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„Also neuntausend Jahre im Zentrum“, repetierte Hirosh, was er von Kilimans mündlichem Bericht behalten hatte, „zweitausend Jahre an der Peripherie. In der Dose eine nichtssagende Mischung von Kohlenwasserstoffen, Fetten und ätherischen Ölen, die sechs- bis siebenhundert Jahre alt ist. Also kann man wohl annehmen, daß die letzten Geusen da bis zum Abflug gehaust haben. Weiter: In der Peripherie Räume für eine größere Anzahl als im Zentrum, genauer: für zahlenmäßig größere soziale Einheiten. Völlig umbaute Stadtviertel. Relativ geringe Differenzierung in der Struktur der Räume erkennbar. Anzeichen dafür, daß die Räume nicht immer leer waren. Schließlich: Hinweise auf Gestalt der Geusen nur aus Raumproportionen, Durchgängen und Treppen. Noch was?“
„Das Bild der Galaxie“, erinnerte Kiliman.
„Richtig, das Bild der Galaxie auf dem Boden des Kuppelsaals“, ergänzte Hirosh.
„Das alles reißt Sie nicht vom Stuhl?“ fragte Kiliman. „Das reißt mich alles nicht vom Stuhl“, bestätigte Hirosh. „Was nicht bedeutet, daß ich mehr erwartet hätte.“
„Außerdem habe ich einen Fehler gemacht“, sagte Kiliman, „lächerlich, ich als CP einen Fehler in der Führung von Personen!“
Hirosh winkte ab. „Dies ist die Expedition, bei der jeder mal versagt.“
Kiliman sah den CE forschend an. So etwas wie Müdigkeit sprach aus dessen letzten Sätzen - nicht gerade eine sehr effektive Stimmung für einen Chef.
„Dann hätten Sie Ihr Versagen noch vor sich?“ nahm Kiliman den Gedanken auf, leicht spottend. Er wollte doch sehen, wie Hirosh darauf reagierte.
„Machen Sie sich Sorgen“, fragte Hirosh mit gespielter Bosheit dagegen, „weil Sie es waren, der mich vorgeschlagen hat?“
„Mal im Ernst“, sagte Kiliman, „was ist mit Ihnen los? Früher haben Sie andern die Gedanken entzündet; jetzt interessieren Sie nicht einmal mehr Neuigkeiten - sind Ihnen die Witze ausgegangen?“
Für Kiliman unerwartet, ging Hirosh gerade auf die letzte, doch mehr bildhaft gemeinte Wendung ein. „Ja, das mit den Witzen“, sagte er und kratzte sich hinter dem rechten Ohr, „das ist für mich selbst überraschend. Mir fällt wirklich keiner mehr ein, ich meine zu einer bestimmten Situation. Ich glaube, das ist ein großer Unterschied, ob man eben als beliebiger Mitarbeiter das Geschehen betrachtet - man kann etwas sagen, man kann es aber auch bleibenlassen - oder ob man sich als Leiter ständig zu Entscheidungen aufgefordert fühlt, auch wenn man gar keine treffen muß. Ich verstehe jetzt zum erstenmal, warum Leiter so häufig keinen Humor haben. Wenn ich wenigstens wüßte, wie das kam, daß meine alten Witze immer gerade paßten.“
„Das kann ich Ihnen sagen, darüber hab ich nachgedacht“, antwortete Kiliman.
Hirosh war plötzlich sehr interessiert. „Da bin ich aber gespannt, lassen Sie hören!“
„Also erst mal die Realität. Sie bestand jedesmal darin, daß wir mit Tatsachen aus der Zivilisation der Geusen zusammenstießen. Die sind aber von uns so weit entfernt wie wir von der Jäger- und Sammlerhorde unserer Urgemeinschaft - oder noch weiter. Also muß uns alles Konkrete von ihnen, das uns begegnet, absurd erscheinen, zwangsläufig. Das ist die eine Seite.
Die andere Seite ist der Reichtum menschlichen Denkens. Es gibt ja nicht nur das wissenschaftliche Denken, das immer wieder streng an Tatsachen gebunden ist und logisch widerspruchsfrei sein soll. Es gibt Phantasie, es gibt das freie Spiel mit Möglichkeiten und sogar mit Unmöglichkeiten, im Märchen wie im Witz. Was ist denn absurd? Wenn zwei Realitäten sozusagen auf ungewöhnliche, auf verbotene Weise zusammenstoßen. Ich bin eigentlich überzeugt, daß alle Absurditäten, die uns tatsächlich zustoßen könnten, irgendwann einmal schon gedacht wurden, im Prinzip, versteht sich. Ist es da ein Wunder, wenn jemand, der lauter solche Witze drauf hat, von jeder absurden Situation an einen erinnert wird, und da der Witz trotz seiner Absurdität eine innere Denkkonsequenz und -disziplin hat, zeigt er eine Richtung, macht er auf eine Weiterführung der Gedanken aufmerksam, die letztlich dann eine Lösung bringt. Oder manchmal bringen kann. So ungefähr.“
„Märchen und Witz“, brummte Hirosh. Er schien beeindruckt zu sein von Kilimans Entwicklungen. Er hatte auch wirklich das Gefühl, daß da etwas für ihn sehr Wesentliches in Rede gestanden hatte - er wußte nur noch nicht, was, und horchte darum Kilimans Worten hinterher, spürte aber schon, daß die überraschende Erkenntnis, dieses plötzliche Aufreißen eines Vorhangs, sich jetzt nicht einstellen würde. Er wandte sich deshalb einem Gedanken zu, den er bereits vor dem Gespräch gefaßt hatte, der aber auch eine Konsequenz des von Kiliman gegebenen Berichts war.
„Was meinen Sie“, sagte er, „ich hielte es für gut, wenn alles, was die Geschichte der Geusen, ihres Planeten, ihres Systems betrifft, in einer Hand zusammenliefe. Beinahe jeder arbeitet ja schon daran, und ich fürchte, mancher Gedanke geht verloren - und vielleicht sogar mancher Fakt.“
„Das meine ich auch“, stimmte Kiliman lebhaft zu, „der gleiche Gedanke ist mir unterwegs gekommen, das heißt, nein, nicht der gleiche, nur einer in der gleichen Richtung: Bei mir ging’s nicht um die eine Hand, sondern um eine einheitliche Computerbearbeitung des Materials. Aber die eine Hand wäre schon eine wichtige Voraussetzung dafür.“
„Wollen Sie die eine Hand sein?“ fragte Hirosh.
„Sie nicht?“ fragte Kiliman zurück.
„Es sollte ein Wissenschaftler sein. Ein
Gesellschaftswissenschaftler, kein Amateursammler. Und da haben wir
nur einen. Und außerdem...“ Hirosh brach ab.
„Außerdem?“
Hirosh lachte. „Jetzt fällt mir doch wieder ein Witz ein, nur diesmal betrifft er mich, ich meine, wie ich mich fühle. Was ein Fahrrad ist, wissen Sie? Wurde früher nicht nur als Sportgerät verwendet, sondern auch als normales Transportmittel. Da hatte es ein Schutzblech, und wenn das locker war, klapperte es. Nun folgender Dialog zweier Radfahrer: Erster: ‘Dein Schutzblech klappert.’ Zweiter: ‘Was?’ Erster: ‘Dein - Schutzblech klappert!’ Zweiter: ‘Waaas?’ Erster: ‘Dein - Schuuutzblech - klappert!’ Zweiter: ‘Kann nichts verstehen, mein Schutzblech klappert!’“
„Lassen Sie mich mal nachdenken, ob ich draufkomme“, bat Kiliman. Nach einer Weile sagte er: „Diese ganze Betriebsamkeit stellt für Sie - bildlich gesprochen - einen Krach dar, und Sie haben Angst, dadurch zu überhören, wenn - nun ja, wenn zum Beispiel die Geusen versuchen, Kontakt aufzunehmen. Ist es das?“
„Sie verstehen überhaupt Menschen sehr gut.“
Das war wirklich eine grüne Pracht, dieses Delta des großen Flusses, dagegen war der Bewuchs rings um die Basis armselig. Freilich, das meiste war Sumpfgebiet, Bäume wuchsen dort nicht, aber große Pflanzen, die sich aus schwammigen Schwimmkörpern erhoben und allerhand Getier beherbergten; und wo einmal eine größere Strecke festen Bodens Sumpfland ablöste, dort wucherten aus einem dichten Buschwerk schachtelhalmartige Pflanzen so hoch hinauf, als ob es keine Stoßwellen gäbe - kurz, es schien fast ein anderer Planet zu sein als der, den man oben auf der Steilküste erlebte.
Delawara und Elber waren zum zweitenmal hierher geflogen, ihren ersten Besuch hatten sie ja abbrechen müssen, damit Elber und Woleg zur Stadt fliegen konnten.
Beim erstenmal hatten sie nichts gefunden, was von einer alten historischen Stadt gezeugt hätte, allerdings hatten sie auch noch nicht viel Zeit darauf verwandt. Die Luftaufnahmen, die sie gemacht hatten und die inzwischen ausgewertet waren, hatten auch nichts ergeben. Das hatte aber Elber nicht entmutigt. Inzwischen war ja klar, daß die Epoche, der man hier nachspürte, etliche... zigtausend Jahre zurücklag. So wenigstens lautete der Ansatz, den er mit Kiliman ausgearbeitet hatte. Das jetzige Stadium der menschlichen Gesellschaft mußten die Geusen schon viele Jahrtausende vor dem Transport ihres Sonnensystems in die Nachbarschaft des Beteigeuze durchlaufen haben, schätzungsweise vor zwanzig- bis dreißigtausend Jahren.
Was konnte man nach einer solchen Zeitspanne erwarten zu finden, ausgehend von dem Gedanken, daß die Siedlungsform Stadt lange abgeschafft war, als das System sich auf die Reise begab, und daß die „Stadt“ um die Kuppel etwas ganz anderes darstellte, etwas, wofür man keine irdischen Begriffe hatte?
Ganz gleich, ob nun die vermuteten alten Städte planmäßig abgetragen oder dem natürlichen Verfall preisgegeben worden waren - was unwahrscheinlich schien, da es den Planeten nicht schöner machte -, ganz gleich also, in jedem Falle waren vermutlich Fundamente, Kanalisation und Leitungen aller Art nicht vollständig beseitigt, sondern nur eingeebnet, aufgefüllt oder teilweise unterbrochen. Man müßte sie mit geeigneten Detektoren ausfindig machen können, es sei denn, das Meer wäre hier gestiegen und die betreffende Stelle läge weiter draußen im Wasser, vor dem Delta. Nun konnten sie das in der kurzen Zeit zwar nicht meßtechnisch feststellen, aber die Umgebung machte doch eher den Eindruck, als ob das Land sich höbe.
Wahrscheinlich hatte die vermutete Stadt nicht im Delta gelegen, sondern vor dem Punkt, an dem sich die Mündung des Stromes verzweigte. Dort befand sich auf der einen Seite eine weite, versteppte Ebene, aber auf der anderen ein Mittelgebirge, sehr langgestreckt und mit wenigen günstigen Übergängen. Trotzdem war es nicht sinnlos, im Delta selbst zu suchen. Die Stadt, wenn es sie gegeben hatte, mußte einen Hafen gehabt haben, und es war nicht unwahrscheinlich, daß dessen geometrische Form sich irgendwie auf den Sensorbildern abzeichnete.
Tatsächlich zeichnete sich jedoch gar nichts ab, und der Kreuzundquerflug über dem Delta brachte ihnen außer schönen Landschaftsbildern bisher nichts ein.
Der Planetentag ging seinem Ende zu. Sie hatten sich bereits so an die hiesigen Lichtverhältnisse gewöhnt, daß sie in der Lage waren, auch Nuancen wahrzunehmen. Während Elber die Sensorbilder beobachtete, hatte Dela den unterhaltsameren Teil übernommen: Sie schoß mit der Kamera Landschaftsbilder und vor allem Tieraufnahmen. Ihr Adler schwebte langsam und hoch genug, daß sie ein Objekt mit dem Teleobjektiv anvisieren konnte, und sie wußte, daß Hirosh scharf auf solche Bilder war.
„Da, sieh mal!“ rief sie unwillkürlich, obwohl sie wußte, daß Elber nicht aufsehen konnte.
„Was gibt’s denn?“ er heuchelte Interesse.
„Affen!“ sagte sie, eifrig knipsend. „So was Ähnliches wie.“
„Ach ja?“ Elber wunderte sich so betont gleichgültig, daß Dela lachte. Dann aber griff sie zu ihrem Sprechgerät und sagte: „Hallo, Basis!“ Rila meldete sich. „Sag doch Hirosh gleich mal, ich habe eben Primaten aufgenommen, er soll sie sich ansehen, die Aufnahmen sind überspielt unter Chiffre...“ Sie nannte die Zahlenfolge und schaltete ab.
