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„Nun sieh dir das an!“ Atacama hatte ihre dunklen Augen so fest auf Kiliman gerichtet, als müsse sie ihm eine unangenehme Pflicht aufzwingen. Der aber hatte schon längst gemerkt, daß irgend etwas im Bericht der Basis den Unwillen der CE erregt hatte. Der Bericht war eben eingegangen, und Atacama hatte sich auch sofort darangemacht, ihn durchzusehen.

Sie hätte das sicherlich auch sonst getan, es gehörte ja zu ihren Pflichten; mittlerweile aber hatte sich bei ihr eine Art Mißtrauen gegenüber dieser Basisbesatzung herausgebildet, sie befürchtete eigentlich ständig neue Katastrophenmeldungen, Verzögerungen, Eigenmächtigkeiten und - wie sie es nannte - Sensationshaschereien. Sie hatte sich schon daran gewöhnt, etwas tun zu müssen, was ihr bisher, bei anderen Expeditionen, erspart geblieben war, nämlich der Basisgruppe ständig in die Arbeit hineinzureden. Sie hatte wahrhaftig keinen Spaß daran, aber dieser Bericht zeigte wieder einmal, daß es einfach notwendig war.

Diese Situation war aber so ungewöhnlich und unersprießlich, daß sie sich doch immer wieder fragte, ob sie das Problem nicht vielleicht falsch sähe, und deshalb war ihr an Kilimans Urteil gelegen. Sie kannte seine Klugheit und seinen Klarblick und durfte sich bei unterschiedlicher Meinung im Recht glauben, solange sie Kilimans Argumente widerlegen konnte.

Kiliman sah sich inzwischen den Text an, den Atacama auf dem Terminal hatte stehenlassen.

„Von 41-1-13 bis 41-1-28 überquerte eine Gravitationsstoßwelle die Basis. Als höchster Wert wurden fünfzig Meter im Sekundenquadrat erreicht. Schäden entstanden nicht.

Bewährt haben sich die akustischen Warngeber im Meer, die so rechtzeitig reagierten, daß die Produktion eingestellt werden konnte und die Mitglieder der Basisgruppe die Schutzwannen aufsuchen konnten.

Bewährt haben sich auch die konstruktiven Verstärkungen der Anlagen zur Erzeugung des Treibstoffs. Es wäre im Prinzip möglich, die Produktion weiter laufen zu lassen. Allerdings wäre der Energiegewinn gering, da normale Schwerkraft von unseren Generatoren aufrechterhalten werden müßte; er läge nur bei dreihundert Einheiten. Weil andererseits der Charakter dieser Stoßwelle ungenügend bekannt ist, würde ein Fortgang der Produktion ein Risiko darstellen.

Der CB hat deshalb festgelegt, daß auch künftig beim Durchgang einer Stoßwelle die Produktion stillgelegt wird.“

Nun folgten Angaben über die bisher ermittelten Eigenschaften der Stoßwellen. Es traten immer zugleich zwei antipodische auf, Geschwindigkeit und Reichweite entsprachen den bereits vorliegenden Werten, sie reichten im Meer bis etwa zweihundert Meter unter NN, ihre Intensität veränderte sich nicht. Nicht alle Angaben - die Basis wies darauf hin - waren vollständig gesichert. Insbesondere erwies sich die Zahl der Beobachtungen als zu klein, um die folgende Vermutung zu beweisen: Das Auftreten der Stoßwellen war zeitlich und örtlich eine Zufallsgröße, wobei die mittlere statistische Verteilung für einen beliebigen Ort der Oberfläche ein Durchgang in dreizehn Erdentagen war.

„Was sagst du?“ wollte Atacama wissen.

„Nun - Woleg ist vorsichtig geworden“, antwortete Kiliman, um eine zurückhaltende Formulierung bemüht, da er noch nicht wußte, worauf die CE hinauswollte. „Gefällt dir das nicht?“

„Ich habe nichts gegen Vorsicht“, sagte die CE leicht, fast fröhlich, „wo sie am Platze ist. Zum Beispiel gegenüber wilden Abenteuern seiner Leute.“ Ihre Augen wurden hart. „Aber ich hab was gegen Vorsicht, die kurzsichtig ist und eigentlich nur Bequemlichkeit.“

„Bequemlichkeit?“ entgegnete Kiliman, „bequem ist das ja nun gerade nicht in den Wannen, in normalisierter Schwere zu arbeiten wäre angenehmer.“

Atacama schüttelte ganz leicht und schnell den Kopf - selbstverständlich hatte sie nicht die körperliche Bequemlichkeit gemeint, und selbstverständlich wußte Kiliman das. Seine Entgegnung war also nur ein Manöver, um Zeit zu gewinnen. Sie wollte ernsthaften Widerspruch.

„Ich nehme an“, sagte Kiliman, „unter kurzsichtig verstehst du folgendes: Überraschungen kann es nicht nur mit der Stoßwelle geben; gerade die Basisleute betonen ständig, daß man auf diesem Planeten nie vor Überraschungen sicher ist. Es könnten also auch solche auftreten, die die Weiterarbeit überhaupt unmöglich machen. Und dann zählt jede Einheit, die schon produziert, ist. Im Vergleich damit ist die Amplitude der Stoßwelle fast als gesichert zu betrachten, so daß eine weiterblickende Vorsicht eben darin bestünde, auf Teufel komm raus zu produzieren.“

„Du sagst genau das, was ich meine.“ Sie blickte ihn schräg an. „Aber du stimmst nicht überein damit?“

„Nein.“

Kiliman wußte, daß Atacama nun auf die Begründung wartete und daß sie ein Recht darauf hatte, ganz allgemein aus ihrer beider Funktion heraus und dazu noch aufgrund ihrer langjährigen Zusammenarbeit, ihrer vielen gemeinsamen Unternehmungen und auch der kurzen Zeit, in der sie noch enger verbunden gewesen waren. Er zögerte nicht deshalb, weil er fürchtete, sie zu verletzen, sondern weil er ihren Anspruch angemessen erfüllen wollte.

„Ich möchte dich davon abhalten“, sagte er schließlich, „in die Basisgruppe hineinzuregieren. Es sind erfahrene Leute. Wir lesen ihre Worte, aber wir sind weit weg und sehen nicht mit ihren Augen, hören nicht mit ihren Ohren, fühlen nicht mit ihren Herzen. Während wir hier die Folgen jedes Entschlusses, das Raumschiff betreffend, fast vollständig überblicken, müssen sie weitestgehend unter den Bedingungen unvollständiger Informationen handeln. Du weißt selbst, welche Rolle dabei das Gespür spielen kann - und muß. Du nennst ihre Vorsicht kurzsichtig? Mag sein. Aber sie sind dort, und wir sind hier. Dort passieren alle aufregenden Dinge, und hier passiert nichts. Ich glaube, wir sollten nicht von hier aus urteilen, was kurz- und was weitsichtig ist.“

„Und damit sind wir beim Thema, beim eigentlichen!“ rief Atacama. „Glaubst du, ich weiß nicht, daß bei dieser Expedition alles interessant ist außer unserer Arbeit hier? Und daß diese Einstellung schon bis ins Raumschiff hineinreicht? Läßt es mich etwa kalt, wieso die synodische Umlaufzeit des Planeten mit der früheren Periode des Beteigeuze übereinstimmt? Interessiert es mich denn nicht, woher die Dela-Schicht kommt, ob das Galaxisbild etwas zu bedeuten hat, was

die niedrigere Gravitation auf dem Planeten und ihre stoßweisen

Aufhebungen verursacht? Meinst du, ich möchte nicht gern wissen, was an dieser Verdopplung und Verdreifachung dran ist und an allen

anderen Rätseln, die uns möglicherweise noch begegnen? Aber, mein Lieber, um auch nur eine einzige von diesen vielen Fragen schlüssig zu beantworten, müßte sich die gesamte Expedition damit befassen, ja, wir müßten überhaupt erst mal ein Programm ausarbeiten, wie man an diesen Sachverhalt herankommt, und das würde vielleicht schon länger dauern, als wir noch hier sind.

Und ich verstehe natürlich auch, daß der eine oder andere von

dieser oder jener interessanten Frage sich zu irgendeiner Aktion hinreißen läßt - das darf ich verstehen, aber nicht billigen. Und

deshalb, weil es gar nicht um diese einzelne Frage geht, sondern um eine Linie, eine Kette von fortgesetzten Ausbrüchen aus unserer Forschungskonzeption - deshalb muß ich jetzt und in diesem Fall doch hineinregieren, um später Schlimmeres zu vermeiden. Denn sonst würde diese Expedition aufhören, ein wissenschaftliches Unternehmen zu sein.“

„Das kann tausendmal richtig und dann doch auch einmal falsch sein. Vor allem gefällt mir nicht“, entgegnete Kiliman, „daß du um

eines Prinzips willen, nämlich wegen der konzeptionellen Zielstrebigkeit, ein anderes Prinzip verletzen willst, nämlich das der Eigenverantwortung. Ich kann dich nicht daran hindern, aber ich bitte dich, das nicht zu tun.“

„Mir gefällt auch nicht“, sagte die CE, „daß ich nicht zwanzig Raumschiffe mit Vertretern aller Wissenschaften hier habe. Aber es geht eben nicht immer danach, was uns gefällt.“

„Zentrale an CE - bitte melden!“ tönte es. Atacama meldete sich. Dela berichtete aufgeregt: „Wir haben abweichende Meßergebnisse auf einem Kanal, sie sind allerdings noch innerhalb der Fehlergrenzen.“

„Ich komme!“ rief die CE. Dann blickte sie mit kaum verborgenem Triumph Kiliman an und sagte: „Na siehst du!“

Hirosh hatte sich an den Abhang gesetzt und eine beträchtliche apparative Ausrüstung um sich herum ausgebreitet. Dann hatte er das Licht ausgeschaltet und wartete. Im Osten, über dem Meer, lag schon ein grauer Schimmer.

Die Luft, die Hirosh nun schon eine Woche lang ohne die geringsten Beschwerden atmete, war kühl, feucht und salzig, und das leise Summen der Anlage verschmolz mit dem Rauschen des Meeres.

Hirosh fiel es auf, daß er sich jetzt und hier wie zur gleichen Tageszeit auf der Erde fühlen konnte - die großen Unterschiede wurden erst nach Sonnenaufgang spürbar.

Plötzlich hörte er Schritte, die näher kamen. Er knipste die Lampe an und sagte: „Vorsicht, hier liegt allerhand auf dem Boden.“

„Nanu?“ Es war Elber, der da kam. „Wollen Sie den Sonnenaufgang betrachten, pardon, den Aufgang des Beteigeuze?“

„Nein, den Sonnenaufgang“, sagte Hirosh, „setz dich und hilf mir, wenn du schon mal hier herumstrolchst.“

„Was machen Sie da für einen Unterschied zwischen Aufgang und Aufgang?“ fragte Elber erstaunt.

„Nun, wenn ich Sonnenaufgang sage, meine ich das Erlebnis, alle emotionalen und ästhetischen Werte eingeschlossen. Die andere Formulierung dagegen betont für mich mehr die astronomische Seite der Sache.“

„Und beim Betrachten des Sonnenaufgangs soll ich Ihnen helfen?“ „Ach, weißt du was - sag du zu deinem Arzt. Ich kenne bald jede Zelle deines Körpers, und - na ja.“

„Gern“, sagte Elber - er wollte noch fragen, was das mit seinen Körperzellen zu tun habe, ließ es aber dann doch sein. „Und wobei soll ich nun helfen?“

„Ich möchte feststellen, wie die Wesen hier ihren Planeten sehen.“ „Wesen?“

„Na - Leute, Kollegen, Spaziergänger. Menschen möchte ich nicht sagen, ich weiß ja nicht, wie sie aussehen.“

Elber blieb einen Moment lang stumm vor Überraschung. „Also Sie - du - du bist also überzeugt, daß es hier gesellschaftliche Wesen gibt?“

„Oder gab“, antwortete Hirosh.

