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Ich lag am oberen Rand des Tals, hinter zwei Sträuchern, gegenüber dem Stollen, bewaffnet mit einer Filmkamera, und wartete auf die Ankunft der Wagenkolonne, die für zehn Uhr gemeldet war.

Das Wetter war naßkalt. Niedrige graue Wolken jagten über den Himmel, der Wind nahm die Gelegenheit, daß hier ein Tal den Wald unterbrach, nach Kräften wahr, peitschte die Sträucher vor mir und zerrte an meiner Plane. Ab und zu regnete es ein bißchen. Trotz Unterlage, Plane, Kapuze und warmer Bekleidung war ich schon nach wenigen Minuten völlig durchgefroren.

Unten, vor dem verschlossenen Stollen, waren die Luftkissensockel aufgestellt, auf die die Maschinen montiert werden sollten, sauber ausgerichtet, wie Soldaten in Linie angetreten. Kuriose Gedanken kamen mir. Nur gut, daß die Dinger nicht frieren konnten, es müßte doch schwierig sein, die Maschinen genau aufzusetzen, wenn sie vor Kälte zittern würden. Und ich mußte mir natürlich das Zittern auch noch abgewöhnen bis dahin, was sollte das sonst für ein Film werden…

»Steiger meldet: Kolonne biegt in den Waldweg ein«, plärrte mein Sprechfunkgerät.

»Verstanden. Ich bibbere mich langsam ein!« antwortete ich.

Sepp Könnecke, unser Parteisekretär, hatte die Kolonne vom Lieferbetrieb abgeholt. Er war als einziger außer uns und dem Professor eingeweiht worden. Horst Heilig fuhr als sein Kraftfahrer mit, er hatte sich mit einem Schnauzbart maskiert und sah dadurch sogar einem unserer Kraftfahrer entfernt ähnlich. Werner Frettien wartete am Tor. Es war eine gründliche Kontrolle vorgesehen – der Gegner sollte nicht den Eindruck haben, daß wir ihm sein Geschäft erleichtern wollten.

Da war schon das Brummen der schweren Motoren zu hören – und gerade in diesem Augenblick brach die Sonne durch. Sosehr ich mir das bisher gewünscht hatte – jetzt ärgerte ich mich. Wenn nun die Beleuchtung dauernd wechselte…

Ein Blick zum Himmel zeigte mir, daß es doch eine Weile schön zu bleiben versprach. Ich stellte die Kamera neu ein und hatte sie gerade schußbereit, als der PKW mit dem Parteisekretär und Horst Heilig in das Blickfeld fuhr.

Ich begann zu filmen.

Was sich da unten abspielte, war alles andere als aufregend. Drei LKWs waren nebeneinander aufgefahren, ein Autokran war mitgekommen und ein Kleinbus, aus dem die Monteure stiegen. Mit Zurufen und Gesten wurden die Maschinen, am Kran hängend, auf die Sockel dirigiert und dort befestigt.

Der Brigadier der Monteure zeigte auf einen der Sockel und diskutierte irgend etwas mit Sepp Könnecke, wahrscheinlich stimmte etwas nicht, aber der schüttelte den Kopf und hob die Hände.

Die Kraftfahrer standen an den Kühler des ersten LKW gelehnt und unterhielten sich. Nichts Verdächtiges war zu sehen.

Das Sprechfunkgerät neben mir meldete sich: »Hast du schon etwas bemerkt?«

Das war Horst Heiligs Stimme, er mußte wohl auf einen Sprung zu Werner Frettien gegangen sein, der vom Haus aus die Szene filmte. »Nichts Auffälliges«, sagte ich.

»Macht nichts. Filme weiter. Ich gehe jetzt wieder unter die Leute. Ende.«

Die Monteure beeilten sich wirklich, sie wollten mittags wieder zurück sein, so war es wenigstens vereinbart.

Als der letzte Lastwagen aus meinem Blickfeld verschwunden war, ging Sepp Könnecke zum Stolleneingang. Die Tür öffnete sich, heraus kamen unsere Leute und begannen die Maschinen in den Stollen zu schieben.

Ich blickte zum Himmel – gleich würde es wieder Regen geben, aber das sollte mich nicht mehr interessieren, ich hatte ja meinen Film im Kasten. Ob er uns mehr verraten würde als das bloße Auge?

Wir hatten uns die beiden Filme wohl drei- oder viermal angesehen – und nichts entdeckt. Keiner benahm sich auffällig, versuchte in allen Ecken herumzuschnüffeln oder hantierte mit irgendwelchen Geräten, die eine Miniaturkamera enthalten konnten.

»So kommen wir nicht weiter«, stöhnte Horst Heilig. »Ruhen wir die Augen ein bißchen aus, und denken wir flach.«

Stumm und mit gesenkten Köpfen saßen wir da. Für mich war das ein schreckliches Gefühl. Wir hatten dem Gegner eine Chance gegeben, scheinbar, um sie selbst besser zu nutzen als er, und nun war uns das nicht gelungen!

Oder war der Gegner gar nicht erschienen? Das würde aber bedeuten, daß er begonnen hatte, dem Kontakt Nora zu mißtrauen, und das wäre fast noch schlimmer!

»Es hilft nichts«, sagte Horst Heilig nach einer Weile, »wir müssen die Bewegungen jeder einzelnen Person von Anfang bis Ende gesondert aufzeichnen. Das heißt, nicht jeder Person, wir beschränken uns zunächst auf die Leute, die nach der Nora-Information für diese Aufgabe benannt wurden, das heißt also, deren Teilnahme nicht schon vorher feststand.«

»Das sind fünf Mann«, sagte Werner Frettien.

»Na, das wird ja wohl ohne Computer zu schaffen sein!«

Ich will nun hier nicht schildern, wie wir viele Stunden lang mühsam und mit äußerster Genauigkeit das Verhalten der fraglichen Personen auf Grundrißblättern der INSEL rekonstruierten. Ich muß sagen – als wir das geschafft hatten, war ich so erschöpft wie selten. Aber Horst Heilig duldete keine Pause.

»Wir diskutieren jetzt jede einzelne Bewegung jedes dieser fünf vom Standpunkt der Motivierung!« ordnete er an.

Es war tief in der Nacht, als wir endlich auf ein Verhalten stießen, für das sich aus der Anschauung allein keine Begründung finden ließ. Einer der Kraftfahrer hatte sich für kurze Zeit von den anderen getrennt, war ein paar Schritte in die Mitte des Tals gegangen, hatte sich dort umgedreht, als habe er etwas vergessen – und war zur Gruppe der Kraftfahrer zurückgekehrt. Ein harmloser Vorgang; nur, was wollte der Mann? Er wiederholte diesen Gang später nicht und trennte sich auch nicht wieder von den anderen.

»Das sehen wir uns jetzt noch mal an!« schlug Horst Heilig vor. Wir ließen den betreffenden Ausschnitt aus beiden Filmen laufen, sowohl aus dem von mir von oben aufgenommenen als auch aus dem von der Seite. Keinerlei Gerät war erkennbar, aber etwas anderes fiel uns jetzt auf: ein sonderbarer Gang. Wir vergrößerten den Ausschnitt und entdeckten zu unserer Verblüffung: Der Mann ging mit geschlossenen Augen. Als er anhielt, riß er die Augen weit auf, drehte sich langsam, schloß sie wieder und ging zurück. Wann er die Augen wieder öffnete, konnten wir nicht sehen, da wir ihn mit dem Rücken im Bild hatten. Auch der Abgang mit geschlossenen Augen war eine Schlußfolgerung aus dem Gang, den wir mit früheren und späteren Bewegungen derselben Person verglichen.

»Als ob er seine Augen als Kamera benutzt hätte!« sagte Werner. »Aber das ist doch viel zu unpräzise, was soll der Gegner damit anfangen! Und ein Glasauge wird er ja wohl nicht haben – als Kraftfahrer!« warf ich ein.

»Noch mal den ganzen Film, und achtet genau auf den Mann, vor allem zu Anfang!« befahl Horst Heilig.

Der Film war erst wenige Minuten gelaufen, als er ihn anhielt. Der vergrößerte Ausschnitt zeigte: Unser Mann nahm irgendeine Tablette. »Das ist es – Psychopharmaka. Für kurze Zeit wird die Aufnahmefähigkeit des Gehirns potenziert. Alles klar.«

»Greifen wir uns den Mann?« fragte Werner.

»Wir können ja mal nachfragen, aber ich wette, der ist nicht mal in Jena angekommen!«

Wie lange war es eigentlich her, daß sich die Storos noch mit Dreiecken, Würfelchen und dem Einmaleins beschäftigt hatten? Erstaunlicherweise nur vierzehn Tage – und inzwischen hatten sie ein großes naturwissenschaftliches Pensum und dazu so etwas wie eine Grundausbildung praktischer Fertigkeiten absolviert! Aber erstaunlich war das eigentlich nur, wenn man fälschlicherweise menschliche Maßstäbe anlegte. Wenn die Basis einmal geschaffen war, mußte der Storo auf Grund seiner Konstruktion alles logisch strukturierte Wissen mit außerordentlicher Geschwindigkeit aufnehmen und ebensoschnell Bewegungsabläufe optimieren, also vergleichsweise: Geschicklichkeit erwerben.

Heute betrachtet man dergleichen natürlich nüchtern, drückt es in Zahlen und Formeln aus, die in jedem einschlägigen Lehrbuch stehen, und niemand fällt es ein, sich darüber zu wundern. Damals, als das alles erst experimentiert und ermittelt und gedanklich aufbereitet wurde, lag der Vergleich mit dem Menschen, dessen Stelle ja der Storo in gewissem Sinne einnehmen sollte, ständig in der Luft. Sogar der Professor hatte eingesehen, daß man ohne diesen Vergleich nicht auskam, und wandte nun seine Aufmerksamkeit darauf, daß der Vergleich nicht die Grenzen des Erlaubten übersprang und daß man vom Vergleich, wenn er schon unumgänglich war, möglichst schnell wieder auf Berechnung und Blockschaltbild und Systemanalyse des Storo zurückkam. Und ich muß hier bemerken, wenn es auf diesem Gebiet nicht zu Fehlern kam, zu Ereignissen, mit denen ich diese Sorge des Direktors als berechtigt belegen kann, so ist das wahrscheinlich eben gerade dieser Sorge zu verdanken. Ich habe überhaupt immer gefunden, die Kunst des Leiters ist dort am höchsten zu bewerten, wo sie sich am wenigsten auffällig zeigt. Denn den richtigen Weg gehen die Leute fast von selbst, wenn man ihnen sagt, welches die falschen Wege sind. Wenigstens in einer Gesellschaft, in der es keine unüberbrückbaren Interessengegensätze gibt.

