Kapitel 15

Während der Schafschur in der Scheune verging die Zeit anders. Kate wusste das. Die eine Woche dauernde Schur glich einem Film, bei dem immer wieder ein und dieselbe Spule abgespielt wurde, und das, so kam es ihr jedenfalls vor, monatelang. Kate fühlte sich wie im Himmel. Lange Tage mit Nick und Nell in der Scheune. Kurze Nächte mit Annabelle und ihrer Familie im Haus. Trotz ihrer Müdigkeit sprang Kate schon in aller Früh, wenn es noch dunkel war, voller Begeisterung aus dem Bett, um Nell fertig zu machen, denn sie wusste, dass sie den Tag zusammen mit ihrem neuen Helfer verbringen würde. Sie sah Nick vor sich, wann immer sie die Augen schloss. Sah, wie er seinen Kopf nach vorn beugte, um die Wolle zu sortieren, und wie seine festen Muskeln unter dem eng anliegenden Stoff seiner Jeans spielten, wenn er die Vliese in den Wollbehälter stampfte. Sah seine muskulösen Arme, wenn er sich, zwischen Wollpaketen stehend, an einem der Balken der Scheune hochzog, um einem der Scherer zu helfen. Sie dachte Tag und Nacht nur noch an ihn.

Im ersten Licht der Morgendämmerung saß Nell dann in der alten Garage auf Henrys Knien und wartete darauf, dass sich die Glimmlampe im kalten Pick-up ihres Großvaters abschaltete. Ihre Augen strahlten, und unter ihrem kleinen rosa Hut waren ihre blonden Locken zu sehen. Kate saß auf dem Beifahrersitz, den Korb mit der Verpflegung auf dem Schoß, während die Hunde auf der Ladefläche Dampfwölkchen ausatmeten und hin und her sprangen. Wills Abwesenheit war zwar noch immer mehr als deutlich spürbar, aber sie war nicht mehr so unerträglich.

Wenn Kate dann in der Scheune die Wollbehälter aufstellte und die Schafe in die Pferche trieb, hielt sie bereits ständig durch die breite Verladetür nach Nicks dunklem Pick-up Ausschau. Wenn er dann hinter der Hügelkuppe auftauchte, waren die Scheinwerfer noch eingeschaltet, denn die Sonne legte erst einen noch zarten Schimmer auf die dunkle Bucht.

Später, in der Hektik der Scheune, alberten Nick, Kate und die Schafscherer miteinander herum. Sie erzählten sich Witze, lustige Geschichten und abenteuerliche Anekdoten. Sie warfen sich im Vorbeigehen ein paar Worte zu, während sie sich nach Vliesen bückten und den Besen schwangen. Dann gelang es Kate sogar manchmal, den Schmerz über Wills Tod zu verdrängten. Wenn die Männer aber schweigend arbeiteten, versuchte Kate einfach nur Nicks Gegenwart in sich aufzunehmen, verwendete sie als eine Art Tonikum, um ihren Kummer zu lindern. Während sie sich darum kümmerte, die Schafe auf die Weide zurückzutreiben und sie zu desinfizieren, dachte sie immer wieder an Nick und Henry, vor allem aber an Nick und Nell.

Manchmal, wenn sie gerade die Schafe über die Rampe in die Scheune trieb, erhaschte sie einen Blick auf Nick, wie er Nell hochhob, so dass sie, mit den Armen an den grob behauenen Balken hängend, schaukeln konnte. Dann wieder sah Kate von den hinteren Pferchen aus, wie Henry seine Enkelin mit einer Tasse warmer Milch in der Hand auf ihre Decken bettete und dann geduldig darauf wartete, dass sie einschlief, während Nick ihn dabei beobachtete, bevor die beiden Männer sich wieder an ihre Arbeit machten.

Wenn Kate in die Scheune kam und die Wollpresse einschaltete, half Nick ihr dabei, die Vliese in die stöhnende und ächzende Presse zu schieben. Sie spürte, wie sie auf ihren Oberarmen eine Gänsehaut bekam, wenn sie sich dabei einmal zufällig berührten. Wenn sie, sich gegenüberstehend, zusammen mehrere große Vliese anhoben, wünschte Kate sich, dass sich keine Wolle zwischen ihnen befände. Ihre Blicke trafen sich, und sie lächelten sich an.

