sehr. Man braucht den Auftrieb für andere Dinge. Für den Beruf zum Beispiel.
Ich erinnere mich, daß einmal jemand gesagt hat, der Beruf sei der amerikanische Ersatz für Sex. Wenn ein Mann älter und seine Maschine schwächer wird, schaut er sich nach anderen Gebieten um, auf denen er seine Fähigkeiten beweisen kann. Und der Beruf ist der logische Ausweg. Deswegen gehen so viele Männer mit der Arbeit ins Bett. Und deswegen sind auch so viele Frauen unglücklich. Aber das ist die normale Entwicklung einer Ehe. Es leuchtete mir ein. Man verfügte nur über ein gewisses Maß an Kraft, und ich war schlau genug, meine Grenzen zu kennen. Außerdem war sie Matt Bradys Nichte. Warum sollte ich mir Ärger an den Hals hängen.
Als es auf ein Uhr zuging, hatte ich meine Verabredung beinahe vergessen. Es war ein turbulenter Vormittag gewesen. Ich wurde über die Rufanlage verlangt. Ungeduldig kippte ich den Hebel herunter.
»Mrs. Schuyler ist da.«
Die Worte hallten in meinem Ohr nach. Ich holte tief Luft. Eine plötzliche Erregung packte mich. »Sie möchte bitte hereinkommen«, sagte ich und stand auf.
Ich war ein ganz Gescheiter. Alles war genau überlegt. Noch vor ein paar Minuten hatte ich überhaupt nicht an sie gedacht, sie war mir nicht wichtig gewesen. Aber jetzt war sie es.
Ich wußte es in den Sekunden, in denen ich darauf wartete, daß die Tür aufging. Ich wollte hinübereilen, um sie zu öffnen, und ging um meinen Schreibtisch herum. Aber da hatte sie den Raum bereits betreten.
Ich hatte gedacht, es würde nicht noch einmal passieren. Es könnte nicht noch einmal passieren. Beim erstenmal, als ich sie gesehen hatte, war es so gewesen. Aber diesmal war es unmöglich. Diesmal wußte ich, wie sie aussah. Ich war auf der Hut.
Auch in diesem Punkt hatte ich mich getäuscht.
Sie lächelte mir zu, und ich brachte kaum ein Wort heraus. »Hallo, Brad.« Ihre Stimme klang tief und warm.
Einen Augenblick zögerte ich, dann ging ich quer durch das Zimmer auf sie zu und ergriff ihre Hand. »Elaine.« Ihre zarten, kühlen Finger brannten wie Feuer in meiner Hand. »Elaine«, wiederholte ich, »ich bin so froh, daß Sie gekommen sind.«
Sie fing an zu lachen, um irgendeine vergnügte, belanglose Bemerkung zu machen. Plötzlich schaute sie mich an, und die Worte blieben ihr in der Kehle stecken. Ein Schatten flog über ihr Gesicht, und sie wandte ihren Blick von mir.
»Es tut mir leid, Brad«, flüsterte sie und entzog mir ihre Hand, »aber ich kann mit Ihnen nicht essen gehen.«
»Warum nicht?« platzte ich heraus.
Sie schaute mich immer noch nicht an. »Ich habe eine frühere Verabredung vergessen. Ich bin nur vorbeigekommen, um mich zu entschuldigen.«
Ich starrte sie an. Ihr klares, zerbrechliches Profil grub sich tief in mein Bewußtsein. Ich fühlte, wie ein Schauer meine ganze Erregung wegfegte. Ich wurde plötzlich ärgerlich. »Das ist doch nicht ihr Ernst!«
Sie antwortete nicht.
Ich ging einen Schritt auf sie zu. »Wenn Sie anderweitig verabredet waren, dann hätten Sie mich anrufen können«, erklärte ich schroff. »Deswegen hätten Sie nicht heraufzukommen brauchen. Es gibt genügend Telefone in der Stadt.«
Sie drehte sich um und wollte fort. Ich fühlte, wie mich eine wütende, ratlose Enttäuschung zu ersticken drohte. Ich packte ihre Schulter und wirbelte sie herum. »Warum belügen Sie mich?« fragte ich und starrte ihr ins Gesicht.
In ihren Augen schimmerte es feucht. »Brad, ich belüge Sie nicht«, antwortete sie schwach.
