Kapitel 23

Das von der Nachmittagssonne erhitzte Blech des Dachs begann zu knacken, als der Tag sich seinem Ende zuneigte und es kühler wurde. Schmeißfliegen summten laut in Kates Büro herum und prallten mit ihren großen, schwarzen Körpern immer wieder gegen die Fensterscheibe. Kate saß da und starrte aus dem Fenster hinaus. Sie sah zu, wie Matilda und Paterson ihre Hinterteile in den warmen Nordwind hielten und vor sich hin dösten. Die Bewegung ihrer vom Wind zerzausten Schweife war dabei ein Echo der tanzenden Zweige der im vollen Laub stehenden Obstbäume. Staub wirbelte auf den von der Sonne ausgedörrten Koppeln auf und schwebte dann als schmutzige, graue Wolke über die Zäune davon. Die Sonne ging bereits unter, aber es war noch immer sehr warm. Kate seufzte müde, als sie ihren Schreibtisch aufräumte. Die Arbeitswoche war vorbei, und gleich würde sie Nell bei Daves Mutter abholen.

Sie wurde in ihren Gedanken unterbrochen, als sie ein lautes Klopfen an der Tür hörte, dann das Stampfen von Stiefeln und das Klappern von hohen Absätzen, das durch den Flur hallte. In der Tür standen Dave und Janie. Dave hatte einen Sixpack Bier unter dem Arm. Janie trug ein sexy schwarzes Kleid, in dem ihre Kurven und ihr blondes Haar besonders gut zur Geltung kamen. Dave trug denselben Anzug wie damals, als er Janie kennen gelernt hatte. Er sah aus wie eine Mischung aus einem Obdachlosen und James Bond kurz nach einem Kampf mit einem Schurken.

Kate erinnerte sich durchaus noch an die gelbe Einladungskarte, die sie vor ein paar Monaten weggeworfen hatte. Der verdammte Rouseabout Ball! Sie waren doch alle einer Meinung gewesen, dass die B&S-Bälle nichts mehr für sie waren und sie deshalb auch nicht mehr hingehen würden. Kate verdrehte die Augen.

»Das soll wohl ein Scherz sein«, sagte sie.

Janies Gesicht strahlte vor Übermut.

»Nein, es ist kein Scherz. Es wird sicherlich lustig. Ich habe das Geld schon vor einer Ewigkeit überwiesen. Für uns alle.«

»Nein. Nein. Nein. Nein. NEIN!«

»Es ist alles schon geregelt. Die Kinder bleiben bei Daves Mutter. Nell will nur sehen, wie du aussiehst, wenn du dich fein gemacht hast, dann kann es auch schon losgehen. He, du kannst dich doch nicht ewig vor der Welt verstecken.«

»Das mache ich doch auch nicht! Ich bin fast jeden Tag draußen und arbeite.«

»Aber du amüsierst dich nie. Das ist bestimmt nicht gut für dich.«

»Ich kann da nicht hin. Und ich will es auch nicht.«

»Sieh es doch einfach so, als würdest du wieder auf das Pferd aufsteigen, das dich abgeworfen hat«, sagte Dave. »Wir passen schon auf dich auf. Wir lassen nicht zu, dass du dich wieder volllaufen lässt.«

»Nein!«

Dave warf demonstrativ einen Blick auf seine Uhr.

»Wir sind jetzt schon seit fast fünfzehn Minuten hier, damit habe ich schon $ 2.50 für den Babysitter ausgegeben.«

»Du bezahlst deine Mutter doch nicht dafür, dass sie auf die Kinder aufpasst, Dave. Also komm mir nicht damit. Ich werde gleich zu ihr rübergehen und ihr mit den Kindern helfen, wenn ihr fort seid.«

»Kate … bitte. Komm doch mit.«

Kate sah ihre Freunde an und seufzte.

»Aber was ist, wenn er auch da ist?«

Kate dachte an die vielen Monate, die inzwischen vergangen waren, seit sie Nick gesagt hatte, dass Nell seine Tochter war. In dieser Zeit hatte sie nur ein einziges Mal etwas von ihm gehört. Er hatte ihr eine Nachricht auf den Anrufbeantworter gesprochen.