Fünf Tage vergingen. Kate kamen sie vor wie fünf Monate. Als das letzte Schaf geschoren war, überkam Kate eine große Traurigkeit. Das rhythmische Zischen des Besens, als Nick den Boden mit heißem Wasser schrubbte und der Anblick der leeren Plätze, nachdem die Männer ihre Ausrüstung zusammengepackt hatten, riefen in Kate ein geradezu überwältigendes Gefühl der Einsamkeit hervor. Jetzt hatte sie sich wieder dem normalen Leben zu stellen, wo sie, anders als in der Scheune, nicht das Gefühl hatte dazuzugehören. Und auch Nick wäre nicht mehr da.

Sie hatte versucht, die Männer dazu zu überreden, noch eine große Abschlussparty zu veranstalten, hatte damit aber keinen Erfolg. Es war Freitagabend. Die Männer wollten so schnell wie möglich nach Hause zu ihren Familien oder in den Community Club zur gemeinsamen Footballwette. Sie tranken nur noch zusammen ein Bier, während sie darauf warteten, dass Henry ihnen ihre Schecks ausstellte. Ihr Aufbruch wurde vom lauten Schlagen der Autotüren und dem Aufheulen von Motoren begleitet. In der Stille, die herrschte, als sie abgefahren waren, sah Kate Nick an.

»Willst du noch ein Bier?«, fragte sie.

Er fuhr mit einem schwarzen Tintenroller über die Vorderseite eines Wollballens, den er mit Hilfe einer Schablone beschriftete, bevor er ihr antwortete. »Tut mir leid. Aber das geht leider nicht. Felicity hat heute Abend ein Essen mit ihren Kolleginnen in der Stadt.«

Als er Felicity erwähnte, verließ Kate plötzlich der Mut.

»Na, Gott sei Dank«, ließ sich Henry vernehmen, der auf dem Wolltisch saß, neben sich seine geöffnete Brieftasche und ein Taschenrechner. Das Rechnungsbuch hielt er in der Hand. »Du musst nämlich noch die restlichen Schafe auf die Weide bringen, Kate.«

Kate versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen und setzte ihr strahlendstes Lächeln auf.

»Na ja, dann nehm ich mir eben noch eins für unterwegs mit«, sagte sie, nahm sich eine kleine Bierflasche und steckte sie in eine Flaschenhalterung. Dann drehte sie sich zu Nell um. »Willst du mit mir zusammen auf dem Pferd reiten?«

»Au ja!« Nell stieg von ihrem kleinen Plastikmotorrad und folgte ihr.

»Wir sehn uns«, sagte Nick. »Ich räume hier nur noch auf, und dann bin ich auch schon weg.«

»Ja, dann tschüs«, sagte Kate und bemühte sich dabei, fröhlich zu wirken. »Und vielen Dank noch mal.«

Sie wusste, dass es töricht war, von Nick zu träumen, so wie sie das die vergangenen Tage getan hatte. Sie hatte Felicity gegenüber ein schlechtes Gewissen, und sie war sich unsicherer denn je, ob sie Nick die Wahrheit über Nell sagen sollte.


Kate saß im Sattel, die Arme um Nell geschlungen. Sie trottete hinter der Herde frisch geschorener Schafe her, die auf dem Weg immer wieder hungrig am Gras zupften. Grumpy lief hinter ihnen her. Seine hellrosa Zunge hing ihm aus dem Maul.

Die Pfosten des Weidezaunes warfen lange Schatten auf den Zufahrtsweg von Bronty. Die untergehende Sonne wärmte Kates Rücken. Nell lehnte sich an ihre Brust. Zwei Rotkehlchen flogen vor ihnen hin und her über den Weg, ließen dabei von Zeit zu Zeit flüchtige Tupfen aus schillerndem Rot auf den Pfostenspitzen aufleuchten.