Einen solchen Vergleich mit dem Menschen erlebte ich bei der Ausbildung in. Prozeßsteuerung. Natürlich kämpfte hier nicht der Arbeiter mit dem Hammer im Wettlauf gegen eine hochproduktive Maschinerie wie in kapitalistischen Frühzeiten der legendäre John Henry, ein farbiger Bergarbeiter, von dem viele Lieder der amerikanischen Arbeiterbewegung singen. Hier war nur der Storo direkt an die Stelle eines Menschen gesetzt, indem nämlich ein tatsächlich stattgefundener Prozeß simuliert wurde und daher die Reaktionen des Storo verglichen werden konnten mit denen, die der Anlagenfahrer in der Praxis ausgeübt hatte.

In diesem Prozeß gab es zwei interessante Stellen, um derentwillen er ausgesucht worden war. Da waren nämlich gleich zwei Abweichungen aufgetreten. Es handelte sich um einen Vorgang der chemischen Produktion, und an einer bestimmten Stelle des Prozesses war eine Verunreinigung eines der Ausgangsstoffe aufgetreten, die das zulässige Maß weit überstieg und den Prozeß aus dem Gleichgewicht brachte. Etwas später dann hatte es in der Steueranlage einen kleinen, unwesentlichen Defekt gegeben, einen Wackelkontakt, der eins der Anzeigelämpchen ständig flackern ließ.

Die Steueranlage bestand aus fünf Hauptanzeigern, die die entscheidenden Parameter wiedergaben und deren Anschlag zwischen einer oberen und einer unteren Grenze gehalten werden mußte, und fünf Schaltern, mit denen diese Parameter beeinflußt werden konnten. Wenn das nun alles gewesen wäre, hätte es dazu weder eines Anlagenfahrers noch eines Storo bedurft, dazu hätten fünf einfache Relais genügt. Tatsächlich aber beeinflußten die Parameter sich gegenseitig, und zwar um so mehr, je näher sie der oberen oder unteren Grenze kamen. Das heißt also: Im normalen Verlauf des Prozesses genügte es, mal hier und mal da einen Schalter zu bewegen. Traten aber Komplikationen ein, mußte auf Grund von Erfahrung und Kenntnis des Prozesses entschieden werden. Deshalb waren noch eine Reihe von Hilfsanzeigern in Form von Lämpchen, Skalen und dergleichen auf dem Steuerpult angebracht.

Wir wußten natürlich, wie der Anlagenfahrer mit diesem Prozeß fertig geworden war, und waren aufs äußerste gespannt, wie unsere Storos die Probleme lösen würden. Um es vorwegzunehmen: Sie lösten die Probleme im wesentlichen gleich, und wenn ich mich hier auf Caesar beschränke, der zuerst an die Reihe kam, weil er am weitesten fortgeschritten war, so gilt doch das gleiche für Anton und Berta.

Caesar saß also vor einem Steuerpult, wie ich es in Umrissen beschrieben habe, und eine kleine Datenverarbeitungsanlage simulierte den Prozeß entsprechend der realen Vorlage, aber wiederum so, daß eventuelle andere Verhaltensweisen des Storo entsprechend dem Charakter des chemischen Prozesses auf die Schalttafel zurückwirkten, also nicht fest programmiert, sondern an Hand eines mathematischen Modells.

Selbstverständlich war Caesar in den chemischen Prozeß selbst eingeweiht, die wichtigsten Zusammenhänge und auch Erfahrungen mit bereits aufgetretenen Störungen waren ihm eingegeben worden. Er war also im wesentlichen mit dem »Wissen« ausgerüstet, das einem Anlagenfahrer auch zur Verfügung stand.

Der Prozeßverlauf dauerte knapp vier Stunden – zum erstenmal wurde ein Storo so lange beschäftigt, praktisch die Zeit, für die eine volle Akku-Ladung ausreichte.

In den ersten zwei Stunden, in denen der Prozeß normal lief, das heißt ohne größere Abweichungen, die komplizierte Regulierungen erforderlich gemacht hätten, ereignete sich nichts Besonderes. Sichtbar wurde nur, daß der Storo schneller reagierte und folglich den Prozeß effektiver führte, als der Anlagenfahrer es getan hatte. Wir warteten alle auf den entscheidenden Moment, auf die erste größere Störung. Aber warten hieß in diesem Fall nicht untätig sein. Wir hatten ein Protokoll des Anlagenfahrers zur Verfügung, in dem dieser sein Regelverhalten begründete und analysierte, und wir studierten es wieder und wieder.

Die Störung hatte sich angekündigt durch einen Ausschlag der Hauptanzeiger zwei und fünf nach oben, worauf sofort ein Ausschlag des Hauptanzeigers vier nach unten folgte, sowie verschiedener Nebenanzeiger. Der Anlagenfahrer hatte dafür drei mögliche Gründe erwogen und sich für den wahrscheinlichsten entschieden, mit der Einschränkung, die Regulierung zu verändern, falls sich das an Hand der Ergebnisse als falsch herausstellen sollte. In seiner nachträglichen Einschätzung stellte er fest:

»Die gründliche Analyse der Stellung der Haupt- und Nebenanzeiger hätte zwar eindeutig ergeben, daß meine Vermutung richtig war, aber dazu reichte die Zeit nicht. Ich wählte also eine Regulierung, die in ihren ersten Schritten wenigstens nicht geschadet hätte, falls einer der beiden anderen Fälle zugetroffen hätte und orientierte mich an ihren Ergebnissen.

Ich hob den Parameter drei soweit an, daß der Hauptanzeiger etwas über der oberen Grenze stand. Damit war keine Gefahr für die Anlage verbunden, denn sie ist bis zur sechsfachen Belastung abgesichert. Die folgenden Prozeßreaktionen bestätigten die Richtigkeit meiner Vermutung, und mit folgendem Regulierungsschema gelang es mir, den Prozeß im Laufe von fünf Minuten wieder zu normalisieren.«

Ich spare mir hier das Schema, das nur aus Buchstaben und Ziffern bestand und – ohne die dazugehörige Armatur – mehr Verwirrung als Klarheit bringen würde. Wir hatten es alle in der Hand und verfolgten gespannt das Vorrücken des Uhrzeigers. Noch zehn Sekunden…, noch fünf…, jetzt!

Caesar verhielt sich anders. Er regulierte den Hauptanzeiger eins unter und den dritten bis an die untere Grenze, und nach Ablauf von drei Minuten hatte sich der Prozeß wieder normalisiert. Unwillkürlich brachen wir – wie bei einer Theatervorstellung – in Szenenbeifall aus. Wenn das mathematische Modell stimmte, hatte Caesar eine viel effektivere Regulierung entdeckt!

Aber das würde eine nachträgliche Untersuchung der Fachleute bestätigen müssen. Viel wichtiger war zunächst einmal, was Gerda Sommer feststellte: »Ich habe die Reaktionszeit gestoppt – sie entspricht dem Mindestwert für die Zuschaltung des A-Zentrums. Das bedeutet, Caesar hat die Ursache für die Störung sofort eindeutig klassifiziert!«

Das war ein relativer Erfolg – ich betone relativ, denn wir mußten uns über die folgenden Einschränkungen klar sein und waren uns auch klar darüber, wie die Diskussion ergab, die sich über eine Viertelstunde hinzog, bis kurz vor Auftreten der zweiten Störung.

Die erste Einschränkung war, daß wir es hier mit einem Prozeß zu tun hatten, dessen Regulierungsmechanismus auf den Anlagenfahrer zugeschnitten war. Ein Storo konnte viel schneller weit mehr Daten verarbeiten, war also hier nur an der unteren Grenze seiner Leistungsfähigkeit beansprucht. Nicht nur die Regulierung, sondern auch die Prozesse selbst, für die der Storo vorgesehen war, würden einen anderen Zuschnitt haben.

Die zweite Einschränkung bestand in folgendem: Beide, der Anlagenfahrer und der Storo, hatten zur Regulierung jeweils eine Begrenzung der Hauptparameter überschritten. Aber es war als sicher anzunehmen, daß der Anlagenfahrer eine sehr große Über- oder Unterschreitung der Grenzen nicht benutzt hätte, selbst wenn sie innerhalb der Sicherheitsgrenzen gelegen hätten, weil damit Gefahr für die Anlage und für ihn selbst verbunden gewesen wäre. Das erste ist ein moralisches, das zweite ein subjektives Motiv. Beides, Moral und Subjektivität, hat aber der Storo nicht. Es müßte also in weiteren, gezielten Versuchsreihen geprüft werden, wie sich der Storo in solchen Grenzfällen verhalten würde.

Ich muß hier noch eine Bemerkung anfügen, weil vielleicht die Frage entstehen könnte: Wenn man ein mathematisches Modell des Prozesses anfertigen kann, wozu braucht man dann überhaupt noch Anlagenfahrer oder Storo?

Dazu wäre zu sagen, daß dieses Modell speziell für uns angefertigt wurde – und nur ein Modell dieses speziellen Prozeßablaufs war. Wenn man sich vorstellt, daß allein die fünf Hauptparameter mit ihren je drei Möglichkeiten (zu hoch, richtig, zu niedrig) insgesamt drei hoch fünf gleich zweihundertdreiundvierzig Stellungsmöglichkeiten ergaben und daß dabei noch nicht einmal die Nebenanzeiger berücksichtigt waren, dann erledigt sich diese Frage von selbst.

Immer näher rückte nun der Zeitpunkt, an dem das bewußte defekte Lämpchen anfangen würde zu blinzeln.

Der Anlagenfahrer hatte dazu in seinen Aufzeichnungen bemerkt: »Da das periodische Aufleuchten des Lämpchens keine unmittelbare Auswirkung auf die Stellung der Hauptanzeiger hatte, beschloß ich zunächst abzuwarten. Da auch weiterhin Folgen ausblieben, schloß ich auf einen Wackelkontakt und verzichtete auf Regulierung.«

Und was tat Caesar?

Jedesmal, wenn das Lämpchen aufleuchtete, regulierte er es aus. Die Folge war, daß einige der Hauptparameter ständig schwankten, mal zur oberen, mal zur unteren Grenze, und das bedeutete für den chemischen Prozeß selbst Effektivitätsverlust, geringere Ausbeute!

In diesem Fall war er also offenkundig dem Menschen unterlegen.