Nach einer weiteren Stunde hatten sie das Delta abgeflogen und nichts gefunden - auch Affen waren nicht wieder aufgetaucht.
„Was meinst du, die Affen werden doch ganz besonders unter den Stoßwellen leiden, oder...? Wenn sie da auf dem Baum rumklettern, und plötzlich sind sie viermal so schwer...“
„Dann fallen sie runter“, sagte Elber ungerührt. Aber Dela spann weiter. „Und wenn dann einmal ständig die hohe Schwerkraft herrscht - ist doch deine Auffassung, daß die Stoßwellen das nur vorbereiten, nicht? Ja, ob sie dann überhaupt noch auf die Bäume hinaufkommen?“
„Sag mal, außer deinen Affen interessiert dich wohl gar nichts mehr?“ fragte Elber jetzt. „Soll ich dir einen fangen?“
Ich hab doch dich, hätte Dela beinahe gesagt, sie unterdrückte es im letzten Moment. Man soll sich dem geliebten Partner in jeder Fasson zeigen, heiß und kalt, heiter und traurig, aber nie geschmacklos.
„Brauchst keinen“, sagte Elber in diesem Augenblick, „du hast ja mich. - Wir nehmen uns jetzt die erste Stelle vor, wo die Stadt gestanden haben könnte.“
Er flog eine Schleife, daß der Wind an den Tragflächen pfiff. Der Magnetmonopolgenerator, der sie antrieb, arbeitete geräuschlos. In engen Kreisen schraubte Elber den Adler aufwärts, bis er das gesamte in Frage kommende Feld auf dem Schirm hatte. Sie waren jetzt ungefähr in der gleichen Höhe wie die Gipfel des benachbarten Mittelgebirges. Optisch unterschied sich die Gegend überhaupt nicht von den anliegenden Gebieten. Auch die Multispektralaufnahmen von den Satelliten aus hatten hier nichts ergeben. Jetzt waren Echolot und Metalldetektoren Elbers letzte Hoffnung.
Langsam sank der Adler, auf der Stelle. Allmählich wurde das Gebiet, das die Sensoren erfaßten, enger. Aber stets hielt Elber den Vogel so, daß der Fluß mitten durch den Bildschirm strömte.
„Meinst du, daß nach so vielen... zigtausend Jahren immer noch etwas zu finden ist?“ fragte Dela.
„Warum würde ich wohl sonst suchen?“ fragte Elber zurück. „Und überhaupt, wieso fragst du das erst jetzt, nachdem wir schon stundenlang damit zubringen? Willst du mich trösten für den Fall, daß wir nichts finden?“
„Wenn ich das wirklich wollte“, erwiderte sie, „wer könnte mir deswegen böse sein?“ Bei sich aber dachte sie, daß es ihr einfach nicht gelingen wollte, die Sachlichkeit zu beweisen, die sie selbst von sich gewöhnt war. Ob das daran lag, daß sie hier nicht in ihrem Fach arbeitete? Oder doch wohl mehr daran, daß Elber dabei war und daß sie das folglich gar nicht als Arbeit erlebte, sondern als Vergnügen?
Aber dann schrie Elber auf, drückte auf den Auslöser, damit das Sensorbild gespeichert wurde, es waren feine Linien zu sehen, die zum Fluß hinführten, Kanäle vermutlich, und dann, im Fluß, was war das?
„Brückenpfeiler, Fundamente davon“, sagte Elber, und Dela merkte jetzt erst, daß sie laut gefragt hatte - na ja, dachte sie, dann bin ich jetzt endlich auch ein bißchen aufgeregt.
Sie landeten über einem der vermutlichen Kanäle. Der Landschaft war nichts anzusehen, aber das Echolot zeigte jetzt deutlich den Verlauf. Und es zeigte keinen leeren Hohlraum, die Kanäle waren also verfüllt worden, als das Gebiet renaturalisiert wurde.
„Und jetzt?“ fragte Dela.
„Jetzt folgen wir dem Kanal, mal sehen, ob nicht noch Abzweigungen da sind!“
Sie gingen los, Elber mit dem Echolot voran, aber es war gar nicht so einfach. Eine Baumgruppe verstellte den Weg, sie mußten sie umgehen. Elber suchte eine Weile, bis er den Kanal wieder im Echolot hatte. Schließlich ließ ein winziger Wasserlauf sie nicht weiter vordringen, weil er auf zehn Meter Breite alles versumpft hatte.
„Machen wir’s vom Adler aus“, sagte Elber, „ich wollte sowieso noch mal bis hinüber zum Gebirge.“
Vom Gleiter aus verfolgten sie den Kanal noch ein bißchen weiter, er führte unter dem Wasserlauf hindurch, verlor sich dann aber. Wahrscheinlich hatten die Geusen nur die Hauptkanäle, die am tiefsten lagen, verfüllt, die anderen aber völlig zerstört.
Vor den ersten Ausläufern des Gebirges landeten sie.
„Bis hierher dürfte die Stadt gereicht haben“, sagte Elber. „Und hier“, er zeigte in ein Tal hinein, „wird eine Hauptverkehrsader gewesen sein. Wollen wir ein Stückchen gehen?“
„Meinst du, du findest etwas?“
„Das nicht. Aber allein die Tatsache, daß man hier ziemlich glatt vorankommt - los, laufen wir!“ Er lief los.
Dela folgte ihm willig. Sie bewegten sich freilich wegen der höheren Schwerkraft nicht allzu schnell, dennoch hatte Dela Mühe, mit Elber Schritt zu halten. Gerade holte sie auf, bis sie an seiner Seite lief, und plötzlich... stürzten sie beide in eine Grube, sie war nicht sehr tief, als sie aufstanden und mit den Gliedern schlenkerten, um das Astwerk loszuwerden, das die Grube bedeckt hatte, und um zu prüfen, ob alles noch heil war, da hatten sie immer noch nicht begriffen, daß dies eine Falle war. Das merkten sie erst, als plötzlich von allen Seiten Affen aus den Büschen kamen und unter Schnattern und Keifen mit Steinen und Knütteln nach ihnen warfen.
„Panzer!“ schrie Elber und schaltete selbst, gerade rechtzeitig, denn was da alles auf den Schutzanzug prasselte, hätte ohne den Panzereffekt sicherlich ganz schön weh getan.
Die Affen kamen immer näher, da die beiden sich ja nicht wehrten. Elber überlegte gerade, wie er am besten verfahren sollte - den P-Effekt abschalten und dann sofort mit dem Strahler...? Es tat ihm um die Affen leid. Erst mal konnte man ja abwarten.
Er hörte im Helmmikrofon ein merkwürdiges Geräusch von Dela her. „Was ist, hast du Angst?“ fragte er.
„Nein“, sagte Dela mit zittriger Stimme, „aber mir gruselt’s - huhuhu!“
Und dann geschah etwas Merkwürdiges. Die Affen hörten plötzlich auf zu werfen und zu schreien. Sie waren jetzt schon sehr nahe herangekommen. Nun standen sie bewegungslos da. Und dann - liefen sie alle fast gleichzeitig schreiend weg.
„Müssen wir aber grausig anzusehen sein!“ sagte Dela. „Wenn schon“, sagte Elber, „sollen die Affen heute eben ohne Abendbrot schlafen gehen.“
„Weißt du, was seltsam ist“, sagte Dela, als sie wieder im Adler saßen und den Rückflug antraten, „wir haben uns doch gar nicht bewegt. Die müssen so differenziert sehen können, daß sie Einzelheiten unterschieden haben.... erkannt haben.... nein, eben nicht erkannt haben.... nein, noch anders: als unbekannt, fremd erkannt haben. Das ist aber ein verdammt hoher Grad an Auffassung.“
„Die Stadt interessiert dich wohl gar nicht?“ fragte Elber, fast ein bißchen verärgert.
„Ach, die Stadt“, sagte Dela versonnen. „Wir haben festgestellt, da war eine, und was ist sonst noch wichtig! Aber diese Affen... Es scheint doch so, daß sie Fallen bauen. Sag mal, sind das eigentlich überhaupt noch Affen?“
Dela hatte vor, Atacama um Hilfe zu bitten in einer bestimmten Frage. Es ging ihr dabei nicht ausschließlich um die Sache. Ihre Beziehung zu der Astrophysikerin hatte unter den letzten Ereignissen gelitten. Einmal hatten das Versagen und der Rücktritt der ehemaligen CE Dela unsicher gemacht, sie befürchtete, die andere könnte bemerken, daß sich in Delas Gedankenwelt ihr Sturz wiederholt hatte. Dann hatten die Beziehungen zu Elber, die sich sozusagen breit entfalteten und für nichts anderes Raum ließen, sie schon so in Anspruch genommen, daß sich ihr Umgang mit Ata auf die wenigen Worte beschränkte, die die weitere Ergebnislosigkeit der astronomischen Messungen erforderte. Eines Tages war Dela dieser Sachverhalt aufgefallen, sie fand das nicht in Ordnung und hatte nach einer Gelegenheit gesucht, nach einem sachlichen Anliegen.
Atacama hatte natürlich bemerkt, was in der Astronomin vorging, schließlich war sie doppelt so alt, und sie hatte sich gesagt, Dela würde das selbst spüren und die richtigen Schlußfolgerungen ziehen.
Trotzdem verging ihr die Zeit bis dahin langsam, sie fand sich ja jetzt plötzlich ziemlich isoliert. Nicht daß jemand sie gemieden hätte, aber Kiliman, der ihr vorher immer als Gesprächspartner zur Verfügung gestanden hatte, war jetzt die meiste Zeit mit anderen Dingen beschäftigt, und sie mußte sich verwundert eingestehen, was sie noch vor kurzem sogar vor sich selbst geleugnet hätte: daß er ihr fehlte. Mit den Meßtechnikern hatte sie gar nichts mehr zu tun, die arbeiteten entweder am Raumschiff, dessen Transitteil jetzt überholt wurde, oder für irgend jemand anders, der etwas über den Planeten und die Geusen herausfinden wollte. Woleg war überhaupt nur ansprechbar in Fragen, die das Raumschiff betrafen, mit Hirosh verstand sie sich nicht; Elber, na aber, wenn der außer für seine Geusen wirklich noch für irgendwen oder irgendwas einen Gedanken übrig hatte, dann gewiß nicht für sie, Atacama. Blieben die Zwillinge, zu denen hatte sie überhaupt keine Beziehung.
Es kam ihren Wünschen also sehr entgegen, als Dela sie jetzt bat: „Können wir uns nicht mal gemeinsam die Spiralen anschauen? Ich glaube, sie sollen alle das Abbild ein und desselben Originals sein. Ich habe natürlich die Himmelskarten durchgewälzt, aber ich habe keinen Anhaltspunkt gefunden. Vielleicht siehst du mehr?“
„Gern“, sagte Atacama. Bei sich dachte sie: Jetzt hat die Kleine, wenigstens keine Scheu mehr, mich zu duzen. Sie war nicht böse darüber, im Gegenteil, sie freute sich.
„Hast du Zeit“, fragte Dela, „mit in die fremde Stadt zu kommen? Wenn nicht, fliege ich allein hin und nehme noch mal das Bild am Fußboden auf, stückweise. Aber besser wäre es...“
„Gewiß habe ich Zeit. Was habe ich denn sonst noch zu tun?“ Sie setzte ein spitzbübisches Lächeln auf, damit ihre Worte nicht so bitter klangen.
Aber wahrscheinlich hatte sie es eine halbe Sekunde zu spät aufgesetzt, denn Dela ging nicht darauf ein, sondern fuhr gleich fort: „Hirosh hat neue Brillen bauen lassen, damit wir das Bild so sehen können, wie wahrscheinlich die Geusen es erblickt haben. Wir sind diesmal von dem Licht ausgegangen, das der schwarze Zwerg mal ausgestrahlt haben muß, als er noch nicht schwarz war, also vor dem Transport. Vielleicht sieht man damit mehr.“
Die Form der Versteinerungen war allerdings zu grob, als daß Einzelheiten erkennbar gewesen wären, die Aufschluß gaben, welche Galaxie gemeint sein konnte. Selbst das Bild, das Dela aus den Impulsen der D-Schicht zusammengesetzt hatte, war zu verschwommen, wenn hier auch schon charakteristische Merkmale für die Spiralarme hervortraten - und für den Kern und die Lage der Dunkelnebel rings um den Kern ebenfalls. Da das Bild eben war, bot es keine Darstellung der Sternpopulation im Halo der Galaxie, aber die war ja sowieso unbekannt, selbst die von den nächsten Galaxien. Auch Kilimans Aufnahme von der Galaxie in der Kuppel war zu ungenau. Und die Form der Stadt, die sie jetzt von oben sahen, war sowieso höchstens symbolisch gemeint, wenn sie überhaupt damit zusammenhing.