Kate beugte sich ein Stück nach vorn und küsste Nell auf den Scheitel. Sie freute sich darüber, endlich wieder zu Hause zu sein, und sie war dankbar für die schöne Woche, die hinter ihr lag. Es waren Augenblicke wie dieser, weit weg von der täglichen Plackerei, die darin bestand, Betten zu beziehen, Wäsche zu waschen, Essen zu machen und mit einem Kleinkind herumzudiskutieren, in denen Kate es genoss, Mutter zu sein. Ihr wurde bewusst, dass sie an ihrer Situation um nichts auf der Welt etwas ändern wollte. Sie hatte endlich akzeptiert, dass Nell ein Teil ihres Lebens war. Kate wusste, dass es ihr jetzt nicht mehr schwerfallen würde, darauf zu verzichten, sich ständig zu betrinken und irgendwelche Männer aufzureißen. Sie und Nell waren jetzt auf Bronty, das war alles, was zählte. Hier fühlte Kate sich stark genug, um nicht nur sich selbst, sondern auch Nell vor allem zu beschützen, egal womit das Leben sie noch konfrontieren würde.

Wills Tod hatte ihr auf schockierende Weise bewusst gemacht, wie kostbar das Leben war. Wie kostbar Nell war. Und jetzt, da sie wusste, was für ein wunderbarer Mensch Nick war und dass Nell zur Hälfte seine Gene in sich trug, erschien ihr ihre kleine Tochter umso bemerkenswerter. Ihr unbeschwertes, offenes Wesen war für sie damit jetzt genauso erklärbar wie ihre Freundlichkeit. Kate erkannte jetzt die Charakterzüge zweier Menschen in ihrer Tochter. Sie wusste jetzt, was das Erbe ihres Vaters war.

Kate wünschte sich, sie könnte die Fehler der Vergangenheit ungeschehen machen. Vielleicht hätte sie es Nick schon viel früher sagen sollen. Vielleicht hätte sie einfach nach Hause kommen und ihm seine Tochter vorstellen sollen. Als Nell noch ein Baby war, hatte es Zeiten gegeben, in denen Kate sich vollkommen allein und verlassen gefühlt hatte. Wenn Nell einfach nicht mehr zu schreien aufgehört hatte, hatte Kate sie oft angebrüllt, sie solle endlich ruhig sein. Sie erinnerte sich daran, dass sie im Kinderzimmer in einer Ecke auf dem Boden gekauert hatte, genauso heulend wie ihr Baby. Sie hatte sich gefragt, warum ihr Leben so enden musste. Nell hatte brüllend in ihrem Kinderbettchen gelegen, das rosa Gesicht vor Anstrengung verzerrt, während sich die Tränen in ihren Ohren gesammelt und das Laken durchnässt hatten. Ihre kleine rosige Zunge hatte beim Schreien vibriert, und ihr zahnloser Mund war zu einem schwarzen O aufgerissen. Kate hatte auf dem Boden gesessen und sich, vom Stress und Schlafentzug zermürbt, die Haare gerauft, und sich verzweifelt gewünscht, dass sie doch abgetrieben hätte. Dann hatte sie sich voller Reue aufgerappelt, hatte Nell aus ihrem Bettchen genommen und sie an sich gedrückt. Sowohl die Erschöpfung wie auch die Angst, dieses winzige Wesen zu enttäuschen, hatten Kate in diesen Tagen, in denen sie so verzweifelt war, beinahe in den Wahnsinn getrieben. Während Nells ersten Lebensjahrs hatte Kate ständig das Gefühl gehabt, als würde sie sich durch einen dichten Nebel bewegen. Jetzt jedoch sah sie, zu welch einem bemerkenswerten kleinen Mädchen sich ihre Tochter entwickelt hatte. Nell bedeutete nicht mehr das Ende von Kates Leben, sie war sein Anfang. Sie war alles für sie. Kate spürte, dass sie jetzt die Chance hatte, ihre Tochter für ihren misslungenen gemeinsamen Anfang zu entschädigen.

Während Kate auf Matilda saß und Nell in den Armen hielt, wurde ihr mit einem Schlag bewusst, dass es da noch etwas gab, das ihren gemeinsamen Weg versperrte. Sie musste Nick endlich sagen, dass er Nells Vater war. Aber wie sollte sie das bewerkstelligen?

Plötzlich hörte sie, dass sich ihr von hinten ein Fahrzeug näherte. Kate wusste instinktiv, dass das Nick in seinem schnittigen Holden-Pick-up mit den glänzenden silbernen Überrollbügeln war. Sie drehte sich jedoch nicht um. Stattdessen richtete sie sich nervös im Sattel auf. Dabei stellte sie sich vor, wie ihre Unterhaltung ablaufen könnte.

