EPILOG

»Ich werde dich so vermissen. Ich fasse es nicht, dass du mich verlässt.« Erin ließ sich neben mir auf das Sofa der Hellers plumpsen. Lucas’ Abschlussfeier war eine Grillparty im Garten, und wir waren für ein paar kostbare, klimatisierte Minuten vor der Hitze und der Feuchtigkeit geflohen.

Ich lehnte den Kopf an ihre sonnengebräunte Schulter. »Warum kommst du nicht mit?«

Sie lachte und stützte den Kopf auf meinen. »Diese Idee ist genauso albern wie die, dass du hierbleibst. Du musst gehen und deine ganzen tollen Sachen durchziehen, und ich muss hierbleiben und meine machen. Aber das heißt nicht, dass es nicht voll doof ist.«

Ich hatte mich an drei Musikkonservatorien beworben, um im Herbst zu wechseln. Es kam mir alles ein bisschen unwirklich vor, bis ich nach dem Vorspielen in Oberlin – meiner ersten Wahl – vor ein paar Wochen eine E-Mail bekam, dass ich angenommen worden war.

»Ja, und ich glaube, du musst auch hierbleiben, um Chaz im Auge zu behalten.«

Erins Widerstand gegen Chaz’ Versuche, die Trennung rückgängig zu machen, war am Valentinstag gebrochen, als er mit Reservierungen für »ihren« Bed & Breakfast auftauchte, nachdem er zwei Wochen lang jeden Tag Blumen geschickt hatte, die unser Wohnheimzimmer in ein Treibhaus verwandelt hatten. Mit Erins Hilfe hatte Chaz den bevorstehenden Vergewaltigungsprozess gegen seinen ehemaligen besten Freund überstanden – und die damit verbundenen Gerüchte und Anspielungen. Bucks kürzliches Schuldeingeständnis im Gegenzug für ein geringeres Strafmaß war für alle eine Erleichterung, auch wenn er dadurch vermutlich nicht einmal die Hälfte seiner zweijährigen Haftstrafe absitzen würde.

Durch die offene Verandatür sahen wir zu, wie sich unsere beiden Freunde im Garten unterhielten. Sie würden niemals beste Kumpels werden, aber sie verstanden sich gut, so gegensätzlich sie auch schienen.

Als Lucas mich ermutigt hatte, mich für ein Studium an einer Musikhochschule zu bewerben, war er sich so sicher gewesen, dass wir es schaffen würden. Er war sich noch immer sicher, und ich glaubte ihm, aber das hieß nicht, dass ich zwei Jahre lang eine Fernbeziehung führen wollte. Er war entschieden dagegen, dass ich meine akademische Laufbahn von seinen Plänen abhängig machte, und wollte nicht akzeptieren, dass ich blieb, wollte mir aber auch nicht sagen, wo er sich für einen Job beworben oder vorgestellt hatte.

»Ich werde dich nicht bitten, für mich aufzugeben, was du willst, Jacqueline.«

»Aber ich will dich«, hatte ich gemurmelt, obwohl ich wusste, dass er recht hatte – ich hatte keine vernünftigen Gründe parat. In gewisser Weise war er eben der Sohn seines Vaters.

Ray Maxfield war zu einem meiner Lieblingsmenschen geworden. Lucas hatte mich über die Frühjahrsferien mit zu ihm nach Hause genommen, und ich hatte ihn noch nie so nervös erlebt. Aber aus irgendeinem Grund verstanden sein Vater und ich uns auf Anhieb. Ich konnte Lucas’ Tutorpersönlichkeit in ihm erkennen – seinen trockenen Humor und seine Intelligenz. Am Abend vor unserer Abreise stöberte Ray auf dem Speicher seines Strandhauses und kam dann mit drei gerahmten Aquarellen eines kleinen, am Strand herumtollenden Jungen herunter. Seine Mutter hatte jedes dieser Gemälde ihres einzigen Kindes in einer Ecke signiert – Rosemary Lucas Maxfield. Wir hatten sie in Lucas’ Schlafzimmer aufgehängt, über seinem Schreibtisch.

Noch seltsamer war, dass Ray jetzt mit Charles und Cindy draußen saß. Er hatte sich anlässlich der Abschlussfeier seines Sohnes eine Auszeit von seinem Fischerboot genommen – zum ersten Mal, seit er aus Alexandria weggezogen war.

»Ich habe am Freitag einen Job angenommen.«

Das war’s. Nachdem er sich in seinem Abschlusssemester für Dutzende Jobs beworben hatte, hatte Lucas mehrere erste und ein paar zweite Vorstellungsgespräche gehabt. Vor einer Woche hatte ich Charles zu Cindy sagen hören, er hätte ein solides Angebot von einer Ingenieurfirma in der Stadt bekommen. Ich hatte schon auf seine Eröffnung gewartet.

Wenn ich im August nach Oberlin ging, würden wir zwölfhundert Meilen voneinander getrennt sein.

»Ach ja?« Ich vermied es, ihn anzusehen, um nicht in Tränen auszubrechen.

