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Nihil sine causa fit, sagten die alten Römer, nichts geschieht ohne Grund, und das ist zweifellos ein Naturgesetz. Aber man kann den Satz auch umdrehen: Nichts geschieht ohne Folgen. Und wenn es auch vielleicht kein Naturgesetz sein mag, so geschieht es doch recht häufig, daß die wesentlichen, wichtigen Folgen weniger Arbeit und Ärger machen als die Nebenwirkungen, die so eine Sache hervorruft.

Wenn der Leser nach dieser Einleitung nun allerdings eine Liebestragödie erwartet, muß ich ihn enttäuschen. Die Dreiecke haben bei den Storos eine große Rolle gespielt – hier gibt es keins. Das wichtigste war zunächst, daß die Komödie nach meinem unrühmlichen Abgang planmäßig weitergelaufen war. Es war der Kubaner, der Nora an seinen Tisch holte, und sie brachte das Begriffspaar selektiv-seriell an den Mann – oder vielmehr an die Tischrunde. Ob wir damit unser Ziel erreicht hatten, das blieb allerdings abzuwarten.

Aber eine andere Folgeerscheinung, mit der wir, ehrlich gesagt, nicht gerechnet hatten, zwang uns zu einem Kompromiß, der im ersten Augenblick gewagt erscheinen mochte, sich aber später doch positiv auswirkte – wie jeder richtige Kompromiß.

Als ich an einem der nächsten Tage in unser Arbeitszimmer kam, machte Horst Heilig ein finsteres Gesicht.

»Eben war der Parteisekretär bei mir«, berichtete er. »Die Parteileitung hat ihn und Doktor Krause beauftragt, eine Aussprache mit Ihnen und Nora zu führen, wegen unserer Szene auf dem Ball. Er hat mich auch dazu eingeladen. Wir müssen festlegen, wie wir uns verhalten.«

»Den Kopf senken und die Prügel einstecken«, schlug ich vor.

»So einfach ist das leider nicht«, antwortete der Inspektor. »Diesmal müssen wir wirklich alle möglichen Folgen vorher durchdenken.«

Er ging zum Fenster, sah hinaus, kehrte zurück an den Tisch. »Einerseits muß Noras Auftrag abgesichert werden. Andererseits muß die Autorität der Parteileitung gewahrt werden. Was ist hier richtig?«

»Ein paar Leute werden sich vielleicht ein paar Tage lang die Mäuler zerreißen, und dann ist alles vergessen«, sagte ich.

Horst Heilig schüttelte den Kopf.

»Normalerweise ja. Aber wir müssen immer die Möglichkeit einkalkulieren, daß der Gegner hier noch andere Informationsquellen hat – ich meine nicht Agenten, sondern einfach schwatzhafte Leute, für die das harmloser Klatsch ist und an die sich ein Agent hängen kann.

Wenn jetzt die Parteileitung Ihr Verhalten mißbilligt, muß sie darüber im Tätigkeitsbericht vor der nächsten Parteiversammlung berichten. Bisher war es so, daß Sie ganz zwanglos mit Nora zusammenkommen konnten, weil sie ja im Beirat ist. Dann aber wird jedes persönliche Zusammentreffen ohne Dritte besondere Aufmerksamkeit hervorrufen, wenigstens in den nächsten Wochen. Das hieße, der Kontakt müßte über Werner Frettien oder mich laufen – na, und das wäre wohl noch auffälliger.«

»Und wenn wir den Parteisekretär einweihen?«

»Dann müßten wir auch Doktor Krause einweihen, und das wäre wieder eine Gefährdung von Noras Auftrag – nicht von den Personen her, sondern prinzipiell. Allerdings wohl die kleinere. Wissen Sie was? Wir entscheiden das während der Besprechung.«

Es waren alles andere als glückstrahlende Gesichter, die sich da über den Sitzungstisch des Parteisekretärs hinweg ansahen. Aber schließlich waren alle lange genug in der Partei, um solch eine unerquickliche Situation mit Würde meistern zu können. Alle, bis auf Nora Siebenstein. Ich sah ihr an, daß sie sehr unsicher war. Gern hätte ich ihr aufmunternd zugezwinkert, aber das wäre wohl fehl am Platze gewesen.