Atacama war nun doch gespannt. Sie hätte nicht zugesagt, wenn sie nicht wirklich an der Sache interessiert gewesen wäre. Zu sehr war ihr die Gewohnheit, ökonomisch mit ihrer Zeit umzugehen, in Fleisch und Blut übergegangen, denn fast immer hatte sie persönliches Leben und Wissenschaft verbunden.
Da war also die berühmte Stadt. Atacama kannte den Anblick vom Film, er erregte sie nicht wie vor kurzem die Entdecker. Delawara flog, und sie würde sie auch führen, Ata konnte sich also autogen in heuristische Hochform bringen.
Sie richtete ihre Aufmerksamkeit erst wieder nach außen, als sie in der Kuppel stand. Ein prächtiger Anblick, ihr Herz schlug höher. Nein, sie kannte kein irgendwie vergleichbares Bild irgendeiner Galaxie, keins, das so präzise gewesen wäre, selbst die besten irdischen Teleskope auf dem Mond brachten nicht solch eine Auflösung, nicht einmal bei den nächsten Galaxien. Welche also konnte das sein? Sie dachte an alle ihr bekannten Galaxien, nein, die nicht, die auch nicht... Das führte zu nichts.
Also analysieren. Es mußte eine sein, die so fern war, daß Atacama nur verschwommene Vorstellungen von ihr hatte. Also nicht aus der lokalen Gruppe. Aber warum dann hier auf dem Boden? Waren die Geusen daher gekommen? Ach, Unsinn. Diese Galaxie hier war keine Symbolik, die war sehr konkret, und sie mußte auch einen konkreten Zweck haben. Vielleicht Unterricht, wie Kiliman vermutet hatte. Doch dann... Nein, das war zu verrückt.
Atacama suchte die verschiedenen Spiralarme mit den Augen ab. Die drei da...? Sie ging hinüber zur anderen Seite, blieb zwischen zwei Armen stehen. Hier.... nein, hier müßte es sein. Umdenken aus drei in zwei Dimensionen. Sie schloß die Augen und strengte sich sehr an, bis das gewünschte Bild sich einstellte: der Sternhimmel der Erde, gesehen senkrecht auf die Ebene der Galaxis - selbstverständlich nicht der ganze, aber doch die helleren Sterne. Sie öffnete die Augen wieder - das Bild stimmte überein. Es war nicht irgendeine, es war die Galaxis, unsere Milchstraße!
Atacama schossen gleich mehrere astronomische Hypothesen durch den Kopf, die man hier überprüfen konnte, von kosmogonischen Fragen ganz abgesehen. Gegen diese Entdeckung verblaßte der ursprüngliche Zweck der Expedition! Am liebsten wäre sie sofort hin und her gelaufen, hätte hier das und dort jenes überprüft - aber sie beherrschte sich. Zuerst Delawara - sie hatte es verdient, an ihrer Freude teilzuhaben. Mehr noch: selbst zu entdecken.
„Komm mal her“, sagte sie so beiläufig wie möglich.
Delawara hatte nicht gewagt, die Ältere zu stören. Jetzt war sie mit schnellen Schritten neben ihr.
„Sieh dir das mal an“, sagte Atacama und wies mit dem Finger nach unten.
Es dauerte nicht lange, bis Delawara begriff. Sie war sprachlos. Sie wagte sich nicht zu rühren und war doch voll Drang nach Bewegung, nach Tätigkeit. Beinahe schüchtern faßte sie nach Atacamas Hand, wollte sie gleich wieder loslassen, aber jetzt hielt Atacama sie fest.
„Daß wir nicht den Kopf verlieren“, sagte sie. „Wie gehen wir jetzt vor? Ich denke, wir machen Aufnahmen, Quadratmeter für Quadratmeter. Willst du das machen? Ich sehe mir ein paar Einzelheiten an.“
Etwa eine Stunde arbeiteten sie schweigend. Dann war Delawara fertig mit den Aufnahmen. Sie war froh darüber, daß sie so Atacama Zeit geben konnte, sich mit den Problemen direkt am Objekt zu befassen.
„Sei froh, daß Beschäftigung dich abgelenkt hat“, sagte Ata, „mir braust es in den Ohren, mir ist beinah schwindlig, so etwas habe ich noch nie erlebt. Komm, und jetzt schauen wir uns die Geschichte durch Hiroshs Spezialbrille an, vielleicht ergibt sich da noch etwas, du siehst, ich bin unersättlich.“
Das Licht erwies sich als für die Brille zu schwach. „Mir scheint, da ist was, in der Mitte“, sagte Atacama schließlich.
„Ich glaube, ich sehe auch etwas“, sagte Delawara jetzt, „nachdem du mich aufmerksam gemacht hast... Oder sehe ich etwas, weil du mich aufmerksam gemacht hast? Ehrlich, ich weiß es nicht. Aber ich hab eine Idee. Leuchte mal.“
Atacama schaltete die Helmlampe an, neugierig, was Dela jetzt tun würde. Ja, auf diese Idee hätte sie auch kommen können: Sie schaltete einige Farbfilter vor das Objektiv der Kamera, sicherlich so ausgewählt, daß die Wirkung der Spezialbrille nahekam. Und nun einfach aufs Stativ und Langzeitbelichtung eingeschaltet!
Hatten sie nun wirklich etwas gesehen oder sich nur getäuscht? Das würden sie leider erst in ein paar Tagen erfahren, denn diese Aufnahme brauchte eine sehr lange Belichtung.
Bodenschätze! Wer war auf die Idee gekommen? Das war nicht mehr feststellbar, sie war in einer der beiläufigen Unterhaltungen geboren worden, die zufällig im Freien stattfanden und deshalb auch nicht ins automatische Protokoll kamen. Übrigens war es wohl, wie immer in solchen Fällen, nicht einer, denn alle Beteiligten hatten den Begriff als Ende einer Kette von Gedanken und Assoziationen gefunden, und er war so einleuchtend und offensichtlich, daß jeder nicht nur das Gefühl hatte, er hätte darauf kommen müssen, sondern er wäre darauf gekommen.
Die Überlegung war einfach: Ein Planet im unberührten Zustand, also ohne Zivilisation, verfügte über oberflächennahe Lagerstätten der verschiedensten Bodenschätze. Die wurden bei Entstehung der industriellen Phase abgebaut und waren meistens schon restlos ausgebeutet, wenn der Raubbau durch den geschlossenen Stoffkreislauf ersetzt wurde. Demnach durfte es auf diesem Planeten keine oberflächennahen Bodenschätze mehr geben, falls die Vermutung richtig war, daß hier eine Gesellschaft entstanden war und sich historisch entwickelt hatte.
Nun war der Tatbestand leicht zu kontrollieren. Der Computer enthielt dank den multispektralen Satellitenaufnahmen alle erforderlichen Informationen. Er enthielt viel mehr, als sie alle in vielen Jahren abfragen konnten, daran zeigte sich wieder einmal, daß zuviel Information ohne ordnende Fragen genauso effektiv ist wie gar keine.
Also wurde die Frage nach Erzen formuliert, und was war die Antwort? Die Ausgabe lieferte eine Überraschung: eine Karte der Oberfläche mit vielen Angaben über sichere oberflächennahe Lagerstätten von Metallen.
Damit hatte niemand gerechnet. Die theoretische Überlegung, warum es keine geben dürfte, war zu einleuchtend; und der Gedanke, daß die Geusen auf diesem Planeten entstanden und aufgewachsen waren - aufgewachsen schließlich sogar in einem doppelten Sinne - dieser Gedanke also hatte sich schon so festgesetzt, daß auch jetzt keiner ihn widerlegt haben mochte. Um das Phänomen zu klären, mußte man sich solche Lagerstätten ansehen.
Elber flog mit den Zwillingen. Er mußte sich nicht mal dazu drängen, Hirosh verließ die Basis nicht, ebensowenig Woleg. Die Meßtechniker waren bei der Überprüfung des Transitteils mehr belastet, als eigentlich vertretbar war, Atacama und Delawara hatten nichts anderes mehr als ihre Milchstraße im Kopf, und Kiliman bereitete die Computerbearbeitung der Planetengeschichte vor, er interessierte sich zwar brennend für alle Einzelheiten, von Fakten bis zu den verrücktesten Einfallen, aber nicht für ihre Beschaffung.
In großer Zahl waren vor allem Eisenerzlagerstätten über den Planeten verstreut, und Elber suchte sich deshalb eine davon aus, und zwar in dem Mittelgebirge, das sich am großen Strom hinzog - es war ja im Prinzip gleichgültig, wo er eine untersuchte, also konnte er sich für eine nahe entscheiden, eine, zu der er den Weg schon kannte.
Sie flogen, da sie zu dritt waren und eine ziemliche Anzahl von Geräten mitzunehmen hatten, mit der Basisfähre. Die fragliche Stelle, das wußten sie schon aus den Karten, war ein Bergmassiv. Sie hatten sich vorgestellt, sie würden auf dem Gipfel landen, aber als sie hinkamen, erhoben sich Bedenken. Das gesamte Massiv war von Wald bedeckt, und gerade dort, wo sie landen wollten, sah Elber im letzten Moment Primaten in den Bäumen, Affen von der Art, wie Dela sie aufgenommen hatte.
Über diese Affen war inzwischen jede denkbare Vermutung ausgesprochen worden, doch ganz gleich, ob es sich um die Stammväter einer künftigen Zivilisation oder um degenerierte Geusen handelte - in jedem Fall würde man äußerste Rücksicht nehmen. Nicht nur einfach sie leben lassen war die moralische Forderung - man tötete sowieso kein Tier auf einem fremden Planeten -, nein, man durfte ihren Lebenskreis nicht stören. Und sie mit Gravitationsschlägen zu verjagen, das hieß ja wohl doch stören.
Sie kreisten also mehrmals um das Massiv herum, bis sie endlich eine Lichtung fanden, am Fuße des Gipfels, dort, wo er in einen Sattel überging, aus dem sich dann ein zweiter, kleinerer Gipfel erhob.
Es war gutes Wetter, aber durch diesen Sattel pfiff der Wind. Vermutlich war der deshalb nicht so stark bewachsen, selbst der Boden zeigte nur hier und da Pflanzenwuchs.
Elber sah sich um, nicht neugierig wie die Zwillinge, die bisher kaum von der Basis weggekommen waren und die Hirosh auch diesmal nur ungern hatte gehen lassen. Elbers Blick versuchte, in das Gehölz einzudringen, das sich die Hänge hinauf- und hinabzog. Da, wo der Hang zum höheren Gipfel führte, bemerkte er eine Bewegung. Da, ein Stück daneben noch eine - die Affen! Jetzt hatte er sie deutlich erkannt. Sie beobachteten. Sie versuchten, ungesehen zu bleiben. Elber beschlich ein unbehagliches Gefühl.
„Wir schließen die Visiere“, sagte Elber zu den Zwillingen. „Die Affen im Wald beobachten uns. Wenn sie uns angreifen sollten - Schaden können sie uns nicht zufügen. Wir tun ihnen nichts, erschrecken sie nicht, wir ziehen uns nur in die Fähre zurück. Notfalls machen wir uns mit sanfter Gewalt frei. Und einer muß immer am Eingang der Fähre sein. Das übernehme ich, und ich werde auch beobachten. Ihr arbeitet, kümmert euch nicht darum. Einverstanden? Und erzählt euch gelegentlich, was ihr entdeckt, damit ich’s auch höre!“
„Guck mal hier, wo der Wind langgeht am Boden“, sagte Vienna, „das ist hart wie Metall. Hör mal, wie das klingt!“ Sie schlug mit dem Hammer darauf. Sogar Elber hörte es - das klang wie Metall.
Kerala kratzte. „Obendrauf Oxid, drunter blank!“ sagte sie.
„Der Wind fegt immer den Rost weg. Das ist doch Rost!“
„Und wohin fegt er ihn? Da, zum Waldrand.“ Kerala stand auf und ging ein paar Schritte, probierte dort mit dem Hammer. „Ist locker hier, viel Rost, scheint eine ganze Rostdüne zu sein. Mit Erde dazwischen. Ich nehme eine Probe.“
Elber hatte einen Augenblick dahin gesehen, wo das blanke Metall zutage trat - so was gab’s doch nicht! Schnell hob er den Blick wieder und rief plötzlich: „Weg vom Waldrand!“
Kerala konnte sich gerade noch aufrichten, da hingen schon sechs, sieben Affen an ihr. Sie waren klein, nicht viel größer als einen halben Meter, aber es fiel ihr nicht leicht, sie abzuschütteln, und die Affen ließen wohl nur von ihr ab, weil sie inzwischen mitten auf der Lichtung stand.