„Aber warum hast du das noch nie gesagt?“

„Warum sollte ich? Du zum Beispiel - hast du mich denn danach gefragt?“

„In letzter Zeit nicht mehr.“

„Siehst du. Und wenn ich dir unverlangt Wasser auf deine Mühle gegeben hätte, dann wärst du vielleicht noch auf ganz andere Abenteuer ausgegangen.“

Elber wich diesem Thema aus. Nicht daß er sich im Unrecht fühlte, das nicht; aber Woleg hatte sich über die Anweisung der CE heftig geärgert, und daran erinnerte Elber sich ungern, denn es war ihm klar, daß das auch eine Reaktion auf sein Experiment war.

„Aber wie willst du das mit den Äugen fremder Wesen sehen, wenn du ihre Beschaffenheit nicht einmal kennst?“

„Das ist nicht so schwierig, wie du meinst“, erklärte Hirosh. „Unser Auge hat sich zum Beispiel in einem Spektralbereich entwickelt, der bei irdischer Beleuchtung die größtmögliche optische Differenzierung erlaubt, denn das bedeutete einen biologischen Vorteil. Auch hier wird sich die Gesellschaft, wenn es eine gibt, aus dem Tierreich entwickelt haben, also werden die Sehorgane einen Spektralbereich umfassen, der bei der hiesigen Beleuchtung das gleiche leistet. Das aber muß man einfach ausprobieren, zuerst bei Sonnenaufgang, dann am Mittag.

Aber ich gehe noch weiter. Mit der Gesellschaft entwickeln sich ästhetische Betrachtungsweisen, und da hier Tag und Nacht als grundlegende Lebensbedingungen existieren, wird es auch einen entsprechenden biologischen Rhythmus geben, und folglich werden auch Abend und Morgen in der ästhetischen Betrachtungsweise eine Rolle spielen. Kurz, ich meine, was die Leute hier bei einem schönen Sonnenaufgang empfinden, wird sich nicht sehr von dem unterscheiden, was wir auf der Erde dabei fühlen - egal, wie groß die Unterschiede sonst sein mögen.“ Der Schimmer am Horizont war inzwischen heller geworden, und Hirosh unterwies nun Elber, was der mit einem Teil der Geräte anfangen sollte. Nicht lange darauf wurde ein roter Streifen über dem Horizont sichtbar, der Himmel unmittelbar darüber war hellgrau und ging zur Nachtseite in ein tintiges Grün über. Die Arbeit, die zu tun war, bestand aus Herumprobieren, das die Unterhaltung nicht beeinträchtigte - es führte nur dazu, daß auch gewichtige Meinungen gleichsam nebenbei geäußert wurden.

„Du hast vorhin gesagt: ‘oder gab’“, fragte Elber. „Glaubst du nun, daß sie den Planeten verlassen haben oder daß sie noch hier sind?“

„Ich weiß es nicht“, antwortete Hirosh, „möglich ist beides. Aber einseitig ist ganz bestimmt eine Betrachtungsweise, die den jetzigen Zustand für eine ökologische Katastrophe hält.“

„Wieso?“ fragte Elber verwundert. „Sieh dir doch mal die Zerstörungen an!“

„Dann sieh sie dir mal richtig an“, sagte Hirosh. „Beim letzten Durchgang heute nacht ist kein Baum mehr umgebrochen, wenigstens hab ich das auf einem Gebiet von hundert Quadratmetern kontrolliert, das ich mir angezeichnet hatte. Und unserem Fox hat die Stoßwelle auch nichts ausgemacht, er hat am Rand meiner Wanne gelegen und ganz vergnügt gekläfft. Und nun überleg mal und denke in evolutionären Zusammenhängen! Normal wären hier fünfzig Meter im Sekundenquadrat, nicht wahr, und allenfalls könnte man den jetzt vorherrschenden Zustand als ökologische Katastrophe bezeichnen. Die Stoßwellen aber wären dann das Gegenteil - die Wiederherstellung des Normalzustandes!“

„Mit anderen Worten: Die hiesigen Einwohner wären jetzt gerade beim Aufräumen?“

ja, und die D-Schicht wäre die Aufforderung: Warten Sie mal noch ‘n Moment, wir sind noch nicht soweit, Gäste zu empfangen.“

„O weh“, meinte Elber, „dann könnte man ja manches auch als Versuch deuten, uns hier wegzugraulen?“

„Na, das hieße wohl doch, den Vergleich zu weit zu treiben. In dem Fall wäre es einfacher, mit uns Kontakt aufzunehmen.“

Elber dachte eine Weile nach, dieses Spekulieren war nach seinem Geschmack, und er wollte es fortsetzen. „Wenn sie das nun schon versucht hätten?“ fragte er dann. „Und wir hätten es nur nicht richtig gedeutet?“

„Kaum“, erwiderte Hirosh.

„Und warum nicht?“

„Weil alles, was wir bisher erlebt haben, unabhängig davon geschah, ob einer von uns dabei war oder nicht. Die D-Schicht, die G-Besonderheiten, das Satellitenparadoxon - alles generelle Erscheinungen, keine davon ist besonders auf uns zugeschnitten, wie es der Versuch einer Kontaktaufnahme so oder so sein müßte.“

Sie arbeiteten eine ganze Weile schweigend, bis sie die optimale Einstellung ermittelt hatten. Als sie ihre Ergebnisse verglichen, waren sie bei beiden gleich.

„Übrigens, ich möchte doch mal eins wissen“, sagte Elber schließlich, „ich kann mich entsinnen, daß du am Anfang immer erklärt hast, nach einer Gesellschaft zu suchen sei sinnlos. Was hat dich denn nun eigentlich vom Gegenteil überzeugt?“

„Die Pflanzen“, sagte Hirosh, „und Fox.“

„Die Pflanzen?“ fragte Elber erstaunt.

„Ja - sie haben das Verhältnis zwischen Keim und Nährstoffvorrat in den Samen so weit zugunsten des Nährstoffvorrats verschoben, wie das nur bei Kulturpflanzen und deren verwilderten Nachkommen denkbar ist. Verstehst du, solche Arten können beim Verwildern Eigenschaften behalten oder verlieren - aber die Eigenschaften selbst sind nur durch Züchtung zu erreichen, denn für eine unbeeinflußte Biozönose wären sie ungünstig.“

„Die Pflanzen!“ Elber schüttelte verwundert den Kopf.

Sie hatten die Messung einmal, zweimal, dreimal wiederholt, immer noch schwankte die Strahlung des Beteigeuze in einem schmalen Spektralbereich, aber stets blieb die Schwankung so schwach, daß sie theoretisch innerhalb der Fehlergrenzen des Geräts lag.

Atacama entwickelte eine fieberhafte Betriebsamkeit. Zuerst ließ sie Rila und Gibralt, die Meßtechniker, ein Parallelgerät einbauen. Das war an sich nicht kompliziert, das Raumschiff hatte als Reserve eine genügende Anzahl freier Rezeptorenausgänge, aber das Gerät mußte immerhin angeschlossen, abgeschirmt und justiert werden, und je länger das dauerte, um so nervöser wurde die CE, zumal das Primärgerät immer noch keine weitere Steuerung anzeigte, und als es dann endlich soweit war, lieferte das Zweitgerät - nichts. Es zeigte lediglich die normale, unveränderte Strahlung auch in diesem Bereich.

„Das Gerät ist aber in Ordnung“, sagte Gibralt, als müsse er ihrer beider Arbeit gegen einen Vorwurf verteidigen. Und dieser Vorwurf lag tatsächlich in der Luft, wenn er auch nicht direkt ausgesprochen wurde; denn Atacama ordnete gleich darauf an: „Das Gerät auseinandernehmen. Baugruppen überprüfen und auswechseln, wenn auch nur die geringste Abweichung eintritt. Und wenn euch dabei noch etwas einfällt, was die Meßtechnik und Meßgenauigkeit erhöht...“ Sie vollendete den Satz nicht. Statt dessen schloß sie mit einer Bemerkung, die offensichtlich ihrer eigenen Nervosität entgegenwirken sollte: „Laßt euch Zeit, seid gründlich!“

Diese Aufforderung war zwar bei Ri und Gibbi überflüssig, aber die beiden waren nicht übelnehmerisch, sie faßten sie einfach als gewohnten Hinweis auf. Kiliman aber atmete auf - für ihn, der Atacama mit Sorge betrachtet hatte, war diese Bemerkung ein Beweis, daß die CE sich wie gewohnt auch bei größter Anspannung fest in der Hand hatte.

Die folgende Stunde schien seinen Eindruck zu bestätigen. Die CE rechnete ununterbrochen, sie überprüfte wohl irgend etwas im Zusammenhang mit den gemessenen Veränderungen; das Ehepaar arbeitete ruhig und besonnen an seinem Auftrag, und Dela wertete Messungen aus, die den Innenraum des stellaren Systems betrafen.

Was dann geschah, wäre einem Unbeteiligten wohl eher komisch vorgekommen. Es war aber keiner an Bord des Raumschiffs innerlich unbeteiligt: Dela nicht, die sich in diesen Minuten von ihrem langjährigen Vorbild losriß; das Ehepaar nicht, das zu Recht beleidigt war; Kiliman nicht, dessen Sorge um die CE erneut aufbrach - und schon gar nicht Atacama selbst, die von der Hochspannung der Situation in der selbstgewählten falschen Richtung erbarmungslos vorwärts getrieben wurde, bei einer nun schon fast lächerlichen Einengung des Urteilsvermögens. Trotz ihres derzeitigen Unvermögens und trotz der Wahl der falschen Richtung gelang es ihr als erster, das entscheidende Entweder-Oder der gesamten Expedition kurz und klar zu formulieren.

Die Meßtechniker übergaben das überholte Gerät mit dem Hinweis, sie hätten die Empfindlichkeit, wenn auch geringfügig, erhöhen können. Als Atacama es einschaltete, zeigte es den gleichen, unveränderten Wert wie vorher an.

„Ihr habt die Empfindlichkeit gesenkt, nicht erhöht“, sagte Atacama.

Vielleicht wäre die Situation normal geblieben, wenn sie das ungeduldig, ärgerlich, nervös gesagt, geschrien, geflüstert oder geschluchzt hätte. Aber sie hatte das in einem kalten, sachlichen Ton gesagt und mit einer unumstößlichen Gewißheit, die um so provozierender wirken mußte, als ihr jede sachliche Grundlage fehlte - sie konnte eigentlich nur so aufgefaßt werden: Es müsse so sein, weil sie es so wolle.

Das sprach denn auch Gibralt aus - es fiel ihm nicht leicht, nur die Empörung trieb diesen Gedanken aus ihm heraus, und da er ebenso ungeschickt wie unerfahren war in solcherlei Zusammenstößen, schlüpfte der Gedanke in die vorgeprägte Form des Zitats: „Weil nicht sein kann, was nicht sein darf?“

„Falls Sie das Gedicht ganz kennen und nicht nur seine Schlußzeile“, sagte Atacama, und das Sie war eine noch deutlichere Zurückweisung als der Inhalt der Worte, „dann werden Sie feststellen, daß sich dort das Dürfen auf juristische Gesetze bezieht, während es in unserm Zusammenhang um Naturgesetze geht.“ Und dann gab sie eine Reihe von Aufträgen, die alle in die Richtung genauerer Messungen gingen und die zeigten, daß sie inzwischen auch gearbeitet hatte.

Noch einmal hatte sie ihre Autorität gewahrt. Aber nicht einmal sie selbst täuschte sich darüber hinweg, daß ihre Position in den Augen der anderen gelitten hatte, und sie bat Kiliman zu einem persönlichen Gespräch.