Sepp Könnecke, unser Parteisekretär, räusperte sich und begann etwas trocken: »Die Parteileitung hat von dem Vorfall auf dem Studentenball erfahren, der die beiden Mitglieder unserer Grundorganisation Nora Siebenstein und Jürgen Tischner betrifft. Sie hat Ilona Krause und mich beauftragt, ein klärendes Gespräch darüber zu führen.«

Er zögerte einen Augenblick, als müsse er sich erst entschließen, das Folgende zu sagen, und fuhr dann fort: »Es gab in der Parteileitung – hm – unterschiedliche Auffassungen dazu. Aber allen ging es um unsere Aufgabe. Wir wissen, wie wichtig sie ist, und wir wissen, daß der Gegner nur darauf lauert, wo wir Schwächen zeigen – politische, ideologische oder auch persönliche.« Er atmete tief durch, stieß die Luft aus, als habe er eine Last abgeworfen, lächelte plötzlich und meinte: »So, das war das Prinzipielle. Und nun mal die Karten auf den Tisch – was ist los mit euch, Genosse Tischner?«

Zum Glück verhielt es sich so, daß wir diesen Fall zwar nicht vorhergesehen hatten, aber andererseits auch wieder nicht völlig ungedeckt vorgegangen waren.

»Ich möchte zunächst erklären«, sagte ich, »daß es zwischen Genossin Siebenstein und mir keinerlei intimes Verhältnis gibt. Wir waren an dem Abend einfach ausgelassen. Auch meine Frau weiß das.

Daß wir beide zusammensaßen und auch gemeinsam feierten, hatte sich folgendermaßen ergeben: Wir hatten ursprünglich vor, daß der ganze Beirat geschlossen an dem Ball teilnimmt. Nach und nach haben aber die anderen ihre Teilnahme zurückgezogen, so daß nur wir beide übrigblieben. Genosse Könnecke kann das bestätigen, er gehört ja auch zum Beirat.«

»Das stimmt«, sagte der Sekretär. »Fertig?«

Ich nickte.

»Genossin Siebenstein?«

»Ich…, ich kann nur das gleiche sagen. Und wenn wir gefeiert haben…, schließlich arbeiten wir ja gut zusammen…« Sie schluckte.

»Ich muß auch sagen«, meinte der Sekretär, »daß mir bisher bei unserer Zusammenarbeit im Beirat nichts dergleichen aufgefallen ist.« Er sah sich um. »Noch jemand?«

Ilona Krause meldete sich.

»Entschuldigt bitte, aber das geht mir alles zu glatt. Irgend etwas stimmt hier nicht, irgend jemand ist nicht offen. Es ist so vieles, das nicht zusammenpaßt. Zum Beispiel: Als Frau würde ich nach so einer Szene den Ball verlassen und nicht an einem anderen Tisch munter weiterfeiern. Oder ein anderes Beispiel: Eine Frau, die so heftig reagiert wie Frau Tischner, hat Grund dazu. Und vielleicht nicht zum erstenmal. Ich bin gewählt worden und habe eine Verantwortung vor den Parteimitgliedern, ich bestehe auf einer gründlichen Untersuchung.«

Horst Heilig meldete sich.

»Genossin Krause«, sagte er sanft, »bitte verstehen Sie meine Frage nicht falsch, ich achte absolut Ihre Motive, aber was ist Ihnen wirklich wichtiger: Ihre verletzten Vorstellungen darüber, wie ein Parteimitglied sich zu benehmen hat – oder die Sicherung unserer Aufgabe?«

»Das habe ich doch schon gesagt!« erwiderte sie steif.

»Gut, gut«, meinte Horst Heilig beschwichtigend. »Sehen Sie, ich bin dienstlich mit der Sicherung unserer Aufgabe betraut. Würde es Ihnen genügen, wenn ich hier erkläre – in vollem Bewußtsein der Tragweite –, daß der Vorgang, um den es hier geht, die Sicherheit unserer Arbeit in keiner Weise gefährdet oder mindert?«

Ich mußte ein Lächeln unterdrücken, als ich dem plötzlich verstehenden Blick unseres Parteisekretärs begegnete. Aber Dr. Krause, die einen Moment betroffen geschwiegen hatte, schüttelte jetzt den Kopf und sagte: »Nein. Nehmen Sie es mir nicht übel, ich habe das Gefühl, Sie wollen Ihren Mitarbeiter decken!«

Nach dieser entschiedenen Erklärung herrschte erst einmal betroffenes Schweigen. Jeder andere wäre wahrscheinlich explodiert. Auch ich fühlte Wut in mir aufsteigen. Horst Heilig jedoch malte ein Fragezeichen in sein Notizbuch und hielt es so, daß ich es sehen mußte. Ich nickte, und ich bemerkte auch, daß der Parteisekretär diesen Vorgang verfolgt hatte. »Ich muß Ihnen«, sagte Horst Heilig zu Ilona Krause, »eine noch viel höhere Verantwortung auferlegen als die des Parteileitungsmitgliedes und des Vorgesetzten. Der Vorfall ist eine Szene, die von uns gemeinsam mit Frau Tischner sorgfältig geplant und genau ausgeführt worden ist. Begreifen Sie das in seiner ganzen Tragweite?«

Dr. Krause schwieg.