Ich beachtete das überhaupt nicht. »Wovor haben Sie Angst, Elaine?« fragte ich hart. Ich fühlte, wie sie plötzlich unter meinen Händen zusammensackte, als ob sie alle Kraft verloren hätte. Tränen standen jetzt in ihren Augen.
»Lassen Sie mich gehen, Brad«, flüsterte sie. »Habe ich nicht schon Kummer genug gehabt?«
Ihre kaum hörbare Stimme spülte meinen Ärger wie mit einer Dusche kalten Wassers fort. Ich ließ die Hände sinken, ging an meinen Schreibtisch zurück und ließ mich in den Sessel fallen. Dann schaute ich sie an: »Gut, Elaine«, sagte ich, »Sie können gehen, wenn Sie wollen.«
Sie zögerte und schaute sich nach mir um. »Brad, es tut mir leid.« Ich antwortete nicht.
Ich beobachtete, wie sich die Tür hinter ihr schloß und blickte finster auf meinen Schreibtisch. Sie hatte recht. Da gab es nichts zu bereden. Ich bereitete mir nur Unannehmlichkeiten. Sie war keine Frau, die man mal eben aufgabelte und dann wieder laufen ließ. Sie gehört zu dem Typ, der nach Dauer verlangte.
Ich steckte mir eine Zigarette in den Mund und zündete sie an. So war es wahrscheinlich die beste Lösung. Mit dreiundvierzig war man zu alt, um Jugendträumen nachzujagen.
Auf irgendeine Weise verging auch dieser Nachmittag, und als gegen fünf das Telefon läutete, fühlte ich innerlich nur noch den unbestimmten Schmerz des >Es wär' so schön gewesen<. Ich nahm den Hörer ab.
»Paul Remey ist am Apparat, Chef«, sagte Mickey.
Ich schaltete um. »Paul, wie geht's?« erkundigte ich mich.
»Ausgezeichnet, Brad«, antwortete er. »Können wir heute abend zusammen essen gehen?«
»Sicher«, antwortete ich überrascht. »Wo zum Teufel steckst du denn?« fragte ich rasch.
»Ich bin hier in der Stadt«, lachte er über meine Überraschung. »Ich muß für den Chef einen Zaun flicken, wenn du verstehst, was ich meine. Edith ist mitgekommen, um ein bißchen einzukaufen. Mir kam gerade die glänzende Idee, dich zum Essen einzuladen. Es wird sowieso nicht spät werden. Ich fliege mit der Neunuhrmaschine wieder zurück.«
»Großartig«, sagte ich und gab mir Mühe, so herzlich wie möglich zu klingen. »Wie wär's, wenn wir uns um sechs im >Einund-zwanzig< treffen? Wir können uns zum Essen Zeit lassen. Ich fahre euch anschließend zum Flughafen.«
»In Ordnung«, erwiderte er. »Bis nachher.«
Ich legte den Hörer auf und schaute aus dem Fenster. Es war schon fast dunkel - das ging erstaunlich schnell, wenn der Sommer erst mal vorüber war! Ich war hundemüde. Am liebsten wäre ich nach Hause gefahren und hätte mich in mein Bett verkrochen, um dieses vage, unbefriedigte Gefühl in mir zu verschlafen. Aber ich mußte noch ein paar Dinge erledigen.
Ich nahm den Hörer wieder ab, um nach Hause zu telefonieren. Marge war am Apparat. »Ich werde heute nicht zum Essen kommen, Kleines«, sagte ich. »Paul ist hier, ich gehe mit ihm essen. Hast du nicht Lust, mit uns zu kommen?«
»Ich glaub' nicht«, antwortete sie. »Ich werde mit Jeannie essen und früh zu Bett gehen. Ich wünsch' euch beiden viel Spaß.«
»Ist gut, Kleines«, sagte ich. »Wiedersehen.«
Ich drehte mich wieder zu meinem Schreibtisch um und las die Kostenvoranschläge für die Stahlaktion bis zur letzten Seite. Ich zeichnete sie ab und schickte sie Chris zurück. Inzwischen war es fast sechs, und ich brach auf.