»Was ich gesagt habe, tut mir leid«, hatte er leise gemurmelt. »Diese Neuigkeit war für mich ein großer Schock. Ich brauche einfach etwas Zeit, um damit klarzukommen.« Dann hatte er sich geräuspert. »Lass mich wissen, wenn die Welpen da sind. Ich kann dir helfen, sie zu verkaufen.«

Die reservierte Nüchternheit in seiner Stimme hatte Kate dabei am meisten wehgetan. Sie hatte die Nachricht wieder und wieder abgespielt und versucht, aus seinem Ton irgendetwas herauszuhören, was nach Vergebung klang. Sie hatte das dringende Bedürfnis verspürt, ihn zurückzurufen, wollte ihn gleichzeitig aber nicht unter Druck setzen. Also hatte sie stattdessen ihre Chefin Lisa angerufen und sie gebeten, die Beratung für die McDonnells zu übernehmen. Sie hätte es einfach nicht ertragen, noch einmal nach Rutherglen zu fahren.

»Ich befinde mich in diesem Fall in einem Interessenkonflikt«, hatte Kate Lisa erklärt. Lisa hatte nicht nachgefragt.

»Kein Problem«, hatte sie fröhlich gesagt. »Schick mir eine E-Mail mit den Details, ich melde mich bei den Leuten.«

Als die Wochen ins Land zogen und es auch im Frühling nicht genügend regnete, wurde Kate mit den Sorgen und Nöten ihrer anderen Kunden geradezu überhäuft. Aber sie war dankbar dafür, dass sie so viel zu tun hatte. Es lenkte sie von den vielen Fragen ab, die ihr ständig im Kopf herumgingen und die sich alle samt und sonders um Nick drehten.

Jetzt sah sie Dave und Janie an und verspürte zugleich Angst aber auch Freude bei dem Gedanken, Nick bei dem B&S vielleicht wiederzusehen.

»Nick wird nicht da sein«, sagte Janie.

»Woher willst du das denn wissen?«

Dave schüttelte den Kopf. »Er wird sicher nicht dort sein. Vertrau mir einfach. Ich habe ihn heute bei den Elders getroffen, und da hat er mir gesagt, dass er nicht kommt. Er hat gesagt, das sei nur was für junge Leute.«

Kate sah Dave mit schmalen Augen an. »Was soll das denn heißen? Er ist jung.«

»Nein, ist er nicht. Er ist genauso ein alter Langweiler geworden wie du. Er kommt bestimmt nicht.«

»Warum willst du ihm überhaupt aus dem Weg gehen?«, fragte Janie. »Du hast ihm das mit Nell doch gesagt. Jetzt kannst du einfach nach vorn sehen. Es ist an der Zeit, dass du wieder anfängst zu leben, Kate.«

Dave öffnete eine Dose Bundy und gab sie ihr.

»Du hast frei. Wir haben dir für das ganze Wochenende einen Babysitter besorgt. Jetzt zieh dich schon an, Mädchen. Auf uns wartet ein B&S-Ball!«

»Aber ich habe nichts anzuziehen.«

»Das denkst auch nur du«, sagte Janie aufgeregt, als sie mit ihren hohen, schwarzen Schuhen aus dem Zimmer klapperte. Innerhalb kurzer Zeit war sie wieder zurück. Sie hielt eine Plastiktüte in der Hand, aus der sie jetzt mit einer schwungvollen Geste ein wunderschönes hellblaues Kleid zog.

»Ta-ra!«, rief sie laut und hielt es Kate auf einem Kleiderbügel aus Draht vor die Nase. »Der Stoff war eigentlich für dein Brautjungfernkleid vorgesehen. Ich habe mir gedacht, dass ich ihn genauso gut auch für diesen Anlass hier verwenden kann. Er war übrigens nicht teuer. Ein Sonderangebot. Da du am letzten Wochenende netterweise auf die Kinder aufgepasst hast, hatte ich endlich Zeit, etwas zu nähen, was mir wirklich Spaß macht!«

Überwältigt von der Großzügigkeit und der Hartnäckigkeit ihrer Freundin, rieb Kate den wirklich prächtigen Stoff vorsichtig zwischen ihren Fingerspitzen.