»Dann ist ja wohl alles klar«, meinte der Sekretär. »Wir werden also der Parteileitung berichten, daß wir uns davon überzeugt haben, daß zwischen den beiden Genossen keine intimen Beziehungen bestehen und daß keine weiteren Maßnahmen der Parteileitung notwendig sind. Das ist die Wahrheit, und die Konspiration bleibt trotzdem unverletzt.«

Dr. Krause nickte.

»Es wird am besten sein, du gibst den Bericht«, fuhr der Parteisekretär fort.

Dr. Krause blickte ihn an. »Ja, das wird wohl am besten sein«, sagte sie müde. »Entschuldigt, daß ich euch zu dieser Erklärung gezwungen habe.« Sie lächelte, wie um Verständnis bittend. »Es ist immer dasselbe mit mir…«

»Eine Bemerkung noch«, sagte Horst Heilig sachlich. »Bitte, Genossen, seid euch darüber klar. Jede Verletzung der Geheimhaltung, jeder auch nur ausdeutbare Hinweis auf den wahren Sachverhalt gefährdet nicht nur unsere Arbeit, sondern auch die persönliche Sicherheit unserer Genossin Siebenstein.«

»Und wie verhalte ich mich am besten?« fragte Dr. Krause bedrückt.

»Gar nicht. Nicht mehr darauf zurückkommen. Ich meine außer in der Parteileitungssitzung. Keine Diskussion darüber führen. Anspielungen überhören.«

Sie nickte.

»Wir beide«, sagte der Sekretär und zeigte auf Dr. Krause und sich, »formulieren noch den Bericht an die Parteileitung. Genosse Heilig, hilfst du uns dabei? Gut. Die Sitzung ist geschlossen.«

Ich atmete tief durch, als ich mit Nora die Treppe hinunterging, Sie reagierte sich anders ab.

»Die olle Zicke!« sagte sie.

»Das gehört sich aber nicht für ein Parteimitglied«, bemerkte ich weise. »Du mußt noch viel lernen!«

»Mach’ ich«, versprach sie. »Aber lieber von dir.«

Jedesmal, wenn ich auf unseren Beirat zu sprechen komme, hab’ ich ein wenig Sorge, es könnte am Ende so aussehen, als habe er die Hauptarbeit geleistet, die eigentlichen und wesentlichen Einfälle beigesteuert, die wichtigsten Wendungen herbeigeführt. So war es natürlich absolut nicht; aber die alltägliche, unermüdliche, sich ständig wiederholende, Disziplin ebenso wie Erfindungsgeist fordernde Kleinarbeit, gleich ob in der Durchführung von Experimenten oder in der wissenschaftlichen Leitung, läßt sich mit Formeln und Protokollen leichter berichten als hier in der Schilderung, wo nur auf die einfachsten Zusammenhänge und die wichtigsten Wendepunkte eingegangen werden kann.

Die gleiche Sorge wäre vielleicht gerechtfertigt hinsichtlich unserer Sicherungstätigkeit. Denn den wirklichen Umfang dieser Arbeit darzustellen wäre noch schwieriger. Nur dank den jahrelangen Erfahrungen von Horst Heilig und Werner Frettien waren wir in der Lage, von tausend Möglichkeiten jeweils wenigstens neunhundertfünfundneunzig von vornherein und ohne längere Untersuchungen auszuschließen.

Nehmen wir nur zwei Beispiele: Wieviel Arbeit, Überlegung und zugleich Überlegenheit waren nötig, um aus dem letztens geschilderten Experiment die richtigen Schlußfolgerungen zu ziehen. Tausende von Berechnungen, Dutzende von Experimenten, viele erregte Debatten und noch mehr konzentrierte individuelle Arbeit waren nötig, um schließlich im ersten theoretischen Ansatz jenes Gesetz herauszuarbeiten, das heute als eines der drei Grundgesetze für stochastische Roboter gilt: daß nämlich ihre Zuverlässigkeit direkt von der Auslastung der Aktionskapazität abhängt. Und welche Schlußfolgerungen sich daraus ergeben! Nicht nur das Netzwerk unserer Arbeiten mußte völlig überarbeitet werden – was später noch öfter geschah –, nein, auch alle Institutionen und Betriebe, die sich mit der Ausarbeitung der verschiedenen Extremwert-Technologien beschäftigten, mußten in dieser Richtung orientiert werden – durften doch die »Arbeitsplätze« für die Storos nicht mehr nur nach dem Gesichtspunkt der technologischen Zweckmäßigkeit, sondern nun auch nach dem Gesichtspunkt der Auslastung eingerichtet werden. Das aber hatte wieder Rückwirkungen auf die Programmierung, weil es nun nicht mehr angebracht erschien, reine Reparatur-Storos zu entwickeln und so weiter.