He, Nick, du erinnerst dich doch sicher noch an den B&S? Den, auf dem ich dich vernascht habe. Nun, Nell ist das Ergebnis dieser Nacht. Kate seufzte und versuchte es noch einmal. He, Nick, was machst du denn dieses Jahr so am Vatertag? Himmel, es war hoffnungslos! Du hast so jung ausgesehen. Ich habe echt nicht gedacht, dass deine Kaulquappen schwimmen können – aber eine muss es wohl doch geschafft haben. Sie wollte es auf jeden Fall so schnodderig wie möglich sagen, so als wäre das Ganze keine große Sache. Aber während der Schafschur hatte keiner von ihnen beiden diese eine Nacht auf dem Rouseabout auch nur erwähnt. Aus welchem Grund auch immer. Ihre Erinnerungen waren unausgesprochen geblieben.

Kate verkürzte die Zügel, als Nick mit seinem Pick-up zu ihr aufschloss und dann langsam neben ihr herfuhr. Er stellte den Motor ab, und ließ den Wagen den Hang hinunterrollen. Nur die Reifen des Pick-ups knirschten auf dem Kies, während sie sich langsam und schweigend auf die Bucht zu bewegten.

Schließlich war es Nell, die zuerst etwas sagte.

»Beeilt euch, ihr Schafe«, sagte sie und strahlte Nick dabei an.

»Ja, los! Ihr Schlafmützen«, antwortete er ihr und erwiderte dabei ihr Lächeln.

»Ja … Schafmützen«, sagte Nell. Nicks Gesicht wurde wieder von diesem Lächeln erhellt. Kate stockte der Atem.

»Schlaf, Nell, nicht Schaf«, verbesserte sie ihre Tochter oberlehrerhaft. »Es heißt Schlafmützen.«

»Du bist ein kleiner Spaßvogel«, sagte Nick zu Nell, dann schwieg er wieder, und starrte auf die weißen, frisch geschorenen Schafe, die vor ihnen dahintrotteten.

»Wenn du willst, schicke ich den Hund los, damit er ihnen Beine macht. Dann kommst du früher nach Hause. Du willst doch sicher rechtzeitig zu diesem Abendessen kommen«, bot Kate an.

»Nein, ich hab’s nicht eilig«, sagte Nick.

Wie zum Beweis legte er seinen Arm lässig auf den Fensterrahmen des Pick-ups. Er rollte schweigend dahin, während Matilda mit dem Fahrzeug mühelos Schritt hielt. Kate betrachtete seinen kräftigen, schlanken Unterarm. Muskulös und sonnengebräunt bis zum Ellbogen hinauf. Muskeln, die damals in jener Nacht, als sie ihre Finger über seine Arme hatte gleiten lassen, noch nicht da gewesen waren. Sie versuchte die Erinnerung an die vom Alkohol umnebelten Stunden mit diesem mageren Burschen zu verdrängen. Sie fühlte sich jetzt wieder schutzlos. Unbehaglich.

»Danke noch mal für deine Hilfe«, sagte Kate schließlich »Ich weiß, dass es sehr viel verlangt war, deine Farm für eine ganze Woche zu verlassen.«

»Kein Problem. Bevor es nicht regnet, kann ich sowieso nicht viel machen. Nur die Tiere müssen gefüttert werden.«

»Diese beschissene Dürre.«

»Das kannst du laut sagen.«

Wieder Schweigen.

»Das mit Will tut mir wirklich sehr leid«, sagte Nick. »Du hast dich in den letzten Tagen tapfer geschlagen.«

Sie näherten sich jetzt der Weide. Das Tor stand bereits offen. Kate konnte die Schafe auf die Weide treiben und Nick dann das mit Nell sagen. Sie pfiff Grumpy herbei und schickte ihn dann an die Spitze der Herde.

»Sitz«, rief sie dem Hund zu. Die Schafe blieben stehen, sahen Grumpy an, drehten dann ihre Köpfe in Richtung des Tores. Dann gingen die ersten Schafe durch das Tor. Der Rest der Herde folgte ihnen auf die neue Weide, und schon bald war die Straße so weit frei, dass Nick mit seinem Pick-up weiterfahren konnte.