»Ach, Janie, das ist wunderschön.« Sie sah sie an. »Es tut mir so leid. Ich hätte damals deine Brautjungfer sein sollen. Es tut mir wirklich leid, dass ich nicht zu eurer Hochzeit gekommen bin.«

»Ach was! Aber es wird dir bestimmt noch leidtun, wenn du heute Abend nicht mitkommst. Heute Abend wirst du nämlich meine Brautjungfer sein. Komm schon, zieh es an.«

Das Kleid passte perfekt. Gerade geschnitten und eng anliegend, schmiegte sich der blaue Stoff um ihre Brüste, ihren Oberkörper und ihre festen Oberschenkel, während er am Saum ein wenig ausgestellt war. Kate betrachtete sich im Spiegel und wünschte sich dabei unwillkürlich, dass Nick sie in diesem Kleid sehen würde. Sie zog ein Paar Schuhe an und ging wieder ins Wohnzimmer.

»Darin gehe ich, als hätte ich mir in die Hosen gemacht«, sagte Kate und stakste durch das Zimmer, wobei sie immer einen Fuß vor dem anderen kreuzte. »Findet ihr nicht, dass es zu viel von meinem Schwabbelfleisch zeigt?« Sie ließ die Haut ihrer Oberarme wackeln.

»Jetzt stell dich nicht so an. Du bist immer viel zu kritisch mit dir. Du siehst absolut fantastisch aus. Ich habe beim Zuschneiden zwar nur geraten, aber ich glaube, ich habe deine Maße ganz gut geschätzt, jedenfalls bringt es deine scharfen Kurven richtig gut zur Geltung.«

»Das tut es in der Tat«, sagte Dave mit einem anerkennenden Nicken.

»Bist du sicher, dass du mir nicht schnell noch einen Elvis-Anzug nähen könntest? Dieses Kleid hier ist viel zu edel für mich, und es ist auch viel zu elegant für einen B&S«, sagte Kate.

Janie sah sie mit schmalen Augen an und verschränkte dann die Arme vor der Brust: »Dann kommst du also doch mit?«, fragte sie.

»Also gut«, sagte Kate und hob ihre Arme als Zeichen der Aufgabe. »In Ordnung. Aber ich werde mich bestimmt nicht volllaufen lassen. Ihr könnt mich beim Wort nehmen.«

Dave und Janie hoben ihre Bierdosen, um sich zuzuprosten, mussten dann aber in Deckung gehen, da Dave mit seiner Dose an die Glühbirne gestoßen war und ein Schauer aus Glas, Bier und Funken herabregnete. Sie standen im Halbdunkel des Zimmers und bogen sich vor Lachen.


Alice starrte mit leerem Blick auf den Fernsehbildschirm, als Nick das Wohnzimmer im Farmhaus von Rutherglen betrat. Sie sah völlig erschöpft aus.

»Ist Dad noch im Bett?«

Alice sah ihn verwirrt an. Als sie ihren gutaussehenden Sohn in seinem Smoking näher in Augenschein genommen hatte, begann sie zu lächeln. Sie hob den Arm und winkte matt. »Ja, er hat sich noch mal hingelegt. Es geht ihm nicht gut.«

»Er wird sich schon wieder erholen. Das tut er doch immer. Das wird schon wieder, Mama«, sagte Nick. Er wartete, betrachtete ihren Heiligenschein aus blonden Haaren, ihre Füße, deren Spitzen nach innen zeigten. In ihrem Sessel, der viel zu groß für sie war, sah sie aus wie ein kleines Mädchen. Wieder fiel ihm auf, wie müde sie aussah. »Ich würde dich ja mitnehmen, um jemanden auf dem B&S dabeizuhaben, mit dem ich richtig Eindruck schinden kann. Allerdings glaube ich kaum, dass Dad das gut finden würde.«

Alice lächelte.