Ein anderes Beispiel: Ich weiß es nicht, aber ich kann es mir wenigstens ungefähr vorstellen, wieviel Arbeit und Aufmerksamkeit es meine Genossen von der Sicherungsgruppe gekostet haben mag, allein die Mitarbeit von Nora so abzusichern, daß wir mit der Zeit dahinterkamen, welchen Weg unsere Informationen nahmen, der Gegner aber keinen unserer diesbezüglichen Schritte bemerkte!

Ich mußte diese Gedanken hier einschieben, damit dem Leser etwas verständlich wird, was ich nun nicht länger verschweigen kann: Ich fand bei dieser Arbeit keine rechte Befriedigung. Selbstverständlich sah ich ihre Notwendigkeit ein. Und ebenso selbstverständlich bemühte ich mich darum, mein Bestes zu geben. Aber ich war es bisher gewohnt gewesen, nach bestimmten Normen zu arbeiten, und wenn ich sie erreicht und unterboten hatte, wußte ich: Du hast gut gearbeitet. Und hatte ich sie nicht erreicht, wußte ich: Du hast schlecht gearbeitet, und diese Sicherheit war mir immer wichtiger gewesen als Lob und Tadel seitens Vorgesetzter – die aber deshalb auch nicht unwichtig sind.

Diese Sicherheit fehlte mir hier völlig, und gerade das, worum die anderen mich ein bißchen kameradschaftlich beneideten, nämlich daß ich viel Zeit zum Nachdenken und Studieren hatte, gerade das bereitete mir oft Unbehagen.

Ich glaube, es geht mir da wie den meisten Menschen. Tritt man eine neue Tätigkeit an, ist man recht froh, wenn man zuerst einmal Gelegenheit erhält, sich gründlich umzutun, alle Zusammenhänge zu begreifen, auch die scheinbar unwesentlichen, betriebsgebundenen, die doch oft für die Arbeit sehr wesentlich werden – aber dann muß irgendwann der Zeitpunkt kommen, wo man seinen festen Platz im Gefüge einnimmt, seine festen Zuständigkeiten, seinen festumrissenen Kreis von Pflichten und auch Rechten hat. Denn sonst kann man nur diese oder jene Einzelarbeit, aber nicht seine gesamte Tätigkeit selbst beurteilen.

Es mag Leute geben, die so schwach sind, daß sie sich damit trösten: Wenn ich was falsch mache, wird es mir schon einer sagen! Und es mag Leute geben, die so stark sind, daß sie aus einem ständigen kritischen Überblick über das Ganze heraus jederzeit sich selbst und andere zutreffend einschätzen können. Ich gehöre weder zu den einen noch zu den anderen, wobei ich freilich glaube, daß man, um zur letzteren Gruppe zu gehören, nicht nur das entsprechende Talent und Wissen braucht, sondern auch viel mehr Lebenserfahrung, als ein Mensch mit fünfundzwanzig Jahren gemeinhin haben kann.

Ich war also unzufrieden, und zwar in doppelter Hinsicht: sowohl mit mir als auch mit der Arbeit. Vor allem an einem Umstand entzündete sich diese Unzufriedenheit immer wieder, daran, daß mein GLE-Gerät noch immer ungenutzt im Schrank stand. Horst Heilig vertröstete mich damit, daß wir noch nicht genug über den Gegner wußten und daß schon noch der Zeitpunkt kommen würde, wo ich Tag und Nacht an meinem Gerät würde sitzen müssen, aber das änderte nichts an meiner Stimmung.

Es ist klar, daß es jedem Menschen mit der Zeit lästig wird, immer wieder die gleichen Antworten zu hören – genau so, wie es lästig wird, immer wieder die gleichen Antworten geben zu müssen. Eines Tages wird man an der Stelle empfindlich; wer verheiratet ist, weiß das. Dann ist ein Krach beinahe unvermeidlich. Und dann entlädt er sich meist aus einem so geringfügigen Anlaß, daß sich jeder Außenstehende an den Kopf fassen würde.