„Warum hilfst du mir nicht?“ fragte sie erregt, als sie allein waren. „Warum greifst du nicht ein, wenn die Disziplin sinkt?“

„Tut sie das?“ fragte Kiliman. „Tut irgend jemand nicht das, was ihm aufgetragen ist? Also meiner Meinung nach, entschuldige, wenn ich das so kraß sage, hat Gibralt durchaus recht, wenn er deine Provokation zurückweist.“

„So, meine Provokation“, sagte Atacama, scheinbar ruhig. „Also gut, vielleicht war meine Äußerung provozierend. Vielleicht sind wir aber auch in einer Situation, in der das normale Pflichtbewußtsein nicht mehr ausreicht, in der Erregung gebraucht wird, die zusätzliche psychische Reserven freisetzt! Und womit willst du unsere beiden völlig aufeinander bezogenen Eheleute überhaupt erregen?“

„Soll das heißen, du hast diese Behauptung im vollen Bewußtsein ihrer Unsinnigkeit aufgestellt?“

„Natürlich nicht.“

„Dann suchst du also jetzt ihre nachträgliche Rechtfertigung?“ Atacama trat ganz nahe an ihn heran, so daß ihre Augen, die Tönung ihrer Haut, der Duft ihrer Haare um ihn warben, während sie ihrer Stimme den Klang der Sachlichkeit gab. „Ist dir eigentlich völlig klar, wie das Problem sich jetzt zugespitzt hat?“ fragte sie. „Entweder die geschichtlich nachgewiesenen periodischen Intensitätsschwankungen des Beteigeuze waren natürliche Ereignisse, wofür sie immer angesehen wurden, dann müssen wir irgendein wenn auch noch so kleines Relikt dieser Schwankungen finden - oder wir finden nichts, jetzt, heute und morgen, zum Zeitpunkt des früheren Maximums, und dann gibt es nur eine Erklärung: Sie waren technisch hervorgerufen, von jener unbekannten Gesellschaft, von der einige faseln und an die immer mehr von uns glauben.“

Kiliman war die Nähe der CE unangenehm. Das war einmal anders gewesen, und die Erinnerung daran war noch nicht völlig erloschen, aber sie war zugleich verbunden mit der Erfahrung, daß diese Frau in der Lage war, ihre ganze Persönlichkeit für ihre Aufgabe einzusetzen - und auch jede einzelne Seite ihrer Persönlichkeit, mal höflich ausgedrückt. Es reizte ihn, zu sagen, ihre Worte würden durch ihre Nähe nicht überzeugender; er sagte es aber doch nicht, sondern fragte nur lächelnd: „Und du glaubst nicht daran?“

Atacama drehte sich plötzlich von ihm weg, so als habe sie seine Gedanken gelesen, ging ein paar Schritte auf und ab, setzte sich dann. „Nein, ich glaube nicht daran“, sagte sie, „ich weigere mich, daran zu glauben. Du und ich und alle anderen haben immer die Meinung vertreten, daß wir Menschen in dem heute erreichbaren Teil der Galaxis allein sind, und für diese Meinung gibt es gute Gründe und Erfahrungen. Immer wenn eine Besatzung gedacht hat, sie sei auf eine Gesellschaft gestoßen, dann hat sich das hinterher als Irrtum herausgestellt, immer haben sich natürliche Erklärungen gefunden, wenn auch oft nicht auf Anhieb. Ist es so?

Klar, es war leicht, eine solche Meinung zu vertreten, solange man selbst nicht mit ähnlichen Erscheinungen konfrontiert war wie wir hier. Ich verstehe schon, wenn manche jetzt ihre Meinung ändern; ich aber bin nicht bereit, ein bewährtes Prinzip aufzugeben, nur weil es schwierig wird, alle Tatsachen damit in Übereinstimmung zu bringen, und ich werde auch nicht dulden, daß die Expedition von Meinungen abhängig wird, die wie Grashalme im Wind schwanken.“ Ihr Ton, anfangs sachlich wie immer, war plötzlich leidenschaftlich geworden.

Sie schwieg eine Weile. Als sie weitersprach, war der Ton wieder kühl. „Und ich werde die Reliktschwankungen finden“, sagte sie, „und ich werde notfalls alle zwingen, in dieser Richtung zu arbeiten, du weißt, ich kann das.“

Kiliman wußte, worauf Atacama anspielte - es war bei einer anderen gemeinsamen Expedition gewesen, als sie eine Entscheidung gegen das gesamte Chefkollektiv traf und durchsetzte und am Ende recht behielt.

Aber Kiliman war nun schon über den Punkt hinaus, bis zu dem er Unterordnung für notwendig und auch nur für vertretbar hielt. Allein die Tatsache, daß Ata auf dieses Beispiel zurückgriff, offenbar doch, um ihn zu disziplinieren, zeigte die Schwäche ihrer Position. Er hätte nun einwenden können, damals habe es sich um eine ganz konkrete Entscheidung in einer ganz konkreten Lage gehandelt, während es hier doch um Grundsätzliches, Konzeptionelles ginge, aber er sparte sich solche halbherzige Abwehr und griff die CE direkt an, an dem Punkt, wo sie am schwächsten war. „Und was tust du“, fragte er, „wenn du also bis morgen oder übermorgen keine Reliktschwankung findest?“

Die CE antwortete nicht.

„Noch ist Zeit zu einer Wende“, sagte Kiliman. „Ich werde dir sagen, wie ich die Sache sehe. Gewiß, Messen ist die Grundlage allen Wissens, aber es gibt Situationen, in denen eine große Menge qualitativ verschiedener Fakten eine Arbeitshypothese notwendig macht und die Messungen dann dazu dienen, diese Hypothese oder Teile davon entweder zu widerlegen oder zu bestätigen. Mir scheint, jede vernünftige Überlegung, die in diesem Kollektiv angestellt wird, drängt dahin, eine solche Hypothese zu suchen. Noch kannst du dich an die Spitze dieses Drängens stellen und es zum Erfolg führen!“

Die CE stand auf. „Allgemeine Erwägungen überzeugen mich nicht“, sagte sie. „Ich werde die Disziplin fordern, die ich als CE zu verlangen habe, und ich erwarte von dir, daß du dieses Verlangen unterstützt, wie es deine Aufgabe ist.“

Kiliman war nicht beleidigt, nur besorgt. Er wurde einer Antwort enthoben - aus der Zentrale meldete Dela, daß das Gerät, an dem die fragliche Schwankung angezeigt worden war, jetzt ganz ausgefallen sei.

Einigermaßen überraschend, weil schon nach einer Frist, die viel kürzer war als der statistische Mittelwert, wurde die Basis von der nächsten Stoßwelle erreicht. Diesmal erfuhren sie durch die Satelliten eher davon und waren auch besser vorbereitet. Sturm und Flut konnten den Anlagen nichts mehr anhaben, und der verhältnismäßig kleine Teil der Produktion, der gegen die höhere Gravitation empfindlich war, vor allem die Endstufe des Vorverdichters, wurde in die Gravitationsabschirmung der Basisfähre einbezogen, die zu diesem Zweck freilich aus dem Produktionskreis herausgenommen werden mußte, was aber sonst auch ab und zu geschah.

Die Basisgruppe fand sich vollständig in der Fähre ein, und jeder, der nicht mit der Abschirmung zu tun hatte, konnte irgendeiner Tätigkeit nachgehen, ohne daß er auch nur das geringste von der Welle spüren würde. So wenigstens erwarteten es alle.

Das heißt, nicht alle. Woleg hatte nicht aus Trotz seine Auffassung verteidigt, man solle für die Zeit der Stoßwelle die Produktion stillegen. Er war damit nicht durchgekommen und mußte sich nun fügen, vor allem, weil er ja wirklich keine sachlichen Argumente gehabt hatte; aber das unangenehme Gefühl, hier nicht die günstigste Lösung zu praktizieren, das war geblieben, und es schärfte jetzt alle seine Sinne.

Zunächst verlief alles wie erwartet. Der Sturm brauste vorbei, die Flut kam, brach sich an den aufgestellten Hindernissen und lief harmlos wieder ab.

Und dann begann die Gravitation zu steigen. Um Tempo und Dauer genau bestimmen zu können, hatten sie in einiger Entfernung außerhalb der Abschirmung Meßgeräte aufgestellt, deren Daten jetzt durch Funk übermittelt wurden.

Die Schwerkraft stieg ziemlich schnell bis auf fünfzig an und verharrte dann bei diesem Wert - alles wie erwartet. Die Produktion ging weiter, die Armaturen zeigten es an. Die Uhr lief.

Hirosh saß am Schichtmesonoskop und versuchte, die tieferen Schichten jener Spirale abzutasten, die Elber am Strand gefunden hatte. Zu seinen Füßen lag Fox, der nicht die geringste Unruhe verriet. Man, konnte fast sicher sein, daß nichts von den Naturgewalten draußen hier hereindrang, wenn das Tier nicht reagierte. Die Zwillinge programmierten Keime - auf der Basis war stets etwas zu bauen, mindestens aber auszubessern, also wurden auch immer wieder Keime gebraucht. Elber arbeitete wie meist irgendwelche Materialien durch, die der Computer aus den Satellitenaufnahmen ausgesondert hatte.

Aber keiner von ihnen schien ganz und gar bei seiner Sache zu sein. Immer wieder gingen die Blicke zu Woleg hinüber und überzeugten sich davon, daß alles in Ordnung sei.

Endlich schaltete Hirosh sein Gerät ab. „Hört mal alle her“, sagte er. „Woleg ist unruhig. Ich bin unruhig. Ihr seid unruhig. Verdammt noch mal, tun wir nicht so, als sei das etwas Schändliches, das man verbergen müßte. Wenn so ein Haufen Weltraumbummler wie wir komplett unruhig ist, dann hat das Gründe. Irgendwelche Gründe, die das Gehirn in der Vielfalt seiner Verbindungen schon erfaßt hat, ohne daß ein Zusammenhang explizit sichtbar wird. Kurzum: Wir müssen was tun. Macht Vorschläge!“

„Raus können wir jetzt nicht“, sagte Woleg, ein bißchen betreten, daß ihm nichts einfiel.

„Aber den ganzen Laden durchchecken!“ sagte Elber. „Hirosh den Körper der Fähre, die Zwillinge die Antriebe, ich die Informationstechnik. Los!“

Sie wandten sich alle ihren Bildschirmen zu und schalteten. Nacheinander erschienen die verschiedensten Schemata auf den Schirmen und mit ihnen jeweils ein Pfeil, der alle Teile des Schemas abtastete und den, auf den er jeweils zeigte, zum Leuchten brachte, worauf er weiterwanderte, falls in dieser Baugruppe oder diesem Bauteil alles in Ordnung war - kurz, die übliche Routineuntersuchung, die in bestimmten Zeitabständen und vor jedem Start wiederholt wird, wurde wie sonst auch abgewickelt.

„Mein lieber Mann!“ sagte plötzlich Vivi erstaunt, und Ke ergänzte: „Donnerwetter, diese Abschirmung verbraucht aber einen Haufen Energie, hoffentlich reicht der kleine Vorrat noch!“

Alle schreckten hoch. Woleg schaltete die Anzeige für den Energieverbrauch ein, rechnete dann.

„Na, was ist?“ fragte Hirosh, als Woleg aufgehört hatte, auf der Tastatur herumzuhämmern.

„Wenn man nach dem Energieverbrauch geht“, sagte Woleg, „dann gleicht die Abschirmung nicht fünfzig, sondern achtzig aus.“

„Aber“, sagte Elber, „das Gravimeter draußen zeigt doch fünfzig an?“

„Ist nicht überhaupt die Zeit schon um?“ fragte Kerala.

„Da, siehst du!“ antwortete Vienna und zeigte auf die Anzeige des Gravimeters draußen. Es sank langsam bis auf vier g und blieb dann stehen.

„Was ist denn nun wieder los?“ fragte Elber. Aber dann sagte niemand mehr ein Wort: Das Gravimeter stieg langsam wieder an.

Rila und Gibralt hatten bereits das ausgefallene Gerät in seine Baugruppen zerlegt, als Atacama und Kiliman in die Zentrale kamen. Und nicht viel später hatten sie die defekte Baugruppe gefunden und durch eine neue ersetzt.

Kiliman beobachtete Atacama. Sie sah sehr bleich aus - kein Wunder, der Ausfall des Geräts war ein eindeutiges Zeichen, daß sie unrecht gehabt hatte, und Kiliman hoffte, sie würde jetzt mit der gleichen Konsequenz, die sie vorhin zu ihrem Entweder-Oder geführt hatte, die nun unvermeidliche Wende vollziehen - aber die CE schaute nur zu und sagte kein Wort.