Vienna hatte inzwischen den Laser eingeschaltet, um ein Stück von dem Metall abzuschweißen. Eine Stelle auf dem Boden glühte hell auf, Funken stoben herum, es knisterte - die Affen verschwanden sehr schnell im Wald. Aber sie blieben in der Nähe, Elber sah es.
„Fertig!“ sagte Vienna.
„Wir gehen in die Fähre zurück und warten dort eine Weile“, sagte Elber, „ihr zuerst!“
Das metallische Eisen war schon eine große Überraschung gewesen, aber die größere stand ihnen noch bevor. Eine halbe Stunde arbeiteten sie an chemischen und physikalischen Analysen aller Art, und was sich dann als Resultat formulieren ließ, war fast unglaublich: Die Proben bestanden aus verhüttetem Eisen von großer Reinheit, die sich selbst noch im Oxid nachweisen ließ. Und die Verhüttung war etwa ein- bis zweitausend Jahre her.
„Unvorstellbar, daß das ganze Massiv daraus bestehen sollte!“ sagte Elber.
„Warum?“ fragte Vienna. „Ist vielleicht technischer Proviant für die Zukunft der Affen!“
„Und die verteidigen jetzt schon ihre künftige metallurgische Basis!“ ergänzte Kerala.
„Wir müssen irgendwie prüfen, ob wirklich das gesamte Massiv daraus besteht“, sagte Elber. „Bevor wir das nicht bewiesen haben, glaube ich überhaupt nichts. Wenigstens noch eine Stichprobe!“
Ein Blick hinaus zeigte, daß von den Affen nichts zu sehen war. Elber beobachtete eine Weile, aber er konnte keine Bewegung feststellen. „Sie haben es wohl aufgegeben“, sagte er. „Die Fähre allein war ihnen nicht interessant genug.“
„Oder nicht bedrohlich“, erwiderte Kerala. Die Zwillingsschwester sagte - seltene Ausnahme - diesmal nichts.
Elber sah Vienna deshalb erstaunt an, aber er bemerkte, daß ihr Schweigen einen Grund hatte - sie probierte mit einer Schaltung herum. „So geht’s“, sagte sie - plötzlich leuchtete ihr Schutzanzug auf, als ob er glühte.
„Na klar“, rief Elber begeistert, „großartige Idee!“
„Ich bin draufgekommen, weil die Affen vor dem Schweißen ausgerückt sind.“
Zu den vielfältigen Möglichkeiten des Schutzanzugs gehörte auch, daß er zum Leuchten gebracht werden konnte, das war auf dunklen Planeten einfach unerläßlich, wenn man sich nicht verlieren oder dauernd gegeneinander rennen wollte. Jetzt würde man sich damit also die Affen vom Leibe halten.
„Schade, daß wir nicht noch Funken sprühen können!“ sagte Elber. „Also was nehmen wir mit?“
Eine Viertelstunde später brachen sie auf. Im Wald, in dem nach irdischen Maßstäben abendliche Lichtverhältnisse herrschten, sahen sie mit ihren leuchtenden Anzügen fast gespensterhaft aus; wenigstens reizte der Anblick die Zwillinge, die so etwas noch nicht oft gesehen hatten oder noch gar nicht, zu Gekicher und Albernheiten. Elber hielt immer wieder besorgt nach den Affen Ausschau, aber die ließen sich nicht blicken.
Sie gingen bergab, es war nicht gerade eine mühsame Kletterei, aber ein Spaziergang war es auch nicht, denn sie hatten dabei allerlei zu tragen, das Bohrgerät, die verschiedenen Meß- und Prüfgeräte. Einfacher wäre es gewesen, mit der Fähre hinzuschweben, aber dabei hätte keiner garantieren können, daß nicht unter ihnen Lebewesen verletzt worden wären.
Schall- und Ultraschalluntersuchungen, Messungen mit Magnetschlägen, schließlich eine fünf Meter tiefe Bohrung... Als sie die Fähre wieder erreichten, waren sie ziemlich erschöpft. Aber sie hatten nun das Material, das sie brauchten, und bald hatte auch diese Probe bestätigt, daß das Massiv aus technisch verarbeitetem Reineisen bestand.
„Und Sie glauben, das führt zu irgend etwas?“ fragte Hirosh. Kiliman hatte ihn gebeten, er möge - wie die andern Mitglieder der Expedition auch - zu jeder einzelnen der bisher erkundeten Tatsachen aussprechen, was ihm einfiel.
„Es ist eine heuristische Methode wie andere auch“, sagte Kiliman, „hier scheint sie angebracht, weil es so viele Fakten gibt, rätselhafte Fakten, die zum Assoziieren geradezu auffordern.“
„Können Sie die Methode erklären, ich meine so, daß auch ein Koch sie versteht?“ fragte Hirosh.
„Ich will’s versuchen“, sagte Kiliman. „Also, wir nehmen einen bestimmten Fakt, nehmen wir als Beispiel die Dela-Schicht, weil sie die erste Absonderlichkeit war. Jetzt sagt jeder eine Reihe von Begriffen, die ihm dazu einfallen, das ist die assoziativ-menschliche Seite, sie führt vielleicht, sagen wir, zu zweihundert Begriffen. Der Computer geht lexikalisch weiter, er bildet zu jedem dieser Begriffe Synonyme und Verweisketten. Dadurch erhöht sich die Anzahl der Begriffe auf, sagen wir, zweitausend. Das ist jetzt das sogenannte heuristische Umfeld der Dela-Schicht. Ein solches Umfeld wird nun für jeden Fakt gebildet. Wie viele haben wir? Vielleicht dreißig, aber es werden ja jeden Tag mehr, sagen wir: fünfunddreißig. Wir haben also fünfunddreißig solcher Umfelder - jedes für sich eine Menge von Begriffen. Im ganzen werden es etwa zwischen fünfzig- und hunderttausend sein. Der Computer sucht nun die Begriffe heraus, die in jedem Umfeld auftreten - also die Durchschnittsmenge. Ist dieser Durchschnitt leer, das heißt, gibt es keinen Begriff, der in jedem Umfeld auftritt, ist die Methode nicht anwendbar. Hat der Durchschnitt mehr als zwanzig, dreißig Begriffe, gilt das gleiche.
Bleibt er innerhalb dieser Grenzen, ist der erste Schritt erfolgreich gewesen.
Bis hierher ist die Geschichte ziemlich einfach, aber jetzt wird es schwieriger. Na schön, so kompliziert auch wieder nicht. Es sind im Grunde alles Methoden, die man beim Nachdenken anwendet, hinzugefügt wird nur die Fähigkeit des Computers, dabei mit großen Zahlen von Objekten zu operieren. In der zweiten Stufe also gibt es mehrere Wege, die gleichzeitig beschritten, nein, nicht direkt gleichzeitig, sondern parallel zueinander...“
ja, gut, Sie haben mich überzeugt“, unterbrach ihn Hirosh. Er sagte das lächelnd und in solchem Ton, daß Kiliman begreifen mußte: Das war nichts für den Koch und Arzt. Für den war es anscheinend nur wichtig, daß er, Kiliman, selber genau wußte, was er tat.
Als Kiliman nun Hiroshs Assoziationen zu den einzelnen Punkten abfragte, merkte Hirosh: Es waren schon so viele, daß man sie nicht mehr im Kopf behalten konnte. Sicherlich, einige drängten sich sofort in den Vordergrund, das Satellitenparadoxon etwa oder die Entdeckung des Galaxisbildes, aber wer wollte sagen, ob das nun die wichtigsten waren. Nein, Kiliman packte die Sache schon richtig an.
Es dauerte eine gute Stunde, bis sie die Liste abgearbeitet hatten, und Kiliman bewies eine vorbildliche Geduld, wenn Hirosh mal auf eine andere Einzelheit zurücksprang oder etwas vorwegnahm. Aber Hirosh stellte nach einiger Zeit zu seiner Überraschung fest, daß er selbst dabei gewann. Es war im Grunde eine große Repetition aller ihrer Erlebnisse.
Gewiß stellte die Reihenfolge auf Kilimans Liste keine Wertung dar, aber bei ihm, Hirosh, war so etwas wie eine Wertung entstanden, für ihn waren zwei Probleme die wichtigsten: die Schmerzanfälle nach dem Beinahe-Unfall, die er für den Beginn einer Kontaktaufnahme hielt, und die Spiralen. Bei den Spiralen stand für alle das Bild der Milchstraße im Vordergrund, weil es einen ungeheuren Erkenntniszuwachs für die Menschheit darstellte. Nun war Hirosh die Erkenntnis der Menschheit ganz sicher nicht gleichgültig, aber er wunderte sich viel mehr über die Versteinerungen, über diese primitiven Spiralen, die sich auch in der Form der Stadt wiederfanden. Bitte schön, daß Leute, die mit einem ganzen Sonnensystem durch die Gegend kutschieren, auch wissen, wie die Milchstraße dort aussieht, wo man nicht direkt hingucken kann, das hielt Hirosh nicht für erstaunlich, sondern mehr für selbstverständlich. Daß sie aber mit dem Ufersand backe, backe Kuchen spielten, wenn auch auf eine technisch perfekte Weise, das kam ihm merkwürdig vor. Aber darüber wurde er sich erst klar, als die Befragung beendet war.
Anknüpfend an die letzten Ereignisse und Erkenntnisse, schwatzten sie noch ein bißchen - Kiliman meinte, Computer würden nicht eifersüchtig, wenn die Menschen denken.
„Es sieht ja fast so aus“, sagte er, „als ob die Geusen vor ihrer Abreise alles so eingerichtet haben, damit hier eine neue Zivilisation entstehen kann und gute Anfangsbedingungen vorfindet. Die Bodenschätze, die Position im Kosmos; die Affen, die fast schon auf dem Wege zu gesellschaftlichen Wesen sind - aufrechter Gang und Gebrauch von Werkzeugen, sehr differenzierte akustische Signale; aber doch noch weit weg genug von ihrer Menschwerdung, um eine biologische Anpassung zu durchlaufen und eine optimale Physis für die jetzigen klimatischen Bedingungen zu erwerben... Nur, wenn dieser Planet nicht in Gefahr war, warum sind die Geusen dann überhaupt weggegangen?“
„Ich glaube“, antwortete Hirosh langsam, „das können sie uns nur selbst sagen. Aber richtig ist der Gedanke.“ Er sah wieder das Bild vor sich, junge Bäumchen und Stümpfe vor dem grauen Himmel. Neues Leben wächst - ja, sogar eine neue Gesellschaft!
„Und Sie glauben immer noch, daß ein Kontakt noch stattfinden wird?“
„Ich warte darauf.“
„Und haben Sie Vorstellungen, wie?“
„Bestimmt nicht in Form eines fröhlichen Geplauders“, sagte Hirosh. „In Wahrheit - ja, ich habe Vorstellungen, aber sie sind so verschwommen, daß ich sie nicht mal in Worte fassen kann. Es hört sich lächerlich an, aber ich möchte das so sagen: Ich ahne in eine bestimmte Richtung. Ein paar nebensächliche Einzelheiten haben mich in dieser Richtung in Bewegung gesetzt, mal ein Fakt, mal ein Wort von Atacama, auch heute wieder die Befragung - ich kann nur hoffen, daß es mir bis zu dem Zeitpunkt, an dem wir das brauchen, klargeworden ist. Oder wäre es umgekehrt richtiger - brauchen wir es noch nicht, weil ich mir noch nicht klar bin? Ich bin also hin und her gerissen. Einerseits wünsche ich den Kontakt so schnell wie möglich herbei, weil wir ja bald abreisen müssen, andererseits möchte ich ihn verzögern, damit er uns besser vorbereitet trifft. Und trotzdem bin ich zuversichtlich - die Art des Kontakts wird uns lehren, was wir zu tun haben.“
„Es ist ein seltsamer Unterschied zwischen uns“, sagte Kiliman nachdenklich. „Wir alle begeistern uns für das, was wir finden, wir rekonstruieren die Geschichte des Planeten und gewinnen Kenntnisse von einem Umfang, der die ursprünglichen Ziele der Expedition weit übertrifft, und die erhalten wir beinahe nebenbei. Aber für Sie ist das alles das eigentlich nicht Wichtige...“
„Nein, nein“, widersprach Hirosh lebhaft, „im Gegenteil - die Kenntnis der Planetengeschichte wird uns unserer Aufgabe bei dem Kontakt ungeheuer erleichtern, vielleicht sogar erst ermöglichen.“
„Warum bremsen Sie dann immer?“ fragte Kiliman nun ganz konkret.