Wir besprachen zu dritt die Wochenplanung. Ich hatte Sonntagsdienst gehabt, die beiden anderen waren aber auch nicht frei gewesen, im Gegenteil, während ich ein relativ ruhiges Leben auf der INSEL geführt hatte, mußte Werner Frettien das Wochenende nutzen, um mit einigen seiner getarnten Leute zusammenzutreffen, sowohl wegen der Vorbereitungen zur Eröffnung des Zeltplatzes im März als auch wegen unserer Jenenser Verbindung. Und Horst Heilig war zwar in Moskau gewesen, hatte aber die meiste Zeit im RGW sitzen müssen. Die beiden waren also ziemlich abgespannt, und ich war unzufrieden. Unzufrieden auch mit dem vorgeschlagenen Wochenplan. »Ich möchte jetzt ganz offiziell beantragen«, sagte ich – mir kommt der Ton und die Formulierung nachträglich auch lächerlich vor, aber damals war es mir sehr ernst, »daß Genosse Frettien täglich wenigstens eine Stunde Zeit bekommt, damit wir mit der Datenerfassung für die Arbeit am GLE-Gerät beginnen können.«

»Ich kann nur immer wieder sagen, wir sind noch nicht soweit«, erklärte Horst Heilig ruhig. Aber ich spürte, daß er sich beherrschen mußte, und unsinnigerweise reizte mich gerade das.

»Und wenn wir soweit sein werden, wird die Zeit nicht reichen!« trotzte ich. »Es handelt sich doch nicht einfach darum, beliebige militärische Daten in vorhandene Programme einzusetzen, das könnte ich auch allein. Hier muß doch alles umgewertet werden. Natürlich kann man unser Verhalten und das des Gegners auf militärische Verhaltensweisen abbilden, aber das kann ich eben nicht allein, sonst hätte ich’s schon getan, das können Sie mir glauben!«

Mein Ton brachte Werner Frettien auf, er machte einer Vorschlag, der an sich ganz passabel war und den wir dann auch später verwirklichten, aber es war verständlicherweise nicht gerade der freundschaftlichste Ton, indem er ihn vorbrachte.

»Arbeiten Sie doch eine Reihe von Fragen schriftlich aus«, sagte er, »und geben Sie mir das zur Beantwortung. Im Flugzeug und in der Bahn habe ich genug Zeit dazu. Sehen Sie sich doch Ihren Zettel und meinen an!«

Vor ihm lag ein mit Aufgaben und Terminen vollgeschriebener Zettel, während meiner fast leer war.

»Eben!« sagte ich. »Eben! Ich bin hier alles, vom Staatsschauspieler bis zum Berufskritiker, nur eins habe ich nicht, die Arbeit, die ich beherrsche und in der ich etwas leisten kann!« Ich wurde unsachlich. »Und wie hätten Sie’s denn gern – in zwei- oder dreifacher Ausfertigung? Soll der Rand zwei oder drei Zentimeter groß sein? Nee danke, zum Bürokraten bin ich nicht geboren!«

»Wir sind alle nicht zu dem geboren, was wir hier tun«, sagte Horst Heilig gefährlich leise. »Und keiner kann nur das tun, was ihm angenehm ist. Es geht immer darum, was nötig ist, und immer darum, was jetzt nötig ist.«

»Davon rede ich doch die ganze Zeit«, rief ich, »warum glaubt mir denn das keiner! Mit solchem Arbeitsstil würde eine militärische Einheit jedes Gefecht verlieren!«

Ich glaube, ich spürte selbst, wie ungerechtfertigt dieser Vorwurf war, aber ich war gereizt, und wenn man gereizt ist, wirkt die Schwäche der eigenen Position, die Haltlosigkeit des eigenen Arguments nur noch steigernd.

Nun wurde auch Horst Heilig wütend. Wir warfen uns alles mögliche an den Kopf, von Ressortgeist bis Kurzsichtigkeit, ich glaube, wir schrien uns sogar an – bis Werner Frettien ein Zeichen gab. Sofort waren wir still, und da hörten wir auf dem Korridor das Surren des Reinigungswagens.

Wir sahen uns bitterböse an und schwiegen – bis plötzlich Horst Heilig anfing unbändig zu lachen. Zuerst blickten wir beiden anderen verärgert, aber dann steckte das Lachen doch an.

»Kinder«, sagte Horst Heilig, »Kinder, bin ich froh, daß uns das jetzt passiert ist, sozusagen noch im Vorbereitungsstadium! Stellt euch mal vor, der Gegner stände schon vor der Tür! Wißt ihr was? Darauf heben wir einen!«

Er holte aus dem Wandschrank die Kognakflasche – ich schwöre, es war das erste Mal seit dem Tag, da wir uns kennengelernt hatten – und füllte die Gläser.