»Also,«, sagte er und startete dabei den Motor. »Man sieht sich.«

»Ja, bis dann. Und danke noch mal«, sagte Kate.

»Keine Ursache. Tschüs, Nellie-phant«, sagte er augenzwinkernd.

»Tschüs, Pick-Nick«, sagte Nell und winkte ihm zu.

Kate tat das Herz weh, als sie zusah, wie Nells Vater auf dem Highway davonfuhr, ohne erfahren zu haben, dass das kleine blonde Mädchen seine Tochter war.


Nachdem Kate die Hunde gefüttert und Matilda mit Heu versorgt hatte, nahm sie Nell bei der Hand und ging mit ihr die holperige Zufahrt entlang zum Gartentor.

»Komm, lass uns jetzt was Leckeres essen. Du hast mir heute so gut geholfen.«

»Können wir nicht zuerst in den Garten gehen, Mami?«, fragte Nell.

»Aber wir sind doch schon im Garten.«

»Nein. Ich meine den anderen Garten. Den ganz besonderen Garten. «

Kate sah Nell fragend an. Dann wurde ihr bewusst, dass Nell von Laneys Gemüsegarten sprach. Früher, wenn Nell sich wieder einmal geweigert hatte, ihr Gemüse zu essen, hatte Kate ihr immer von Laneys altem Garten erzählt. Von Kürbissen, so groß wie Autos, und Tomaten, rund wie Wasserbälle. Von den Frauen von Bronty, die allesamt davon überzeugt gewesen waren, dass alles, was dort wuchs, die reine Magie war. Kate hatte Nell die Frauen aus einer anderen Zeit beschrieben, die in langen Kleidern, mit Handschuhen und breitkrempigen Strohhüten den Garten bestellten. Sie hatte damals das Gefühl, als hätte Nell diese Geschichten einfach ignoriert, daher war sie jetzt mehr als überrascht, als ihre Tochter sie darum bat, den Garten sehen zu dürfen.

Seit sie nach Bronty gekommen waren, hatte Kate es ganz bewusst vermieden, Laneys Garten auch nur zu betreten. Ganz egal, wie neugierig sie auch sein mochte, dieser Ort erinnerte sie genau wie der Dachboden an all die Träume, die gemeinsam mit ihrer Mutter und mit Will gestorben waren.

»Aber es ist doch schon fast dunkel, Süße«, sagte Kate.

»Bittebittebitte!« Nell hüpfte auf und ab und zerrte an Kates Hand. Kate sah in das offene, hoffnungsvolle Gesicht ihrer Tochter.

»Also gut«, ließ sie sich erweichen. »Da entlang.«

Sie gingen am Haus entlang und folgten dann dem Kiesweg, der sich an einer alten Ulme und einer kunstvoll gestalteten Gartenbank vorbeischlängelte. Dort, am Ende des Rasens, spannte sich ein mit Jasmin bewachsener Rankbogen über ein altes, weiß gestrichenes Holztor, von dem die Farbe abblätterte. Kate spürte, dass ihre Mutter und Will eben in diesem Moment bei ihnen waren. Sie berührte jene Stelle am Tor, die auch die beiden berührt hätten. Sie hakte die Drahtschlinge aus und öffnete dann das Tor. Es quietschte laut in den Angeln. Ein Geräusch, so vertraut, dass es sie mit einem Schlag in ihre Kindheit zurückversetzte.

Als sie mit Nell den Garten betrat, spürte Kate plötzlich ein Gefühl der Beklommenheit. Was einst das reinste Paradies war, lag jetzt als öde Wildnis vor ihr. Ein einziges Gestrüpp aus Unkraut und Gemüse, das ins Kraut geschossen und verrottet war, breitete sich vor ihnen aus. Auch der hohe Lattenzaun, der diese magische Welt bis jetzt so gut geschützt hatte, war mehr als nur baufällig. An einer Seite hatte man ihn bereits abgerissen und die Latten zu mehreren großen Haufen aufgestapelt, offensichtlich, um sie demnächst zu verbrennen.

»Das ist aber nicht der Garten«, sagte Nell. In ihrer Stimme schwang unüberhörbar Verwirrung und Enttäuschung mit.

»Das war er aber, mein Liebling. Früher war er das.«

»Aber du hast gesagt, dass es ein Zaubergarten ist.«

Kate nahm Nells Hand fest in die ihre.