„Das hat jetzt die gleiche höhere Empfindlichkeit wie das Zweitgerät“, sagte Gibralt, als er einschaltete.

Kiliman wußte nicht, ob der junge Meßtechniker das beabsichtigt hatte, aber mit seinen Worten hatte er der CE eine goldene Brücke gebaut - es genügte jetzt eine winzige, akzeptierende Bemerkung von ihr, und die Sache war fürs erste erledigt, die Wende war eingeleitet. Denn die genannte Tatsache und mithin die Arbeit der Meßtechniker zu akzeptieren hieß zugleich zuzugeben, daß ihre Konzeption unfruchtbar gewesen war. Aber vielleicht war gerade das der Grund dafür, daß Atacama kein Wort fand, daß sie fast verbissen weiter schwieg, auch als jetzt die Anzeige des Geräts die gleichen konstanten Werte lieferte wie das Zweitgerät.

Kiliman begriff die CE nicht mehr. Was wollte sie denn noch? Wenn sie noch irgendeine Möglichkeit sah, in der eingeschlagenen Richtung weiterzukommen, dann mußte sie sie jetzt wahrnehmen, oder alles glitt ihr aus der Hand!

Die beiden Meßtechniker hatten gewartet, bis die Anzeige kam, und wohl auch darauf, daß die CE sich äußern würde. Jetzt fingen sie an, die defekte Baugruppe auseinanderzunehmen, eigentlich eine unnötige Arbeit, aber sie wollten wohl die Quelle der Störung ermitteln.

Kiliman begriff, daß er die Sorge um Atacama beiseite schieben mußte und statt dessen die Lage zu analysieren hatte. Anfangs hatte er sich bei dieser Expedition überflüssig gefühlt - ach, er wollte, er könnte das auch jetzt noch!

Geduld und Enthusiasmus hatte die CE von der Besatzung gefordert, und jeder einzelne hatte ein reichliches Maß davon gezeigt, wenigstens hier im Raumschiff, auf der Basis wurde ja weniger die Geduld strapaziert und mehr der Enthusiasmus. Aber solche Haltungen und Gefühlswerte wollten genährt werden, wenn schon nicht durch Ergebnisse, so wenigstens durch die Anerkennung der Leistung. Wenn die CE in einer Situation, in der es bei den meisten emotional schon an die Reserven ging, eine so primitive Anschuldigung erhob wie im Falle des Geräts, und das außerdem im Widerspruch zu offensichtlichen Tatsachen, dann mußte ein solches Verhalten die kollektive Arbeitsfähigkeit schwer schädigen. Das mußte sie doch begreifen, sie war erfahren in vielen leitenden Funktionen bei solchen Expeditionen! Und wenn nun zugleich ihre Konzeption sich als unfruchtbar herausstellte, dann wurde ihre Funktion so schwach, daß sie bei stärkeren Belastungen, mit denen man immer rechnen mußte, versagen würde. Daraus aber ergab sich zwangsläufig...

Was denn, hatte sie das etwa längst begriffen, eher als er, und arbeitete nun darauf hin, den Vorgang zu beschleunigen? Nein, Unsinn, sie war doch keine Spielerin, eher das Gegenteil. Warum also hatte sie dieses Verhalten gewählt? Sah sie die Lage vielleicht anders als er?

Dela, das fühlte er seit einiger Zeit, entfernte sich immer mehr von der CE, ihrem früheren Vorbild, und auch Ata mußte das längst gemerkt haben. Das Meßtechnikerehepaar war anscheinend um seine Rechtfertigung bemüht, indem es das defekte Bauteil prüfte. Und er selbst? Nein, seine Lagebeurteilung war richtig: Die CE wurde immer mehr isoliert, isolierte sich selber. Wie diesen Prozeß aufhalten und das alte Vertrauen wiederherstellen? Aber auch das war nur eine Teilfrage. Wie sollte es denn überhaupt weitergehen? Das eine hing vom andern ab, die eine Frage war nicht ohne die andere zu beantworten.

Wie also weiter? Wenn Atacama ihre Konzeption wirklich weiter durchsetzen wollte, dann mußte sie neue Ideen bringen. Aber die hatte sie nicht oder wohl richtiger: Die gab es nicht, die waren nicht möglich. Der kleine Zwischenfall mit dem Meßgerät aber hatte jetzt allen unmißverständlich bewußt gemacht, was sie vielleicht bisher nur undeutlich gefühlt hatten: Diese Arbeit konnte auch eine Meßboje ausführen, die könnte man hier aussetzen und sich inzwischen um den Planeten kümmern. Aber das hieße eben schon, die Konzeption beiseite zu schieben. Damit würde eine neue gebraucht. Welche? Die einzigen konzeptionellen Gedanken, die es gegenwärtig noch gab, steckten in dem Memo von Elber, dem Planetologen, und das hatte Ata in Bausch und Bogen verworfen. Freilich, jeder würde akzeptieren, wenn sie ihr Urteil und ihre Haltung zu der Frage korrigierte, alle würden willig daran mitarbeiten, eine neue Konzeption zu finden, auch der Planetologe, und ganz sicher wäre das die beste Lösung - aber würde sie das wollen? Konnte sie das noch?

„Wir haben das Bauteil, das nach unserer Untersuchung nach und nach die ganze Baugruppe durch sein Versagen zerstört hat, in eine funktionstüchtige Baugruppe eingesetzt“, erklärte Gibralt die Arbeit, die die beiden Meßtechniker gerade abgeschlossen hatten, „und wir werden jetzt diese präparierte Baugruppe in das Zweitgerät einsetzen.“

Nun begriff Kiliman, was sie vorhatten - sie wollten nachweisen, daß die Scheinanzeige beim Erstgerät, die soviel Aufregung verursacht hatte, nichts als der Beginn eines Defekts war. Kiliman konnte es ihnen nicht verdenken: Sie fühlten sich in ihrer Berufsehre angegriffen, in ihrer Würde verletzt, da niemand den Vorwurf zurücknahm, und so war es ihr gutes Recht, sich mit der Beweiskraft der Tatsachen zur Wehr zu setzen. Daß ihnen das keine Freude machte, war zu hören - aus Verlegenheit war Gibralt bei seinen sehr förmlichen Erläuterungen in die Redeweise eines Museumsführers verfallen. Er hätte auch darauf verzichten können, jeder sah und begriff jetzt ohnehin, was sie da taten, aber er wollte das selbstverständlich im Protokoll stehen haben.

Rila schaltete das Zweitgerät mit der vertauschten Baugruppe jetzt ein - und es zeigte die gleichen Schwankungen, die vordem das Erstgerät angezeigt hatte.

Jetzt muß sie aber etwas sagen! dachte Kiliman. Sonst steht sie nicht nur vor der Besatzung, sondern auch hinterher im Protokoll unmöglich da!

Er blickte sich um, sah ihr in die Augen - und begriff mit einemmal: Sie war hilflos. Die berühmte, in vielen Stürmen erprobte CE hatte sich in eine Situation hineinmanövriert, der sie, kaum glaublich, nicht gewachsen war. Sie war bei sich auf eine Schwäche gestoßen, die niemand bei ihr vermutet hätte, auch sie selbst nicht, die freilich an einer Stelle saß, wo ihre Kraft noch nie praktisch erprobt worden war: Ata wurde offensichtlich hilflos bis zur Handlungsunfähigkeit, in dem Augenblick, als sie begriff, daß sie im Unrecht war - nicht einfach in einer Einzelfrage, sondern ganz und gar, konzeptionell. Das war ihr noch nie geschehen, und es lähmte sie buchstäblich...

„Das Zweitgerät zeigt nach dem Einbau der präparierten Baugruppe die gleichen Schwankungen an, die vorher das Erstgerät gezeigt hatte“, stellte Rila fest, offensichtlich auch für das Protokoll, und dann bauten sie das Zweitgerät wieder ab.

Kiliman suchte nach einer Formulierung, die eine Auflösung der Spannung wenigstens hinausschob und Atas Zustand nicht offenbar werden ließ, aber so schnell fiel ihm nichts ein, und dann geschah etwas, was seine Suche nach Worten überflüssig machte.

Dela meldete: „Der Funkkontakt zur Basis ist unterbrochen!“ Sie wartete, ob eine Anweisung käme, und schaltete dann. „Eine Stoßwelle geht gerade drüber, Augenblick, ich sehe eben, ein B-Satellit ist in Sichtweite der Basis, ich rufe sein Bodenbild ab!“

Die Tatsache, daß sich alles, was sie sahen, schon vor dreizehn Stunden ereignet hatte, minderte nicht die Spannung.

Auf dem Schirm erschien eine der Spektralkombinationen, die Bodensicht ermöglichten.

Dela regulierte Vergrößerung und Schärfe, es ging ihr so gut von der Hand, daß man merkte, sie hatte das schon öfter getan, und dann sah man, verschwommen zwar, aber erkennbar, die Basisfähre und die anderen Bauten in der Mitte des Bildes. „Der Zeit nach müßte jetzt die Stoßwelle vorbei sein“, sagte sie.

In diesem Augenblick veränderte sich irgend etwas im Bereich der Basis, doch bevor man noch sehen konnte, was genau vorgegangen war, zuckte ein heller Lichtschein auf und breitete sich schnell aus.

Delawara stieß einen Schrei aus, Rila und Gibralt faßten sich an den Händen, Kiliman sah zu Atacama. Deren Haltung straffte sich. Sie sprach als erste, und ihre Stimme klang frisch und unbeeindruckt, als sie erklärte: „Ich weise an: erstens - Kurs Basis, Maximalbeschleunigung, Leitung der Flugmanöver Delawara; zweitens - Rila, Gibralt und ich analysieren alle von der Basis eingegangenen Informationen der letzten halben Stunde; drittens - bis zur Ernennung eines neuen CE übernimmt Kiliman die Leitung der Expedition.“

In der Basisfähre hatten sie sehr schnell begriffen: Die Gravitationsbelastung der Fähre selbst mußte immer noch bestehen, obwohl die Stoßwelle weitergezogen war, und sie mußte bedeutend höher sein als die der Stoßwelle, nach dem Energieverbrauch zu urteilen; wie hoch, konnten sie nur schätzen, vielleicht die zehn- bis fünfzehnfache Schwere wie an der Erdoberfläche. Und was das schlimmste war: Sie stieg offenbar noch weiter an, das draußen stehende, ziemlich weit entfernte Gravimeter zeigte wohl den Rand des Gebietes an, das davon betroffen war. Wieso und warum und woher - das freilich konnte niemand sagen.

Noch glich die Fähre die zusätzliche Schwerkraft aus, die Abschirmung wurde automatisch so geregelt, daß im Innern der Fähre die normale irdische Schwerkraft von neun Komma acht eins Meter im Sekundenquadrat herrschte. Aber die Leistung der Abschirmung war nicht unbegrenzt, wie ebenso der Energievorrat nicht unbegrenzt war, im Gegenteil, er war erheblich zusammengeschrumpft. Irgendwann zwischen hundertachtzig und zweihundert Außenbelastung würde die Leistungsfähigkeit der Abschirmung erschöpft sein. Und selbst wenn sie nicht so hoch stiege - die Antriebsenergie wäre bald verbraucht. Das aber würde nicht nur die Zerstörung der Basis bedeuten, sondern auch den Tod.

Ein Start war bei der jetzigen Belastung zwar gerade noch möglich - aber man mußte ja damit rechnen, daß dann die äußere Gravitation ebensoschnell wie die Abtriebskraft wachsen würde, so widersinnig das klang, und es war auch nicht klar, ob sie überhaupt aus dem G-Käfig herauskommen würden... Je länger sie darüber nachdachten, um so sonderbarere Vermutungen stellten sich ein.

„Noch was“, sagte Woleg plötzlich und lenkte den Blick der anderen auf die Armaturen. „Die Funkverbindung zum Raumschiff ist abgebrochen.“

„Können wenigstens keine blöden Anweisungen kommen“, sagte Elber.