So kam es, daß der zweite Fall zum Hauptgegenstand der Diskussion wurde, die sich über Stunden hinzog.

So einfach die Sache auf Anhieb zu sein schien, so schwierig war sie in ihren Konsequenzen, und die wollten ja erst einmal aufgedeckt sein!

Nora Siebenstein, die sich mit der Komposition von Arbeitsabläufen aus vorgefertigten Teilprozessen befaßte, analysierte die Vorgänge im Storo zunächst so: »Störsignal, für das keine vorgefertigte Verhaltensweise vorliegt – Einschaltung des A-Zentrums – Synthetisierung einer zweckmäßigen Verhaltensweise und erfolgreiches Abspiel am Innenmodell – Ausführung – Scheinerfolg durch Verlöschen des Lämpchens – Festigung der Verhaltensweise – Abschaltung des A-Zentrums. Bei jedem folgenden Auftreten des Störsignals wird das A-Zentrum erneut aktiviert, da die Verhaltensweise dort gespeichert ist. Infolgedessen erhöhte Aufmerksamkeit für diese Störung, da einfaches Schwanken der Hauptparameter nur vorgefertigte Verhaltensweisen und nicht das A-Zentrum beansprucht. Infolgedessen ständige Wiederholung des Vorgangs.«

»Also primitiv ausgedrückt«, fragte ich, »der Storo nimmt eine Störung, deren Erkennen schwieriger ist, wichtiger als eine einfache, die aber für den Prozeß wesentlicher ist?«

»So könnte man sagen.«

»Aber warum erkennt er das nicht als Wackelkontakt? Hat er das noch nicht gelernt?«

»Doch. Aber er würde, bildlich gesprochen, den Fehler erst dort suchen, wenn es keinen Zustand des chemischen Prozesses gäbe, der dem Aufleuchten des Lämpchens entspricht. Der Mensch verzögert die Entscheidung, weil er diesen Unterschied nicht so schnell feststellen kann, und ist durch seine Langsamkeit in diesem Fall effektiver.«

Natürlich lag der Hauptgrund für diese Unterschiede darin, daß das innere Umweltmodell des Storo erst in Ausbildung begriffen war. Dennoch enthüllte sich hier wieder einmal der Wesensunterschied zwischen Mensch und Roboter, der bei der weiteren Ausbildung der Storos noch viel differenzierter berücksichtigt werden mußte. Für den Menschen ist das Ziel des Prozesses, also die Wirklichkeit der entscheidende Maßstab, für den Storo die Übereinstimmung mit dem inneren Umweltmodell, das für den Menschen, als gesellschaftliches Wesen, nur Mittel zum Zweck ist. Gerade deshalb durfte aber auch beim Storo das, was beim Menschen Vernachlässigung unwesentlicher Faktoren war, nicht zugelassen werden.

Und noch etwas trat zutage, das uns noch lange beschäftigen sollte. Es wurde der Vorschlag gemacht, den Versuch zu wiederholen, und zwar mit einer genaueren Aufgabenstellung: Die Hauptanzeiger sollten nicht innerhalb bestimmter Grenzen, sondern möglichst nahe am Mittelwert zwischen den bisherigen Grenzen gehalten werden.

Wir wiederholten nicht den ganzen Versuch, sondern nur den Mittelteil, in dem die beiden Störungen auftraten, mit der neuen Zielstellung. Mit der ersten wurde Caesar genauso fertig wie beim erstenmal, aber bei der zweiten versagte er, schwankte hektisch zwischen dem Verhalten beim ersten Versuch und allerlei anderen Regulierungen, so daß wir schnell abschalten mußten. Sein Innenmodell reichte noch nicht aus, dieser Aufgabenstellung gerecht zu werden.

Das war das erste Mal, daß uns die schwierige Dialektik zwischen Auftrag und Innenmodell deutlich vor Augen geführt wurde, die künftig einen entscheidenden Platz in der Theorie der Storos einnehmen sollte.

Horst Heilig hatte schlechte Nachrichten aus Moskau mitgebracht. Dem Gegner war es tatsächlich gelungen, mit seinem massiven ideologisch-politischen Störfeuer in einigen antiimperialistischen Ländern gewisse Wirkungen zu erzielen. Der RGW hatte es deshalb für angebracht gehalten, uns eine Delegation zu schicken, darunter auch Leute aus jenen Ländern, damit sie sich durch Augenschein von der Zweckmäßigkeit der Storos überzeugen konnten.

»Du kannst Gift drauf nehmen, daß sie da einen Mann aus ihrer Gruppe einschmuggeln!« sagte Horst Heilig ärgerlich.

»Treffen wir eben die nötigen Vorsichtsmaßregeln!« sagte ich.

Horst Heilig verdrehte die Augen. »Das läuft doch alles unter diplomatischem Protokoll, da kannst du doch nicht am Tor die Aktentaschen vorzeigen lassen! – Aber das soll uns jetzt noch nicht beschäftigen, jetzt sind erst mal andere Dinge nötig.«

Ich begriff. »Wir müßten der Delegation Beweise vorlegen über die Arbeit des Gegners.«

»Genau. Die wirklichen Pläne des Gegners, das Abzielen auf eine Katastrophe, das müßte klar werden. Wir müßten jemand aus dem Kern der Gruppe haben und ihn dazu bewegen, daß er aussagt. Den angeblichen Brasilianer. Ja, den werden wir uns kaufen. Ich meine, schnappen. Das hieße – übrigens, hat dir Werner schon erzählt, was unser Mann in Jena alles festgestellt hat?«

Ja, das wußte ich schon. Nora und ihr Kubaner hatten einen Stammtisch in dem kleinen Café, das sie immer besuchten. Ein Kellner befestigte vorher ein Magnettongerät unter der Tischplatte. Der »Brasilianer« holte es später immer ab.

»Das hieße«, entwickelte Horst Heilig seinen Gedanken weiter, »wir müßten zum Schein Nora und Manuel verhaften und kurze Zeit später den Brasilianer. Dazu den V-Mann, der den toten Briefkasten leert. Ist ja wieder eine diplomatische Kiste, hol’s der Teufel!«

»Was – mit Manuel? Und wenn er einverstanden ist?«

»Geht es trotzdem nicht ohne Abstimmung mit seiner Botschaft. Es kommt doch gerade darauf an, daß seine Scheinverhaftung echt aussieht und bekannt wird! Sonst entwerten wir den Kontakt Nora!«

»Der ist dann sowieso zu Ende. Schneiden wir uns damit nicht ins eigene Fleisch?«

»Wenn wir ihn nicht abbrechen, bricht der Gegner ihn ab. Er sagt sich doch, irgendwann müssen wir ja dahinterkommen, und daß wir in Vorbereitung auf die Delegation besonders aufmerksam sind, kann sich jedes Schulkind an den zehn Fingern abzählen. Aber vorher müssen wir über Nora noch einen neuen Kontakt anknüpfen, möglichst einen, der für den Gegner ergiebiger aussieht. Und der kann sich gleich dadurch als fruchtbar erweisen, daß er die bevorstehende Verhaftung von Nora ahnen läßt. Und das muß wieder zeitlich so abgestimmt sein, daß der Gegner die Information erhält, bevor wir zuschnappen, aber zu spät, daß er noch was dran ändern kann. Und wiederum rechtzeitig, daß wir den Knaben noch zur Aussage vor der Delegation bringen, ich meine, den Brasilianer. Und das alles muß in vier Wochen abgewickelt sein, da kommt nämlich die Delegation. Na, nun wirst du nicht mehr jammern, daß du immer bloß Beobachter spielen mußt.«

»Ich jammere ja nicht!« betonte ich.

»Aber du denkst, du hättest Grund dazu. Laß man, ich begreif dich ja. Aber du mußt verstehen, du bist unser Trumpf-As in der letzten Phase der Auseinandersetzung, ich werfe dich jetzt nur ungern ins Gefecht. Andererseits hilft es dir vielleicht, Erfahrungen zu sammeln, ein Gefühl für den Gegner zu kriegen…«

Heute weiß ich, daß ich das damals immer noch nicht begriffen hatte. Erst in der Endphase verstand ich wirklich den Sinn dieser Lehrzeit – denn trotz aller Einbeziehung in die laufenden Aufgaben war sie das. Damals fühlte ich mich von dem »Trumpf-As« leicht gekränkt – welch dummer Stolz gerade bei einem, der sich beruflich mit Spieltheorie beschäftigt!

Ich ließ mir aber meinen dummen Stolz nicht anmerken. Im Gegenteil, um Horst Heilig so schnell wie möglich auf die angekündigten Einsatzmöglichkeiten für mich festzunageln, brachte ich die Unterhaltung auf die sachliche Bahn zurück.

»Und wen nehmen wir für diesen Kontakt?«

Horst Heilig spielte mit einem Lineal, das er mit den Enden zusammenbog und wieder auseinanderschnellen ließ.

»Ja, das ist die schwierigste Frage«, sagte er. »Es muß jemand aus der Spitze der INSEL sein. Was hältst du von – Doktor Krause?«

»Doktor Ilona Krause?« fragte ich ungläubig.

»Warum nicht? Keine privaten Vorurteile bitte! Erstens weiß sie von dem Kontakt Nora, sie ist also innerlich schon ein bißchen vorbereitet. Mindestens hat sie schon mal darüber nachgedacht, wie sie sich in solchem Fall verhalten würde. Zweitens ist sie klug. Drittens eine couragierte Person. Weißt du übrigens, daß sie ausgezeichnet schießt? Siehst du, weißt du nicht. Mehr Massenverbundenheit, Genosse! Aber laß man, ich weiß es auch nur zufällig, ich hab’ sie mal auf dem Schießstand getroffen.«

Wir hatten uns in einem abgelegenen Teil des Stollens einen Schießstand eingerichtet, natürlich wurde da nicht mit Patronen geschossen, sondern mit Laserblitzen, aber da ich meist dorthin ging, wenn die anderen mit den Storos arbeiteten, hatte ich außer unseren Leuten von der Sicherungsgruppe und der Wachmannschaft noch niemand dort getroffen.

»Und wie stellen wir das an?« fragte ich ziemlich hilflos, wie ich zugeben muß. Horst Heilig hatte auch das schon bedacht.

