Kapitel 10

Eine Woche später stand Kate neben ihrem Pferd Matilda auf der heruntergekommenen Koppel, die sich neben den aus Stein errichteten Stallungen von Bronty befand. Sie und Will hatten davon geträumt, die Stallungen und Koppeln in Stand zu setzen, damit sie dort einen glänzenden schwarzen Waler-Hengst halten und vielleicht irgendwann sogar einmal Polocrosse-Pferde züchten konnten. Kate schloss die Augen und entließ eine weitere Erinnerung in den Äther.

Heute hatten sie Will beerdigt. Kate konnte und wollte noch immer nicht begreifen, dass das die Realität war. Sie nahm alles um sich herum nur noch verschwommen wahr, so als wäre die ganze Welt in dichten Nebel gehüllt. Alles fühlte sich irgendwie fremd und unwirklich an. Selbst hier auf der Koppel, in der tröstlichen Gegenwart ihres Pferdes, stand Kate noch immer so unter Schock, dass sie am ganzen Leib zitterte. Sie fühlte sich so müde und ausgelaugt, dass es ihr fast nicht gelungen wäre, den Sattelgurt festzuziehen. Als sie über den Widerrist ihres Pferdes zum Haus blickte, konnte sie sehen, wie sich die Trauergäste gerade im Garten versammelten. Sie sah Nell, sah ihren Heiligenschein aus blonden Haaren, der immer wieder zwischen den schwarzen Hosenbeinen der Männer auftauchte. Annabelle machte ein großes Getue, bat die Trauergäste gerade mit einem strahlenden Lächeln ins Haus. Es sah mehr danach aus, als würde sie sie zu einer Geburtstagsparty einladen und nicht zu einem Leichenschmaus. Allein bei diesem Anblick verkrampfte sich Kate. Nein, sie konnte das Haus nicht betreten. Noch nicht. Sie wollte das, was diese Frau dem Andenken ihrer Mutter angetan hatte, einfach nicht sehen. Genauso wenig war es ihr möglich, den Trauergästen gegenüberzutreten, unter denen sich sowohl Nell als auch Nick befanden. Ohne Will, der sie mit einem strahlenden, wunderbaren Lächeln auf seinem Gesicht in diese Welt zurückgeholt hätte, ertrug sie das einfach nicht.

Kate zog die Steigbügel an ihren Riemen nach unten und sah gerade in dem Moment wieder auf, als Dave sich Nell einfach unter den Arm klemmte. Er trug das gackernde Kind wie einen Sack Kartoffeln die Verandastufen hinauf und dann ins Haus. Gott sei Dank hatten er und Janie angeboten, sich eine Weile um Nell zu kümmern, dachte Kate. Kate sah Nick am Rand der Menge. Felicity stand neben ihm, die Füße so sittsam geschlossen wie Dorothy in Der Zauberer von Oz. Nick hatte seine Hand auf ihren Rücken gelegt, als versuche er sie ins Haus zu schieben. Kate wandte ihren Blick von den beiden ab. Sie war sich sicher, dass Nick Nell in der Kirche gesehen hatte. Jeder hatte sie gesehen. Waren ihm Nells Augen aufgefallen? Augen, die lächelten. Metallisch blau, von dunklen Wimpern umrahmt. War ihm aufgefallen, dass sie die gleiche honigfarbene Haut und die gleichen blonden Locken wie er hatte? War das allen anderen auch aufgefallen? Aber interessierte sie das jetzt, da Will tot war, überhaupt noch? Sie fragte sich, ob sie, abgesehen von Nell, jemals wieder irgendetwas oder irgendjemand interessieren würde.

Sie führte Matilda auf die große Koppel an der Zufahrt hinaus, während Wills Pferd Paterson aufgeregt am Zaun entlangtrabte. Kate setzte ihren Stiefel in den Steigbügel und schwang sich dann in den Sattel. Es fühlte sich merkwürdig an, in der dünnen, rutschigen Hose, die sie auf der Beerdigung getragen hatte, zu reiten. Die Lederriemen der Steigbügel drückten gegen ihre Waden, und der kalte Wind ließ den weichen schwarzen Stoff um ihre Knöchel flattern. Sie hatte, sobald sie auf Bronty angekommen waren, noch neben dem Pick-up stehend, ihre Schuhe von den Füßen geschleudert und ihre Stiefel angezogen. Sie hatte dabei jeden Blickkontakt mit den anderen Trauergästen, die aus ihren Fahrzeugen stiegen, vermieden. Dann hatte sie ihre alte Fleecejacke über ihre schwarze Kleidung gezogen und war einfach losgelaufen, um ihr Pferd zu holen.