»Und jetzt, da wir den ersten Krach gehabt haben«, sagte er feierlich, »mache ich von meinem Recht als Ältester Gebrauch und schlage vor, daß wir uns duzen!«

Unser Beirat hatte sich mit bevorstehenden Arbeiten an den Storos befaßt und war dabei auf einen Gedanken gekommen, der zwar nicht direkt auf unserer Linie lag – Erhöhung der Funktionssicherheit –, schließlich aber doch dahin führte.

Dieser Gedanke hing mit dem sogenannten Angst-Lernen zusammen, und das zwingt mich, diesen Begriff etwas näher zu erläutern. Die Wirkungsweise des V-, A- und Z-Zentrums im Zentralrechner, die ich vor einigen Wochen meinen Genossen in der Sicherungsgruppe erläutert hatte, betraf nur deren Hauptfunktionen. Wie das in einem so komplizierten Gebilde nicht anders möglich ist, hatte jedes Zentrum noch eine Reihe von Nebenfunktionen. Und um eine solche Nebenfunktion des A-Zentrums ging es hier.

Es gab nämlich einen gewissen Bereich der Speicherkapazität des ZR, der normalerweise, also unter dem Regime des V-Zentrums, unzugänglich war. Wenn nun das A-Zentrum eingeschaltet wurde, flossen alle Informationen – sowohl die von außen kommenden als auch die über die eigene Tätigkeit – in diesen Bereich und wurden dort gespeichert. Danach gehörten sie wie alle anderen zum Bestand des inneren Umweltmodells, waren also auch bei V-Schaltung erreichbar, mit einer Besonderheit allerdings: Sobald ein Komplex dieser Informationen aufgerufen wurde, schaltete sich das A-Zentrum ein. Diese Einrichtung gab dem Storo die Möglichkeit, gewisse Signale, die in Begleitung mit komplizierteren Aufgaben auftraten, als eine Art Warntafel zu qualifizieren.

Um das an einem Vergleich deutlich zu machen: Ein Kraftfahrer übersieht sicherlich viele Details am Rande der Straße. Leuchtreklame oder Fassadengestaltung der Häuser werden ihm, außer wenn Interesse dafür vorliegt, kaum ins Bewußtsein dringen. Ein Verkehrszeichen jedoch veranlaßt ihn sofort, sich dessen Bedeutung bewußt zu machen.

Die Einprägung solcher Information wurde als Angst-Lernen bezeichnet, und damit sollte nächstens begonnen werden. Als wir den Arbeitsplan im Beirat kritisch unter die Lupe nahmen, fiel uns auf, daß für das erste Training auf diesem Gebiet unverhältnismäßig viel Zeit eingeplant war, und zwar wurde die Zeit benötigt, um dem Storo ein sehr kompliziertes Verbot einzugeben, das Verbot, sich dem Menschen zu nähern. Es sollte erreicht werden, daß der Storo bewegungslos blieb, sobald sich ein Mensch im Umkreis von weniger als einem Meter befand.

Auch wir hätten das wahrscheinlich als selbstverständlich und absolut notwendig hingenommen, wenn uns nicht der große Zeitaufwand stutzig gemacht hätte. Als wir mit Hilfe von Berechnungen und mathematischen Modellen tiefer in die Zusammenhänge eindrangen, erschien uns die Sache plötzlich fragwürdig, und wir hatten uns zum Vortrag beim Professor angemeldet.

»Ich höre!« sagte der Professor. Seine Augen glitzerten kampflustig.

»Wir schlagen vor, rund hundert Stunden einzusparen«, verkündete ich.

»Soll das ein Witz sein?« fragte der Professor verblüfft, und diese Verblüffung war durchaus verständlich, war doch der Arbeitsplan in vielen Beratungen schon aufs engste komprimiert worden.

»Ein Witz nicht, aber etwas unseriös schon«, erklärte ich. »Wir schlagen nämlich vor, das Training des Mensch-Verbots vom Arbeitsplan abzusetzen.«

»Herrschaften, ihr seid verrückt geworden!« rief der Professor und sprang auf. »Ich muß euch doch nicht erklären, daß das Mensch-Verbot seit je und für alle Zeit zu den festen, geheiligten Konstruktionsprinzipien für bewegliche, selbstprogrammierende Maschinen gehört!«

»Nein«, sagte ich, »müssen Sie nicht.«

Der Professor setzte sich wieder. »Na, dann schießen Sie mal los!«

»Wir wollen nichts aussagen für alle Zeiten und über alle jemals möglichen Typen von beweglichen, selbstprogrammierenden Maschinen, sondern nur über unsere Storos und nur für heute. Und dafür erscheint uns das Mensch-Verbot zunächst mal überflüssig.