»Natürlich können wir ihr keinen Liebhaber aufschwatzen wie Nora«, sagte er lächelnd. »Aber Wiederholungen wären sowieso von vornherein verdächtig für den Gegner. Sag mal, haben Wissenschaftler nicht manchmal die Gewohnheit, Papiere mit nach Haus zu nehmen, um am Wochenende daran zu arbeiten – auch wenn das gegen die Vorschriften verstößt? Sie wohnt sehr schön, hab’ ich mir sagen lassen, allein in einem Einfamilienhaus mit einer verglasten Veranda, die jeder Amateureinbrecher leicht aufkriegt, und sie schläft im ersten Stock.«

»Woher weißt du denn das alles?«

»Ganz einfach – ich hab’ sie gefragt. Unter dem Vorwand, daß wir den Schutz für unsere leitenden Genossen organisieren müssen.« Sein lächelndes Gesicht wurde für einen Augenblick ernst. »Das kann übrigens auch noch auf uns zukommen. – Aber sie war jedenfalls kein bißchen ängstlich.«

»Das freut mich aber!« sagte ich trocken.

Horst Heilig runzelte die Stirn, lachte dann aber wieder. »Gut, ich werte das nicht als Vorurteil, sondern als Zustimmung. Ich bin mit ihr im Schießstand verabredet. Kommst du mit?«

Dr. Krause schoß tatsächlich ausgezeichnet. Genauer: Sie schoß bedeutend besser als wir beide.

»Familientradition«, kommentierte sie. »Ich stamme aus Suhl. – Aber wir haben uns ja wohl nicht deshalb getroffen, damit Sie meine Schießkünste bewundern können.«

Horst Heilig unterbreitete ihr unser Anliegen. Sie schoß dabei ungerührt weiter.

»Sehr sinnreich, das auf dem Schießstand zu besprechen.« meinte sie.

Horst Heilig nahm ihre Bemerkung witzig. »Eine Pistole brauchen Sie dazu nicht«, sagte er lachend, »nur Nerven. Aber wenn es Sie beruhigt, können wir auch…«

»Genau das hab’ ich gemeint«, sagte sie, ohne eine Miene zu verziehen. »Zum Schießen braucht man nämlich auch Nerven. Außerdem einen scharfen Blick. Und Beherrschung. Aber wem sag’ ich das?«

»Sie sind also einverstanden?«

»Hab’ ich das nicht gesagt? Ja.«

»Und Sie werden an den Wochenenden schlafen können, obwohl Sie wissen, daß unten in Ihrem Haus jemand in den Papieren kramt?«

»Ja.«

»Wir können Ihnen keine Leibgarde stellen, das würde auffallen. Ihre Sicherheit hängt von Ihren Nerven ab. Und von unserem Geschick in der Auswahl der Informationen. Haben Sie das nötige Vertrauen zu uns?«

Dr. Krause streifte uns mit einem Blick und wandte sich wieder der Zielscheibe zu.

»Natürlich«, sagte sie.

»Dann sind Sie sicher«, erklärte Horst Heilig, »denn der Gegner wird die Kuh nicht schlachten, die ihm die Milch liefert – Himmel, was hab’ ich denn jetzt gesagt!«

Zum erstenmal bemerkte ich, daß Dr. Krause auch Humor hatte. Sie lachte über Horst Heiligs Entgleisung, und wir lachten mit.

»Also gut, den ersten Besuch werden Sie frühestens in vierzehn Tagen bekommen, also beim übernächsten Wochenende. Den wissenschaftlichen Teil besprechen Sie mit Doktor Tischner. Ihre Verbindung wird überhaupt im wesentlichen über ihn laufen. Übrigens, wo und in welcher Art machen Sie Notizen, wenn Sie sich irgendeine Randerscheinung, ein Detail merken wollen, die Führung von Menschen betreffend?«

»Selten. Wenn, dann meist im Notizkalender, ich bin da konservativ, Anfangsbuchstaben des Namens und ein oder zwei Worte.«

»Gut, wir müssen einen neuen Notizkalender präparieren, aus dem alles Wichtige verschwindet, was jetzt schon drinsteht. Genosse Tischner wird das mit Ihnen durchgehen. Wichtig ist für uns folgendes: In der nächsten Woche muß die Notiz erscheinen: N. S. quatscht zuviel ’rum. Natürlich in dem Stil, der zu Ihnen paßt.«

»Damit wird Nora nicht gefährdet?« fragte sie.

»Im Gegenteil, damit wird sie für den Gegner uninteressant. Gefährdet würde sie, wenn wir ihren Kontakt nicht abbrechen würden.«

»In Ordnung«, sagte sie und packte ihre Pistole ein. Ich verabredete mit ihr Termin und Vorwand unseres nächsten Treffens. Wir verabschiedeten uns.

Sie zögerte noch etwas, blickte uns plötzlich voll an und sagte mit unerwartet warmer und ein wenig bebender Stimme: »Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen!«

Dann drehte sie sich um und ging sehr schnell weg.

»Da siehst du mal!« sagte Horst Heilig zu mir und hob die Augenbrauen.

»Ich sehe«, sagte ich selbstkritisch.

Wir schossen noch eine Weile. Mal lag Horst Heilig vorn, mal ich. An dieses lautlose Schießen mußte ich mich erst gewöhnen, ich hatte am Anfang immer das Gefühl, die Waffe habe versagt.

»Eins möchte ich übrigens noch von dir wissen«, sagte Horst Heilig nach einer Weile. »Kannst du schon genauer sagen, wo die kritische Stelle beim Storo liegt?«

»Nach dem jetzigen Stand – in der Abstimmung zwischen Auftrag und innerem Umweltmodell.« Ich erzählte ihm von dem Versuch.

»Ist das unser Geheimnis, oder kann auch der Gegner, sagen wir durch theoretische Ableitungen, darauf kommen?«

Ich zögerte mit der Antwort. »Ich glaube ja – daß er es könnte, meine ich. Aber ich müßte noch mal die Literatur durchforsten.«

»Tu das bitte. Und zur Beurteilung der Sachlage, was brauchte er da am dringendsten?«

»Die Metasprache.«

»Und wie könnte ein Mitglied dieser Delegation da herankommen?«

»An das Original nicht. Aber es würde schon genügen, wenn ihm ein Band mit Aufträgen in die Hand fällt. Und da wir die Storos bei der Arbeit vorführen müssen, wird es davon eine ganze Menge geben. Die arbeiten nämlich dann schon im Vierundzwanzigstundenrhythmus, alle vier Stunden ist Rapport und Auftragserteilung, also…«

Ich führte den Satz nicht zu Ende, sondern schoß.

»Mach dir mal Gedanken, was wir da vorbereiten. Und sieh zu, daß du auch dabei ins Schwarze triffst!«

Nora kam zu mir mit einer Idee.

»Man könnte die Sicherheit bei der Übereinstimmung Auftrag-Modell erhöhen, wenn man den Rapport-Auftrag-Austausch besser nutzen würde«, sagte sie. »Bisher ist es so geplant, daß der Storo, wenn er sich nach vier Stunden neu auflädt, Bericht erstattet an die Leitanlage und gegebenenfalls neue Aufträge empfängt. Wenn man nun unter Ausnutzung der Sollsatzlogik erreichen würde, daß er sofort auch den Auftrag am Modell abspielt und ihn sozusagen mit dem Leitgerät diskutiert?«

»Man könnte es das Rückfrage-Prinzip nennen«, schlug ich vor.

»Ja, das ist ein guter Name. Soll ich das mal für den Beirat vorbereiten?«

»Unbedingt!« sagte ich. »Und nun paß auf, etwas Neues. Bei eurem nächsten Café-Besuch mußt du dich ärgerlich über Doktor Krause äußern. Die olle Zicke – ich gebrauche nur deine Worte, entsinnst du dich? – die olle Zicke hat mich wieder angemeckert, dabei soll sie sich mal an die eigene Nase fassen, sie verstößt ja auch dauernd gegen alle Vorschriften und nimmt am Wochenende Material mit nach Hause. Klar?«

Nora hielt den Kopf gesenkt.

»Mach’ ich«, sagte sie leise.

Etwas an ihrem Ton ließ mich aufhorchen.

»Ist irgendwas nicht in Ordnung?« fragte ich.

»Doch, doch, alles in Ordnung«, sagte sie, ohne mich anzusehen.

»Na, komm, sprich dich aus!«

Ihre Schultern zuckten. »Ich kann das nicht mehr!« stieß sie plötzlich hervor. »Der Junge freut sich jedesmal auf das Wiedersehen, und…, und…« Und unerwartet leise fügte sie hinzu: »… und ich auch.«

»Verliebt?«

Sie nickte. Dann sagte sie: »Ich fürchte, mehr.«

»Ist doch kein Grund zum Fürchten.«

Sie schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht.«

»Und was weiter?« fragte ich.

»Das ist es ja eben – was weiter! Wie soll das weitergehen! Was soll daraus werden! Ich kann nicht ein Spiel spielen, wenn ich…, und wenn das mal zum Platzen kommt, dann ist alles aus!«

»Nun verlier mal nicht den Kopf, wenn du schon das Herz verloren hast«, versuchte ich sie zu trösten. »Ist dir klar, warum du das über Doktor Krause sagen sollst?«

»Sie sollen sich das da angucken?«

»Ja. Und in dem Moment werdet ihr beide aus dem Verkehr gezogen, du und Manuel. Sogar im wörtlichen Sinne: Ihr werdet zum Schein verhaftet und selbstverständlich gleich wieder freigelassen. Manuel wird noch darauf vorbereitet, aber keine Angst, das brauchst du nicht zu tun, das machen wir. Und er wird das schon verstehen, wenn er…, na, also, wenn er es wert ist, daß du – na, du weißt schon, wie ich’s meine.«

Sie nickte, nun lächelnd. »Aber ich möchte dabeisein!« sagte sie.

»Wir werden versuchen, es so einzurichten«, versprach ich.

Der Mai war gekommen, und mit ihm das Hochgefühl, das diese Jahreszeit im allgemeinen begleitet. Die besondere Lebens- und Arbeitsfreude, die uns alle erfüllte, hatte aber nicht nur klimatische Ursachen. Hinzu kam, daß wir dem ursprünglichen Plan um fast einen Monat voraus waren. Das war nun zwar keine so überwältigende Leistung, wie es sich vielleicht anhört, denn der ursprüngliche Plan war notgedrungen, was die Termine betraf, sehr vage gewesen und hatte viele Reserven enthalten, und es stand auch noch gar nicht fest, ob wir diesen Vorsprung würden halten können, denn die schwierigsten Abschnitte lagen noch vor uns – aber man wird verstehen, daß es uns Schwung und auch das Gefühl der Sicherheit gab.