Der Abend war kühl geworden und die Luft frisch. Ich atmete tief ein und kam zu der Überzeugung, daß mir ein paar Schritte zu Fuß ganz gut täten. Ich marschierte die Madison Avenue entlang bis zur Zweiundfünfzigsten Straße und dann hinüber zu dem Restaurant.
Die Geschäftsführerin erwischte mich gerade, als ich meinen Hut abgab. »Mr. Rowan«, begrüßte sie mich liebenswürdig, »Mr. Remey erwartet Sie. Bitte hier entlang.«
Paul stand auf, als ich mich dem Tisch näherte. Edith saß zu seiner Rechten. Nachdem ich ihm die Hand geschüttelt hatte, wandte ich mich an sie und lächelte ihr zu. »Edith! Na, so eine freudige Überraschung«, rief ich aus. »Marge wird sehr enttäuscht sein. Warum habt ihr uns nicht früher gesagt, daß ihr kommt?«
Sie lächelte zurück. »Es kam so überraschend, Brad«, antwortete sie. »Schön, dich mal wiederzusehen.«
»Ja, finde ich auch«, entgegnete ich und setzte mich. »Du siehst jedesmal jünger aus.«
Sie lachte. »Immer derselbe alte Brad!« Aber ich wußte genau, daß sie es gern hörte.
Ich bemerkte, daß der Tisch für vier Personen gedeckt war. Fragend schaute ich zu Paul hinüber. »Fehlt noch jemand?« erkundigte ich mich.
Er wollte gerade antworten, aber Edith kam ihm zuvor. »Nein«, antwortete sie. »Da kommt sie schon.«
Ich sah, wie Paul über meine Schulter blickte und aufstand. Automatisch erhob ich mich gleichfalls und drehte mich um.
Ich glaube, wir bemerkten uns beide im selben Moment. Ein helles Leuchten trat in ihre Augen und verschwand ebenso rasch wieder. Einen Augenblick schien sie zu zögern, aber dann kam sie auf unseren Tisch zu. Sie streckte ihre Hand aus. »Mr. Rowan«, begrüßte sie mich höflich und formell. »Nett, Sie wiederzusehen.«
Ich ergriff ihre Hand. Ihre Finger zitterten vor Erregung. Ich hielt ihren Stuhl, während sie sich setzte. Edith beugte sich lächelnd vor: »Elaine hat sich heute mittag in letzter Minute entschlossen, mit mir zum Essen und anschließend einkaufen zu gehen, Brad. Sie hat so einen fabelhaften Geschmack! Wir haben die Hälfte der New Yorker Geschäfte leer gekauft.«
»Na, hoffentlich hast du noch so viel Geld übriggelassen, daß ich jetzt unser Abendessen bezahlen kann«, lachte Paul.
Edith erwiderte etwas, aber ich hörte ihre Antwort nicht. Ich hätte nicht mal bemerkt, wenn um uns herum das Gebäude eingestürzt wäre. Ich schaute zu Elaine hinüber. Ihre Augen waren von einem rauchfarbenen Blau und taten weh. Ihr Mund erschien weich, rot und warm. Das einzige, woran ich denken konnte, wie wunderbar es sein müßte, ihn zu küssen.
Um acht Uhr, während wir noch gemütlich beim Kaffee saßen, kam die Geschäftsführerin an unseren Tisch: »Ihr Wagen ist vorgefahren, Mr. Rowan.«
»Vielen Dank«, entgegnete ich. Ich hatte vorher meiner Garage Bescheid gesagt, man möge mir den Wagen um acht rüberschicken. Ich blickte in die Runde: »Fertig?«
»Fertig«, antwortete Paul. Edith kramte ihre Puderdose hervor und puderte sich in aller Eile noch einmal das Gesicht, während ich mich an Elaine wandte: »Wie wär's, wenn Sie uns zum Flugplatz hinaus begleiten würden?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich geh' lieber ins Bett. Ich bin müde. Aber trotzdem vielen Dank, Mr. Rowan.«
»Ach, Elaine, nun komm schon!« drängte Edith. »Brad setzt dich um zehn wieder vor deinem Hotel ab. Ein bißchen frische Luft wird dir schon nicht schaden.«
Elaine schaute mich unschlüssig an.