»Er kann wieder ein Zaubergarten werden. Das liegt ganz an uns. Wenn der Winter vorbei ist und die Tage wieder länger werden, graben wir ihn um. Wir beide machen das hier zu unserem verzauberten, kleinen Fleckchen Erde. Dann kannst du dir dort drüben in der Ecke sogar ein Versteck bauen.« Sie zeigte auf einen geschützten Winkel, der von großen Pappeln eingerahmt wurde.

Kate stellte sich vor, wie sie im Sommer in einem Meer von grünen Blättern gemeinsam rote Tomaten pflückten und die dicken Stängel von Sommerkürbissen kappten. Sie sah Petersilie, Schnittlauch, Mangold und Rote Bete, die sich an sauberen Kieswegen entlang aneinanderreihten. Eine Bank unter einer Laube. Nahrung zum Leben. Ein üppiger Garten, um dort die Erinnerungen der Kindheit lebendig werden zu lassen, einer vergangenen und einer gegenwärtigen.

Wenn sie schon nicht das Farmhaus von Bronty zurückfordern konnte, um so die Erinnerung an ihre Mutter und an ihren Bruder am Leben zu erhalten, dann konnten sie und Nell wenigstens diesen Garten als eine Art Huldigung an die beiden wiedererstehen lassen. Mit der Zeit würde ihr Vater dann vielleicht doch noch einmal über Laneys Pläne für eine Samenzucht nachdenken. Kate drückte Nells Hand.

»Komm«, sagte sie. Dann führte Kate, während sie einen kurzen Blick zum Dachgeschoss hinaufwarf, Nell im Dämmerlicht den Pfad entlang zum Haus zurück. Dort zogen sie ihre Stiefel aus, legten ihre Mäntel und ihre Hüte ab und betraten dann Annabelles creme- und pfirsichfarbene Welt.

Annabelle schälte gerade, an der Spüle stehend, hektisch Kartoffeln. Henry stand mit müdem Gesicht am Ende des Küchentischs. Seine Haare, die sonst immer ordentlich gekämmt waren, standen in alle Richtungen ab, da er während der Arbeit in der Scheune immer wieder mit seinen lanolinüberzogenen Fingern durch seine Frisur gefahren war. Kate war sich sofort bewusst, dass zwischen den beiden eine höchst angespannte Stimmung herrschte. Dennoch ließ sie sich nicht entmutigen.

»Nell und ich haben gerade einen kleinen Spaziergang zum Gemüsegarten gemacht und gesehen, dass der hintere Zaun zum Teil nicht mehr da ist. Was ist passiert? Ist er umgefallen?«

Annabelle drehte sich zu ihr und Nell um. Kate sah die Bitterkeit in ihrem Gesicht, bevor sie diese mit einem künstlichen Lächeln erstickte.

»Umgefallen? Nein. Wir haben ihn abgerissen.«

»Warum denn das?«

»Also«, begann Annabelle ruhig, »diesen Garten braucht doch kein Mensch mehr.« Sie zog ihre Spülhandschuhe aus, ging zum Küchenschrank hinüber und öffnete eine Schublade. »Dein Vater und ich haben dafür andere Pläne. Nell wird begeistert sein. Schau her.«

Sie nahm einen Ordner aus der Schublade und legte ihn auf den Tisch. Dann schob sie einen ihrer langen Fingernägel unter den Aktendeckel, öffnete den Ordner und faltete ein Blatt mit Skizzen auseinander. Während sie auf das Blatt Papier zeigte, sagte sie: »Das sind sie. Unsere neuen Pläne. Hier ein Swimmingpool, dort ein Tennisplatz und dazwischen eine gepflasterte Terrasse als Aufenthaltsbereich. Was hältst du davon? Eine großartige Idee, nicht wahr? Natürlich können wir das Ganze nur Schritt für Schritt umsetzen. Zuerst einmal müssen wir das Gelände einebnen. Der Pool kommt als Letztes, damit wir nicht zu viel Geld auf einmal ausgeben müssen. Schließlich weiß ich, dass die Ertragslage in der Landwirtschaft momentan nicht die beste ist.«

Kate konnte nicht glauben, was sie da hörte. Im dunklen Fernsehzimmer hinter ihnen demonstrierte Amy ihr völliges Desinteresse. Ihr war anscheinend auch die Auseinandersetzung, die Henry und Annabelle zuvor gehabt hatten, vollkommen entgangen, genauso wie ihr jetzt die Bombe entging, die Annabelle soeben Kate gegenüber hatte platzen lassen. Sie wackelte im Takt zu ihrer Musik mit dem Kopf und pulverisierte dazu ein paar Drachen auf dem Bildschirm. Das Licht des Fernsehers flackerte unheilvoll über die Wände und die Möbel, um sich dann in der hell erleuchteten Küche aufzulösen.