Kate hatte sich seit Wills Tod bei Janie verkrochen, hatte wie betäubt die Wand angestarrt, während die Zwillinge und Nell um sie herum getobt hatten. Überall lagen Bauklötzchen, während die zuckersüßen Mitglieder von Hi-5 über den Fernsehbildschirm hüpften. Die Trauer um Will hatte sie vollkommen gelähmt. Henry hatte ein paar Mal angerufen, aber wenn Janie ihr den Telefonhörer hingehalten hatte, hatte Kate nur entschieden den Kopf geschüttelt und die Lippen fest aufeinandergepresst, während heiße Tränen in ihren Augen brannten.

»Rede mit ihm«, hatte Janie sie immer wieder gebeten, aber Kate war jedes Mal aus dem Zimmer gerannt.

Als sie jetzt mit Matilda den Zufahrtsweg entlangtrabte und der Seewind ihr ins Gesicht blies, spüre Kate die Trauer wie die Dünung des Ozeans durch sie hindurchfluten. Sie und Will waren diese Zufahrt unzählige Male entlanggeritten und hatten sich dabei jedes Mal gestritten, wer absitzen musste, um das Tor neben dem Viehgitter zu öffnen, das auf den Highway führte. Sie wünschte sich jetzt nichts sehnlicher, als dass sie ihn bei dieser Debatte öfter hätte gewinnen lassen.

Sie saß von ihrem Pferd ab und öffnete das alte hölzerne Tor. Piniennadeln blieben in Matildas Mähne hängen, und Kate musste den Kopf wegen der tief hängenden Ästen einziehen. Matildas unbeschlagene Hufe klapperten über den Asphalt des Highways, dann aber, als sie auf den weichen, sandigen Boden durch die Grasbüschel ritt, die sich im Wind wiegten, waren ihre Schritte nicht mehr zu hören. Eine stürmische Brise kam von der Bucht herein, als Kate mit Matilda einen kleinen Pfad hinunterritt, vorbei an Bäumen mit tief hängenden Ästen und ein paar dürren Wüstenkasuarinen. Dann ging es hinauf über eine Düne, und schließlich standen sie auf dem strahlend weißen Sandstrand.

Die Stute hob den Kopf und spitzte aufmerksam die Ohren. Ihre Mähne und ihr Schweif flatterten im Wind, als sie auf die weißen Schaumkronen zutänzelte, die auf der grauen kabbeligen See zu sehen waren. Der Wind strich über die Wellenkämme und nahm dabei Seewasser auf. Kate schmeckte das Salz auf ihren Lippen, als das Wasser in winzigen Tröpfchen auf ihrem Gesicht landete und sich in Matildas Mähne festsetzte. Auf dem festeren Sand, der grau wie nasser Zement glänzte, trieb sie die Stute zum Trab und dann zum Galopp an. Sie ließen eine lange Spur von Hufabdrücken hinter sich. Sanfte Wellen spülten seufzend über den Sand, begannen Matildas Hufspuren zu verwischen. Schließlich löschte die endlose Bewegung der Wellen sie ganz aus.

Kate wollte ins offene Meer reiten und niemals wieder zurückkommen. Sie hatte das Gefühl, als würden ihre Mutter und Will da draußen, in dieser blaugrünen Unterwasserwelt, auf sie warten. Sie konnte ihre Stute einfach immer weitertreiben, konnte sie durch die Wellen auf die Insel zuschwimmen lassen, bis sie beide von der See verschluckt wurden. Sie würden immer tiefer sinken, Matilda ein Seepferdchen und sie eine Meerjungfrau. Sie wendete die Stute zum Wasser hin und ließ sie bis zur Brust hineinwaten. Die brechenden Wellen trafen donnernd auf Matildas breite Brust und sprühten als Gischt über Kates Beine. Das Salz ihrer Tränen vermischte sich mit dem Salz des Meeres. Sie hätte jetzt vom Pferd gleiten und weiterschwimmen können. Schwimmen, bis sie versank. Qualvolle Klagelaute drangen aus ihrer Brust, aber sie wurden vom Wind sofort fortgerissen. Sie spürte, wie das kalte Wasser an ihren Beinen hinaufstieg und über ihre Hände und Arme spritzte. Sie wollte nichts anderes mehr, als dort draußen in der Bucht zu sterben.

Aber da war etwas, das sie zurückhielt. Nell. Sie spürte, wie ihre Liebe zu ihrer Tochter sie zurückhielt. Dieses immer so heitere kleine Gesicht und das elfenhafte Lächeln zogen sie aus der grauen Tiefe ihres Kummers. Nell war als Fremde nach Bronty gekommen. Außer Kate hatte sie hier nichts und niemanden. Kate wusste ganz genau, was es hieß, seine Mutter zu verlieren. Also wendete sie ihre Stute und sah dann zum Farmhaus hinüber. Es schmiegte sich, durch den alten Garten vom Seewind abgeschirmt, in seiner ganzen Breite an den Hang. Zwischen den Ästen der Bäume hindurch konnte sie das Dachgeschoss sehen, das wiederum sie zu beobachten schien. In ebendiesem Moment beschloss Kate, Bronty als ihr Zuhause zurückzufordern. Für Nell. Nell würde auf diese Weise ihren Onkel und ihre Großmutter kennen lernen, wenn schon nicht persönlich, dann doch durch die Landschaft, die ihre Erinnerungen und ihre Weisheit in sich trug.