„Ich, bremsen?“
„Jeder, der sich bei Ihnen abmeldet, hat den Eindruck, Sie ließen ihn sehr ungern weg.“
„Ach so, ja, das stimmt. Das ist aber deshalb, weil ich glaube, daß der Kontakt uns hier trifft, hier in der Basis.“
„Interessant. Und warum?“
„Tja, warum glaube ich das? Weil diese merkwürdigen Einflüsse hier wirksam geworden sind. Ich denke, das war ein automatisches Suchprogramm, das unsere Koordinaten ermittelt hat - sozusagen.“
„Dann war also das der Anfang des Kontaktprozesses?“
„Nein, das war schon die erste aktive Handlung der anderen Gesellschaft. Der Anfang war wohl das, was diese Automatik ausgelöst hat.“
„Unser Widerstand gegen die Stoßwelle?“
„Zuerst hab ich auch so gedacht - die Verstärkung der Gravitation war immerhin die erste spezifisch auf uns orientierte Reaktion. Aber je länger ich darüber nachgedacht habe, um so mehr hab ich das
angezweifelt. Das technische Ziel dieses Prozesses war doch die Unterdrückung des Widerstands, des Abweichens von der Norm,
also in der Konsequenz unsere Vernichtung. Nein, es gibt eine
andere Möglichkeit - unser langsames Zurückregeln der Abschirmung, das war deutlich ein nicht natürlicher Prozeß,
vielleicht hat der die Kontaktautomatik ausgelöst. Aber das können wir leider nicht entscheiden, weil wir nicht wissen, was in solchem Fall natürlich und was nicht natürlich ist.“
„Ja, von uns aus gesehen, haben sie unvorstellbare Techniken, unvorstellbare Möglichkeiten, unvorstellbare Ziele und Absichten. Ich glaube, selbst wenn wir einen Übersetzer und ein direktes Gespräch hätten und selbst wenn sich die Geusen um allergrößte
Einfachheit bemühten, würden wir nur jedes hundertste Wort verstehen - einfach weil uns für neunundneunzig Prozent der Dinge,
die sie täglich umgeben und mit denen sie täglich umgehen, die Begriffe fehlen. Es hat ja nicht umsonst zeitweise die Auffassung gegeben, Gesellschaften, die so weit auseinander sind, hätten sich gar nichts zu sagen und die ganze Kontaktrederei wäre im Grunde leeres Geschwätz.“
„Das ist Unsinn“, sagte Hirosh bestimmt. „Gesellschaften haben sich immer etwas zu sagen. Jeder Kontakt bereichert die Kultur, das war schon in der alten Geschichte so, das hat sich bewiesen nach der Besiedlung der Nachbarplaneten und...“
Hirosh schwieg. Er schwieg lange. Kiliman wartete geduldig. „Ja“, sagte Hirosh schließlich. „Sie verstehen Ihr Handwerk. Ich glaube, jetzt hab ich die Richtung.“
Aufgeregt kam Elber zu Hirosh. „Ich weiß, daß du dagegen bist, ich weiß, daß ich jetzt schlafen müßte, aber ich muß sofort mit der Fähre los, wer mitfliegt, überlasse ich dir. Hierhin!“ Er warf ein Bild auf den Tisch, das von einem der Satelliten stammen mußte. Es zeigte den noch relativ kleinen Ring einer beginnenden Stoßwelle, sie konnte noch nicht alt sein. Dann wies er auf eine Stelle innerhalb des Kreises, und nun sah Hirosh, daß da irgendwas nicht in Ordnung war.
„Ein singulärer Punkt, vergleichsweise“, fuhr Elber fort, „die Gravitation steigt dort weiter an. Vielleicht haben wir da endlich das Zentrum der Automatiken!“
Hirosh schüttelte den Kopf, rang aber noch mit sich. Kilimans Beschwerde wirkte noch nach.
„Das sieht übrigens genauso aus wie die Aufnahme von uns damals, als wir beinahe...“
Hirosh drehte den Kopf mit einem Ruck. ja, das ist wichtig. Also gut, Ausnahmesituation, wer weiß, wie lange sich das hält. Nehmt die Fähre. Such dir jemanden, der freihat, laß den anderen steuern, wenigstens zurück. Wie lange braucht ihr bis hin?“
„Eine Stunde.“
„Hm, hm, hm“, brummte Hirosh. „Also in fünf Stunden seid ihr wieder da. Du erhältst von mir eine Wachpille, nimm sie nur, wenn es gar nicht anders geht.“
Elber staunte nicht wenig, wie bereitwillig Hirosh auf seinen Vorschlag eingegangen war, mußte er doch sonst immer erst überzeugt werden. Warum war ihm diese Sache so wichtig, er glaubte doch ohnehin nicht, daß es für die Automatiken, die hier abliefen, irgendein apparatives Zentrum im irdisch-technischen Sinne gäbe? Nein, das hatte ihn auch nicht umgestimmt, da war er noch zurückhaltend, erst dann, als die Ähnlichkeit mit dem Bild von der Fähre unter der Gravitationsglocke... Der Vergleich also, das war’s. Nun, mal sehen, was man dort vorfinden würde.
„Wie war’s denn“, fragte Elber, „willst du nicht mitkommen?“
„Ich möchte hier nicht weg“, sagte Hirosh, „aber ich bin sehr daran interessiert, was ihr dort findet. Wenn irgend möglich, halte die Verbindung aufrecht und gib Bild und Ton durch - liegt das im Satellitenbereich?“
Elber sah nach.
„In zwei Stunden kommt auf jeden Fall eine Satellitenverbindung zustande, wenn wir per Funk nicht über die Stoßwelle hinwegkommen. Ich sende dann alles als Bündel.“
„Gut. Viel Erfolg!“
Eine Stunde später war Elber am Ort des seltsamen Geschehens. Er hatte Rila und Gibralt mitgenommen.
Sie betrachteten die Vorgänge zunächst aus der Stratosphäre. Elber wußte ja von damals her, daß die Zone anwachsender Gravitation sehr eng um die Störungsquelle - damals um die Fähre - lag, aber sie wußten nicht, wie hoch sie sein würde.
Langsam, sehr langsam ließen sie die Fähre sinken. In der Tropopause gingen sie in die Zone verminderter Gravitation über - die Wirkung der überstarken reichte also nicht bis hier herauf. Elber teilte das der Basis mit, von hier aus war noch direkter Funkverkehr, und er erhielt noch einmal eine Warnung von Woleg, der extra deshalb auf die Verbindung gewartet hatte; er solle vorsichtig sein und ja nicht vergessen, daß die Fähre nur G-Antrieb habe.
Elber hatte das auch schon bedacht und bereits begonnen, den Sinkkurs der Fähre seitlich auszulenken, so daß sie in einigen Kilometern Abstand von der fraglichen Stelle landen würden.
Anfangs unterschied sich diese Stelle rein optisch nur dadurch von ihrer Umgebung, daß sie als graugelbe Scheibe zu sehen war - als hätte jemand einen Mühlenstein in die kartenähnliche Landschaft gelegt. Als sie tiefer kamen, wurde immer deutlicher, daß es sich nicht um eine Scheibe, sondern um eine Halbkugel handelte, mit einem Durchmesser von mehreren hundert Metern, bedeutend größer als seinerzeit im alten Basislager.
Elber landete die Fähre in einer kleinen Senke, so daß nur das oberste Stück der Halbkugel von den oberen Sensoren der Fähre zu sehen war - dies auf alle Fälle zur Sicherheit.
„Na, wie sieht’s aus?“ fragte er die beiden Meßtechniker.
„‘ne Menge verrückter Werte“, sagte Gibralt ruhig. „Das Magnetfeld ist völlig durcheinander, das ist ein Magnetsturm wie - na ja, ich hab so was noch nicht erlebt. Gelesen hab ich mal von einem überschnell rotierenden Planeten, wo das Feld ständig abriß.... na ja, sei froh, daß du nicht mit deinem Adler hier bist, der wäre gleich abgestürzt. Ebenfalls verrückt: Der Boden ist hier nicht wie anderswo negativ elektrisch geladen, sondern positiv. Der Ionisationsgrad der Luft ist fünfmal so hoch wie normal. Die Bodentemperatur ist an einigen Stellen in der Umgebung sehr hoch, bis zu achtzig Grad, hier eine Temperaturkarte, aus tausend Meter Höhe aufgenommen. Stellenweise verstärkte Radioaktivität, nicht sehr hoch, aber meßbar höher, jedoch nicht an den heißen Stellen. Hast du noch was?“ Er wandte sich an Rila.
Rila sah auf ihre Geräte und sagte: „Der Boden wird von unregelmäßigen seismischen Erschütterungen durchlaufen, Stärke minimal, gerade noch nachweisbar. Das Gelände, in dem wir uns
befinden, wird von einem fast ganz abgetragenen Gebirge gebildet, das Zentrum steht in einem ehemaligen Tal, wo auch wir uns noch
befinden. Und nun hört euch mal das an!“ Sie schaltete einen Lautsprecher ein, und plötzlich lag ein dumpfes Dröhnen in der Luft. „Das graugelbe Licht, das wir sehen, wird von einer sehr dünnen
Grenzschicht der Halbkugel ausgestrahlt, und die vibriert wie eine Membrane und erzeugt auch den Ton. Aber es ist keine Membrane.
Kein Stoff würde als Membrane Kräfte von solcher Stärke aushalten wie die, die den Ton erzeugen. Immerhin sind wir über einen Kilometer entfernt, und der Ton ist nicht verstärkt.“ Sie schaltete wieder ab.
„Na, dann wollen wir mal!“ sagte Elber und wollte zum Ausstieg gehen.
„Aussteigen?“ fragte Gibralt.
ja, was sonst?“ fragte Elber verwundert dagegen.
„Wozu“, sagte nun auch Rila, „was kann man denn da draußen besser messen als hier drin?“
Elber mußte sich eingestehen, daß er nicht sofort eine Antwort auf diese verblüffend überzeugende Frage wußte. Er wäre gar nicht auf
den Gedanken gekommen, ohne Not in der Fähre zu bleiben. Aber wenn man eben die Welt nur durch das Glas der Skalen und Anzeigeschirme sah...
Doch er nahm seinen Gedanken des Unmuts sofort zurück, denn jetzt half ihm Gibralt aus der Verlegenheit: „Den Wärmegradienten,
die Laufrichtung der seismischen Wellen, Bodenproben an den radioaktiven Stellen. Ach, uns wird schon noch was einfallen, wenn wir eine Weile nachdenken.“
„Aber Elber“, sagte Rila so, als spräche sie mit ihrem Mann über einen Abwesenden, „Elber will ganz was anderes, Elber will hingehen, ganz nahe heran, seine Nase in die schwingende Glocke hineinstecken.“
Elber war außerordentlich erstaunt, weniger, daß sie seine Absichten erraten hatte, das war ja wohl nicht allzu schwer; vielmehr, weil sie das alles in beinahe mißbilligender Art gesagt hatte.
„Hast du was dagegen?“ fragte er.
„Ja“, sagte sie.
Elber wartete, daß sie sich näher erklärte. Dann fragte er: „Warum?“
„Das Ding da“, sie zeigte in Richtung der Halbkugel, „ist doch nicht stabil.“
„Nein“, antwortete Elber, „ein Gravitationsfeld unterdrückt eine Gravitationsstörung. Wenn sie beseitigt ist, verschwindet es. So war es an der alten Basis auch.“
„Oder umgekehrt“, sagte Rila.
„Wie umgekehrt?“
„Oder die Störung wird stärker als das Feld, dann explodiert die ganze Geschichte.“
Elber ärgerte sich - diese Haltung, die Gibralt noch dazu kopfnickend teilte, ging ihm so sehr gegen den Strich, daß er sich
auch jetzt noch, da ihm die Argumente ausgingen, im Recht fühlte. Das mußte ihm wohl anzusehen sein, denn Rila sagte nun: „Du wirst doch nicht deinen Leichtsinn als Mut und unsere Vorsicht als Feigheit bezeichnen wollen?“
„Natürlich nicht“, sagte Elber wütend - wütend vor allem deshalb, weil er genau das empfunden hatte.
„Sie hat manchmal ganz schön scharfe Krallen, wie?“ fragte Gibralt, was teils seine Übereinstimmung mit seiner Frau ausdrückte, teils seinen Wunsch einzulenken.
„Übrigens beenden die Tatsachen die Diskussion“, sagte Rila und schaltete den Lautsprecher wieder ein. Das Geräusch draußen war
jetzt nicht mehr ein gleichmäßiges Dröhnen, sondern ein auf- und abschwellender Ton, manchmal mit kleinen Sprüngen in der Tonhöhe versetzt, ganz offensichtlich ein Zeichen, daß der Prozeß dort weiter an Stabilität verlor - und an Aktivität zunahm.
„Wir machen die Messungen, die Gibralt vorgeschlagen hat“, sagte Elber. „Das heißt, ihr macht sie, im Umkreis von höchstens fünfzig Metern, reicht das?“
„Müßte reichen“, sagte Gibralt.
„Und du?“ fragte Rila.