„Ich würde eher sagen“, wies Woleg ihn sanft zurecht, „ein interessantes Phänomen der gegenseitigen Einwirkung von künstlicher Gravitation und elektromagnetischem Feld.“

„Künstliche?“

„Ja, was sonst. Natürliche Gravitation wäre nicht stark genug, solche Effekte hervorzurufen.“

„Hundertachtzig, zweihundert und mehr gibt es doch auch in der Natur?“ fragte Hirosh, den das Problem plötzlich interessierte.

„Schon“, sagte Woleg, „aber nur bei Vorhandensein der entsprechenden Masse. Und die Masse, um in dieser Entfernung vom Mittelpunkt solche Schwerkraft hervorzurufen, hat der Planet nicht.“

„Womit also nun auch Sie der Meinung wären, daß hier Technik am Werk ist“, vergewisserte sich Hirosh noch einmal.

„Ja“, sagte Woleg, „und darum sollten wir der CE dankbar sein, daß sie uns mit ihrem Eigensinn in diese Lage gebracht hat.“

„Aus der du natürlich schon einen Ausweg weißt?“ fragte Elber.

„Ach, woher“, sagte Woleg, „merkst du nicht, daß wir uns erst langsam heranarbeiten? Also Größe und Lokalisierung der Schwerkraft zeigen, daß es sich um einen technischen Vorgang handelt. Man kann annehmen, daß er durch das Zusammentreffen von Stoßwelle und Abschirmung ausgelöst wurde. Die Stoßwelle ist verschwunden, wenn wir nun noch die Abschirmung wegnehmen, müßte das Phänomen verschwinden.“

„Nur ist dann keiner mehr da, der das überprüfen kann“, meinte Hirosh.

„Wieso“, fragte Elber, „man kann sie ja langsam wegnehmen. Wenigstens erst mal so weit, bis die hier natürliche Schwere herrscht. Wir werden dann ja sehen, ob die Außenlast weiter steigt. Mindestens aber sparen wir Energie, und das ist auch etwas.“

„Das probieren wir mal“, sagte Woleg. Und mit etwas krampfhafter Leichtigkeit ordnete er an: „Haut euch in eure Konturensessel, schließt die Visiere, jetzt wird’s hart!“

Langsam regelte der CB die Abschirmung herunter, und schon spürten alle, wie sie schwerer wurden. Er tat das nicht gern, da dabei sehr wahrscheinlich die jetzt mitgeschützten Endstufen einiger Anlagen zerstört würden, darum hatte er auch gewartet, ob nicht jemandem eine bessere Lösung einfiele. Aber anscheinend gab es keine andere.

Woleg hatte das Bild der Umgebung auf dem Schirm, auf Normallicht aufgehellt, aber optisch ließ sich da überhaupt nichts feststellen. Oder? Was war das da? Tatsächlich, unmittelbar neben der Fähre ging ein Riß durch den Felsen, auf dem die Anlage stand. Der war vorher noch nicht da... Allerdings senkrecht zur Steilküste, also wohl nicht so gefährlich...

Sie hatten jetzt die Fünfzig erreicht, die Glieder waren entsetzlich schwer, aber die Werte auf dem weit entfernten Außengravimeter stiegen nicht mehr weiter.

Woleg hatte die schier zentnerschwere Hand auf der Tastatur liegen, aber er drückte die Tasten nicht, er ließ die Abschirmung weiter sinken, die Schwerebeschleunigung in der Fähre stieg auf sechzig, und nun sank auch die Anzeige auf dem Außengravimeter - dort schon unter fünfzig, aber das war ja ein Ende entfernt, wichtig war nur, daß seine Vermutung zutreffend gewesen war: Diese seltsame Erscheinung folgte der Abschirmung der Fähre wie bei einer Nachlaufregulierung. - Nur dieser Riß da...

„Seid ihr alle angeschnallt?“ fragte Woleg über den Helmfunk. Die anderen bestätigten. „Das Gurtschloß wiegt mindestens zwanzig Kilo!“ Elber stöhnte.

„Sechshundertzwölf Gramm“, korrigierte Woleg.

„Sag ich doch!“ entgegnete Elber.

Dieser Riß da... In diesem Augenblick sah Woleg, wie ein Teil der Anlage draußen zusammenbrach. Das Bild war ohne Ton, der Vorgang sah in seiner Lautlosigkeit fremdartiger aus als der fremdeste Planet. Es kam Woleg für einen Augenblick bitter an - wären sie seinem Vorschlag gefolgt und hätten die Produktion stillgelegt, wäre dieser Teil der Anlage leer gewesen und nicht zusammengebrochen unter der etwas über fünffachen Erdschwere, eine Menge Arbeit hätten sie sich gespart... An die Gefahr dachte er schon nicht mehr, sie schien ja gebannt, die außen angelegte Gravitation sank offenbar, sie folgte der Abschirmung im Abstand von fünf g, also in dem Wert, den die Stoßwelle auf ihrem Gipfel erreichte - äußerst sonderbar das alles, am sonderbarsten, daß seine Vorstellung von der automatischen Nachlaufregelung sich als zutreffend erwiesen hatte. Dabei war es doch absolut unvorstellbar, was das für eine Technik sein sollte, die zugleich globale Stoßwellen erzeugte und punktuelle Regelungen ermöglichte, ja, eigentlich war ein solcher Regelkreis gar nicht denkbar, höchstens als mathematisches Modell - und doch schien es ihn zu geben. Von wem aber angelegt? Wofür? Wann? Woleg schüttelte den Kopf. Nicht ablenken lassen. Die Gravitation sank weiter, hier drin war das zwar nicht feststellbar, weil sie nur die Differenz spürten, aber draußen zeigte das Meßgerät schon die normalen anderthalb und kam nun zum Stillstand. Bald würden die Werte die untere Grenze erreichen, und dann würde diese zusätzliche Belastung hoffentlich abflauen.

Da, hatte er sich’s nicht gedacht! Wieder barst draußen ein Teil der Anlage, und jetzt rieselte der vorverdichtete Energieträger heraus, der hier die Form eines Granulats hatte, rieselte, ein Häufchen bildete sich, und nun - das hatte noch gefehlt! Das Häufchen hatte sich ausgedehnt bis zu dem Riß, und jetzt rutschte das Granulat in den Erdriß, war also unwiederbringlich verloren.

Der Energieverbrauch der Abschirmung war nahe Null, eine Minute verging, eine weitere - jetzt war die Abschirmung ausgeschaltet, Gefahr bestand nicht mehr. Woleg atmete auf. Jetzt würde man ja sehen, ob die Zusatzlast schwinden würde. Er zwang sich, nicht auf die Anzeige zu sehen, ein kleines Spielchen würde er sich jetzt wohl leisten können, er wollte doch mal sehen, wann sein Körper merkte, daß er leichter wurde... Ja, jetzt hatte er das deutliche Gefühl... ein Blick zum Innengravimeter bestätigte: fünfundvierzig, also gut viereinhalbfache Erdschwere.

Da würde nun wohl auch draußen nichts mehr einstürzen, zum Glück waren die Schäden nicht allzu groß, ein paar Tage Arbeit vielleicht, noch mal gut gegangen...

Und dann sah er den Riß. Er sah, wie er schmaler wurde, und fast noch ehe er mit dem Verstand begriffen hatte, was da vor sich ging, fuhr ihm der Schreck durch den ganzen Körper. Der Spalt, entstanden durch überhöhte Schwerkraft offenbar unterhalb der Abschirmung, schloß sich allmählich wieder - aber jetzt wurde das Granulat zusammengepreßt!

Was geschehen mußte, war klar. Der Energieträger würde explodieren, die Menge reichte aus, um den Felsen aufzureißen. Aber die Schwerkraft hatte sich noch nicht völlig normalisiert. Woleg konnte nicht wissen, wie sie auf einen plötzlichen Start reagieren würde. Es gab jetzt nur eine Möglichkeit: so lange zu warten, wie es ging, aber nicht eine Zehntelsekunde länger - und dann den Andruck der Explosion mit zu benutzen.

„Achtung, voll entspannen, wir starten gleich durch ohne Abschirmung“, sagte Woleg langsam und ziemlich leise, die Augen unentwegt auf den Spalt gerichtet. „Und keine Fragen stellen.“

Zwanzig zeigte das Gravimeter, langsam kroch der Lichtpfeil tiefer, viel zu langsam... Unsinn, um so langsamer schloß sich auch der Spalt...! Da, eine Feuerwand brach aus dem Spalt herauf, blendete für einen Augenblick alle, Woleg riß den Starter durch, der Körper wurde schwer, und er wurde heftig hin und her geschüttelt. Viel später erst drang das dumpfe Krachen und Rumpeln in Wolegs Bewußtsein, dann war auf dem Schirm nichts mehr zu sehen, aber die Fähre lag ruhig.

Aber wo sie lag, war nicht auszumachen. Alle Sensoren waren anscheinend zerstört oder erblindet, die Geräte vermittelten nur innere Angaben. Dem Körpergewicht nach war anzunehmen, daß sie noch stiegen.

Plötzlich fühlten sie sich schwerer, aber das ging bald vorbei. Sie waren über die Tropopause hinausgeschossen in den Bereich der stärkeren Gravitation, die sie bremste und ihnen dann eine Fallgeschwindigkeit verlieh, so daß sie, wenn Schwerkraft und Antrieb sich wieder aufhoben, langsam fallen mußten mit einer Geschwindigkeit, die infolge des Luftwiderstandes allmählich abnahm. Vorerst also keine Gefahr, aber lange durften sie nicht mehr blind bleiben.

„Ke und Vivi“, ordnete Woleg an, „kommen mit mir in die Schleuse. Notfalls schweißen wir die auf. Wir landen heute mal mit Augenoptik, gesteuert durch Zuruf über Bordtelefon, ganz moderne Methode.“

In dem Augenblick, als Woleg mit den Zwillingen die Zentrale verließ, kroch Fox aus seinem Winkel hervor und lief zu Hirosh - offensichtlich erkannte er ihn schon im Schutzanzug.

„Den hab ich ja ganz vergessen“, sagte Elber am Steuerpult. „Dem hat das alles nichts ausgemacht, wie’s aussieht. Eine unheimlich zähe Rasse!“

ja, eine zähe Rasse!“ bestätigte Hirosh nachdenklich.

Auf zehn, fünfzehn Metern war die Steilküste unter der Wucht der Explosion eingebrochen. Was von der Einrichtung nicht unter der Geröllhalde lag, war zerfetzt und verkohlt. Aber schon ein paar hundert Meter weiter, wo die Fähre gelandet war, stand der Wald grün und unversehrt, Schmauch- und Rauchspuren hatte der Regen abgewaschen und der Wind verweht. Nun war auch zweifelsfrei sichtbar, daß die normale Stoßwelle kaum noch Pflanzen zerstörte - die jungen, halbhohen Bäumchen widerstanden ihr erfolgreich.

Aber die bisherige Arbeit der Basis war umsonst gewesen - die Anlagen waren zerstört, die bereits produzierten Barren Energieträger in der inaktiven Phase waren geschmolzen und nun so verunreinigt, daß die Wiedergewinnung länger gedauert hätte als eine Neuproduktion aus dem Meerwasser.

„Tja, das schaffen wir nun wohl nicht mehr allein“, sagte Woleg, nachdem sie eine Weile schweigend die Aufnahmen der Trümmerstätte betrachtet hatten. „Da muß das Raumschiff her!“

„Ich werde schon mal den Behelfssender aufbauen“, sagte Elber, aber noch bevor Woleg antworten konnte, geschah etwas Erschreckendes: Elber schrie auf, stürzte zu Boden und krümmte sich unter starken Schmerzen.

Mit einem Satz war Hirosh bei ihm, aber da richtete sich Elber schon wieder auf, blickte einen Augenblick lang ungläubig in die Gegend und sagte dann zu Hirosh, der vor ihm hockte und ihn aufmerksam betrachtete: „Ich weiß nicht, was das war, aber es ist jedenfalls wieder völlig vorbei!“

„Trotzdem mußt du an den Draht“, sagte Hirosh, „komm schon, wir müssen doch wissen, ob alles in Ordnung ist.“

„Vielleicht war jemand gegen das Funkgerät“, witzelte Vienna.