Ich nickte. »Wir können um zehn wieder in der Stadt sein.«
»Also gut«, willigte sie ein. »Ich komme mit.«
Auf der Fahrt hinaus saßen die beiden Frauen hinten, während Paul vorn neben mir Platz genommen hatte. Ab und zu spähte ich in den Rückspiegel. Sie beobachtete mich, wandte aber jedesmal rasch den Kopf zur Seite. Wenn ich nach einer Weile erneut hinschaute, erwischte ich ihren Blick wieder.
Ich berichtete Paul über die Schwierigkeiten, mit denen wir bei dem Stahlauftrag zu kämpfen hatten, und er erzählte mir den letzten Klatsch aus Washington. Die Fahrt ging glatt; zehn Minuten vor Abflug der Maschine trafen wir auf dem Flugplatz ein. Ich parkte den Wagen, und wir gingen alle zusammen zum Flugsteig. Wir verabschiedeten uns voneinander, und ich versprach, daß Marge morgen Edith anrufen würde. Paul und Edith passierten die Sperre, Elaine und ich kehrten zum Auto zurück.
Wir sprachen kein Wort. Ich hielt ihr schweigend die Tür auf, und sie stieg ein. Dann ging ich um den Wagen herum und setzte mich ans Steuer. Ich beugte mich vor, um den Motor anzulassen, aber ihr Hand gebot mir Einhalt.
»Warten Sie einen Moment«, bat sie, »bis ihre Maschine abgeflogen ist.«
Ich lehnte mich zurück und schaute sie an. Sie beobachtete das Flugzeug durch die Windschutzscheibe. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck von Verlassenheit.
»Ist irgendwas los?« fragte ich rasch.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein«, antwortete sie. »Ich möchte mich nur vergewissern, daß sie gut wegkommen.«
»Sie halten wohl sehr viel von ihnen?« fragte ich. Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.
Sie nickte. »Ich habe sie lieb«, entgegnete sie schlicht. »Ich weiß nicht, wie ich mit all dem, was geschehen ist, ohne Paul und Edith fertig geworden wäre.«
Während die Flugzeugmotoren durch die Nacht dröhnten, zündete ich mir eine Zigarette an. Wir saßen schweigend, bis die Maschine in der Dunkelheit verschwand. Da drehte sie sich zu mir um. Ein schwaches Lächeln spielte um ihren Mund. »So, nun können wir fahren.«
Ich rührte mich nicht. Ich betrachtete ihr Gesicht im Schein der Zigarette. Ihre Haut schimmerte golden, tief in ihren Augen glimmten Feuerfunken.
Sie schaute mich gleichfalls an. Das Lächeln war aus ihrem Gesicht verschwunden. »Ich hatte nicht erwartet, Sie noch einmal zu sehen«, flüsterte sie.
»Ich auch nicht«, antwortete ich. »Tut es Ihnen leid?«
Sie überlegte einen Augenblick. »Darauf kann ich nicht antworten, Brad. Ich bin mir über meine Gefühle nicht im klaren.«
»Aber ich«, sagte ich bestimmt.
»Das ist ein Unterschied«, antwortete sie rasch. »Sie sind ein Mann. Sie empfinden die Dinge anders. Es gibt nichts, was einem Mann ebenso wichtig ist wie einer Frau.«
»Nein?« fragte ich. Ich schnipste meine Zigarette aus dem Wagenfenster, legte meine Hand um ihre Schulter und zog sie an mich. Ich küßte sie.
Ihre Lippen bewegten sich nicht, und trotzdem verharrten sie nicht regungslos; sie waren weder kalt noch warm, sie erwiderten meinen Kuß nicht und waren doch nicht teilnahmslos.
Ich löste mich von ihr. Mit weitgeöffneten Augen schaute sie mich an.
»Vom ersten Augenblick an, wo ich dich sah, wollte ich dich küssen«, sagte ich.
Sie rutschte auf ihren Sitz zurück und legte den Kopf an die Rücklehne. Sie sah mich nicht an. »Als David noch lebte, schaute ich keinen anderen Mann an - und er keine andere Frau.« Ihre Augen blickten schwermütig und gedankenverloren, während ich sie weiter beobachtete. Ich sagte nichts.
»Während des Krieges«, fuhr sie nachdenklich fort, »waren wir oft getrennt. Du weißt, wie es damals in Washington zuging. Du warst ja selbst da. Jeder war hinter dem Geld her. Nichts schien mehr von Bedeutung zu sein. Es machte mich ganz krank.«
Ich betrachtete sie immer noch schweigend.