„Ich bleibe an Bord“, sagte Elber. Als er Rilas verwundertes Gesicht sah, plagte ihn für einen Augenblick die kindische Lust, ihr die Zunge herauszustrecken. „Einer muß doch“, ergänzte er statt dessen.
Während jener Ton manchmal wieder zum Dröhnen zurückfand, manchmal wieder höher und unregelmäßig wurde, setzte Elber in der Fähre selbst die Beobachtung des oberen Randes der Halbkugel fort - die Strahlung hatte sich nicht verändert - und konzentrierte alle bisherigen Informationen zu einem Bündel. Gleich mußte der Satellit das Gebiet überfliegen, von der Fähre aus konnte er ihn direkt anpeilen und über ihn und den synchronen Nachrichtensatelliten das Bündel zur Basis schicken. Noch zehn Sekunden, fünf, jetzt - da war er, scheinbar langsam rückte er über den Schirm, Elber drückte auf die Taste - so, jetzt stand das Bündel in Gestalt von Lichtsignalen auf den Multispektralaufnahmen und nahm seinen Weg in die Basis... Was war das? Der Ton draußen stieg an, nicht mehr schwankend, sondern geradewegs, wurde immer heller, pfeifender, verschwand nur in der Unhörbarkeit, aber die Instrumente zeigten den Ultraschall an. Auf dem Schirm wurde die Stelle, wo der obere Rand der leuchtenden Halbkugel über den Rand des Hügels blickte, blendend hell.
„Alles an Bord“, rief Elber, „sofort alles an Bord, Geräte stehenlassen!“
Es schien aber doch so große Eile nicht nötig zu sein, der Ultraschallton und auch das Leuchten stabilisierten sich in einem bestimmten Bereich.
Rila und Gibralt kamen herein, sahen den Schirm, setzten sich an ihre Gerätepulte und hantierten dort herum.
„Seltsam“, sagte Gibralt nach einer Weile, „dem Spektrum nach könnte es eine GAG-Anni sein, aber dermaßen stark?“
„Ich rechne mal nach“, sagte Rila, und nach einer Weile berichtete sie das Ergebnis: „Nein, kann nicht sein, die GAG-Anni würde Massen von stellarer Größenordnung entsprechen.“
„Was bedeutet die Akü?“ fragte Elber.
„GAG-Anni? Das ist Annihilationsstrahlung, die beim Zusammentreffen von Gravitonen und Antigravitonen entsteht. Die gibt’s bei jedem G-Antrieb, aber nur so schwach, daß sie meßtechnisch nicht zu erfassen sind.“
„So?“ sagte Elber. „Legt euch zurecht, in fünfzehn Sekunden Alarmstart mit zehnfacher.“
Diesmal stellte niemand eine Frage. Jeder sah ja, daß der halbe Ball über den Horizont hinauswuchs, immer größer wurde... Und dann legte sich das zehnfache Gewicht auf ihre Glieder.
„Und was bringt ihr Schönes?“ fragte Hirosh.
Die Zwillinge standen vor seinem Bau und drucksten herum.
„Willst du?“ fragte Kerala.
„Mach du mal“, sagte Vienna.
„Kommt erst mal rein“, sagte Hirosh, „und wenn ihr was zu
erzählen habt, dann bleibt auch dabei: Die eine erzählt, und die
andere unterbricht nicht. Gut?“
„Ja, also...“, sagte Kerala.
„Nun mach schon“, drängelte Vienna die Unentschlossene. „Schon
gut, ich misch mich nicht ein“, sagte sie zu Hirosh, der die
Augenbrauen mahnend hochgezogen hatte.
„Es ist so“, sagte Kerala, „wir haben Schlafstörungen.“
„Und natürlich beide? Na, dann macht euch mal frei.“
„Es sind eigentlich keine richtigen Schlafstörungen“, sagte Ke,
„und es stört uns auch kaum beim Schlafen, es ist nur, weil Sie doch
gesagt hatten, daß man alle unerklärlichen Vorkommnisse mitteilen
soll.“
„Dann gebt es zu Protokoll.“
„Na ja“, Kerala bewegte unschlüssig die Schultern. „Wir sind uns
eben nicht ganz klar, ob es ein unerklärliches Vorkommnis ist, und
da dachten wir, Sie als Arzt...“
„Nun bin ich aber gespannt, was das ist“, sagte Hirosh vergnügt.
„Halten wir mal fest: Es ist eine Schlafstörung, die den Schlaf nicht stört, und etwas Unerklärliches, von dem man nicht weiß, ob es unerklärlich ist, hab ich das richtig verstanden?“
„Also präzise“, sagte Ke entschlossen, „ich schlafe ein, und im Moment des Einschlafens habe ich einen sehr intensiven Traum: Ich sehe Vivi erst einmal, dann werden es zwei Vivis, und dann habe ich das Gefühl, ich falle, mein Körper zuckt zusammen, und von diesem Zucken oder vielleicht auch von dem Gefühl dieses Zuckens werde ich noch mal wach.“
„Und was ist daran so Besonderes?“
„Im selben Augenblick wird Vivi wach und hat das gleiche geträumt, nur hat sie gesehen, wie ich mich verdopple.“
Der Ausdruck verdoppeln machte Hirosh aufmerksam. Bisher hatte er der Sache nicht mehr Wichtigkeit beigemessen als einem beliebigen leichten Unwohlsein, eher weniger. „Wann ist das passiert?“ fragte er nun.
„Die letzten drei Mal beim Schlafengehen.“
Hirosh bemühte sich, seine außerordentliche Erregung nicht spüren zu lassen. Tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf, und er wußte nicht, ob es gut war, den beiden ihre Unbefangenheit zu nehmen, oder vielmehr, er ahnte, daß es nicht gut wäre. Denn wenn das auch eine kühne Hypothese war, Hirosh glaubte beinahe sicher zu sein, daß dies der lang erwartete Kontakt war!
Bevor er seine Gedankenflut kanalisieren konnte, mußte er erst einmal überlegen, was er mit den Zwillingen jetzt anfing.
„Ihr wollt jetzt schlafen gehen?“ fragte er nach einem Blick auf den Dienstplan.
„Ja, wollen wir.“
„Dann schlaft mal heute unter dem EEG ein, nein, nicht hier, in eurem eigenen Bau, ich pflastere euch die Elektroden auf und gebe euch ein Aufzeichnungsgerät mit, das laßt ihr vor eurer Tür stehen, ich hol es mir nachher ab.“
Ja, so war es wohl am besten. Als die beiden gegangen waren, durchdachte Hirosh noch einmal alles gründlich. Er war damals überzeugt gewesen, daß eine Automatik ihre Gehirne abgetastet hatte; wie, das wußte er nicht, die im EEG verzeichnete Welle war sicher nicht der direkte Abtastvorgang gewesen, sondern eher eine Reaktion des Gehirns darauf.
Hirosh wußte nicht, ob damals alle abgetastet worden waren, aber jetzt jedenfalls hatten sie sich die Zwillinge ausgewählt. Erstens: warum? Und zweitens: Was heißt „sie“? Warum, das ließ sich vermuten - hier waren zwei auf der gleichen Welle zu erreichen. Sicher, Welle war hier nur ein bildlich zu nehmender Ausdruck, da ja niemand wußte, wie und womit dieser Einfluß zustande kam. Oder waren sie deshalb ausgewählt, weil sie das Prinzip der Verdopplung darstellten? Oder aus beiden Gründen?
Mal sehen - wie sah es denn mit der zweiten Frage aus? Sie - das bedeutete in diesem Fall wohl immer noch die Automatik und nicht die Geusen selber, die Methode wies darauf hin. Der Unterschied: Damals wurde nichts übermittelt, jetzt dagegen wurde etwas mitgeteilt - man wußte noch nicht, was, und man würde vorsichtig sein müssen bei der Deutung, aber daß tatsächlich etwas mitgeteilt werden sollte, das war wohl nicht zu bezweifeln - vor allem die Wiederholung sprach dafür.
Ließ man den Inhalt erst mal beiseite, spielten folgende Faktoren eine Rolle: der Zeitraum von der damaligen Abtastung ihrer Gehirne bis heute. Dann: Zeit und Situation der Kontaktaufnahme. Wie könnte sich das erklären? Wenn sich herausstellte, daß die Träume im Augenblick ihres Entstehens von außen hervorgerufen wurden, dann durfte man annehmen, daß die fremde Automatik mindestens mit den Zwillingen ständig Kontakt hatte. Sie suchte sich dann den Zeitpunkt aus, zu dem die beiden Gehirne der Sendung am wenigsten Widerstand entgegensetzten, und das war natürlich beim Einschlafen - vorher waren die Sinnesreize zu stark, und nachher war das Gehirn schwerer zu erreichen. So konnte es sein - es konnte natürlich auch ganz anders sein, es konnte sein, daß die Träume den ganzen Tag über injiziert wurden und sich dann beim Einschlafen sozusagen realisierten; aber das würde er jetzt feststellen, wenn die beiden eingeschlafen waren. Falls das EEG Reaktionen aufgezeichnet hatte, die den seinen damals ähnlich waren, also ungefähr den Thetawellen glichen, dann konnte man annehmen, die Einflußnahme der Automatik fände im selben Moment statt und der Kontakt bestände folglich immer. Hirosh hoffte, daß es sich so verhalten würde, denn er sah schon jetzt, noch ehe er das im einzelnen durchdacht hatte, daß sich daraus weitreichende Schlußfolgerungen würden ziehen lassen.
Wenn das nämlich so war, dann wurde die Frage sinnvoll, warum die Automatik so lange gewartet hatte, bis sie sich wieder meldete. Sie übermittelte jetzt einen Inhalt, wenn man auch noch nicht wußte, welchen - gut. Hatte dieser Inhalt in ihrem Programm vorgelegen, so gab es keinen Grund, warum sie damit so lange gewartet hatte. Anders, wenn man annahm, sie hätte mit den Geusen Kontakt aufgenommen und von dort einen Auftrag zur Übermittlung erhalten; das würde die Zeit erklären, die seitdem verstrichen war, denn die Geusen waren gewiß nicht gleich nebenan.
Dies vorausgesetzt - warum kontaktierten die Geusen nicht selbst mit den Menschen, sondern ließen es ihre Automatik tun? Dafür konnte es nur einen Grund geben: Sie konnten sie nicht erreichen. Andererseits mußte es eine Möglichkeit des direkten Kontakts geben oder wenigstens eines reichhaltigeren Kontakts, sonst wäre das alles überflüssig. Dann aber - nein, vor diesem entscheidenden Gedanken, der schon halbwegs klar in seinem Kopf hin und her ging, wollte Hirosh noch einmal das gesamte Gedankengebäude prüfen, es stand ja doch auf sehr dünnen Beinchen. Immerhin - träumen konnte man alles mögliche. Und es gab auch Träume, die sich wiederholten. Auch daß zwei das gleiche träumten, kam vor, besonders bei eng verbundenen Leuten wie langjährigen Ehepaaren oder eben Zwillingen. Aber daß das dreimal hintereinander auf genau die gleiche Weise geschah - nein, das war nicht natürlich.
So weit - so gut. Also, wenn das alles sich so verhalten sollte, dann lag der Inhalt eigentlich auf der Hand - er konnte nur eine Aufgabe haben, nämlich den Menschen zu zeigen, wie und wo sie einen ergiebigeren Kontakt bekamen, womöglich zu den Geusen selbst.
Gewiß, die traumhafte Realisierung der fremden Signale konnte nur in einer Art Übersetzung geschehen, die konkreten Bilder des Quasi-Traums waren selbstverständlich dem eigenen Gehirn entnommen, also mußte der Inhalt der Information in der Abstraktion aus diesen Bildern stecken - in einer von vielen möglichen Abstraktionen, und am wahrscheinlichsten in einer, die sich auf mehrfache Weise gewinnen ließ, und ebendas war ja der Gedanke, den vorhin einer von den beiden angeregt hatte mit dem Wort verdoppeln.
Ja, die Verdopplung war eine solche Abstraktion, die sich auf mehrfache Weise gewinnen ließ - aus dem, was die beiden sahen, ebenso wie aus der Tatsache, daß sie beide es sahen... Und das war es also: in der Parkbahn, in der Verdopplungszone. Das schien sinnvoll zu sein. Es war wohl so gewesen, daß die Geusen mit Hilfe dieser Zone gestartet waren. Man wußte nichts über die Eigenschaften der duplizierten Raumzeit, aber man konnte sich denken, wenn die Geusen auf eine den Menschen bekannte Weise an ihr Ziel hätten kommen können, hätten sie auf diesen Hokuspokus verzichtet. Dann aber war es denkbar, daß ein direkter Kontakt mit ihnen, falls überhaupt möglich, eben auch über diese Duplikation lief.