„Oder dagegen, daß das Raumschiff herkommt“, assistierte Kerala ihrer Schwester.

Der Computer fand alle Werte normal. „Wie war denn das eigentlich?“ fragte Hirosh.

„Schwer zu sagen“, antwortete Elber. „Plötzlich tat mir alles weh.“ „War es ein brennender Schmerz, ein stechender, ein drückender, oder wie würdest du ihn beschreiben?“

„Ich weiß nicht“, sagte Elber, und man hörte ihm an, daß er sich alle Mühe gab und sich selber ärgerte, nichts Genaueres sagen zu können, „ich weiß nicht, ich glaube, alles auf einmal.“

„Und hatte er irgendwo ein Zentrum“, fragte Hirosh geduldig, „oder bewegte er sich, war er gleichzeitig überall da, und ging er gleichzeitig überall weg, oder war es anders?“

„Doch, ich glaube, er hat sich bewegt, er war mal hier, mal da, aber an ganz verschiedenen Stellen, und immer an mehreren gleichzeitig - das ging alles sehr schnell...“

„Ist ja gut, nicht aufregen“, sagte Hirosh. „So, das reicht schon.“ Er schnallte Elber wieder ab und entfernte die Elektroden und anderen Sensoren.

„Und du weißt jetzt, was das war?“ fragte Elber.

„Nein, nur was es nicht war - keine Krankheit, überhaupt nichts, dessen Ursache in deinem Körper gelegen hätte.“

„Wieso das?“

„Wenn dein Körper eine Minute danach wieder völlig normal ist, in allen Parametern, die wir erfassen, dann lag die Ursache nicht in

körpereigenen Prozessen, meine ich. Die Lokalisierung, die du angegeben hast, weist darauf hin, daß der auslösende Prozeß sich im Gehirn abgespielt hat. Und - na ja, was jetzt kommt, ist sehr spekulativ -, und die Geschwindigkeit, mit der der Schmerz wechselte, läßt vermuten, daß da irgendeine, nun ja, Ministoßwelle durch dein Gehirn gegangen ist.“ Er hob die Arme. „Aber mehr ist nun wirklich nicht zu sagen.“

Elber griente plötzlich. „Auch nicht, daß ich mich schonen muß?“ „Hau bloß ab“, sagte Hirosh lachend.

„Gleich, nur noch eins - an dem, was die Zwillinge da eben verzapft haben, könnte also etwas dran sein?“

„Nun ja, nun nein“, sagte Hirosh, „jedenfalls nicht mehr als an den Witzen, die ich sonst verzapfe. Vielleicht der Gedanke, daß dies die erste spezifische Einwirkung auf uns war.“

Inzwischen hatten die Zwillinge das Funkgerät aufgebaut und gerichtet, und als Elber und Hirosh hinzukamen, konnte Woleg ihnen bereits die letzten Neuigkeiten mitteilen. „Das Raumschiff ist schon unterwegs hierher“, sagte er. „Die CE ist krank und hat Kiliman die Leitung übergeben.“ Er hatte sich wirklich um einen sachlichen Tonfall bemüht, aber er hatte eine Spur von Genugtuung doch nicht unterdrücken können.

„Dann bringt mir mal möglichst schnell die große Funkanlage in Ordnung“, sagte Hirosh, „ich muß Atacama doch behandeln.“

Woleg zeigte zum Oberteil der Fähre. Dort turnten die Zwillinge herum, putzten, entfernten, montierten. Aber plötzlich: Kerala hielt sich an einem Gestänge fest und pendelte mit dem Oberkörper, Vienna lag gerade flach auf der Außenhaut und schlug mit den Fäusten darauf, und beide lachten, lachten, lachten - und hörten ebenso plötzlich wieder damit auf.

„Hat’s euch gejuckt?“ rief Hirosh hinauf.

„Und wie!“ antwortete Vienna.

„Ich hab gar nicht gewußt, daß einem der Magen jucken kann!“ ergänzte Kerala.

„Und es war mal hier, mal da, an ganz verschiedenen Stellen, aber immer an mehreren gleichzeitig?“ fragte Hirosh.

„Woher wissen Sie das?“ fragte Kerala.

Hirosh winkte ab. „Macht weiter, ich schätze, das kommt nicht wieder!“ Er ging in die Fähre und holte ein transportables EEG heraus, legte sich die Elektroden an und wartete. Wenn seine Vermutung stimmte, seine Erwartung.... ach was, Vermutung, Erwartung, das war alles zuviel gesagt, er sah einfach eine winzige Chance, etwas mehr zu erfahren. Wenn diese - ja, wie sollte man das bezeichnen? Also, wenn diese Einflußnahme fortgeführt würde, dann war jetzt entweder er oder Woleg an der Reihe, und es stand zu erwarten, daß nun die Auswirkungen so gering sein würden, daß sie es vielleicht gar nicht bemerkten. Deshalb hatte er sich das EEG angelegt.

Eine Zeitlang geschah nichts - und dann spürte Hirosh plötzlich seinen linken kleinen Finger; den hatte er sich als Kind abgequetscht, und der war damals durch gesteuerte Organnachzüchtung wiederhergestellt worden. Sonderbar, daß trotz allem immer noch eine gewisse Verschiedenheit zum übrigen Körper besteht, dachte Hirosh, wahrscheinlich nur im nervlichen Bereich, aber bisher ist das unbekannt gewesen.

Nur einen Moment lang hatte er den Finger gespürt, aber auf dem EEG waren in diesem Zeitraum deutliche Abweichungen zu erkennen, wellenförmige Überlagerungen der normalen Tätigkeit, die noch am ehesten den Thetawellen des Gehirns ähnlich sahen.

Es konnte gar nicht anders sein, als daß irgend etwas das Gehirn erregte und dann die Abstrahlung der Erregung auffing - letzteres ergab sich daraus, daß von Mal zu Mal die Körperreaktion gesunken war, der geheimnisvolle Sender und Empfänger mußte also aus den Reaktionen gelernt haben. Aber gerade das war unvorstellbar - nirgendwo in der Nähe gab es eine Einrichtung, die die Hirnströme abgenommen hätte, wenigstens bei Elber und den Zwillingen nicht, bei ihm hatte ja das EEG angezeigt, das wollte er noch gar nicht rechnen. Die Energie der Hirnströme war aber so gering, daß sie schon aus wenigen Zentimetern Abstand nicht mehr nachweisbar war. Und hier gab es ganz gewiß in hundert Meter Umkreis keinerlei technische Anlage mehr, die die Katastrophe überstanden hätte.

Mochten die andern in der D-Schicht, im Satellitenparadoxon, in der geteilten Schwerkraft, in der synodischen Umlaufzeit ihre Sensation sehen - für ihn waren die bioökologischen Vorgänge auf dem Planeten und nun auch dieses letzte Ereignis die wirklichen Rätsel.

Drei Monate standen der Expedition zur Verfügung, gerechnet vom Austritt aus dem zeitfreien Transit. Sie war jetzt, in der Mitte dieser Zeit, in ihre kritische Phase getreten. Was sie suchte, hatte sie nicht gefunden, und was sie gefunden hatte, hatte sie nicht gesucht. Es war sinnlos, am ursprünglichen Programm festzuhalten, und es schien im Augenblick sogar so, als sei jedes andere denkbare Programm ebenso sinnlos.

Das etwa war die Quintessenz der Lagebeurteilung, mit der Kiliman die Beratung der Senioren einleitete. Er hatte diese Form der Beratung gewählt, um auch Hirosh dabeizuhaben, der an einer Chefberatung nicht teilgenommen hätte; und er hatte sie einberufen noch vor der Landung des Raumschiffs auf dem Planeten, weil auch zu entscheiden war, ob das Raumschiff überhaupt dort landen oder ob die Basis in das Raumschiff zurückkehren sollte. Er hatte diese Varianten nicht erwähnt, weil es nicht üblich war, Schlußfolgerungen vorwegzunehmen, aber er dachte doch, daß die anderen sie ebenso sähen wie er.

Für- und Gegenrede gingen also über Funk hin und her, aber das Raumschiff war wenigstens schon so nahe, daß keine stundenlangen Pausen mehr dazwischentraten.

„Wenn wir von den Lebensnotwendigkeiten ausgehen, den allereinfachsten Dingen wie Startfenstertermin und Treibstoff, dann sieht es so aus, daß die Basis mit ihrer Kapazität die Aufgabe nicht mehr allein lösen kann. Es gibt im wesentlichen drei Orte, an denen der Energieträger gewonnen werden kann: der Boden des Planeten oder seine Atmosphäre oder die D-Schicht. Überraschungen, ich meine Störungen, kann es überall geben. Am ergiebigsten ist die Wasservariante. Da wir außerdem noch den Transitteil des Raumschiffs durchsehen müssen, schlage ich vor, hier am Strand den Energieträger zu gewinnen, denn hier kennen wir außerdem die Störungen schon, und später im Orbit den Transitteil zu überholen.“

Hirosh nickte, und Kiliman war auch dieser Ansicht. Atacama aber widersprach: „Mir scheint, daß die Störungen gerade auf dem Boden des Planeten am stärksten sind und daß man dort auch am ehesten neue, unbekannte Störungen erwarten kann. Mir erscheint diese Variante am gewagtesten.“

„Mir scheint aber gerade...“, begann Woleg, doch Hirosh unterbrach ihn.

„Das ist gar nicht so falsch, was Atacama gesagt hat.“ Während Woleg ihn vorwurfsvoll anstarrte, empfand Hirosh für den Bruchteil einer Sekunde ein kleines Vergnügen daran, nicht CE zu sagen, sondern den Namen. Aber er schob diese unangemessene Schadenfreude schnell beiseite und fuhr fort: „Mehr noch, ich halte es für zutreffend, kann es aber freilich auch nicht beweisen, daß das Risiko auf dem Planeten größer ist. Bevor wir aber daraus eine Schlußfolgerung ziehen, müssen wir doch erst mal wissen, was wir eigentlich wollen. Besteht unser Ziel ab heute nur darin, die Rückfahrt zu bewerkstelligen? Ein bißchen wenig, will mir scheinen. Sollten wir aber doch vielleicht die Absicht haben, etwas mehr Klarheit in die hiesigen Rätsel zu bringen, dann ist unser Platz freilich dort, wo am meisten passiert. Oder wo zu erwarten ist, daß dort am meisten passiert.“

„Das ist absurd“, entgegnete Atacama heftig. „Wir sind für so etwas überhaupt nicht ausgerüstet, weder technisch noch personell. Und dann haben wir ja wohl auch noch eine gewisse Verantwortung für Leben und Gesundheit unserer Kollegen.“

„Ach ja?“ sagte Hirosh ironisch, und er ließ eine lange Pause hindurch diesen Vorwurf wirken und deutlicher und immer deutlicher werden; denn, nicht wahr, wer hatte bisher Leben und Gesundheit der Besatzung am meisten gefährdet? Es war keine sehr feine Bemerkung, die Hirosh da gemacht hatte, und die anschließende Pause war ebensowenig fein, aber er hoffte, das würde es ihm ersparen, Vorwürfe zu formulieren und sie damit protokollkundig zu machen.