Die Storos kommen – im aktivierten Zustand – mit Menschen überhaupt nicht in Berührung. Lediglich in der Ausbildung gibt es den einen oder anderen Punkt, wo das vielleicht möglich wäre, möglich, aber nicht notwendig. Zu diesem Zeitpunkt verfügen sie aber noch nicht über die Mittel, um einen erwachsenen Menschen überhaupt ernsthaft schädigen zu können – also zusätzliche Werkzeuge, Sprengstoff und so weiter. Im Einsatz sind sie aber gerade da, wo der Mensch nicht sein kann, das ist ja ihr Sinn und Zweck. Im Grunde, und das ist der springende Punkt, braucht es den Menschen in ihrem Umweltmodell überhaupt nicht zu geben, und folglich auch nicht als Verbot.«

»Das ist zweifellos richtig«, antwortete der Professor nach einigem Nachdenken, »aber es reicht nicht aus. Die Entscheidung, die Sie verlangen, ist prinzipieller Natur, und Sie wissen ja, prinzipielle Entscheidungen von Zweckmäßigkeitserwägungen abhängig zu machen ist Opportunismus, wenn auch kein politischer.«

»Das ist auch noch nicht alles«, sagte ich. »Ich mache Ihnen einen – zugegeben recht primitiven – Vorschlag, wie ich alle Storos, die das Mensch-Verbot intus haben, außer Betrieb setze. Mit einer einfachen Schaufensterpuppe, die ich zwischen den Storo und seinen Arbeitsplatz stelle.«

»Und es fragt sich sehr«, ergänzte Gerda Sommer, »ob es nicht schon genügen würde, die Umrisse eines Menschen an die Wand zu malen. Technische Anlagen sind nämlich für den Storo viel leichter zu unterscheiden, weil sie alle irgendwie ausgeprägt geometrische Formen haben.«

»Wir haben überprüft«, schaltete sich Nora Siebenstein in das Gespräch ein, »daß der Mensch wahrscheinlich der einzige Gegenstand von nicht-einfacher geometrischer Form ist, der im ZR widergespiegelt wird. Es ist möglich – oder nein, erst noch einen anderen Gedanken: Da wir ihm den Menschen in allen möglichen Lagen und Stellungen vorführen müssen, wenn das Verbot überhaupt einen Sinn haben soll, ist es möglich, daß er außer der Größenordnung gerade die geometrische Unregelmäßigkeit als entscheidendes Merkmal speichert. Dann würden aber auch später alle Erscheinungen von Menschengröße und unregelmäßiger Gestalt Betriebsunfähigkeit auslösen. Um da zuverlässige Abgrenzungen zu schaffen, wäre möglicherweise viel mehr Zeit erforderlich, als wir sie überhaupt haben.«

Der Professor saß da und sagte kein Wort. Ich spielte meinen letzten Trumpf aus: »Da wir nach unseren letzten Erkenntnissen den Umfang der Fertigkeiten des Storo erhöhen müssen, wächst auch der Umfang der freien Speicherkapazität für das Angst-Lernen, die er nach der Ausbildung noch haben muß. Nach ersten Berechnungen, die wir angestellt haben und die natürlich nur Überschlagsrechnungen sind, läßt das Mensch-Verbot nicht genügend Kapazität übrig. Das heißt, auf Kosten der Vorbeugung einer Situation, die niemals stattfinden wird, nämlich daß der Storo im Einsatz einem Menschen begegnet, wird seine Funktionssicherheit in tatsächlich auftretenden Situationen herabgesetzt.«

»Was meinen Sie?« fragte der Professor den Parteisekretär.

Sepp Könnecke dachte eine Weile nach, bevor er antwortete. »Ich meine«, sagte er dann, »den Menschen dort zu schützen, wo er gar nicht ist, ob nun auf dem Jupiter oder in einer vollautomatisierten Anlage –, das kann doch nur heißen, seine Interessen zu schützen, also nichts zuzulassen, dessen Folgen für den Menschen negativ sind: Also: Produktionssicherheit.«

»Alles sehr überzeugend«, sagte der Professor, »alles sehr überzeugend.« Aber er sagte es in einem Ton, der erkennen ließ, daß er noch nicht überzeugt war. »Ich danke Ihnen jedenfalls, wir werden das gründlich prüfen. Sie werden wohl verstehen, daß man Grundsätze nicht ohne allseitige Untersuchung über den Haufen wirft. Sonst – aber ich will mich nicht wiederholen. Danke.«

Während wir uns über die zukünftigen Arbeiten den Kopf zerbrachen, waren die gegenwärtig laufenden wieder an einen entscheidenden Punkt gekommen. Meist war es so, daß der erste Schritt in einer neuen Etappe der schwierigste und wichtigste war. War der einmal gefunden, so konnte man darauf aufbauen und die Fertigkeiten der Storos sehr schnell vervollkommnen.