»Felicity begleitet dich ja. Sieh zu, dass du heute Abend gut auf sie aufpasst. Sie kommt mir nicht wie eine typische B&S-Gängerin vor.«

»Ich habe mir vorgenommen, ihr meine wilde Seite zu zeigen. Danach will sie mich vielleicht gar nicht mehr haben.«

Ein betretenes Schweigen folgte. Nicks Worte hingen bedeutungsschwer im Raum. Alice richtete sich in ihrem Sessel auf, nahm die Fernbedienung und stellte den Ton des Fernsehers ab. Dann wandte sie sich an Nick.

»Ich hoffe, du nimmst mir meine Frage nicht übel, aber … ist zwischen euch alles in Ordnung?«

Nick starrte seine auf Hochglanz polierten, schwarzen Schuhe an. In den letzten paar Wochen war Felicity nur noch nach Rutherglen gekommen, um sich um ihre Pferde zu kümmern. Sie war nie länger als nötig geblieben. Sie war auch nicht mehr in die Küche gekommen, um Lance herumzukommandieren und Alice zu umschmeicheln. Mit gesenktem Kopf, sah Nick seine Mutter an. Er räusperte sich.

»Ich habe ihr etwas gesagt, das ihr absolut nicht gefallen hat«, murmelte er.

»Ach?« In Alices Kopf überschlugen sich die Gedanken. Sie legte den Kopf schief, runzelte die Stirn und bat ihn stumm und mit aufforderndem Blick weiterzusprechen.

»Ich glaube aber, dass sie sich inzwischen damit abgefunden hat«, fuhr Nick unsicher fort.

»Ist es irgendetwas, das ich wissen sollte?«

Nick schüttelte den Kopf, ging zu seiner Mutter und kniete sich vor sie hin. Er hatte die Hände gefaltet wie ein bußfertiger Sünder.

»Ach, Mama«, stöhnte er. Er hatte es jetzt schon seit Wochen mit sich herumgetragen. Jeden Tag hatte er unzählige Male an das gedacht, was Kate ihm gesagt hatte. Das kleine Kind, mit dem er bei der Schafschur auf Bronty in der Scheune gespielt hatte, war ihm einfach nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Jeden Tag hatte er auch Kate vor seinem inneren Auge gesehen. Zuerst hatte er versucht, die Gedanken an sie zu verdrängen, indem er Felicity besonders viel Aufmerksamkeit gewidmet hatte. Er hatte sich geradezu zwanghaft darum bemüht, dass ihre Beziehung funktionierte. Mit der Zeit hatte er sich jedoch immer mehr als Betrüger gefühlt.

Als er jetzt vor seiner Mutter kniete, spürte er, wie ihm die Tränen in die Augen schossen. Der besorgte Ausdruck auf dem Gesicht seiner Mutter machte das Ganze nur noch schlimmer. Dann platzte es einfach aus ihm heraus.

»Sie hat ein Kind. Kate Webster hat ein Kind … Und das Kind ist von mir.«

Alices Augen weiteten sich vor Schreck. Sie schlug eine Hand vor den Mund. Als sich eine gespannte Stille im Raum auszubreiten begann, legte sie ihre Hände in den Schoß und versuchte, sich mit aller Macht zu beherrschen. Sie bemühte sich sehr darum, vor ihrem Sohn zu verbergen, wie schockiert sie war. Sie schluckte, und versuchte sich dabei verzweifelt in Erinnerung zu rufen, ob sie das Kind schon einmal gesehen hatte. Sie sah Kate vor sich. Das intelligente, geistreiche und hübsche dunkelhaarige Mädchen, das in ihrer Küche gesessen und sie beraten hatte. Alice begann am ganzen Körper zu zittern. Ihr Sohn hatte also ein Kind in die Welt gesetzt! Er musste damals noch sehr jung gewesen sein. Kates Kind war doch schon drei, wenn nicht sogar schon vier Jahre alt.