Wir konnten also schon jetzt mit dem Vierundzwanzigstundenbetrieb der Storos anfangen. Damit begann die vorletzte Etappe unserer Arbeit, die produktive Ausbildung. In diesem Abschnitt, für den etwa zwei Monate vorgesehen waren, sollten die Storos selbst die technischen Voraussetzungen für die letzte Etappe schaffen, in der sie unter starker Belastung produktiv arbeiten sollten: Anton bei starkem Druck und hoher Temperatur im Bergbau, Berta in der Vakuumtechnik und Caesar in der Kryotechnik, also bei sehr tiefen Temperaturen unter minus zweihundert Grad Celsius.

Die entsprechenden Arbeitsplätze zu installieren war natürlich eine recht umfangreiche Aufgabe, und die sollten die Storos selbst lösen. Die größte Schwierigkeit bestand darin, daß wir das Prinzip unbedingt beibehalten wollten und mußten, daß der Storo weder mit Menschen noch mit einem anderen Storo in Kontakt kam. Der Netzplan dafür erforderte höchste Disziplin, was keine einfache Forderung war, da man ja durchaus mit Fehlverhalten der Storos rechnen mußte, aber andererseits keine großen Pufferzeiten einbauen konnte, weil die Storos eben ununterbrochen beschäftigt sein mußten. Das alles brachte auch äußerst unregelmäßige Arbeitszeiten für die Menschen mit sich, sozusagen Tag- und Nachtbereitschaft, aber das störte niemand – wer an so einer Sache mitarbeitet, fragt nicht nach Tag und Stunde.

Nun will ich hier keineswegs den Eindruck erwecken, als hätten wir vor Enthusiasmus ununterbrochen gejubelt. Wir hatten für diese bedeutende seelische Triebkraft weitaus bessere Verwendung – denn die Storos gaben uns immer mehr und immer schwierigere Probleme auf. Von meinen Sorgen mit mir selbst und meinen verdrießlichen Gefühlen habe ich – vielleicht schon zu oft – berichtet, aber auch jeder andere hatte seine Kümmernisse, seinen Ärger, Stunden des verzweifelten Nachdenkens, wenn die Lösung auf der Hand zu liegen schien und sich trotzdem nicht finden lassen wollte.

So war es auch mit dem sogenannten Schichtwechselverhalten, das, in Vorbereitung auf die ununterbrochene Tätigkeit der Storos erprobt, unerwartet zu einem Problem wurde.

Die Schicht – darunter verstanden wir bei den Storos jene vier Stunden zwischen jeweils zwei Aufladungen der Akkus, verbunden mit Informationsaustausch Storo – Leitgerät. Diese Zeitspanne war nicht nach Gutdünken festgelegt, auch nicht entsprechend dem Fassungsvermögen der Akkus, sondern aus übergeordneten Gründen. Die bisher geplanten Industrieanlagen mit Extremwert-Technologie hatten solchen Umfang, daß mit hundertachtzig bis zweihundertzwanzig Storos für eine Produktionsanlage gerechnet werden mußte. Wenn man für einen Informationsaustausch Leitgerät – Storo etwa eine Minute rechnete, konnte das Leitgerät in vier Stunden zweihundertvierzig Storos bearbeiten, so daß also noch etwas Reserve blieb. Die Aufladezeit betrug etwa vier Minuten, so daß für jeden Storo eine Pufferzeit von drei Minuten bestand. Mit Hilfe der Warteschlangentheorie und unter Ausnutzung mathematischer Modelle verschiedener Produktionsabläufe war errechnet worden, daß diese Zeit genügen würde. Sollte trotzdem ein zu hoher Stau der Storos am Leitgerät auftreten, so konnte dieses den einen oder anderen Storo auffordern, weiterzuarbeiten und sich noch einmal zu melden – die Storos erhielten ja das innere Signal zum Aufladen nicht erst dann, wenn die Akkus völlig leer waren, sondern eine gute Viertelstunde vorher.

Natürlich hätte man diese Zeit ausdehnen können auf acht Stunden – die Akkus hätten das zugelassen. Aber je häufiger das Leitgerät Informationen erhielt, um so wirksamer konnte die Produktion optimiert werden. Das war auch der Grund dafür, warum überhaupt Akkus verwendet wurden und nicht zum Beispiel Isotopenbatterien, die den Storo völlig unabhängig gemacht hätten.

Das alles waren jetzt für uns und die Storos vorgegebene Tatsachen und Größen, und wir hatten selbstverständlich auch ein solches Leitgerät nicht – das gab es noch nicht. Als Leitgeräte sollten herkömmliche Hybridrechner eingesetzt werden, deren Analogteil speziell für die entsprechende Produktion konstruiert werden mußte.

Für unsere Zwecke wurden diese Leitgeräte durch Kleinrechner ersetzt, die jedesmal für einen Schichtwechsel von der jeweiligen Mannschaft programmiert wurden. Das war möglich, weil wir ja die Storos bei der Arbeit beobachteten und so über den Ablauf der vier Stunden, also vom Inhalt ihres Rapports, schon vorher informiert waren. Trotzdem war das natürlich für die menschlichen Gehirne mit ihrer viel geringeren Arbeitsgeschwindigkeit immer noch eine sehr umfangreiche und schwere Aufgabe.

Als wir uns im Beirat vorbereitend mit dieser Frage beschäftigt hatten, war der Gedanke aufgetaucht, daß man sich in puncto Schichtwechselverhalten nicht nur mit den Storos befassen dürfte, sondern in weit höherem Maße die Wechselbeziehungen mit den künftigen Leitgeräten berücksichtigen müsse. Der Professor hatte unseren Vorschlag angenommen und einen Vertreter aus Kiew eingeladen, wo die künftigen Leitgeräte projektiert wurden.

Genosse Krawtschenko bedankte sich mit herzlichen Worten für die Einladung – Professor Hetz hatte ihm nicht vorenthalten, von wo die Initiative dazu ausgegangen war – und schüttete einen Sack voll Fragen über uns aus, die uns bis in die Nacht hinein beschäftigten. Es war spät, als wir uns trennten, und es wäre sicherlich noch viel später geworden, wenn uns nicht am anderen Morgen der zwölfstündige Marathonversuch bevorgestanden hätte.

Diesmal war es nicht Caesar, sondern Anton, der uns die erste Überraschung bereitete. Er löste Aufgaben der Prozeßsteuerung, bei denen wenig mechanische Leistung – also Bewegung des Rumpfes – zu erbringen war, und hatte eine diesem Programm entsprechende Ladungsmenge für vier Stunden auf die Akkus bekommen. Das entsprach den Einsatzbedingungen; auch später würden die Storos ein vom Leitgerät errechnetes Quantum an Ladung bekommen.

Anton jedoch wanderte schon nach drei Stunden siebzehn Minuten zum Stern – das alte Symbol für die Energiequelle war beibehalten worden –, lieferte den Rapport ab und ließ sich aufladen.

»Die Ladung war falsch berechnet«, vermutete Ilona Krause, die die Arbeitsgruppe Anton leitete. Der zuständige Mitarbeiter bekam einen roten Kopf, rechnete nach und behauptete, das sei nicht der Fall.

»Gut«, sagte Dr. Krause, »er hat jetzt die gleiche Ladung bekommen, warten wir’s ab, wie lange er damit macht.«

Wir kamen aber nicht zum Warten. Das Telefon klingelte, der Professor nahm ab.

»Bei Berta bahnt sich was Interessantes an«, sagte er, »wollen Sie mitkommen?«

Natürlich wollten wir. Genosse Krawtschenko und ich folgten ihm. »Berta erfüllt die Aufgaben schneller als veranschlagt«, erklärte uns Erwin Rebel, der die Arbeitsgruppe Berta leitete.

Dieser Storo hatte die Aufgabe erhalten, ein festgelegtes Quantum handwerklicher Arbeit auszuführen, war also nicht von einem simulierten Prozeß abhängig wie Anton. Uns war sofort klar, auf welche Alternative Erwin Rebels Feststellung zusteuerte: Entweder würde Berta nach Erfüllung des Auftrags sofort Rapport erstatten oder, da das innere Signal zur Aufladung noch nicht gegeben war, sich Beschäftigung suchen. Aber welche?

Wir diskutierten die Frage, wo im Innenmodell des Storo eine Quelle für die Formulierung eines eigenen Auftrags in dieser Situation liegen könnte, aber auf das, was dann geschah, kamen wir nicht. Es war so grotesk und sinnlos, daß der Unterschied zwischen Mensch und Maschine wieder einmal recht deutlich hervortrat.

Berta bearbeitete metallische Werkstücke auf spanabhebenden Maschinen, zwar eine veraltete Technologie, aber zur Grundausbildung gehörig und zur Entwicklung praktischer Materialkenntnis notwendig.

»Jetzt – jetzt wird das letzte Werkstück fertig!« verkündete Erwin Rebel.

Berta spannte das fertig bearbeitete Stück Metall aus und legte es zu den andern. Dann – nichts. Der Storo – ja, bei einem Menschen würde man sagen: zögerte. Er drehte sich langsam um, bewegte sein Laufwerk, ging durch den Raum, kehrte zu den Werkstücken zurück, nahm einige in die Zangenhände, legte sie wieder hin, nahm andere auf, hielt sie aneinander – und bewegte sich zur Seite, legte die Stücke auf dem Felsboden ab, holte neue, legte sie dazu, aber nach einem noch nicht erkennbaren System.

»Das ist der Platz, wo die Rohlinge gelegen haben!« flüsterte Erwin Rebel erregt.

Und dann wurde es sichtbar. Der Storo stapelte die Teile nicht einfach, sondern – wie soll ich sagen? – verschränkte sie so ineinander, daß eine Art Kasten entstand. Was sollte das? Welchen Zweck verfolgte er damit? Wir hielten den Atem an.

Als der Kasten, dessen eine Seite die Wand bildete, fertig war, zeigte die Schichtuhr, die in unserem Beobachtungsraum angebracht war, vier Stunden. Nun hätte er aufladen müssen – aber er kam noch nicht, offenbar hielt er den Arbeitsprozeß noch nicht für beendet, er tat etwas für einen Storo ganz Seltsames. Er fegte die Späne zusammen und tat sie in den Kasten.

Erwin Rebel lachte laut auf, wir andern stimmten ein. Endlich, als das Gelächter abgeflaut war und die Spannung sich entladen hatte, sagte er: »So was von Ordnungsliebe!«

»Kann ich mal den Auftrag haben?« bat der Professor mit eigenartiger Erregung in der Stimme.