»Und das ist heute noch so«, sagte sie langsam. Unvermittelt sah sie mich an, ihr Gesicht hatte einen gewollt unbeteiligten Ausdruck. Ich begegnete ihrem Blick gleichmütig. Unsere Augen trafen sich, in einem kurzen, lautlosen Kampf maßen wir unsere Kräfte.
»Liebst du deinen Mann immer noch?« fragte ich.
Sie senkte die Lider und verbarg ihre Augen vor mir. Leiser Schmerz lag in ihrer Stimme, als sie antwortete: »Diese Frage ist nicht fair. David ist tot.«
»Aber du bist nicht tot«, entgegnete ich grausam. »Du bist eine erwachsene Frau, kein Kind mehr. Du hast Bedürfnisse -«
»Männer?« unterbrach sie mich. »Sex?« Sie lächelte schwach. »Du meinst, das sei wichtig?«
»Liebe ist wichtig«, antwortete ich. »Lieben und geliebt werden ist für jeden von uns wichtig.«
Sie schaute mich an. »Willst du damit sagen, daß du mich liebst?« fragte sie skeptisch.
Ich dachte einen Augenblick nach. »Ich weiß nicht«, sagte ich zögernd. »Es kann sein, aber ich weiß es nicht.«
»Was willst du denn sonst damit sagen, Brad?« fragte sie. »Warum bist du mir gegenüber - und auch dir gegenüber - nicht aufrichtig und sagst, was du wirklich von mir willst?«
Ich starrte auf meine Hände, um ihrem Blick auszuweichen. »Im Augenblick weiß ich nur, daß ich dich haben will«, sagte ich. Sie schwieg. »Von der ersten Sekunde an, als ich dich sah, war ich verrückt nach dir. Ich weiß nicht, was es ist oder warum. Aber ich weiß, daß ich dich mehr als alles andere in meinem bisherigen Leben begehre.«
Ihr Gesicht war völlig unbewegt. »Brad«, sagte sie ruhig.
Ich beugte mein Gesicht über sie und küßte ihre Lippen. Diesmal waren sie nicht reglos und kalt. Sie waren zart, süß und bebten. Ich schloß sie in meine Arme, und wir drängten uns aneinander. Wir küßten uns, bis uns der Atem ausging.
Sie legte ihren Kopf auf meinen Arm über dem Rücksitz. Ihre Augen blickten mich sanft an. »Brad«, flüsterte sie.
Ich küßte sie rasch noch einmal. »Ja, Elaine?«
Ihre Lippen bewegten sich sanft unter meinen. »Laß uns nicht wie all die anderen sein, Brad. Tu nichts, was dir hinterher leid täte.«
»Bis zu diesem Augenblick«, antwortete ich schnell, »hast du immer nur von mir geredet. Wie steht's denn mit dir? Was willst du denn?«
»Für mich ist das nicht so wichtig wie für dich, Brad«, antwortete sie. »Du hast mehr zu verlieren als ich.«
Ich antwortete nicht. Ich konnte dazu nichts sagen.