»Es tut mir so leid«, sagte Nick. »Ich weiß, dass das für dich ein großer Schock ist.« Er stand auf und legte den Arm um sie, so als könne er sie dadurch dazu bewegen, ihn zu verstehen.

Als Alice seinen frischen Geruch einatmete und seine Wärme spürte, begann sich das, was er gerade gesagt hatte, bei ihr zu setzen. Ein Kind, dachte sie. Ein kleines Mädchen, das zu ihrem Sohn gehörte. Wenn sie es wollte, konnten ihre nächsten Worte freundlich und herzlich sein. Sie konnte sie so wählen, dass sie ein Segen waren, ganz egal, was auch geschehen war. Alice spürte, wie sie ruhiger wurde. Ihr Körper entspannte sich. Sie würde auch das durchstehen.

Nick trat einen Schritt zurück und hoffte dabei, im Gesicht seiner Mutter so etwas wie Vergebung zu finden. Er forschte in ihren glänzenden Augen. Sie lächelte ihn freundlich an.

»Ist das alles?«, fragte sie Nick, nahm seine Hand und hielt sie fest. »Davon geht doch die Welt nicht unter, mein Junge.« Sie legte eine ihrer Handflächen auf sein Gesicht und kämpfte dabei gegen ihre Tränen an.

Als Nick wenig später das Zimmer seines Vaters betrat, hatte er das Gefühl, in der Höhle eines sterbenden Tieres zu stehen. Ein übler Geruch hing im Zimmer. Sein Vater lag zusammengekrümmt unter der Bettdecke. Nick konnte nicht sagen, ob er wach war oder schlief.

»Dad?«, fragte er leise. Er warf seiner Mutter, die im Flur stand, einen kurzen Blick zu. Sie winkte ihm aufmunternd zu, wobei sie noch immer ein zerknülltes Taschentuch in der Hand hielt. »Da ist etwas, das ich dir sagen muss«, sagte Nick. Keine Antwort. Nick fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen und verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Er schob die Hände in die Hosentaschen, zog sie wieder heraus, rieb die Handflächen aneinander. Sie fühlten sich trocken und gleichzeitig irgendwie feucht an.

In den vergangenen Wochen hatten ihm die Worte auf der Zunge gelegen. Aber er hatte sie noch kein einziges Mal ausgesprochen. Weder gegenüber seiner Mutter noch gegenüber seinem Vater, obwohl es ihm ein dringendes Bedürfnis gewesen war, ihnen zu sagen, dass er eine kleine Tochter hatte. Nachts hatte er sich oft vorgestellt, wie sich das Leben seines Vaters verändern könnte, wenn er wüsste, dass er ein Enkelkind hatte. Dann nämlich hätte er etwas, was ihn beschäftigen und von seinen Schmerzen ablenken könnte. Wäre er böse auf ihn? Würde er sich freuen? Würde er sich für ihn schämen? Oder wäre es ihm vielleicht peinlich? Nick konnte es nicht sagen. Er war ja selbst kaum in der Lage, das Ganze zu verstehen.

»Dad?« Er drehte sich zu Alice um und formte lautlos mit den Lippen: »Er schläft.« Sie bedeutete ihm mit einem Wink, dass er aus dem Zimmer kommen sollte.

»Dann also am Sonntag«, sagte sie, rückte ihm die Fliege zurecht und wischte noch einmal mit der Hand über die Schultern seiner Smokingjacke. »Wenn du am Sonntag nach Hause kommst, kannst du es ihm sagen.«


Nick wartete vor dem Schwesternheim auf Felicity, die jetzt wie ein Mannequin auf dem Laufsteg den Weg entlang auf seinen Pick-up zuging. Ihr Kleid schimmerte silbern wie ein Fisch im Wasser, dazu trug sie Riemchensandalen mit hohen Absätzen. Die Nachmittagssonne spiegelte sich auf den Pailletten ihres Kleides und ließ winzige Lichtreflexe durch den Garten tanzen. Nick musste blinzeln, als er sie ansah. Schmale Träger umschmeichelten ihre blassen Schultern und ihre blonden Haare waren elegant nach oben gesteckt. An ihren Ohrläppchen hingen lange Ohrringe mit glitzernden Strasssteinen. Dazu trug sie eine große, schwarze, mit Ziermünzen bestickte Seidentasche über ihrer Schulter.