Er warf nur einen Blick darauf und sagte dann: »Eine wichtige Entdeckung. Merken Sie nichts? Nein? Passen Sie auf – jetzt tankt er doch. Setzen Sie vor den Auftrag für die nächsten vier Stunden noch einen kleinen Sonderauftrag: Berta soll durch die Tür des Arbeitsraumes nach draußen gehen und wieder zurückkommen. Und dann das andere. Schaffen Sie das?«

Es wurde geschafft. Jemand ging noch die Tür öffnen, die anderen Arbeitsgruppen wurden benachrichtigt, daß sich in den nächsten fünf Minuten niemand im Stollen sehen lassen sollte – und dann war Bertas Schichtwechsel beendet.

Der Storo bewegte sich auftragsgemäß zu der offenen Tür – und blieb stehen. Mehrmals machte er Anstalten, die Tür zu durchschreiten, aber immer wieder wurde er wie von einer unsichtbaren Wand zurückgehalten.

»Ich muß mich noch mal für die Einladung bedanken«, flüsterte Genosse Krawtschenko mir zu. »Das sind ungeheuer wichtige Erkenntnisse für den Bau des Leitgeräts!«

Er hatte also offenbar verstanden, worum es ging. Ich dagegen sah noch keinen Zusammenhang zwischen dem vorangegangenen Kastenbau und dieser Auftragsverweigerung.

Nach mehrmaligen Versuchen verließ Berta die Tür und begann die anderen Aufträge zu erfüllen.

»Alles verstanden?« fragte der Professor.

Es gab ein etwas zaghaftes Gemurmel, das wenig zustimmend klang. Er reichte Erwin Rebel den Auftrag für die vergangene Schicht, den er noch in der Hand gehalten hatte, und sagte: »Sehen Sie’s sich noch mal an, dann kommen Sie drauf!«

Erwin Rebel überflog das Blatt, und plötzlich wurde es hell in seinem Gesicht.

»Hier ist nicht formuliert, wo die fertigen Werkstücke abgelegt werden sollen, infolgedessen stellt Berta, weil noch Zeit bleibt, die geometrische Ordnung des Raumes wieder her, die bei Entgegennahme des Auftrags bestand, die Arbeitsprodukte werden an der Stelle und in der Form gestapelt, die der Lagerung der Rohlinge entspricht. Das innere Umweltmodell, das bis zu diesem Augenblick einschließlich des letzten Auftrags besteht, wird konsequent verwirklicht, soweit es auf die Sache Bezug hat. Hätten wir den Auftrag erteilt, die Werkstücke kreuzweise auf dem Boden anzuordnen, so wäre eben das in das Modell aufgenommen und verwirklicht worden.«

»Richtig«, sagte der Professor, »und weiter? Die Tür?«

»Berta konnte die Tür gar nicht durchschreiten, weil die geometrischen Grenzen des inneren Umweltmodells bisher die Grenzen des Arbeitsraumes sind.«

»So ist es!« sagte der Professor, tief aufatmend. Er wandte sich zu mir und fragte: »Begreifen Sie, warum mich das so tief befriedigt?«

Ich mußte wohl etwas begriffsstutzig geguckt haben, denn er lachte leise und fuhr fort: »Ich hatte trotz meiner Zustimmung immer noch Bedenken, was das Mensch-Verbot betrifft. Jetzt sind sie behoben.«

Ja, das war wirklich fundamental. Da der Storo prinzipiell nicht über die Grenzen seines Umweltmodells hinaus handeln konnte, konnte er natürlich auch dessen geometrische Grenzen nicht überschreiten. Da die Storos immer in geschlossenen Räumen arbeiten würden, und zwar in solchen, in denen sich Menschen nicht aufhalten konnten, war es also völlig unmöglich, daß sie sich aus eigenem Antrieb überhaupt in die Umgebung von Menschen begeben konnten!

»Aber was ist«, fragte ich den Professor, »wenn der Storo nun doch seinen Arbeitsplatz verlassen und einen anderen Raum aufsuchen muß, etwa bei notwendigen Reparaturen? Ja, ich merke schon, das ist eine dumme Frage, das ist ja einfach: Das Leitgerät muß sein Umweltmodell durch eine genaue geometrische Beschreibung des entsprechenden Raumes ergänzen.«

»Richtig«, sagte der Professor und wandte sich Erwin Rebel zu, der neben uns stand. »Haben Sie das gehört? Probieren Sie das zu Beginn der nächsten Schicht aus. Aber…« Er überlegte einen Augenblick. »Aber stellen Sie Scheinwände vor und hinter der Tür in den Stollen, damit der Raum fiktiv wird.«

»Es ist doch verblüffend«, sagte der Professor zu uns, dem ukrainischen Genossen und mir, als wir zur Arbeitsgruppe Anton zurückgingen, »es ist doch verblüffend, wie schwer es immer wieder fällt, einfach zu denken. Jeder weiß, daß die Grenzen des Storo bestimmt sind durch die Grenzen seines inneren Umweltmodells. Und jeder weiß auch, daß die Geometrie eine bestimmende Rolle spielt in diesem Modell. Aber die naheliegende Schlußfolgerung, daß dieser Begriff Grenzen auch im direkten geometrischen Sinn Geltung hat – die ziehen wir nicht, da muß uns erst das Experiment drauf stoßen!«

»Mag sein, mag sein«, brummte Genosse Krawtschenko, »aber das Verhalten von Anton läßt sich wohl kaum so einfach erklären!«

»Wer weiß«, orakelte der Professor, »erst mal sehen, wie er sich weiter verhält!«

Aber da gab es nichts zu sehen. Der Moment rückte heran, an dem von der zweiten Schicht so viel Zeit verstrichen war, wie die erste gedauert hatte, und Anton arbeitete weiter – er hatte ja keinen Auftrag, der auf vier Stunden berechnet war, sondern steuerte einen simulierten Prozeß, der über zwölf Stunden lief.

Auch der Zeitpunkt, an dem vier Stunden der zweiten Schicht vorbei waren, wurde überschritten.

»Er hat offenbar von der ersten Schicht soviel Ladung übrigbehalten, daß er jetzt bis zum geplanten Schichtwechsel durcharbeiten kann«, vermutete Dr. Krause.

»Also stimmte die Ladungsmenge«, sagte der dafür Verantwortliche befriedigt.

»Es wäre mir lieber, sie hätte nicht gestimmt«, meinte der Professor nachdenklich.

Aber dieser Wunsch wurde nicht erfüllt. Dr. Krauses Vorhersage traf ein: Nach genau acht Stunden meldete sich Anton zum Rapport und zur Aufladung.

Der Professor ließ sich Kopien von den beiden Schichtrapporten machen und lud uns in sein Arbeitszimmer ein.

Es war nach so langem Aufenthalt im Stollen angenehm, die Sonne auf der Haut zu spüren und die warme Frühlingsluft zu atmen.

»Wissen Sie was«, schlug er vor, »wir setzen uns ein bißchen hier draußen hin, ich bin überzeugt, wir brauchen weder Schreibstift noch Rechenmaschine, um hinter das Geheimnis zu kommen – nur unsere Köpfe, und die haben wir ja bei uns!«

Die Rapporte gingen zwischen uns hin und her. Sie waren in der Metasprache der Storos abgefaßt, deren schriftlicher Ausdruck kaum mit irgendeiner der bestehenden Maschinensprachen vergleichbar war, weil sie neben Ziffern und Zeichen der verschiedensten Art auch die Wörter für Gegenstände, Tätigkeiten, Eigenschaften, Verhältnisse und so weiter enthielt, die hier unverschlüsselt, allerdings jeweils im Nominativ bzw. Infinitiv auftraten. Bei einiger Übung – und die hatte ich inzwischen – konnte man sie fließend lesen. Solche Passagen wie »!Rohling einspannen : !Drehzahl soundso einstellen : !Vorschub soundso einstellen : !Kontrolle :Kontrolle+ !Einschalten« bereiteten mir keine Schwierigkeiten mehr – wobei ich hier nur die konkreten Zahlen, die ich natürlich jetzt, bei der Niederschrift, nicht mehr weiß, durch soundso ersetzt habe.

Das Ausrufezeichen bedeutete Aktionsbefehl, der Doppelpunkt den Vollzug, wobei der im Befehl gegebene Tatbestand nicht wiederholt wurde, wenn die Vollzugsmeldung unmittelbar darauf folgte.

Solcher Rapport zeigte aber schön in diesen einfachen Sätzen viel mehr als das, was unmittelbar darin stand – nämlich zum Beispiel, daß solche relativ komplizierten Vorgänge wie das richtige Einspannen eines Werkstücks schon von untergeordneten Steuerblocks des Aktionszentrums geleitet wurden, also im Zentralrechner nicht mehr zusammengesetzt werden mußten.

Ich muß nun freilich gestehen, daß ich hier der Einfachheit halber ein Beispiel aus einem anderen Rapport gewählt habe als den, den wir in der Hand hielten. In Antons Rapport ging es um Prozeßsteuerung, da spielten logische Prozesse eine größere Rolle, und deren Formelsprache ist bedeutend komplizierter. Es genügt aber hier vielleicht, wenn ich feststelle, daß mir der Rapport von Anton über unser eigentliches Problem nichts auszusagen schien.

»Haben Sie was entdeckt?« fragte der Professor.

Ich schüttelte den Kopf.

»Ich auch nicht«, gestand er.

»Mir ist nur aufgefallen«, sagte Genosse Krawtschenko und hielt die beiden Teile des Rapports, den vom ersten und den vom zweiten Schichtwechsel, wie vergleichend gegeneinander, »daß beide ungefähr gleich lang sind.«

»Das kann gar nicht anders sein«, erklärte der Professor, »in der ersten Schicht hatte Anton kompliziertere Probleme der Prozeßsteuerung zu lösen als in der zweiten. Wenn die Zeiten gleich gewesen wären, dann hätte der Rapport vom ersten Schichtwechsel also länger sein müssen… Moment mal…« Er stutzte plötzlich, sprang auf, lief aufgeregt hin und her, rief: »Das ist es ja überhaupt« und »Na klar!« und »Immer wieder das Einfache!«

»Wenn Sie nun mal die Freundlichkeit haben würden«, sagte Genosse Krawtschenko schmunzelnd, »uns auch das mitzuteilen, was zwischen diesen Ausrufen in Ihrem Gehirn vor sich geht?«

Der Professor lachte und setzte sich hin. »Es kann gar nicht anders sein«, erklärte er, »es muß sich ein bedingter Reflex gebildet haben, spontan, nicht von uns beabsichtigt, wir haben nicht einmal an die Möglichkeit gedacht. Es ist so. Der Rapport wird während der Schicht in einem besonderen Speicher aufbewahrt, oder genauer: Der Zentralrechner führt über seine wichtigsten Aktivitäten Protokoll, und dieses Protokoll wird, wie gesagt, in einem besonderen Speicher Satz für Satz niedergelegt. Besonderer Speicher deshalb, weil er – im Gegensatz zu allen anderen Speicherelementen – gelöscht werden kann, und zwar nach Abgabe des Rapports.