Sie schaute mir wieder in die Augen. »Was empfindest du für deine Frau? Liebst du sie?«
»Ja, natürlich liebe ich sie«, antwortete ich rasch. Und als diese Worte unzureichend in der Luft hingen, fügte ich hinzu: »Man bleibt nicht so lange miteinander verheiratet wie wir, wenn man sich nicht mag.«
»Und wozu brauchst du mich dann, Brad? Langweilst du dich vielleicht ein bißchen? Oder suchst du ein Abenteuer? Eine neue
Eroberung?«
Ich starrte sie an. »Jetzt bist du nicht fair. Ich habe vorhin gesagt, ich weiß es noch nicht. Ich weiß einfach nicht, wie da plötzlich etwas zwischen einem Mann und einer Frau entsteht. Ich habe mich nie viel um Frauen gekümmert, ich hatte viel zuwenig Zeit dazu. Ich weiß, daß ich dich besitzen will. Ich weiß, daß du etwas für mich empfindest und ich etwas für dich, etwas, das keiner von uns bisher für einen anderen Menschen empfunden hat. Frag mich nicht, wieso ich das weiß, weil ich dir diese Frage nicht beantworten könnte. Ich behaupte auch nicht, daß ich ohne dich nicht leben kann. Wenn es sein muß, kann ich ohne alles auskommen. So viel weiß ich. Das Leben bringt so viele Enttäuschungen, und die Menschen überstehen sie, ganz gleich, wie schwer sie auch sein mögen. Aber etwas ganz anderes weiß ich jetzt auch: daß ich ungern ohne dich auskommen würde, wenn es nicht sein muß.«
Sie lächelte schwach. »Du bist wenigstens ehrlich, Brad. Andere Männer hatten mehr anzubieten.«
»Aufrichtigkeit ist der einzige Luxus, der unserer Gesellschaft noch verblieben ist. Allerdings ist er auch der teuerste.«
Sie nahm ein Zigarette aus ihrem flachen goldenen Etui und zündete sie an. Eine goldene Flamme tanzte in ihren Augen. »Fahr mich jetzt lieber zurück, Brad!«
Schweigend schaltete ich die Zündung ein. Der starke Motor summte leise, ich manövrierte den Wagen aus dem Parkplatz hinaus und fuhr in die Stadt zurück. Wir sprachen auf dem ganzen Weg kein Wort miteinander.
Vor dem Hotel hielt ich und schaute sie an.
»Ich weiß nicht, Brad - ich weiß nicht, ob wir es tun sollten.«
»Fürchtest du dich vor mir?«
Sie schüttelte den Kopf. »Du bist ein komischer Mann! Nein, ich fürchte mich nicht vor dir.«
»Hast du Angst, du könntest dich in mich verlieben?« »Nein, ich habe auch keine Angst, ich könnte mich in dich verlieben. Ich habe nichts zu befürchten.« Sie öffnete die Tür und stieg aus. »Aber du, Brad. Du laß dir lieber alles noch einmal durch den Kopf gehen. Du bist nicht frei. Du könntest in Schwierigkeiten geraten.«
»Laß das meine Sorge sein«, antwortete ich rasch. »Wann sehe ich dich wieder?«
»Brad«, entgegnete sie sanft. »Überleg es dir noch einmal.«
»Und wenn ich es mir überlegt habe und dich trotzdem wiedersehen möchte?«
»Ich weiß nicht recht. Das werden wir ja dann sehen.« Sie wandte sich ab. »Gute Nacht, Brad!«
»Gute Nacht, Elaine!« Ich blickte ihr nach, wie sie ins Hotel ging und in der Halle verschwand. Dann fuhr ich wieder an.
Es war fast elf Uhr, als ich das Garagentor schloß und den Weg zum Haus hinaufging. Ich sah noch Licht in unserem Schlafzimmer, und ein seltsames Unbehagen überfiel mich. Zum erstenmal wäre es mir lieber gewesen, Marge hätte nicht auf mich gewartet. Bis zu einem gewissen Grad war es wohl mein Schuldgefühl, was da zutage trat. Denn elf Uhr bedeutete nicht, daß Marge auf mich wartete - es war ihr einfach noch zu früh, schlafen zu gehen. Ich blieb vor der Haustür stehen und zündete mir eine Zigarette an.
Es war Zeit, daß ich mit mir ins reine kam und vernünftig wurde.
Elaine hatte recht. Es war höchste Zeit, über all das einmal nachzudenken. Was wollte ich überhaupt mit ihr anfangen? Ich war zufrieden, und so bestand gar keine Notwendigkeit, mich ins Unglück zu stürzen. Frauen waren schließlich Frauen.
Ich setzte mich auf eine Stufe der Veranda und starrte in die Nacht hinaus. Zähl mal deine Schätze zusammen, Brad, sagte ich zu mir selbst. Da hast du ein Haus, das sind dreißigtausend Dollar; dann ein Geschäft, das hunderttausend wert ist. Dann zwei prächtige Kinder und eine liebevolle, gute Frau, die dich kennt, dich versteht und an die du gewöhnt bist. Du hast alles, wonach du dich all die Hungerjahre hindurch gesehnt hast. Warum willst du jetzt das alles aufs Spiel setzen? Warum etwas sein wollen, was du gar nicht bist?