Nick, der mit verschränkten Armen und an den Knöcheln überkreuzten Beinen an seinem Pick-up lehnte, konnte sich nicht dazu überwinden, etwas zu ihr zu sagen. Er sah ihr einfach mit unbewegtem Gesicht zu, wie sie auf ihn zukam.

In den letzten Wochen war ihr Verhältnis mehr als nur angespannt gewesen. Felicity hatte seit dem Tag, an dem Kate nach Rutherglen gekommen war, geahnt, dass irgendetwas nicht stimmte. Sie wollte wissen, was los war und hatte so lange nachgebohrt, bis er es ihr schließlich gesagt hatte. Von dem Wutanfall, den diese Information bei ihr ausgelöst hatte, war er dann völlig überwältigt gewesen. Jetzt lag das Wissen, dass er Nells Vater war, wie eine offene Wunde zwischen ihnen.

Nick richtete sich auf und ging auf sie zu, legte seine Hand auf ihren Rücken und führte sie zum Pick-up. Keiner von beiden verzog auch nur die Miene.

»Hast du einen Mantel oder etwas Ähnliches dabei?«, fragte er sie schließlich.

»Ja, danke, Nick«, antwortete sie ihm schroff. »Und vielen Dank auch, dass du mir ein so nettes Kompliment zu meinem Aussehen gemacht hast.«

»Tut mir leid«, sagte er. »Aber das versteht sich doch von selbst. Du siehst wie immer fantastisch aus. Ich mache mir nur Sorgen, dass du dich erkälten könntest.«

»Ihr Farmer. Bei euch muss immer alles praktisch sein. Für Romantik ist da kein Platz, oder?« Sie warf ihm einen kurzen Seitenblick zu. Die Sonne ließ die Glitzerpartikel in ihrem Puder und ihrem Rouge aufleuchten. Nick öffnete ihr die Wagentür und forderte sie mit einer übertriebenen Geste zum Einsteigen auf.

»Ich habe eine Jacke und ein Paar Schuhe zum Wechseln dabei.« Sie nahm die Tasche von ihrer Schulter und drückte sie ihm in die Hand. »Du könntest mir ruhig ein bisschen mehr zutrauen.«

Er sah zu, wie sie ihre sorgfältig mit Wachs enthaarten, eingecremten und gebräunten Beine elegant in den Pick-up schwang und ihre Füße in den hochhackigen Schuhen vorsichtig auf die schmutzige und mit Steinchen übersäte Fußmatte setzte. Er wusste ganz genau, was sie jetzt gerade dachte. Nämlich, dass er den Wagen hätte reinigen sollen.

Nick hatte inzwischen hinter dem Steuer Platz genommen und startete den Motor. Zugleich erwachte auch das Radio zum Leben. 1620 AM Country Music Tamworth, ein wenig verrauscht, da das Programm vom Festland kam. Gerade lief Tania Kernaghans neuester Song.

»Yee ha, it’s going to be a wild ride, Yee ha! That’s how I wanna live our lives …«

Nick drehte lauter und spürte dabei wieder dasselbe Schwindel erregende Kribbeln im Bauch, wie damals, als er das letzte Mal zu einem B&S gefahren war. Er fragte sich, ob Kate Webster auch kommen würde, und hoffte, dass es so wäre. Er musste sie unbedingt wiedersehen. Er griff unter den Sitz, zog zwei Dosen Bundy hervor und bot Felicity eine davon an. Sie schüttelte den Kopf. Ihre Ohrringe klimperten. Nick öffnete die Dose und trank einen großen Schluck der süßen, dunklen Flüssigkeit. Er wünschte sich, dass Felicity wenigstens hin und wieder einmal etwas mit ihm trinken würde.