Henry sah Kate an. Ein schuldbewusster Ausdruck lag dabei auf seinem Gesicht. Kate hatte das Gefühl, gleich zu explodieren. Nell zuliebe blieb sie jedoch ganz ruhig, als sie eine Banane aus dem Obstkorb nahm und mit leiser Stimme sagte: »Hier, Nell. Geh doch bitte zu Amy und setz dich in Opas großen Sessel. Du kannst noch diese Banane hier essen, bevor du zu Bett gehst.« Sie nahm Nells Hand, setzte die Kleine in den Sessel und kam dann wieder in die Küche. Dann schloss sie die Falttür hinter sich. Es würde nur wenige Minuten dauern, Annabelle diesen Zahn zu ziehen. Sie beugte sich über die Pläne, betrachtete die ordentlichen, geometrischen Linien, die eingezeichneten, ornamentalen Blumenbeete und die achteckige Pergola. Dann sah sie Annabelle an.

»Warum zum Teufel brauchst du einen Swimmingpool, wenn du einen ganzen verdammten Strand direkt vor der Tür hast?« Sie machte dabei mit einem Arm eine ausladende Geste in Richtung der Bucht.

»Kate«, warnte ihr Vater.

»Du kannst doch nicht allen Ernstes zulassen, dass sie so etwas mit unserem Garten macht«, sagte Kate mit vor Zorn funkelnden Augen. Henry drehte sich um und nahm ein Glas aus dem Schrank. Dann ging er zur Spüle hinüber und drehte den Hahn auf. Die Rohre schepperten. »Dad?«

»Henry und ich haben das bereits ausführlich besprochen«, sagte Annabelle. »Dieses Stück Land ist schon längst kein Garten mehr, Kate. Du bist ja schließlich ziemlich lange weg gewesen.«

Plötzlich spürte Kate, dass in ihrem Inneren irgendetwas zerriss. Ein so ungeheurer Zorn stieg in ihr auf, dass sie das Gefühl hatte, er würde sie auf der Stelle verbrennen.

»Ich war nur wegen dir so lange weg!«, schrie sie. »Du hast nicht das geringste Recht, auch nur in die Nähe von Mamas Garten zu gehen!«

Annabelle griff sich mit der Hand an den Hals, riss dabei die Augen auf.

»Kate!«, fuhr ihr Vater sie barsch an. »Beruhige dich wieder.«

»Aber Dad. Du kannst doch nicht zulassen, dass sie Mamas Garten einfach so niederwalzt! Das darfst du nicht.«

»Es geht hier nicht darum, was ich Annabelle erlaube oder verbiete, Kate. Annabelle ist jetzt meine Frau. Es war unsere gemeinsame Entscheidung, den Garten neu zu gestalten.«

»Neu gestalten!«, wiederholte Kate fassungslos. »Wann hast du dich je für Gartengestaltung interessiert! Ich glaube dir nicht! Hat Will das gewusst? Hat er das gewusst?«

Henry schloss frustriert die Augen.

»Was ist mit dem Samengeschäft? Was ist mit unseren Plänen? Hat er dir denn nicht gesagt, dass wir den Garten dafür brauchen?«

Kate sah, wie sich die Frustration im Gesicht ihres Vaters langsam in Zorn verwandelte. Von seinem Hals aus breitete sich eine hektische Röte aus, überzog seinen kräftigen Kiefer und schließlich seine Wangen. Seine Augen wurden schmal und dunkel.

»Was für verdammte Pläne, Kate? Du hast dich jahrelang nicht für diese Farm interessiert, genauso wenig wie du dich für uns interessiert hast! Wer gibt dir eigentlich das Recht, hierherzukommen und mir und meiner Frau vorzuschreiben, was wir zu tun und was wir zu lassen haben!«

Annabelle stand an der Spüle. Sie gab keinen einzigen Ton von sich.