Da nun immer nach vier Stunden das Signal für die Erstattung des Rapports gegeben wurde und dieser Rapport meist die gleiche Länge hatte, muß sich an dieser Stelle das Erstattungssignal so gefestigt haben, daß es eben nicht gelöscht wurde, und es wirkt nun als Aktionsbefehl zurück, es ersetzt, wenigstens wenn es früher kommt, das Signal aus den Akkus, das unbedingt ist, also von der Struktur des Storo her bestimmt!«

»So könnte es sein«, stimmte der Ukrainer zu. »Sicherlich werden Sie das durch Experimente prüfen können, aber mich interessiert jetzt mehr die Frage, welche Folgen das für die Kooperation mit dem Leitgerät hat!«

»Nun, an sich ist das doch sehr nützlich«, meinte der Professor, »wenn irgendwo nicht alles glatt verläuft; erfährt das Leitgerät früher davon!«

»Na ja«, meinte Genosse Krawtschenko gedehnt, »dazu brauchte ich jetzt aber doch einen Rechner – und Sie wohl auch!«

»Lassen Sie uns noch ein bißchen hier sitzen«, bat ich. »Ich habe das Gefühl, überlegen ist jetzt besser als rechnen. Das hilft doch meistens nur, wenn man genau weiß, was man berechnen will.«

»Einverstanden«, erwiderte Genosse Krawtschenko.

Der Professor sagte lächelnd zu dem Gast: »Er hat sich ausgerechnet, daß es nützlich sein würde, Sie einzuladen, und siehe, die Rechnung geht auf!«

Ich mag es nicht, wenn man für Ideen, die eigentlich im Kollektiv entstanden sind, als einzelner ausgezeichnet wird, und sei es nur mit einem Kompliment. Richtiggestellt hatte ich die Sache heute schon mal, also sagte ich: »Wenn wir schon dabei sind, uns dauernd zu wiederholen, dann könnten wir doch auch die Entstehung dieses – na ja, bedingten Reflexes noch mal besprechen. Ich glaube nämlich nicht, daß der Vergleich stimmt.«

»Ah?« entfuhr es dem Professor.

»Warum nicht?« fragte der Ukrainer. »Die angeborene – also hier strukturell bestimmte – Auslösung einer Handlung wird durch ein erlerntes Signal ersetzt!«

»Eben nicht«, widersprach ich. »Es handelt sich hier um zwei verschiedene Aktionen – die Ladungsaufnahme und den Rapport. Normalerweise wird die Ladungsaufnahme von den Akkus ausgelöst und bei der Gelegenheit der Rapport vom Leitgerät. In diesem Fall wurde der Rapport vom Storo ausgelöst und bei dieser Gelegenheit die Ladungsaufnahme vom Leitgerät. Es gibt also im Storo jetzt zwei unabhängige Auslöser für diesen Handlungskomplex, und es kommt nur darauf an, welcher eher auftritt. Immer vorausgesetzt, daß wir die Ursache von Antons Verhalten richtig erfaßt haben.«

»Und was heißt das?« fragte der Professor.

Ich hob bedauernd die Hände. »Weiterführen kann ich den Gedanken im Moment noch nicht.«

»Nun, das heißt mindestens«, sagte der Ukrainer, »daß man beide auslösenden Systeme als unabhängig und gleichwertig betrachten und folglich auch jedes für sich untersuchen muß.«

»Richtig«, warf ich ein, »derselbe Effekt kann zum Beispiel eintreten, wenn aus objektiven Gründen der Stromverbrauch des Storo höher ist, als vorher veranschlagt, das kann ja auch vorkommen!«

»Lassen wir das mal«, bat Genosse Krawtschenko, »das ist ja nur eine einzelne Seite des Problems. Viel mehr geht mir die Auftragsverweigerung im Kopf herum.«

»Was wäre denn Ihrer Meinung nach das ganze Problem?« fragte der Professor.

»Die Grenze zwischen Autonomie des Storo und Auftragserteilung durch das Leitgerät. Der Storo kann nur ein Innenmodell von seinem speziellen Abschnitt haben. Das Modell des gesamten Prozesses hat das Leitgerät. Wenn nun Ereignisse in einem anderen Produktionsabschnitt auftreten, die sich im Bereich des Storo nicht niederschlagen, die aber radikale Änderungen in diesem Bereich notwendig machen, dann wäre zu erwarten, daß er auf Grund seines Innenmodells die entsprechenden Aufträge ablehnt.«

»Ja, wenn nicht sein Innenmodell erweitert wird«, meinte der Professor.

»Moment«, sagte ich, »wenn das Innenmodell eine gewisse Vollständigkeit erreicht hat, ist es sehr stabil – dann korrigiert es alle Informationen, die dazu im Widerspruch stehen. Das haben wir doch experimentiert.«

»Oder die Erweiterung müßte so weit gehen, daß ein Modell des Prozesses entsteht, und dazu reicht der Zentralrechner des Storo nicht aus«, ergänzte der Ukrainer.

»Andererseits würde eine Herabsetzung der Autonomie bedeuten, daß der Storo ständig mit dem Leitgerät in Kontakt bleiben muß oder daß das Innenmodell sehr vereinfacht und geschwächt werden muß, damit es nicht so stabil ist. Aber darunter würde in beiden Fällen die universelle Einsetzbarkeit leiden – im ersten Fall die Bewegungsfähigkeit, im zweiten Fall die Sicherheit der Arbeiten.« Der Professor hob ratlos die Arme.

»Die Katze beißt sich in den Schwanz«, meinte der Ukrainer. »Ich glaube, dieses Problem kann man im ganzen erst bei der Erprobung in den Pilotanlagen lösen. Das ist dann schon – wie sagt man im Deutschen – unser Bier. Aber eins hätte ich doch gern…« Er schnippte mit den Fingern. »Nein, das geht wohl nicht…«

»Kann man das etwas präziser haben?« fragte der Professor trocken.

»Angenommen, es gelänge uns, einen wirklich bedingten Reflex aufzubauen, im übertragenen Sinne, meine ich, so daß das Leitgerät bis zu einem gewissen Grade auch die Storos rufen kann, dann müßte die Zeitreserve reichen, auch einen gewissen Prozentsatz unregelmäßiger zwischenzeitlicher Kontakte zu bewältigen, und das könnte, wie Sie anfangs richtig sagten, durchaus nützen, aber zu gedrängt darf das auch wieder nicht sein…«

»Haben Sie denn unseren Bericht vom Vormonat noch nicht bekommen?« fragte der Professor.

»Nein wieso, steht da etwas zu dem Thema drin?« fragte der Ukrainer.

»Ja, die Zahl der Storos, die für einen Produktionsprozeß nötig sind, wird sich verringern. Wir haben festgestellt, daß der Auslastungsgrad, der von vornherein angesetzt war, zu niedrig ist. Insbesondere läßt sich die Trennung in Storos, die Prozesse leiten, und andere, die Reparatur- und Wartungsarbeiten ausführen, nicht halten. Wenn die Storos zu wenig ausgelastet sind, neigen sie dazu, sich selbst Arbeit zu suchen, Sie haben das ja vorhin bei Berta gesehen. Und dabei kann allerhand Unfug herauskommen.«

»Ja«, sagte der Ukrainer, »dann ist allerdings manches möglich. Das müßte man mal durchspielen, als strategisches Spiel, aber dazu werden Sie wohl kaum die nötigen Geräte haben…«

Der Professor sah mich an.

»Doch«, sagte ich, »haben wir.«

»Na los«, erklärte der Ukrainer, »worauf warten wir dann noch?«

Aber mein Optimismus erwies sich leider als verfrüht. Mein Gerät aus der Gefechtselektronik reichte nicht aus für diese Aufgabe. Man kann sich leicht denken, daß ein Gefecht, obwohl es unendlich vielfältig verlaufen kann, doch immer bestimmt ist von einer sehr begrenzten Anzahl von Faktoren: Stärke und Bewaffnung der beiden Gegner, Topographie, Witterung… Diese Faktoren bestimmen die »Züge« und »Strategien«, mit denen die Spieltheorie rechnet, und genau dafür war das Gerät gebaut.

Hier aber, bei unserer Aufgabe, spielten noch andere mathematische Berechnungen eine Rolle, zum Beispiel Fragen der Bedienungstheorie, der nichtlinearen Optimierung und so weiter. Natürlich konnte man solche Aufgaben auf normalen Rechenmaschinen lösen, aber das half uns auch nicht weiter – die Umprogrammierung der Ergebnisse für das GLE-Gerät hätte viel zuviel Zeit in Anspruch genommen.

»Na und?« sagte der Ukrainer. »Koppeln wir die Geräte!«

Im ersten Augenblick erschien mir dieser Gedanke verrückt. Aber mir fiel ein, daß der Professor das GLE-Gerät ja mitkonstruiert hatte, und ich hatte praktische Erfahrung damit. Der Ukrainer war Spezialist für Hybridtechnik. Ich pries im stillen die Weitsicht des Generals, der mir das Gerät unplombiert übergeben hatte.

Nach fünfstündiger Arbeit war es soweit. Wir brauchten nur noch fünfzehn Minuten, um rechnerisch nachzuweisen, daß unsere ersten, gedanklichen Schlußfolgerungen aus dem Experiment richtig waren.

Es war ein kühler, feuchter Junitag, und das war gut so – wenn auch Genosse Raol Esteban von der kubanischen Botschaft etwas fröstelte; aber das kleine Ausflugslokal im Thüringischen war schwach besucht, und es war uns nicht schwergefallen, einen Tisch zu besetzen, an dem wir später ungestört sprechen konnten.

Im Augenblick waren wir noch allein, und ich hatte eben den Anruf von unserem Mann in Jena entgegengenommen, daß Nora und Manuel unterwegs seien und zwar, was entscheidend war, ohne beschattet zu werden.