Aber da setzte mir etwas anderes zu. Elaine. Ihr Gesicht. Es war wie ein Traum, den ich einmal gehabt hatte - alle Schönheit, die ich je an einer Frau gesucht, Schönheit, die ich nie für möglich gehalten hatte.
Ich konnte im Innern noch ihre Stimme hören: sanft, tief und warm. Elaine war so einsam, wie ich es als junger Mensch gewesen war. Und die Welt war ein schrecklicher Platz, wenn man darin einsam war. Sie hatte genau solche Angst wie ich damals. Angst vor dem, was das Leben einem alles antun kann. Sie war von einer Angst erfüllt, die nur aus der Erfahrung entstanden sein konnte.
Ich wußte, daß sie mich mochte. Das hatte ich sofort gemerkt. Entweder mochten mich die Menschen sofort - oder überhaupt nicht. Elaine mochte mich. Das hatte ich gleich am ersten Tag gemerkt, als sie mein Büro verlassen wollte und ich ihr in den Weg trat. Sicher war ich meiner Sache nach ihrem Verhalten heute. Und die Entscheidung war gefallen, als ich sie geküßt hatte.
Nicht beim erstenmal. Beim zweiten. Da küßte auch sie, und sie fieberte genauso wie ich. Die Begierde in ihrem Kuß forderte meine Kraft. In mir erwachte eine Leidenschaft wieder, die ich längst verloren glaubte; ich war über ihre Gewalt ebenso überrascht wie erschrocken. Deshalb hatte ich aufgehört. Mir kam plötzlich zum Bewußtsein, daß ich auch nicht anders war als die anderen Männer, und ich war mir noch nicht darüber klar, ob mir das eigentlich gefiel oder nicht.
»Brad!« erklang Marges sanfte Stimme hinter mir. »Was tust du denn noch hier draußen?«
Ich spürte, wie sie voller Ruhe ihre Hand auf meine Schulter legte. Ohne mich umzudrehen, griff ich nach oben und erfaßte sie.
»Nachdenken«, sagte ich.
Stoff raschelte. »Hast du Sorgen, Brad?« erkundigte sie sich teilnahmsvoll und setzte sich neben mich auf die Stufen. »Erzähl's doch der Mama, vielleicht kann sie dir helfen.«
Ich sah sie an. Das Haar rahmte ihr Gesicht zu einem sanften Oval, mit einem hübschen, geschwungenen Mund darin. Das war etwas, was mir an ihr gefiel: sie konnte zuhören, sie wollte auch zuhören. Aber das jetzt war nichts, was ich ihr erzählen konnte. Damit mußte ich allein fertig werden.
»Kein Kummer, Kleines«, antwortete ich. »Ich sitze hier nur so und denke darüber nach, wie gut es ist, aus der Stadt herauszukommen.«
Sie lächelte, stand auf und zog mich zu sich hoch. »In diesem Fall, du Freiluftfanatiker, denk bitte daran, daß der Sommer vorbei ist. Du wirst dich erkälten, wenn du so herumsitzt. Komm lieber mit mir hinein. Ich mach uns einen Kaffee, und dabei kannst du mir von deinem Abendessen mit Paul und Edith erzählen.«
Ich folgte ihr durchs Wohnzimmer. »Mrs. Schuyler war auch dabei«, sagte ich. »Ich habe Paul und Edith zum Flughafen gebracht und dann Mrs. Schuyler ins Hotel gefahren.«
Sie warf mir einen schelmischen Blick zu. »Hüte dich vor diesen Washingtoner Witwen, mein Junge!« neckte sie. »Die fliegen auf junge Männer wie dich!« »Sie tut mir leid«, entgegnete ich und verteidigte mich gegen nichts.
Sie zog mich weiter auf. »Hab nur nicht allzuviel Mitleid!« Sie schaltete die Kochplatte unter dem Kaffeekessel an. »Vergiß nicht, daß du eine Frau und zwei Kinder hast, um die du dich kümmern mußt.«
»Das werde ich nicht vergessen«, sagte ich ernst.
Irgend etwas in meiner Stimme ließ sie aufschauen. Das Lächeln war aus ihren Augen verschwunden. Sie kam zu mir herüber und sah mich an. »Das weiß ich, Brad«, sagte sie ruhig. Ihre Lippen berührten meine Wange. »Und deshalb liebe ich dich.«
Die Morgensonne strahlte durch unser Schlafzimmer, und das weckte mich auf. Benommen starrte ich an die Decke. Irgend etwas schien mit diesem Zimmer nicht zu stimmen, seine Proportionen hatten sich offenbar verändert. Doch dann merkte ich, woran das lag: ich war in Marges Bett.