Felicity stellte das Radio leiser. »Können wir uns nicht etwas anderes anhören?«

»Warum? Der Song ist doch gut.« Er stellte das Radio wieder lauter und sang dann mit: »I love you just the way you are. Yee ha!« Felicity seufzte und starrte dann wortlos aus dem Fenster. Nachdem sie ein paar Minuten geschwiegen hatte, stellte sie die Musik wieder leiser.

»Es funktioniert so nicht.«

»Doch, natürlich tut es das. Der Empfang ist nur nicht besonders gut«, sagte Nick und stellte das Radio wieder lauter.

»Jetzt stell dich nicht so dumm«, sagte sie und drehte die Musik wieder leiser. »Ich meine doch nicht das Radio.«

Nick starrte unverwandt auf die Straße vor ihnen.

»Rede mit mir«, sagte sie schließlich.

»Worüber?«

»Über irgendetwas. Über uns zum Beispiel.«

»Und was soll ich sagen?«

»Irgendetwas.«

Nick schwieg. Irgendwann sagte er dann völlig frustriert. »Warum sollen wir über uns sprechen, wenn wir doch darüber sprechen könnten, dass Dad ein Krüppel und Mama deshalb das reinste Nervenbündel ist. Das ist doch genau das, worüber wir am meisten sprechen. Ist es nicht so?«

Felicity schloss verärgert die Augen, erwiderte jedoch nichts.

Nick hätte sie am liebsten angebrüllt, wollte ihr sagen, dass er, wenn sie Kate wäre, mit ihr über die Dinge sprechen könnte, die ihm wichtig waren. Zum Beispiel, was er, da es noch immer nicht geregnet hatte, mit den Zuchtrindern tun sollte. Oder was er gegen die Käferlarven auf den oberen Weiden unternehmen sollte. Oder aber er dürfte, wenn Kate da wäre, einfach nur schweigen. Er wäre nicht gezwungen, irgendetwas zu sagen. Er könnte sich in seinen Gedanken verlieren, so wie ihm das in der Scheune von Bronty möglich gewesen war.

»Du könntest vielleicht mit deinem neuen Lieblingsthema anfangen«, sagte er. »Du weißt schon, welches. Dass ich dich verraten habe. Wie wär’s damit? Auch wenn ich dich, wie ich dir schon mehrfach versichert habe, noch nicht einmal gekannt habe, als ich mit Kate zusammen war.«

Felicity drehte sich wütend zu ihm um. »Musst du denn so ekelhaft sein?«

»Ich bin nicht ekelhaft«, fuhr er sie an. »Du bist diejenige, die ekelhaft ist. Ich bin in meinem ganzen Leben noch nie so oft am Telefon angeschnauzt worden wie von dir.«

»Vielleicht hast du es ja verdient«, murmelte Felicity und strich dabei ihr Kleid über den Knien glatt.

»Was? Nur weil ich vor langer Zeit einen Fehler gemacht habe?«

»So nennst du das also? Einen Fehler? Wenn du zur Abwechslung mal das hier zum Denken benutzt hättest«, sie tippte sich an die Stirn, »anstatt das Ding in deiner Hose, dann gäbe es jetzt keinen Fehler, der in Gestalt einer Dreijährigen durch die Gegend läuft! Wenn du das doch nur endlich begreifen würdest, Nick. Es ist nicht gerade schön, etwas Derartiges von dem Menschen zu hören, den man in ein paar Monaten heiraten will!«

»Und wenn du dir endlich einmal darüber Gedanken machen würdest, was es wirklich heißt, Farmer zu sein, anstatt nur ständig große Häuser und Pferde im Kopf zu haben, dann würdest du mich vielleicht gar nicht mehr heiraten wollen!«

»Das ist gemein, Nick, und das weißt du auch«, sagte Felicity und wandte sich wieder von ihm ab. Sie streckte den Arm aus und stellte das Radio so laut, dass der ganze Wagen bebte. Ihre Unterhaltung war beendet. Nick heftete seine Augen wieder auf die Straße. Zum Teufel mit ihr, dachte er wütend. Wenigstens wartete der B&S-Ball auf ihn.