Nun, das alles konnte er den andern zum Durchdenken geben, er mußte ja nicht mit seinem eigenen Kopf allein denken, aber erst mal wollte er doch sehen, ob die Voraussetzung stimmte, von der ein gut Teil seiner Überlegungen abhing, ob nämlich die Übermittlung gleichzeitig mit dem Traum stattfand. War es richtig, daß er den Zwillingen nicht gesagt hatte, worum es ging? Das war zumindest nicht falsch, denn wenn sie das gewußt hätten, wären sie vielleicht vor Aufregung gar nicht eingeschlafen. Ob sie schon schliefen? Er konnte ja mal nachsehen...
Fünf Minuten später hielt er etwas in der Hand, was seinem luftigen Gedankengebäude etwas mehr Stabilität verlieh: das Blatt mit den Aufzeichnungen. Da waren ganz deutlich jene Spitzen, die den Thetawellen so ähnlich sahen; aber hier wurde nun auch deutlich, daß es sich nicht um Thetawellen handelte.
Und jetzt, zum erstenmal, dachte Hirosh daran, wie schwer es sein würde, die anderen von dem zu überzeugen, was sich in seinem eigenen Kopf ganz verständlich und handhabbar darstellte.
„Ich hab’s noch mal geprüft“, sagte Gibralt, „es ist doch GAGAnnihilation.“
Sie befanden sich in der Stratosphäre und betrachteten die strahlende Halbkugel am Boden auf allen Frequenzen, für die die Dunstschicht durchlässig war. Die Kalotte war gewachsen bis auf einen Durchmesser von etwa einem Kilometer und hatte sich dann stabilisiert. „Woher kennt ihr diese Annihilation eigentlich?“ fragte Elber.
„Prüfstand für G-Generatoren“, antwortete Rila, „wenn bis an die Leistungsgrenze gegangen wird. Aber da braucht man ganze Verstärkerkaskaden, wenn man etwas sehen will. Ich begreife nicht, wie das hier zustande kommt.“
„Wir müßten doch jetzt eigentlich direkte Verbindung mit der Basis kriegen, kann man nicht mal Woleg rufen?“ fragte Gibralt. Woleg ließ sich alles berichten, die Meßergebnisse und die Bilder vom jetzigen Geschehen, überlegte eine Weile und sagte dann: „Also ich wüßte nur eine Erklärung, die ist zwar ganz verrückt, aber hier gehen einem ja die irrsten Vermutungen glatt von der Zunge - ich meine so: Bei der Größe der Energieumsetzungen sehe ich nur eine Möglichkeit, wie das entstehen kann - es muß, vielleicht infolge der Stoßwellen, sich ein natürlicher Gravitonengenerator gebildet haben, und die Automatik, die wir ja schon von der alten Basis her kennen, unterdrückt ihn.“
„Was, ein natürlicher... Das gibt’s doch nicht, das ist doch gar nicht möglich!“ rief Gibralt.
Woleg lächelte. „Nicht so hastig. Die Menschheit hatte auch schon eine ganze Weile Kernreaktoren, bis sie herausfand, daß es in grauer Vorzeit auf der Erde natürlich entstandene Kernreaktoren gegeben hatte. Daß wir lediglich technische G-Generatoren kennen, besagt gar nichts, zeigt nur die Begrenztheit unseres Wissens. Haltet alle Phasen der Entwicklung fest, die Physiker werden sich darum reißen!“
„Moment noch“, sagte Elber, „noch eine Frage. Was meinst du, wer wird am Ende stärker sein - die Automatik oder der Naturgenerator?“
„Keine Ahnung“, sagte Woleg. „Ich an eurer Stelle würde ständig bereit zum Alarmstart sein.“
Unter der Fähre hatte sich in den letzten Minuten nichts verändert; trotzdem nahm Elber den Rat Wolegs nicht auf die leichte Schulter.
„Ich lege ein Alarmstartprogramm ein“, sagte er. „Wir bleiben alle in unseren Sitzen und angeschnallt. Bei Alarm sofort nach hinten abkippen! Einverstanden?“
„Wird wohl besser sein“, bestätigte Gibralt.
„Daß du auch mal vorsichtig wirst“, sagte Rila mit Genugtuung.
Elber lag eine Entgegnung auf der Zunge, er unterdrückte sie. Es war ja nicht seine Frau, nicht er mußte mit ihr leben. Dela würde nie... Und dann grinste er. Was für ein Unsinn. Natürlich würde Dela, wenn sie der Meinung wäre. Jeder würde, und das gehörte sich auch so.
„Angenommen, wenn ich da drin säße in dieser halben Kuller“, fragte er, „wieviel würde ich dann da jetzt wiegen?“
Gibralt hob den Daumen und tat so, als ob er darüber etwas anpeile. „So zwischen tausend und zehntausend Tonnen“, verkündete er.
„Und dabei ist er doch gar nicht so dick!“ meinte Rila mit scherzhafter Verwunderung.
Elber war gar nicht nach Scherzen zumute. „Stellt euch mal vor“, sagte er, und seine Stimme klang, als ob er fröre, „uns wäre damals in der Basis nicht eingefallen, die Abschirmung wieder herunterzuregeln!“
Die andern beiden nickten und machten ernste Gesichter, Gibralt nahm den Gedanken auf: „Bei euch damals hatte sich schon ein Spalt im Felsen gebildet, und das war doch nur der Beginn. Ich möchte wissen, wie die Planetenkruste das hier aushält!“
„Na ja“, meinte Rila, „wir sprechen jetzt nur von der Kraft. Die Leistung kann ja begrenzt sein, wird es sicher auch. Das Leuchten entspricht einer Energie von soundso viel, aber diese Energie wird sozusagen nur an vereinzelten, winzigen Punkten frei, wo die Annihilation stattfindet.“
„Das sagst du“, erklärte Elber, „aber nun guck mal hier - das Infrarotbild, holt euch das mal auf den Schirm.“
„Wenn soviel Masse daran beteiligt wäre, wie Elber wiegt“, vollendete Rila ungerührt ihre Betrachtung, „dann würde vermutlich der Planet auseinanderfliegen.“
Dann sahen sie, was Elber zufällig als erster entdeckt hatte: Der gesamte Boden unter ihnen war heißer geworden. Aber das erkannten sie erst auf den zweiten Blick; auf den ersten sahen sie, daß von der Halbkugel aus helle Linien nach allen Seiten auseinanderliefen.
„Was ist das?“ flüsterte Rila.
„Du hältst Gibralts Überschlagsrechnung für akzeptabel?“ fragte Elber ganz sachlich, „betreffend mein Körpergewicht und den Planeten?“
Rila stutzte einen Augenblick, dann sagte sie: „Ja.“
Elber schaltete. „Fähre an Raumschiff“, sprach er, „Elber an CE, dringend. Ich warte, - Hirosh, geben Sie Alarm für die Basis, machen Sie das Raumschiff startbereit. Es besteht Grund für die Annahme, daß der Planet als Ganzes in Gefahr ist, zerstört zu werden. Wir beobachten weiter und starten notfalls selbständig in den planetennahen Raum.“
„Aber ich hab das gar nicht ernst gemeint“, sagte Rila leise und eingeschüchtert.
„Auf fremden Planeten“, sagte Elber weise, „kann jeder Spaß zum Ernst werden.“ Dann aber kam ihm sein Spruch doch allzu sprüchehaft vor, und er ergänzte: „Zum Glück aber auch jeder Ernst zum Spaß.“
„Es ist verblüffend, daß wir hier gar nichts davon merken“, sagte Gibralt. „Wie werden bei solchem Prozeß die Wirkungen transportiert? Es ist gerade so, als ob von außerhalb unseres physikalischen Raumes kräftig hineingelangt wird, aber immer nur in begrenzte Gebiete.“
Elber seufzte. „Da hast du das generelle Problem dieser Absurditäten formuliert, denen wir ständig begegnen. Aber ich fürchte, das werden wir nicht herausbekommen.“
„Auch nicht, wenn morgen die Geusen kommen und es uns erklären?“ fragte Gibralt.
„Auch dann nicht“, sagte Elber. „Erklär einem Jäger der Urgemeinschaft das Telefon. Er versteht nicht mal, wovon du redest. Er kann, um das noch schärfer zu sagen, nicht mal dann etwas damit anfangen, wenn du ihm nur erklärst, wie es zu handhaben ist. Denn er kennt niemanden, den er anrufen könnte. Und alle, mit denen er zu reden hätte, sind um ihn herum.“ Nach einer Weile setzte er hinzu: „Ist nicht meine Weisheit, ich hab öfter mit Hirosh darüber geredet.“
Jetzt war Rila nicht zufrieden. „Aber im Gegensatz zu deinem Jäger haben wir schon Wissenschaft, wir können immerhin schon wissenschaftlich denken.“
„Schon“, sagte Elber, „das ist ein Pluspunkt. Aber dafür gibt es sofort einen Minuspunkt - der Jäger ist im Prinzip das gleiche Wesen wie wir, sein Gehirn stimmt schon völlig mit unserem überein. Von den Geusen wissen wir aber nicht mal, wie sie aussehen. Und rein technisch-wissenschaftlich ist ihr Abstand von uns größer als unser Abstand vom Punkt Null.“
„Die Halbkugel schrumpft!“ rief Gibralt.
Im Augenblick konzentrierten sich alle auf die Schirme. Es stimmte, die Halbkugel, innerhalb deren sich die Umsetzungen abspielten, wurde kleiner, aber zugleich wurden die Strahlen, die im Boden nach allen Seiten führten, intensiver und veränderten ihre Form. An ihren Enden bildeten sich Klumpen oder Kreise, es sah aus, als wüchsen ihnen Füße, und die noch dunkleren Gebiete zwischen den Strahlen oder Armen wurden von hellen Spalten durchzogen. Die Stelle, wo sie gestanden hatten, gehörte schon lange zu einem der Arme.
Und dann sagte Rila: „Wenn ich mich nicht irre...“ Sie schwieg, überprüfte wohl noch einmal ihre Messung und wiederholte dann: „Wenn ich mich nicht irre, hebt sich das gesamte Gebiet langsam.“
Die Halbkugel wurde kleiner, das war beruhigend, man konnte annehmen, der Prozeß, der dort tobte, endete bald. Aber das Gebiet hob sich, hob sich weiter, wenn auch langsam, und das war sehr beunruhigend; denn vielleicht näherte sich der Prozeß gar nicht seinem Ende, sondern trat nur in ein neues, noch gefährlicheres Stadium?
Und dann änderte sich etwas auf dem Bild. Noch ehe Elber begriffen hatte, was es war, rief er den Alarmstart aus, drückte die Programmtaste und warf sich rückwärts in die Waagerechte.
Diesmal hockte ihnen die entsetzliche Last länger auf der Brust - in diesen Höhen herrschte ja die normale Schwerkraft des Planeten, und daher war der Antrieb, der durch die biologische Verträglichkeit begrenzt war, kleiner. Doch auch das ging vorüber, sie richteten sich auf und betrachteten ihre Schirme.
Elber wußte inzwischen, was er gesehen hatte: Die Halbkugel war ganz verschwunden, dafür waren alle die Endpunkte der Strahlenarme im Boden unerträglich hell geworden. Mehr hatte er freilich nicht erkannt. Nun, jetzt konnten sie messen, und wenn sie anfangs noch zweifelten, stand doch sehr bald fest, daß da überall Vulkane ausgebrochen waren.
Jetzt hatten sie einen größeren Überblick. Es schien, daß alle diese Prozesse sich auf ein Gebiet von einigen tausend Quadratkilometern beschränkten. Er rief die Basis.
„Ich glaube, ihr könnt den Alarm aufheben“, beschloß er seinen Bericht. „Falls eure Seismographen nichts anderes melden.“
„Nicht mehr so aufgeregt wie vorhin?“ fragte Hirosh lächelnd. „Warum grinst du so?“ wollte Elber wissen.
„Du warst so aufgeregt“, sagte Hirosh, „daß du mich vorhin gesiezt hast.“
„Tatsache?“
„Ja. Nun sieh aber zu, daß euch nicht noch zu guter Letzt irgendein Steinchen trifft, das so ein Vulkan da ausspuckt.“
„Keine Angst, sie reichen nicht bis hier herauf. Die stärkere Schwerkraft bremst sie zu sehr.“
Hirosh hatte die nun notwendige Versammlung wieder in Form eines Essens veranstalten wollen, aber der Alarm hatte ihm einen Strich durch die Vorbereitungen gemacht, und verschieben wollte er sie deshalb auch nicht.
„Wir hören zuerst Kiliman“, sagte Hirosh und eröffnete damit die Beratung ohne jede Formalität.
„Der Computer hat zwei Varianten ermittelt für die Geschichte des Planeten als Träger einer Zivilisation“, berichtete Kiliman. „Eine ganze Strecke stimmen sie überein, dort dürften sie also der Wahrheit sehr nahekommen, da für die erste fünfundvierzig, für die zweite vierzig Prozent Wahrscheinlichkeit angegeben sind.