Langsam drehte ich meine Kopf herum. Ihr Gesicht lag dicht neben mir auf dem Kissen. Sie schaute mir lächeln in die Augen. Ich lächelte zurück. Sie flüsterte etwas.
Ich verstand sie nicht. »Was sagst du?« fragte ich, und meine Stimme zerstörte die Stille des Morgens.
»Du bist ja ein feuriger Liebhaber«, flüsterte sie. »Ich hatte das schon beinahe vergessen.«
Da erinnerte ich mich an die letzte Nacht.
Sie legte den Arm um meinen Hals und zog mich noch näher an sich. »Du bist wundervoll, Brad«, murmelte sie ganz dicht an meinem Ohr. »Weißt du das?«
Ich hatte einen Kloß im Hals, ich konnte nicht reden. Wie viele Männer hatten bei ihren Frauen schon Leidenschaften entwickelt, die durch eine ganz andere erregt worden waren? Und welcher Be-trug ist schlimmer - der tatsächliche oder der in der Einbildung vollzogene?
Ihre Finger fuhren durch mein Haar. Sie flüsterte mir immer noch irgend etwas ins Ohr.
Ich stieg zu Jeannie in den Wagen. Marge schaute uns von der Tür aus nach. »Versuche, pünktlich hier zu sein«, rief sie. »Vater kommt heute abend zum Essen!«
»Ich bin pünktlich«, versprach ich. Vater besuchte uns jeden Dienstag abend.
Jeannie schaltete den Gang ein, und wir rollten die Auffahrt hinunter. Beinahe hätte sie einen Zaunpfahl mitgenommen, als sie auf die Straße schoß. Ich seufzte. »Eines Tages reißt du das Ding noch mal um.«
Sie grinste zu mir herüber. »Ruhig Blut, Dad!«
»Behalt du lieber ruhig Blut«, ermahnte ich sie.
Abrupt trat sie auf die Bremse und hielt an der Verkehrsampel. Sie wandte sich zu mir. »Hast du über das nachgedacht, was ich dir gesagt habe?«
Ich stellte mich absichtlich dumm. »Über was?«
»Na, über das Geschenk für Mammi zum Hochzeitstag«, erinnerte sie mich nachsichtig.
»Ja, natürlich.« Ich sprach ganz beiläufig.
Sie war sofort in heller Aufregung. »Wirklich? Was schenkst du ihr denn?«
Ich überhörte diese Frage absichtlich. »Wir haben Grün«, sagte ich.
»Ach, laß doch das blöde Licht! Was hast du ihr gekauft?« Sie fuhr wieder an.
»Das wirst du schon sehen. Wenn sie's bekommt. Es soll ja schließlich eine Überraschung sein. Ich denke nicht daran, es mit deiner Hilfe der ganzen Stadt mitzuteilen.«
»Ich verrate nichts, Daddy. Bestimmt!« Sie hatte ihre Stimme auf Verschwörerlautstärke gedämpft.
»Versprichst du mir das?«
»Ich verspreche es dir.«
»Einen Nerzmantel.«
»Oh, Dad! Das ist einfach toll!«
»Nimm den Fuß vom Gas weg. Oder keiner von uns beiden wird mehr in der Lage sein, ihr noch etwas zu schenken.«
Sie trat energisch auf die Bremse, wir waren vor der Schule angelangt. Sie machte die Tür auf, änderte dann überraschend ihre Absicht, lehnte sich über den Sitz zu mir herüber und küßte mich auf die Wange. »Du bist einfach großartig, Dad!«
Ich schaute ihr nach, wie sie über die Straße rannte, und rutschte dann ans Steuer hinüber. Vom Fußboden leuchtete mir etwas Helles entgegen. Ich beugte mich vor und hob es auf. Ein schmales, goldenes Zigarettenetui glänzte im Sonnenschein. Langsam drehte ich es in der Hand. In der oberen Ecke befand sich ein kleines Monogramm. Ein Wort.
Elaine.