»Sie werden es nicht leicht haben«, sagte Genosse Esteban, »Manuel ist ein guter Kommunist, aber sehr temperamentvoll und, Sie wissen ja, stolz wie ein Spanier!«

»Ich rechne mit Ihrer Unterstützung«, meinte ich, »Sie kennen ja die Mentalität Ihrer Landsleute besser als ich.«

»Meine Hilfe ist Ihnen sicher«, sagte der Kubaner, »aber viel wichtiger ist, daß eine Dame dabei ist. Ich bin gespannt auf Ihre Genossin, die Sie mir so begeistert geschildert haben!«

Ich überging diese Bemerkung und bat: »Es wird am besten sein, Sie stellen mich vor. Denn für ihn sind Sie ja hier die höchste Autorität!«

Eine knappe halbe Stunde später sahen wir Nora und Manuel aus einem Mietwagen steigen und Arm in Arm auf die Gaststätte zukommen.

Manuel erkannte zuerst meinen Begleiter und begrüßte ihn auf spanisch, dann bemerkte er mich, stutzte, und sein freudig erregtes Gesicht wurde finster. Natürlich erinnerte er sich sofort der Szene auf dem Studentenball. Er beherrschte sich aber und stellte Nora dem Genossen von der Botschaft vor.

»Wir wollen deutsch sprechen, damit alle verstehen«, sagte Raol Esteban. »Ich stelle Ihnen hier Doktor Jürgen Tischner vor.«

Manuel verbeugte sich leicht, ohne mir die Hand zu geben.

»Setzen wir uns!« fuhr Raol Esteban fort. »Ich habe diese Zusammenkunft organisiert, und wenn Sie die Gründe dafür erfahren, werden Sie auch verstehen, warum das in dieser ungewöhnlichen Form geschah.

Ich möchte betonen, es geht hier um Dinge von weltweiter politischer Bedeutung, bei denen ein Kommunist, Genosse Aleman, private Gefühle der Kränkung und des verletzten Stolzes nicht aufkommen lassen darf. Sie kennen mich und wissen, daß ich so etwas nicht ohne Grund sage. Meine Aufgabe besteht heute darin, Ihnen das in aller Nachdrücklichkeit zu versichern. Alles Weitere wird Ihnen Genosse Doktor Tischner sagen.«

»Du hast also gewußt, wen wir hier treffen!« sagte Manuel leise zu Nora.

Sie nickte. Und fügte nachdrücklich hinzu: »Ja!«

Es entstand eine Pause, weil der Ober kam, um die Bestellungen aufzunehmen, dann nahm ich das Wort.

»Sie wissen, daß Nora wie auch ich an einem geheimen Projekt arbeiten. Ich bin nicht befugt, Ihnen mitzuteilen, worum es sich handelt, nur soviel müssen Sie mir glauben, und das wird Ihnen auch Genosse Esteban bestätigen, daß es sich um ein Projekt handelt, das für die technische Entwicklung der nächsten Jahrzehnte und für alle sozialistischen Länder von ausschlaggebender Bedeutung ist – auch für Ihr Land, Genosse Aleman. Ich arbeite in der Gruppe mit, die dieses Projekt gegen Anschläge des Gegners sichert. In dieser Eigenschaft sitze ich hier und spreche mit Ihnen.«

Manuel blickte zu Raol Esteban, der nickte bestätigend und blickte Nora an, auch sie nickte.

»Ich höre«, sagte er beherrscht.

»Dieses Gespräch«, fuhr ich fort, »ist nicht nur notwendig, um das Projekt zu sichern, sondern vor allem auch, um Nora und Sie zu schützen. Aber bevor wir über Einzelheiten sprechen, möchte ich ein Mißverständnis aufklären. Jene Szene auf dem Studentenball, an die Sie sich erinnern und um derentwillen Sie mir so abweisend gegenübersitzen, war gespielt. Eine vorher in allen Einzelheiten zwischen mir, Nora und meiner Frau verabredete Komödie. Das kann Ihnen freilich nicht Genosse Esteban bestätigen, das müssen Sie schon Nora und mir glauben.«

Ich sah, daß er überrascht war, etwas ungläubig noch, und wollte ihm Zeit lassen. Das war ein Fehler.

»Stimmt das?« fragte er Nora.

»Mein Verhältnis zu Doktor Tischner war nie anders als parteilich und kameradschaftlich«, erklärte Nora.

»Warum hast du mir das nie gesagt?«

»Ich mußte meine Rolle weiterspielen«, sagte Nora und wollte das erklären, aber sie kam nicht dazu. Manuel sprang auf, einen bösen Ausdruck im Gesicht.

»Gut gespielt!« sagte er leise und scharf. »Ausgezeichnet gespielt! Ich hab’ dir alles geglaubt!«

Raol Esteban griff ihn beim Handgelenk und zog ihn mit sanftem Zwang wieder an den Tisch. »Setz dich, Manuel!«

»Dir hab’ ich nichts vorgespielt!« sagte Nora gequält.

»So? Und heute? Der Ausflug?«

»Ja«, gab sie zu, »bis auf heute.«

»Und gestern! Und neulich! Und überhaupt!«

»Wenn Sie gestatten, möchte ich weiteren Mißverständnissen vorbeugen und die Zusammenhänge aufklären«, schaltete ich mich ein. »Und deshalb bitte ich Sie, mir erst mal zuhören. Was ich Ihnen mitzuteilen habe, wird nicht angenehm für Sie sein, aber in einem Punkt kann ich Sie beruhigen: Nora hat Ihnen gegenüber nie geheuchelt. Sie mußte Ihnen manches verschweigen, das war nicht zu umgehen. Sie hat gespielt, aber nicht mit Ihnen, sondern mit dem Gegner, der sich an Ihre Fersen geheftet hatte. Und als sie es nicht mehr ertrug, Ihnen das zu verschweigen, haben wir beschlossen, das Spiel zu beenden. Freilich in erster Linie nicht mit Rücksicht auf Sie beide, sondern weil es sowieso an der Zeit war. Als Sie sich Nora näherten, haben wir natürlich auch Sie im Verdacht gehabt, aber sehr bald nach dem Vorfall auf dem Ball wußten wir schon, daß Sie nicht der Gegner waren. Bitte versetzen Sie sich in unsere Lage. Was hätten wir tun sollen, als Sie sich Nora näherten? Wir hätten ihr natürlich sagen können: Triff dich nicht mehr mit ihm. Das wäre damals durchaus noch möglich gewesen. Und nun sagen Sie selbst, von heute aus gesehen: Wäre Ihnen das lieber gewesen?«

Zum erstenmal lächelte Manuel. Sein Gesicht wurde dadurch plötzlich so anziehend, daß ich Noras Wahl gut verstehen konnte. Dann wurde er wieder ernst. »Es ist ein bißchen viel auf einmal«, sagte er. »Können wir nicht eine Pause machen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Damit Sie von dem Wunsch, uns zu glauben, und dem Mißtrauen hin und her geschüttelt werden? Nein, erlauben Sie mir, offen weiterzusprechen – bevor wir zu Schlußfolgerungen kommen, sollen Sie Zeit haben, alles zu durchdenken und auch mit Nora darüber zu sprechen, aber jetzt – muß ich Ihnen noch einige harte Schläge versetzen. Ich hoffe, daß sie Sie nicht umwerfen, sondern Ihnen helfen, den Ernst der Sache zu verstehen.«

Manuel sah Nora an. Sie lächelte ihm zu.

»Ich bin gefaßt«, sagte er.

»Wir haben Nora selbstverständlich nicht deshalb geraten, Ihre Bekanntschaft zu pflegen, damit Sie Gelegenheit hätten, sich ineinander zu verlieben. Daß es so gekommen ist, das ist eine andere Sache, und wenn Ihre Beziehungen unser heutiges Gespräch überstehen, dann kann man Ihnen beiden, glaube ich, zu Ihrer Wahl Glück wünschen. Aber das ist schon Ihre Sache.

Wir hatten erwartet, daß der Gegner sich an Nora heranmachen würde. Aber er war raffinierter. Er nutzte es aus, daß Sie sich Nora näherten, und hielt sich seinerseits an Sie.«

»Wer?« unterbrach Manuel mich.

»Ich weiß noch nicht, ob ich Ihnen das sagen kann. Denn sehen Sie, wenn Sie sich verraten, durch einen Blick, eine ungewollte Gebärde, dann gefährden Sie sich und Nora. Und natürlich vor allem unsere Sache. Und Mitarbeiter an unserem Projekt, die jetzt Noras Rolle übernommen haben.

Und diese Rolle bestand darin, dem Gegner Informationen zuzuspielen. Falsche Informationen. Oder auch richtige, aber in der von uns beabsichtigten Auswahl.

Ich muß Ihnen sagen, wie das geschah – auf die Gefahr hin, daß Sie wieder vom Tisch aufspringen.«

Ich beobachtete ihn scharf. Er war unruhig, besorgt, bestürzt, aber auch, wie mir schien, interessiert. Ich verstand ihn nur zu gut, flüchtig mußte ich an meine Reaktion auf Horst Heiligs »Trumpf-As« denken.

»Es geschah«, fuhr ich fort, »jedesmal durch ein oder zwei Worte, Stichworte, die Sie gar nicht wahrgenommen haben und die auch jedem Nichteingeweihten völlig bedeutungslos erscheinen mußten, aber dem Gegner den von uns gewünschten Aufschluß lieferten. Und es geschah bei Ihren Unterhaltungen in dem kleinen Café in Jena. Der Gegner hat jedes Wort, das an diesem Tisch gesprochen wurde, auf Tonband aufgenommen.«

»Und Sie wußten das?«

»Wir wußten es bald.«

»Und Nora auch?«

»Und Nora auch.«

Was sollte er machen? Aufspringen konnte er nicht mehr, nachdem ich vorher geäußert hatte, daß er es vielleicht tun würde. Er beherrschte sich, aber ich sah, wie es in ihm tobte. War er vorher in seiner Liebe getroffen, so jetzt in seinem Stolz.

»Amigo«, sagte Raol Esteban leise, »richte deinen Zorn auf die, die ihn verdienen!«

»Und bewundern Sie Nora wegen ihrer Leistung«, ergänzte ich, »sie hat es schwerer gehabt als Sie!«

Das letzte Argument mußte ihn wohl überzeugt haben, er griff nach Noras Hand und streichelte sie.

»Und jetzt«, sagte ich, »wollen wir zahlen und abfahren. Halten Sie irgendwo unterwegs an und sprechen Sie sich mit Nora aus. Wenn Sie zu einem Ergebnis gekommen sind, geben Sie uns ein Zeichen. Ich werde Sie fragen, ob Sie uns weiter helfen wollen. Aber lassen Sie sich Zeit. Wir haben Geduld.«