Übereinstimmend sagen die Varianten folgendes: Das Alter der Zivilisation ist nicht bestimmbar, sie ist jedenfalls länger als zehntausend Jahre im technologischen Stadium, wahrscheinlich viel länger, denn schon vor neuntausend Jahren bewältigte sie den Transport ihres gesamten Sonnensystems in die Umlaufbahn um den Beteigeuze. Zugleich aber begann ein Prozeß der körperlichen Vergrößerung der Geusen mittels herabgesetzter Gravitation. Beide Computervarianten stimmen auch darin überein, daß es sich um einen einheitlichen Prozeß handelte, der in Verfolgung eines nicht feststellbaren Ziels mit dem Transport des Systems begann und mit dem Verlassen des Planeten endete, ein Vorhaben also, über eine Spanne von neuntausend Jahren geplant - man ermesse auch daran den Abstand, den wir von ihnen haben.
Die zweite Etappe begann siebentausend Jahre später, also vor zweitausend Jahren. Bis dahin war die Achse des Planeten ausgerichtet, der umgebende Raum von Stoff völlig entleert, wahrscheinlich auch die Dela-Schicht etabliert. Dann begann der Abtransport mit Hilfe der inneren Energien des Beteigeuze. Jeweils bei einer bestimmten Stellung des Planeten, genau zwischen dem schwarzen Zwerg und dem Beteigeuze, wurde ein Transport gestartet - daher die Aktivitätsrhythmen des Beteigeuze. Das begann also vor zweitausend Jahren, doch zu dieser Zeit wurden bei uns auf der Erde noch keine genügend genauen astronomischen Daten ermittelt.
Von diesem Zeitpunkt ab wurde der Planet in einen Zwischenzustand übergeführt. Die gesamte Technik wurde nach und nach abgebaut, die chemischen Stoffe, die sich im industriellen Kreislauf befanden, wurden in eine rohstoffähnliche Form umgewandelt und in günstig gelegenen Lagerstätten gespeichert - günstig für die Entwicklung einer neuen Zivilisation aus einer der am weitesten entwickelten biologischen Arten, vermutlich aus den Primaten, die Dela und Elber mit Steinen und mit noch Schlimmerem beworfen haben. Inzwischen haben wir nach Computeranalysen auch Erdöl entdeckt - ein Beweis für die bewußte Anlage von Lagerstätten.
Vor etwa sechshundert Jahren verließ der letzte Transport den Planeten, seine Vorbereitungsstätte hierfür blieb unzerstört stehen, warum, können wir nicht wissen. Außerdem wäre sie bis zum Heranwachsen einer neuen Zivilisation längst zerstört von normaler Erosion. Wir auf der Erde erkannten diesen Zeitpunkt durch Ausbleiben des Zyklus des Beteigeuze - da kein Start mehr erfolgte, mußte er ausbleiben. Seitdem laufen mindestens zwei Automatiken nebeneinanderher. Die eine ist der planetgebundene Rest der Startautomatik für die Transporte, das ist also diese Verdopplungszone. Die zweite ist eine Automatik, die den Planeten in seinen Naturzustand zurückführen soll - ich nenne hier nur die Stoßwellen, die zweifellos eines Tages in die normale Gravitation münden werden so wie die Startautomatik sicherlich nachlassen wird und nur noch ausläuft.
Es gibt, nebenbei, interessante Einzelkalkulationen des Computers - so zum Beispiel, daß die Stoßwellen und später die durchgängige größere Gravitation die Affen auf den Boden zwingen und damit ihre Vergesellschaftung beschleunigen werden. Aber auf solche Einzelheiten will ich im Folgenden nicht weiter eingehen, ich weise nur darauf hin, wer sich dafür interessiert, kann sie selbst beim Computer abfragen. Sie haben aber geringere Wahrscheinlichkeiten.
Ich komme nun auf den Punkt, wo die Varianten auseinandergehen. Leider gehen sie nicht nur etwas auseinander, so daß man zwischen sie noch ein halbes Dutzend anderer Vermutungen plazieren könnte, sondern werden antinom, gegensätzlich, einander ausschließend.
Die erste, die positive Variante besagt mit etwas mehr Wahrscheinlichkeit, daß noch eine dritte Automatik läuft, die der Information dient für den Fall, daß gesellschaftliche Wesen wie wir hierherkommen. Die Dela-Schicht zum Beispiel oder die versteinerten Spiralen wie auch die Kuppel in der stehengebliebenen Stadt haben vielleicht unter anderem die Funktion zu sagen: Achtung, hier ist ein Planet, der sich gerade im Übergangsstadium befindet zwischen einer weggezogenen und einer neu entstehenden Zivilisation, es ist angebracht, diesen Zustand nicht zu stören. Ähnlich werden auch die Schmerz- und Lachkontakte damals nach der Beinahe-Katastrophe gewertet. Also: In absehbarer Zeit wird die normale Gravitation herrschen, die Dela-Schicht wird sich zerstreuen, alle unerklärlichen Effekte werden verschwinden, und sogar die unnatürliche Ordnung in der Himmelsmechanik wird unter der Einwirkung der natürlichen Kräfte langsam verwischen. Und dann wird eine neue Zivilisation auf dem Planeten heranwachsen.
Das ist eine befriedigende Variante. Sie ist auch deshalb befriedigend im philosophischen Sinn, weil sie die bisher als ganz spontan angenommene Entstehung von Gesellschaften um die Möglichkeit bereichert, daß die Bedingungen ihrer Entstehung zielgerichtet optimiert werden können.
Aber es gibt auch eine andere, alarmierende Variante. Sie hat allerdings erst in der Auswertung der letzten Ereignisse an Wahrscheinlichkeit gewonnen. Sie geht von der Annahme aus, daß all das so geplant und beabsichtigt war, wie die erste Variante es darstellt, daß aber irgendwann in den zweitausend Jahren seit Beginn des Abtransports eine Situation eingetreten ist, in der den Geusen die Entwicklung aus der Hand glitt, in der sie aufhörten, die entfesselten Kräfte zu beherrschen. Ihre Möglichkeiten reichten noch so weit, den Abtransport zu vollziehen, aber von den anderen, am Rande liegenden Plänen und Vorhaben mußten immer mehr Abstriche gemacht werden.
Die Variante stützt sich auf die Tatsache, daß in der Wohnstruktur der stehengebliebenen Stadt zwischen Anfangs- und Endzustand, also zwischen Zentrum und Rand, eine Verarmung der Beziehungen zwischen den Individuen mit einiger Wahrscheinlichkeit diagnostiziert werden kann, ferner darauf, daß die Stadt überhaupt stehengeblieben ist, drittens auf das Ausmaß der Energieumsetzungen bei dem natürlichen G-Generator.
Nach dieser Variante nähert sich der Planet seiner vollständigen Zerstörung, und die D-Schicht und was sonst noch an Informationen direkt an uns übermittelt wurde, sind Warnungen vor dieser Katastrophe. Das ist nicht sehr optimistisch, und ich weiß, es klingt auch so, wie ich es vortrage, weniger wahrscheinlich, aber ich erinnere am Schluß noch einmal daran: Der ersten Variante mißt der Computer eine Wahrscheinlichkeit von fünfundvierzig, der zweiten eine von vierzig Prozent zu, das ist kein sehr überzeugender Unterschied.“
„Wir haben eine Entscheidung zu treffen“, sagte Hirosh, „wir können mit dem Raumschiff starten und die restlichen Arbeiten zur Überprüfung des Transitteils in der Nähe des Startfensters durchführen, wo uns etwaige Katastrophen auf dem Planeten nicht mehr erreichen. Ich wäre uneingeschränkt dafür, wenn sich nicht inzwischen Neuigkeiten ergeben hätten, die allerdings für eine Computeranalyse nicht zugängig sind.“
Er berichtete von den Träumen der Zwillinge und ihrer vermuteten Bedeutung. Dann fuhr er fort: „Daraus ergibt sich übrigens auch eine Verschiebung in den Wahrscheinlichkeiten der beiden Varianten. Bis zum Auftreten des natürlichen G-Generators haben wir nämlich nicht gewußt, was eigentlich die Informationsautomatik angeregt hat, sich mit uns zu beschäftigen: unser Widerstand gegen die Stoßwelle - oder das Nachlassen unseres Widerstands. Jetzt wissen wir, daß der Widerstand gegen die Stoßwelle sozusagen ein natürliches Ereignis ist, daß also seine Rücknahme von der Automatik als unnatürlich und folglich als Tat von gesellschaftlichen Wesen gewertet wurde. Das bedeutet aber zugleich, daß das Auftreten von natürlichen G-Generatoren vorhergesehen wurde. Damit entfällt ein wesentliches Argument zugunsten der zweiten Variante.
Wir könnten uns also auch dafür entscheiden, daß die Zwillinge in die Verdopplungszone eingeflogen werden und je nachdem, was sich daraus ergibt, ein eventuell vollzogener Kontakt weiter ausgebaut wird. In diesem Fall müßten natürlich die Zwillinge einverstanden sein.“
Schweigen herrschte. Und je länger die Versammlung schwieg, um so schwerer wurde es, einen Anfang bei der Diskussion zu finden. Jeder spürte, daß dieses Schweigen Unentschlossenheit widerspiegelte, und wer zuerst dafür oder dagegen sprach, konnte die Richtung der Debatte bestimmen.
Hirosh sah auch davon ab, jemanden zum Sprechen aufzufordern. Sie waren alle erfahrene Raumfahrer, und die Zeit zum Überlegen, die einer brauchte, die brauchte er eben.
Schließlich stand Elber auf. „Ich bin für Abflug“, sagte er.
Das nun verblüffte Hirosh wirklich. Er hatte gedacht, wenn irgendeiner, dann würde Elber auf Hierbleiben bestehen; vielleicht nicht mit den geschicktesten Argumenten, aber jedenfalls sehr nachdrücklich.
Übrigens wunderte sich nicht nur Hirosh. Kiliman sagte nach einigem Überlegen: „Interessant. Und warum?“
ja, ihr wundert euch wohl“, sagte Elber, „aber das ist im Grunde ganz einfach. Ich habe begriffen, daß ich oftmals ein bißchen leichtsinnig gehandelt habe - manchmal habe ich einfach Glück gehabt, und letztens, bei diesem G-Generator, haben mich meine Gefährten rechtzeitig belehrt. Und wenn ich jetzt entscheiden soll, ob andere als ich das Risiko auf sich nehmen sollen.... also die Zwillinge... Na ja, ich glaube, ihr versteht mich schon.“
„Noch jemand?“ fragte Hirosh.
Kiliman stand auf. „Was Elber sagt, ist nicht von der Hand zu weisen. Freilich, ein Kontakt ist eine große geschichtliche Situation, aber warum sollte man annehmen, das müsse eine Augenblickssache sein? Wir haben den Anfang gemacht, andere werden fortfahren. Wir bringen tausendmal mehr mit nach Hause, als wir uns zu Beginn der Expedition haben träumen lassen - muß es unbedingt zehntausendmal mehr sein, wenn damit eine Gefahr verbunden ist?“
Hirosh seufzte. Es sah nicht gut aus, und es wurde auch nicht besser, als sich jetzt die Zwillinge bereit erklärten, das Risiko auf sich zu nehmen. Bereitschaft nützte nichts mehr, Argumente mußten her. Sie kamen von einer Seite, von der Hirosh sie nicht erwartet hätte.
Atacama meldete sich. „Ich bin für den Versuch, den Hirosh vorschlägt. Ich möchte bemerken, es sind nicht Hiroshs Argumente, die mich dazu bringen, ich kann seine oft seltsame, im Kern unwissenschaftliche Denkweise nicht nachvollziehen. Wenn ich trotzdem dafür bin, hat das einen anderen Grund. Ich bin durch Zufall in der glücklichen Lage, daß ich etwas mehr weiß als ihr. Genauer: Delawara und ich, wir wissen eine Winzigkeit mehr. Wir wissen nämlich, wo die Geusen sind.“
Mit sichtlichem Vergnügen weidete sich Atacama an der ausbrechenden Überraschung. Dann wurde sie wieder ernst. „Wir hatten in der Kuppel in dieser Stadt eine Kamera mit Langzeitbelichtung stehenlassen. Heute haben wir sie geholt, ich komme hierher mit der eben entwickelten Aufnahme von dem Galaxisbild. Und was sehen wir darauf? Ich beschreibe es euch. Vom Standort des Beteigeuze führt eine Art farbiger Tunnel zum Zentrum der Galaxis. Ich meine, das ist eindeutig, und ich meine auch, daß Leute, die diese Entfernung überbrücken, mit den winzigen Problemen eines Planeten spielend fertig werden - und auch mit dem Problem, wie sie mit uns Kontakt aufnehmen.“