So fuhr er dann mit leichter Stimme fort: „Wenn wir nicht dafür gerüstet sind, dann laßt uns doch dafür sorgen, daß die uns folgende Expedition besser vorbereitet ist - und je mehr wir in Erfahrung bringen, um so effektiver wird sie sein. Und was nun die Verantwortung für Leben und Gesundheit betrifft, möchte ich...“, er legte wieder eine Pause ein, um deutlich zu machen, daß sich dazu noch viel mehr und auch ganz anderes sagen ließ als das, was er vorzubringen beabsichtigte, „... möchte ich mal folgende Merkwürdigkeit zu bedenken geben: Da ich ja selbst von Physik wenig verstehe, habe ich mir von meinen Freunden ausrechnen lassen, welche Leistung allein die Aufrechterhaltung der geringeren Schwerkraft in der Troposphäre des Planeten darstellt, und siehe, es handelt sich um eine Leistung, die die Strahlungsleistung des Beteigeuze um ein mehrfaches übertrifft. Und inmitten dieser zermalmenden Gewalten strampeln nun wir Menschlein herum. Ist es da nicht sehr merkwürdig, daß wir bisher nur ein paar Sachschäden zu beklagen haben und daß auch die vermeidbar gewesen wären?“

Einen Augenblick lang hatte Kiliman, der ja die Debatte leitete, befürchtet, sie würde sich zerfasern. Jetzt aber fühlte er deutlich, sie

würde neue Gedanken hervorbringen, ja vielleicht sogar Ansätze für eine neue Konzeption, die sich in der Richtung mit den sehr riskanten und fast fragwürdigen Vorschlägen deckte, die er noch nicht ausgesprochen, aber wohlüberlegt und lange erwogen hatte.

Während also der Streit hin und her wogte, wobei Atacamas Vorwürfe der Unwissenschaftlichkeit immer mehr Kraft verloren,

versuchte Kiliman eine Formulierung zustande zu bringen, die als Aufgabe über dem künftigen Arbeitsabschnitt stehen konnte und zugleich die Einheit herstellte mit dem personellen Vorschlag, den er zu unterbreiten gedachte.

Als der Streit sich erschöpft hatte, nahm er das Wort.

„Es scheint mir, daß sich in der Auseinandersetzung so etwas wie eine neue Konzeption für unsere Arbeit herausgebildet hat. Sie ist

vielleicht insofern etwas ungewöhnlich, als sich kein Ziel angeben

läßt, dessen Erreichung abgerechnet werden kann. Trotzdem glaube ich, man könnte etwa so sagen: Raumschiff und Basisfähre

produzieren auf dem Boden des Planeten den Energieträger für die

Rückfahrt während der nächsten einundzwanzig Tage. Während der darauffolgenden sieben Tage wird im Orbit des Planeten der

Transitteil durchgesehen. Während der gesamten Zeit werden personell und materiell alle Möglichkeiten genutzt, die Besonderheiten des Planeten und des stellaren Systems zu erkunden, um Material für die Aufgabenstellung künftiger Expeditionen zu sammeln.“

Hirosh nickte Kiliman zu, er fand diese Konzeption durchaus praktikabel und vertretbar. Woleg fand sie ein bißchen unkonkret,

aber da sie sich im wesentlichen mit seinen Wünschen und Vorstellungen deckte, nickte er ebenfalls. Atacama hätte am liebsten

eingewendet: Aber so was enthält doch keinerlei Grundlage für Leiterentscheidungen, wer da den Chef macht, ist vor eine nervenzerfetzende Aufgabe gestellt, allein die Prioritäten, die er jeden Tag neu festlegen muß! Aber da sie nicht dieser Chef sein würde, resignierte sie. Vielleicht war das kleinmütig von ihr, aber andererseits würde sie natürlich helfen, sie würde den neuen Chef unterstützen, falls der das wollte, nur, wer dieser Mensch sein sollte, wer die Fähigkeit hatte, mit diesem drohenden Durcheinander fertig zu werden und dabei noch wissenschaftliche Arbeit zu leisten - das war ihr absolut unklar.

„Da diese Arbeit“, fuhr Kiliman fort, „einen anderen Charakter hat als die bisherige, sie ähnelt weniger den üblichen Tätigkeiten in den Einzelwissenschaften und mehr einer allseitigen geistigen Aneignung - da also der Charakter der Arbeit sich verändert, scheint es mir notwendig, jemanden zum CE zu ernennen, der nicht die einzelwissenschaftliche Festlegung hat und trotzdem über hinreichend planetarische Erfahrung verfügt. Es scheint zunächst, als sei Woleg der geeignete Mann, aber ich hielte diese Wahl nicht für gut, einmal, weil er die Produktion des Energieträgers zu leiten hat und später den Test des Transitteils, zum andern aber auch, ich muß das unumwunden aussprechen, weil er zuviel Nachgiebigkeit und zuwenig Durchsetzungsvermögen gezeigt hat.“

Woleg nickte, gar nicht beleidigt, sondern eher zufrieden, die andern äußerten sich nicht.

„Ich bin dagegen nach langem, sehr langem und gründlichem Überlegen, das müßt ihr mir glauben, zu einem anderen Vorschlag gekommen, der vielleicht auf den ersten Blick etwas sonderbar erscheinen mag. Wenn ich mich aber frage, wer die multilateralen Kenntnisse und Erfahrungen hat, die das Gegenteil eines Einzelwissenschaftlers ausmachen, und wer zudem mit seinen Hinweisen bisher stets in die richtige Richtung gezeigt hat, und seien diese Hinweise auch als Witze verkleidet gewesen - dann ist das Hirosh.“

Woleg sah sehr verdutzt aus, Atacama schüttelte den Kopf, aber bevor sie etwas sagen konnte, meinte Hirosh: „Den Witz haben Sie gemacht, nicht ich!“

„Und ich hoffe, auch dieser Witz geht in die richtige Richtung“, sagte Kiliman und vertagte die Beratung, denn selbstverständlich mußte jeder erst einmal darüber nachdenken, bevor man in die Debatte eintrat - es handelte sich ja um keine Dutzendentscheidung.

Die Basisgruppe bereitete nicht weit von ihrem früheren Standort die neue Produktionsanlage vor, jetzt vielfach größer, für den Einsatz des Raumschiffs mitberechnet.

Hirosh hatte Kilimans Vorschlag immer wieder im Kopf hin und her gewälzt, aber statt eines Entschlusses war dabei eine wachsende Unsicherheit herausgekommen. Immer deutlicher wurde ihm, in welche prinzipiellen Schwierigkeiten jeder geraten mußte, der jetzt diesen Auftrag annähme. Die produktive Tätigkeit - na gut, das lief hin, das würde Woleg zuverlässig leiten und das würde zum Glück auch einen großen Teil der Kraft und Zeit verbrauchen, die die Besatzungsmitglieder hier noch zu verausgaben hatten.

Aber das übrige? Es ging schon mit der Frage los: Sollte man warten, was da auf einen zukam, oder sollte man selbst Aktivität entwickeln? Und daraus ergaben sich gleich ein paar Dutzend weitere Fragen, und täglich würden es mehr werden. Und was der winzigste Fehler auslösen konnte, das war jetzt an der alten Stelle zu besichtigen.

Hirosh war schließlich, als er sich nicht einmal mit sich selbst einig werden konnte, auf die Idee verfallen, seine Entscheidung im Angesicht der Trümmer zu suchen, die aus Atacamas Fehlentscheidung entstanden waren. Er schaltete Uni an, rief Fox und wollte eben losgehen, als Elber fragte, ob er mitkommen dürfe.

Im ersten Augenblick war Hirosh nicht davon begeistert, aber dann dachte er sich, es werde nicht schaden, wenn er jemanden bei sich habe, dem man notfalls einen Gedanken vortragen könne, ohne daß der es gleich als Entscheidung auffassen würde.

Sie gingen also los, den Strand entlang, vornweg lief Fox, dahinter Uni, dann Elber und schließlich Hirosh. Ihm fiel auf, daß Elber unruhig war, nervös fast. Der Planetologe lief mal ein wenig schneller, dann blieb er wieder einen Augenblick stehen, hob einen Stein auf und warf ihn ins Meer, einen Augenblick später stapfte er durch das Wasser.

Aus dieser Perspektive hatten sie die Folgen der Explosion noch nicht erblickt: Die Steilküste war unterbrochen, und eine Halde von Gesteinsschutt reichte bis ins Wasser hinein.

Hirosh setzte sich auf einen größeren Brocken und blickte die Halde hinauf. Ja, es konnte ihm wohl keiner verübeln, wenn er wegen mangelnder Kenntnisse diese Aufgabe ablehnte, im Gegenteil, jeder würde das verstehen und für richtig halten. Und trotzdem wäre es falsch, dieses Argument. Hier waren bestimmte Kenntnisse nicht nötig, die Frage lautete: Willst du es dir aufladen, oder ist es dir lieber, wenn es sich jemand anders auflädt? Eine moralische Frage also; mit harten Worten und ohne Rücksicht auf die empfindliche eigene Seele hieß das: entweder kühn und unbequem leben oder feige und bequem. Komisch, wenn man plötzlich vor eine solche Wahl gestellt wird und sofort handeln muß, dann handelt man kühn und unbequem, aber wenn man erst lange darüber nachdenkt...

Da saß Fox vor ihm, fiepte und hatte etwas im Fang. Hirosh hielt die Hand auf. Was war das? Das war doch - eine Spirale, so eine Art Seestern, wie Elber schon eine gefunden hatte, vor der Explosion. Wo hatte Fox die her?

Hirosh sah, wie das Tier über den Sand hin und her lief, die Nase am Boden, dann zögerte, wühlte - und schließlich mit einer weiteren Spirale ankam.

Jetzt war Elber aufmerksam geworden. Er folgte Fox, und bald war eine dritte ausgegraben.

„Hast du die hier versteckt?“ fragte Hirosh.

Einen Augenblick lang sah Elber verblüfft drein, und Hirosh tat es schon leid, diese Frage gestellt zu haben, nichts ist schließlich peinlicher als ein mißverstandener Spaß, aber dann lachte Elber auf. „Um mich interessant zu machen?“ fragte er. „Dann hätte ich aber gewartet, bis das Raumschiff gelandet ist, und wäre mit Dela hierhergezogen. Aber“, er wurde ernst, „fragen wir doch mal weiter: wenn nicht ich, wer hat sie dann versteckt?“

„Mal sehen, was wir herauskriegen“, antwortete Hirosh und rief Uni. Auch der automatische Dackel war, wie alle menschliche Technik, unvollkommen, ein Kompromiß zwischen dem, was man wollte, und dem, was man konnte: Er hatte für Gerüche ein Unterscheidungsvermögen wie ein echter Hund, er folgte auch Kommandos wie ein Hund, aber ebenfalls wie ein Hund war er nicht in der Lage, Gerüche zu benennen. In diesem Fall mußte Hirosh ihn wie ein Meßgerät benutzen. Er klappte den Rücken des Dackels auseinander, legte ihm die letzte Spirale unter die Nase, die weder Fox noch die bloße menschliche Hand berührt hatte, und drehte an verschiedenen Knöpfen - was man eben so an Meßgeräten macht.

Als Elber mit zwei weiteren Spiralen wiederkam, sagte Hirosh: „Nach irdischen Geruchsmustern liegt hier folgendes vor: erstens - schwere Duftmoleküle mit Siliziumketten im Kern, wie sie beim Erhitzen von Siliziumverbindungen entstehen, zum Beispiel von Sand; zweitens - geringfügige Spuren zerfallender organischer Substanz, das kann nur so viel gewesen sein, wie im Durchschnitt im Ufersand enthalten ist.“

„Kann dein Hund auch feststellen, wie alt die Dinger sind?“ fragte Elber.

„Na ja, jedenfalls sind sie nicht in diesem Augenblick entstanden, nicht in dieser Stunde. Aber auch nicht Monate alt, sonst wären die organischen Gerüche nicht mehr da. Dazwischen ist alles möglich.“

„Vor der Katastrophe waren die hier nicht“, behauptete Elber, „sonst hätte ich nicht nur die eine gefunden, vorher.“

„Und Fox hätte schon früher welche ausgebuddelt, wir sind öfter hier langgegangen“, bestätigte Hirosh. „Das heißt aber...“

„Das heißt“, nahm Elber den Faden auf, „die Dinger sind höchstwahrscheinlich während der Katastrophe hier entstanden, da wäre eine solche Kraftentfaltung am wenigsten aufgefallen. Wenn sie nicht in den letzten Stunden hier versteckt wurden.“

„Aber wozu? Nach der Explosion waren wir doch weg, da war doch hier mit uns nicht mehr zu rechnen?“ fragte Hirosh.