»Wer mir das Recht gibt? Das hier war mein Zuhause! Diese Farm war mein Zuhause!«

»Nun, inzwischen hat sich anscheinend einiges geändert.«

»Willst du damit sagen, dass das nicht mehr mein Zuhause ist? Dass Nell und ich hier nicht willkommen sind? Und dass ich mir hier kein Büro einrichten kann?«

Henry schwieg.

»Willst du das damit sagen? Wenn ja, dann sollte ich vielleicht doch wieder gehen? Ist es das, was du willst?« Sie funkelte ihren Vater böse an. »Willst du das? Ich bin mir jedenfalls verdammt sicher, dass sie das will!« Kate zeigte mit dem Finger auf Annabelle.

Henry reagierte nicht. Kate wartete darauf, dass er versuchte, die Wogen zu glätten. Dass er sie bat zu bleiben. Dass er in Annabelles Gegenwart irgendetwas sagte oder tat, das bewies, dass er sie, Kate, liebte. Er hob jedoch nur schweigend sein Glas mit Wasser zum Mund und begann, mit kleinen Schlucken zu trinken. Sein Adamsapfel glitt dabei an seinem Hals auf und ab, während seine Augen sie über das Glas hinweg kalt und abweisend ansahen.

Sie spürte, dass es wieder geschah. Genau wie damals, als sie noch ein Teenager war, packte sie wieder dieser unbezähmbare Zorn. Es gelang ihr einfach nicht mehr, sich in den Griff zu bekommen. Sie stieß die Worte einfach hinaus – ihre Wut siegte über jede Vernunft.

»Du wolltest mich nie hier haben!«, schrie sie ihn an. »Und selbst wenn. Für mich und Nell ist hier doch sowieso kein Platz mehr, dafür hat die da mit ihren beschissenen Kindern schon gesorgt! Ich werde mein Büro irgendwo anders einrichten. Ich brauche dich nicht. Genauso wenig brauche ich deine neue Sippe von A-Löchern!«

»Das reicht!«, brüllte Henry, aber Kate war noch nicht fertig.

»Mach nur weiter so, und lass sie diese Farm zerstören. Und Mamas Andenken gleich mit. Bevor du dich versiehst, hat sie Bronty in Grundstücke am Meer aufgeteilt und verkauft, damit sie diese ganze Neugestaltung bezahlen kann.«

»Kate!« Henry sah sie mit kaltem, stahlhartem Blick an. »Es reicht jetzt

»Ja. Es reicht!«, antwortete Kate ihm jetzt weinend. »Du scheinst überhaupt keine Ahnung zu haben, was du Mama und mir damit antust! Und Will. Du hast uns einfach nicht verdient. Und Nell verdienst du auch nicht!« Sie drehte sich um und riss die Tür zum Fernsehzimmer so heftig auf, dass sogar Amy erschrak. Dann hob sie Nell aus dem Sessel und stürmte an Henry vorbei zur Tür hinaus. Auf der Veranda hinter dem Haus zog sie hastig ihre Stiefel an, schnappte sich Nells kleine gelbe Gummistiefel und trug ihre Tochter dann zum Pick-up, wobei ihr Tränen übers Gesicht liefen.

»Mami, was …«

»Steig ein«, sagte Kate schroff und noch immer weinend.

»Mami?«

»Steig einfach ein, und setzt dich hin!«

Nell schob die Unterlippe ein Stück nach vorn, und es dauerte nicht lange, bis auch sie laut zu schluchzen begann.

Heftig atmend rannte Kate als Nächstes zu den Hundezwingern, um Sheila und Wills Hunde herauszulassen. Dann fuhr sie, während ihr die Hunde hinterherrannten, mit heulendem Motor und quietschenden Reifen zur Scheune hinüber. Mit knirschendem Getriebe fuhr sie schließlich rückwärts an den Pferdetransporter heran.

Wenn es das ist, was er will, dachte Kate, als sie die Spannrolle wütend löste, dann soll er es auch bekommen. Sie und Nell würden aus seinem Leben verschwinden und Wills und ihre Tiere würde sie mitnehmen. Sollte Henry Webster sich doch zum Teufel scheren.