Kate erinnerte sich jetzt wieder an die sonnigen Tage, an denen sie und Will hier am Strand zusammen ausgeritten waren. Wenn das Wasser zwar so ruhig und blau wie in den Tropen gewesen war, es jedoch gleichzeitig noch immer diesen kalten tasmanischen Biss gehabt hatte. Das ungeschützte Ufer und die kalte Strömung hielten die Touristen fern, daher hatten sie den Strand selbst mitten im Sommer meistens für sich allein gehabt. Ihre Mutter hatte sie manchmal auf ihrem stämmigen kleinen Waler begleitet. Sie waren immer ohne Sattel geritten, schimmerndes Seewasser hatte auf ihrer sonnengebräunten Haut geglänzt, und ein strahlendes Lachen hatte auf ihren Gesichtern gelegen. Ihr Dad war später oft mit dem Pick-up nachgekommen, auf dessen Ladefläche dann zwischen der Schmierpresse, den Traktorenketten und anderen Ersatzteilen auch die Kühlbox mit einem Pick-nick und ein Kanister mit Wasser für die Pferde gestanden hatten. Ihr Vater pflegte sich lächelnd neben seiner Frau im Sand auszustrecken, die weißen Füße an den Knöcheln zu überkreuzen und sich den Sand durch die Finger rinnen zu lassen, während er seinen Kindern beim Spielen zusah.

Heute, an diesem winterlichen Strand schwor Kate sich, dass Nell so aufwachsen würde wie sie. Ihre Tochter sollte erfahren, wie wunderschön ein Sommer auf Bronty war. Kate würde aufhören, immer nur davonzulaufen. Sie würde bleiben, damit Nell die Möglichkeit hatte, diese Farm lieben zu lernen. Will war jetzt für immer hier, wie auch ihre Mutter. Kate spürte, wie ein Gefühl inniger Verbundenheit in ihr aufstieg. Solange sie hier war, solange sie zu Hause war, wären sie immer zusammen: Nell, ihre Mutter und ihr Bruder.

Sie dirigierte Matilda auf das weite Halbrund der mondsichelförmigen Bucht zu und galoppierte dann los. Die Stute spitzte aufmerksam die Ohren, Kate biss die Zähne zusammen. Tränen liefen ihr über die Wangen und sammelten sich in ihren Ohren so wie Regentropfen in einer Muschel. Sie spürte den Rhythmus des donnernden Hufschlags, die Lebenskraft des Pferdes, während sie über den Sand galoppierte. Vor ihnen hastete ein kleiner Austernfischer auf dünnen Beinen davon, während eine Schwarzrückenmöwe über ihnen elegant im Wind segelte. Sie galoppierten weiter, an Seegras und Muscheln vorbei, die den vollkommenen Glanz des Sandes befleckten. Kate nahm all das in sich auf. Angefangen bei den winzigen Sandkörnchen in Matildas Mähne bis hin zu den großen, mit Bäumen bestandenen Bergen, die weiter im Landesinneren aufragten. Sie gestattete es sich jedoch nicht, zu der Stelle hinüberzusehen, an der Will gestorben war. Die Vorstellung, welche Angst und welche Qual er erlitten haben musste, als seine Seele diese Erde verlassen hatte und auf die See hinausgeflogen war, war einfach noch zu schmerzlich für sie.

Obwohl Matilda bereits heftig atmete, trieb Kate sie zu einem noch schnelleren Tempo an. Die tapfere kleine Stute gab ihr Bestes und galoppierte mit trommelnden Hufen über den Sand. Viele Meilen lagen jetzt schon hinter ihnen, während vor ihnen zerklüftete Felsen aufragten.

Als sie endlich das Ende des Strandes erreichten, ließ Kate Matilda wieder in den Schritt fallen. Sie spürte, wie sich die Flanken des Pferdes unter ihren Beinen hoben und senkten. Kate ließ die Zügel locker, beugte sich im Sattel nach vorn und presste ihre kalte Wange an Matildas heißen Hals. Schweißflocken, so weiß wie die Gischt des Meeres, sammelten sich auf ihrer Brust. Kate atmete den Geruch des Schweißes ein und lauschte dem Atmen der Stute. Auf einem steingrauen abgestorbenen Eukalyptusbaum saß eine Krähe und schrie. Kate nahm ihr Krächzen jedoch nicht wahr. Sie hörte nur den Wind, die Wellen und den Schrei der Möwen, die wie Geister durch das neblige Grau vor ihr schwebten.