Elber sah überrascht auf. „Du glaubst also auch, es sind Zeichen einer Zivilisation? Und zwar Zeichen für uns?“

Hirosh hob die Arme, „Es ist schwer vorstellbar, was es sonst sein sollte.“

„Meinst du, es sind Warnzeichen?“ Jetzt war Hirosh überrascht. „Wieso Warnzeichen?“

„Nun - immer diese Spirale: in der D-Schicht. Hier auch. Und immer die Erfahrung: Wenn man weiterfliegt, weitergeht, weitertut - gibt’s Ärger!“

Hirosh schüttelte den Kopf. „Zu einfach. Wir dürfen doch davon ausgehen, daß diese Wesen uns haushoch überlegen sind, sie beherrschen Energien und Technologien, von denen wir keine Vorstellung haben. Vor welcher Gefahr sollten sie uns warnen, vor der sie uns nicht auch schützen könnten?“

„Und wenn sie gar nicht mehr hier sind, und das sind alles Warnschilder: Achtung - Abrißgebiet! Betreten auf eigene Gefahr!“

Hirosh schüttelte wieder den Kopf. „Auch zu einfach. Was hier ökologisch vor sich geht, ist nicht Verfall, sondern Rekonstruktion, Wiederherstellung der ursprünglichen Natur, da bin ich jetzt sicher. Die Stoßwellen bereiten nur den Wiedereintritt der natürlichen Gravitation vor. Mir scheint, daß hier ein Prozeß abläuft, an dessen Ende - das vielleicht gar nicht mehr weit entfernt ist - der Planet so aussieht, wie er vor tausend oder zehntausend oder hunderttausend oder meinetwegen auch Millionen Jahren ausgesehen hat. Was dazwischen war, was eine Gesellschaft mit einer veränderten Schwerkraft angefangen hat, wozu sie die Natur umgekrempelt hat und noch mal umkrempelt - da fragst du mich zuviel. Und mir ist auch klar, daß diese Aktionen, die da scheinbar gegen uns gerichtet sind, die erhöhte Schwerkraft und diese Spiralen hier - na ja, die passen eben nicht ins Bild. Dein Schmerzanfall auch nicht, und wenn wir weitersuchen, werden wir noch mehr finden. Das schlimme ist nur: Solange ich der Koch Hirosh bin, kann ich spekulieren nach Herzenslust...“

Er vollendete den Satz nicht, die Fortsetzung konnte sich der Planetologe denken. Der hakte auch sofort ein. „Du mußt das aber annehmen, hörst du? Wir haben doch alles hier erlebt, die vom Raumschiff haben nur davon gehört, im Bericht. Glaubst du nicht, daß das ein gewaltiger Unterschied ist?“

Hirosh winkte ab.

„Und wenn wir uns bloß einbilden, daß sich da jemand um uns kümmert?“ spekulierte Elber weiter. „Wenn das bloß Zufälle sind? Wenn die Leute hier ihren Stiebel vor sich hin machen und sich um uns genausoviel kümmern wie wir uns um die Ameisen auf der Erde, wenn wir über eine Wiese gehen?“

Hirosh fuhr mit dem Kopf herum. „Sag so was nie wieder!“

forderte er streng.

„Schon gut, schon gut“, beschwichtigte Elber. „Also auf dem Planeten sind sie jedenfalls nicht, diese Fremden.“

„Nanu?“ fragte Hirosh. Ihm war sofort klar, daß Elber diese Bemerkung nicht ohne Grund gemacht hatte, da steckte doch etwas hinter, das war deutlich zu hören.

„Ja“, sagte Elber, „ich habe eine Stadt entdeckt. Bei Durchsicht der Satellitenaufnahmen. Aber...“

„Ich denke, du hattest schon alle durch?“

„Ich hab noch mal von vorn angefangen. Vorher hatte ich auf solche geometrischen Formen programmiert, wie wir uns eine Stadt vorstellen, Rechtecke und so. Und als da nichts zu finden war, hab ich mir gedacht: Versuch es doch mal mit einer Spirale.“

„Aber wieso, du sagst doch, sie sind nicht auf dem Planeten?“

„Eben. Die Stadt ist verlassen. Keine Bewegung, keine Unterschiede auf den Bildkombinationen bis auf die äußere Form - spiralige Ausfallstraßen mit Gebäudekomplexen dazwischen.“

Eine Stadt also hatte er entdeckt - deshalb war er überhaupt mitgekommen, deshalb war er so nervös gewesen. Und natürlich wollte er von vornherein sicher sein, daß er die Stadt erforschen durfte.

Hirosh seufzte. Er konnte sich wohl doch nicht um diese Aufgabe herumdrücken.

Der neue CE vollzog die Übernahme seiner Funktion in einer Form, die seiner eigentlichen Arbeit angemessen war: Er gab ein Essen.

Anfangs war die Stimmung zwiespältig. Für die Basisleute, auf dem Planeten sozusagen schon alteingesessen, war dies ein schöner Tag, die Raumschiffleute dagegen empfanden die Licht- und Wetterverhältnisse als düster. Dazu kamen Spannungen zwischen den Chefs, die noch nicht abgeklungen waren - Atacama hatte sich sehr lange gegen die Ernennung Hiroshs gewehrt und eigentlich erst dann nachgegeben, als klar wurde, daß bei weiterem Widerstreben überhaupt nichts zustande kommen würde.

Das Essen aber lobten alle, und so hatte Hirosh darin einen Anknüpfungspunkt für seine Rede, die gehalten sein mußte und die er zwar als notwendiges Übel betrachtete, die er aber trotzdem mit aller Sorgfalt vorbereitet hatte.

„Das Essen schmeckt euch also“, sagte er, „wenigstens versichert ihr mir das. Nun, wir haben in den paar Wochen hier nicht wenige Überraschungen erlebt, ihr werdet es daher hoffentlich nicht als unangebracht betrachten, wenn ich dem eine weitere hinzufüge: Alles, was ihr hier gegessen und getrunken habt, stammt aus der Botanik dieses Planeten, nicht ein Gramm davon war synthetisiert. Ich sehe, ihr staunt zwar, aber es erschüttert euch nicht sonderlich. Darum muß ich euch an etwas erinnern, was ihr zwar in der Schule gelernt habt, was euch aber inzwischen entfallen ist: Erst die Züchtung durch die Gesellschaft schafft Pflanzen, in denen die Nährstoffe so angereichert sind, daß ich daraus unmittelbar ein Essen für uns alle bereiten konnte. Mit anderen Worten - dies ist ein zivilisierter Planet, und wir sollten uns hier zivilisiert benehmen, also unsere Arbeit tun und keinen unnötigen Wirbel veranstalten.

Es ist wahr, die Gesellschaft, der wir alle unsere Überraschungen zuschreiben möchten, befindet sich in einem Zustand, den wir nicht verstehen. Hier geht eine ökologische Umwälzung oder Umstellung vor sich, deren Sinn sich uns verschließt. Sicher ist eigentlich nur, daß diese Gesellschaft sich mindestens in der zweiten Stufe der Zivilisation befinden muß, die durch die Beherrschung der Energiequellen des Fixsterns charakterisiert ist, ihr kennt wohl alle diese Einteilung.

Wir werden also unsere Arbeit tun, ohne die hier ablaufenden Prozesse mehr als notwendig zu stören; vor allem werden wir keine künstliche Gravitation einsetzen außer bei eventuellen Starts und Landungen. Die Leitung der Arbeiten hat Woleg als CB, ihm unterstehen alle außer Atacama und Delawara, die über die Satelliten die Vermessung des Beteigeuze fortsetzen.

Denn unsere ursprüngliche Aufgabe ist nicht eigentlich beiseite geschoben. Nur die Voraussetzungen, unter denen sie gestellt wurde, haben sich geändert. Ursprünglich wurde vorausgesetzt, daß es sich bei den früheren Intensitätsschwankungen und ihrem plötzlichen Aufhören vor sechshundert Jahren um einen natürlichen Prozeß handelte. Unter dieser Voraussetzung war die Suche nach Restschwankungen der einzig richtige und erfolgversprechende Weg. Jetzt aber müssen wir annehmen, daß diese Ereignisse Teil eines technischen Prozesses waren, zu dem ebenfalls gehört, was wir hier erlebten und erleben - in dem Fall wäre das völlige Ausbleiben von Restschwankungen, nun, zwar kein Beweis, aber ein Indiz. Ihr seht, die Beobachtung muß fortgesetzt werden.

Was ist aber nun in der Hauptfrage zu tun - denn als Hauptfrage erscheint uns doch allen der Kontakt mit dieser Gesellschaft?

Dazu muß ich sagen: Ich weiß es nicht, und niemand von uns kann es wissen. Vielleicht hat der erste Kontakt schon stattgefunden - wir können das nicht beurteilen. Da die hiesige Gesellschaft uns eine Etappe voraus ist - mindestens eine -, müssen wir ihr die Wahl der Kanäle überlassen, über die Kontakt gefunden wird. Bei allen eigenen Versuchen in dieser Richtung laufen wir Gefahr, die Hiesigen zu stören oder zu schädigen - ja, zu schädigen, denn nicht nur unfaßbar große Energien spielen hier eine Rolle, sondern auch unfaßbar geringe.

Ich sagte: die Hiesigen, und ich will damit zu einem weiteren Problem überleiten. Es mag geringfügig sein, aber es ist nun mal zu klären. Wir werden sicherlich oft über die Hiesigen sprechen, bevor wir mit ihnen sprechen. Und etwas, worüber man oft spricht, sollte einen Namen haben. In diesem Fall ist es ganz gleich, welches Wort wir wählen, und deshalb folge ich dem Vorschlag Elbers, der ja bekanntlich ihre Stadt entdeckt hat: Nennen wir sie - in Anlehnung an ihren Zentralstern - Geusen. Daß dieses Wort zugleich eine historisch-irdische Bedeutung hat, soll uns nicht stören.

Wenn wir also den Geusen die Wahl überlassen, wie sie mit uns Kontakt aufnehmen, dann soll das doch nicht heißen, daß wir die Hände in den Schoß legen. Soweit unsere Arbeit uns Zeit läßt, werden wir jeder Idee, jeder Hypothese, jedem Vorschlag nachgehen, den wir prüfen können, ohne irgendwelche Prozesse aktiv zu beeinflussen. Ich weiß, das ist ungenau, und es ist im Einzelfall gewiß schwer zu entscheiden, wo die Grenze zwischen passiver und aktiver Beobachtung liegt. Deshalb sollte uns ein Prinzip leiten: Im Zweifelsfall haben die Bedenken Vorrang.

Überhaupt läßt sich jetzt und von hier aus nur wenig darüber sagen, was wir tun werden. Wir werden gewiß die Stadt besuchen - aber alles andere muß zunächst von Tag zu Tag entschieden werden. Um so wichtiger ist jedoch eine gemeinsame grundsätzliche Einstellung. Und da sehe ich leider Anlaß, noch etwas Prinzipielles zu sagen.

Es ist hier in Gesprächen die Ameisenideologie umgegangen. Das ist also die Vorstellung, die Geusen könnten in ihrer Entwicklung so weit von uns entfernt sein wie wir von den Ameisen, oder anders, wir wären für sie sowenig beachtlich wie auf der Erde die Ameisen für uns: Auf der Erde zerstören wir nicht einen Ameisenhügel, weil wir das Leben schützen in allen seinen Formen; aber wir untersuchen beim Gang über einen Waldweg andererseits nicht vor jedem Schritt, den wir tun, den Boden, ob wir auch nicht auf eine Ameise treten - und so weiter und so fort.

Ich möchte mich dazu in aller Schärfe äußern, damit wir uns davon befreien. Diese Ameisenlegende ist einer der - Verzeihung - idiotischsten Gedankengänge, den uns die Vorgeschichte hinterlassen hat. Gesellschaften, Zivilisationen, die die Vorgeschichte hinter sich gelassen haben, erkennen, hüten, fördern einander - das sollte uns doch wenigstens heute, viele Jahrhunderte nach dem Eintritt in die Geschichte, selbstverständlich sein!“