Während ich die Essensreste, die Cindy uns mitgegeben hatte, in den Kühlschrank packte, gab ich keinen weiteren Kommentar ab. Er lehnte sich gegen den Küchentresen und beobachtete mich. Schließlich, als alles verstaut war, konnte ich das Unvermeidliche nicht länger hinausschieben.

Als er meine Miene sah, nahm er meine Hand. »Komm her.«

Während er mich zum Sofa führte, blinzelte ich die Tränen weg und hielt mir selbst eine Standpauke, die hauptsächlich aus Hör auf zu heulen bestand.

Er setzte sich in eine Ecke des Sofas und zog mich in seine Arme. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu, während er über die praktischen Aspekte des Jobs sprach, die Größe des Unternehmens, das eindrucksvolle Gehalt und den Eintrittstermin – die zweite Juliwoche. Vor allem fragte ich mich, wie oft ich Zeit haben würde, nach Hause zu fliegen. Freie Wochenenden waren für Musikstudenten praktisch undenkbar. Pflichtkonzerte und Aufführungen, an denen man teilnehmen oder die man besuchen musste, gab es am laufenden Band.

»Meine einzige Frage ist daher – will ich in Oberlin leben und nach Cleveland pendeln oder in der Nähe von Cleveland leben und zu dir pendeln?« Den Kopf auf den Arm gestützt, blickte er mich an und wartete.

Ich blinzelte. »Was?«

Er lächelte unschuldig. »Ach – habe ich dir den Teil gar nicht erzählt? Die Firma hat ihren Sitz in Cleveland.«

»Cleveland, Ohio? Du hast einen Job in Cleveland, Ohio, angenommen?« Cleveland war nur eine gute halbe Stunde von meinem College entfernt.

»Das habe ich.«

Meine Augen füllten sich mit Tränen. »Aber warum?«

Er zog eine Augenbraue hoch, nahm seinen freien Arm herunter und steckte mir eine Haarsträhne hinters Ohr. »Du hast doch das Gehalt gehört, oder? Und außerdem will ich in deiner Nähe sein.« Er wischte mir mit einem Daumen eine Träne von der Wange und fügte hinzu: »Vor allem will ich in deiner Nähe sein.«

Ich dachte an all das, was ich daraus gelernt hatte, dass ich Kennedy gefolgt war, all das, worum mich Lucas, wie er geschworen hatte, niemals bitten würde. »Aber das ganze Zeug, das du zu mir gesagt hast – dass ich nicht aufgeben soll, was ich sein will oder was ich tun will, um mit dir zusammen zu sein –, gilt das nicht auch für dich?«

Er nahm mein Gesicht in seine Hände und hielt meinen Blick fest. »Erstens einmal ist es ein toller Job, und ich freue mich darauf.« Als er mich näher an sich zog und mich küsste, beugte ich mich über seine Brust und glitt mit einer Hand unter sein T-Shirt. Ich vergaß ganz, dass er mit seiner Erklärung noch nicht fertig war, bis er mir in den Mund flüsterte: »Und zweitens bin ich zwar ehrgeizig, aber ich kann fast überall erfolgreich sein.« Er stand auf und küsste mich weiter, während er mich in sein Zimmer trug. Als er mich aus seinen Armen auf den Boden gleiten ließ, riss ich mir mein Tanktop herunter, rutschte zur Mitte des Betts und sah zu, wie er sich sein T-Shirt über den Kopf zog. Dabei hätte ich ihm schon den ganzen Tag zusehen können … wenn ich nicht gewusst hätte, was als Nächstes kam.

Er kroch vom Fußende des Betts zu mir hoch, legte sich langsam auf mich und drückte mir beide Arme über den Kopf, sanft, wie beim allerersten Mal, als er mich gezeichnet hatte. Mit einer Hand legte er meine Handgelenke übereinander und hielt sie fest. Er hatte mir jede nur erdenkliche Weise beigebracht, um diesem Griff zu entkommen, aber das wollte ich gar nicht. Er war in Zeitlupenstimmung – einer meiner Lieblingsstimmungen, auch wenn das hieß, dass er mich um den Verstand bringen würde, bevor wir fertig waren. Ich biss mir vor Vorfreude auf die Lippe.

Er starrte auf mich hinunter, und ich betrachtete seine schönen Augen von Nahem, etwas, was ich nie leid wurde. »Was ich nicht überall tun kann, ist, mit dir zusammen sein.« Er senkte seinen Mund zu mir herab, glitt mit der Zunge über meine Lippen und mit den Fingerspitzen über meine Haut, bis ich mich hochwölbte und mein Mund mit seinem verschmolz.

Er ließ meine Handgelenke los, und ich schlang ihm die Arme um den Hals. Ich spürte unsere Herzen im Einklang miteinander schlagen, während seine Lippen mich von meinem Ohr hinunter mit Küssen bedeckten. »Die Entscheidung, mit dir zusammen zu sein, fällt mir nicht schwer, Jacqueline«, murmelte er, während er ein letztes Mal zurückwich, um mir in die Augen zu blicken. »Es ist einfach. Unglaublich einfach.«