Etwa in vierzehn Tagen sollte nun mit der Ausbildung in den Grundfertigkeiten begonnen werden, und zwar auf vier Gebieten: Metall und Plast, Elektrik-Elektronik, Laborarbeiten und Prozeßsteuerung. Die wichtigste Voraussetzung – dafür war, daß die Storos lernten, aus dem Bild in den Raum zu übertragen, aus der zweidimensionalen Darstellung in die dreidimensionale Wirklichkeit. Denn der Unterricht würde mit Hilfe von speziellen Bildschirm-Lehrbüchern erteilt werden. Später im Einsatz mußten die Storos ja auch mit grafischen Darstellungen, Schaltbildern und dergleichen arbeiten können.

Dieser Schritt war nicht mehr durch Anschauung allein, sondern nur noch durch Aktion zu erlernen. Das war weitaus schwieriger als alles Bisherige, und es war nicht vorauszusehen, wie lange es dauern würde.

Wir besuchten aus diesem Anlaß wieder Caesar. Durch die Glasscheibe sahen wir im Versuchsraum außer dem Storo die übliche Mattscheibe und, etwas davon entfernt, ein Regal, das an der Wand hing. Seine zwei Fächer waren noch leer.

Als wir kamen, legte gerade ein Mitarbeiter kleine Würfel und Tetraeder in die Fächer, ungleichmäßig verteilt, drei Stück von jedem.

»Probelicht!« befahl Gerda Sommer.

Plötzlich leuchteten die Körper auf – die Würfel rot und die Tetraeder blau. Sie waren aus einem Material, das durch ultraviolette Strahlung zum Leuchten angeregt wurde. Die Strahlungsquelle mußte irgendwo hinter dem Regal angebracht sein, wir sahen sie nicht.

»Wand aus!«

Die Würfel erloschen.

»Anordnung eins herstellen.«

Der Mitarbeiter nebenan legte die drei Würfel unten links übereinander, die Tetraeder oben rechts dicht nebeneinander. Dann verließ er den Raum.

»Akku-Kassette einlegen. Bildschirm ein!«

Auf dem Bildschirm leuchteten drei rote Quadrate und drei blaue Dreiecke auf, unregelmäßig verteilt. Offenbar wurde wieder der erste Schritt auf dem neuen Wege an Hand der einfachsten geometrischen Figuren vollzogen. Und das war auch sehr zweckmäßig, spielte doch die Geometrie im inneren Umweltmodell der Storos eine entscheidende Rolle.

Nun begannen sich die Figuren auf dem Bildschirm zu verschieben, zunächst in die verschiedensten Richtungen, bis sie schließlich zwei Reihen bildeten: oben die Quadrate, unten die Dreiecke, mit gleichmäßigen Abständen voneinander.

»Bildschirm aus, Wand ein!«

Die Körper im Wandregal leuchteten auf. Und da – der Storo drehte den Kopf!

Aber das war alles. Auch beim zweiten und dritten Versuch machte Caesar keine Anstalten, zur Aktion überzugehen.

»Zu schwer«, sagte Gerda Sommer, »wir müssen ihm die Aufgabe irgendwie erleichtern.«

»Vielleicht liegt es daran«, überlegte Nora laut, »daß die drei Würfel übereinanderliegen, sie wirken wie ein Stück.«

Das wurde korrigiert und der Versuch wiederholt – auch jetzt ergebnislos.

Caesar, ohne Aufgabe, begann sich regellos im Raum zu bewegen, drehte sich, machte ein paar Schritte hierhin, ein paar dorthin, schwenkte die Arme.

»Wand eingeschaltet lassen, mal sehen, was er tut!« sagte Gerda. »Vielleicht findet er noch hin!«

Tatsächlich blieb Caesar bei seinem langsamen, regellosen Umherschweifen ein paarmal vor den leuchtenden Körpern stehen, aber er griff nicht danach. Als er gerade mal wieder davorstand, ließ Gerda den Bildschirm zusätzlich einschalten. Caesar drehte den Kopf zum Bildschirm hin und wieder zum Regal zurück. Dann begann er wieder zu wandern, hielt aber jetzt den Kopf immer entweder auf den Schirm oder auf das Regal gerichtet.

Und plötzlich, ohne sichtlichen Anlaß, marschierte er auf das Regal zu und stellte mit geschickten Griffen – Greifen und andere Bewegungen waren inzwischen trainiert worden – die auf dem Bildschirm vorgezeichnete Ordnung her, mit einem Unterschied allerdings: Würfel und Tetraeder blieben in den Fächern, in denen sie gelegen hatten, also die Würfel unten und die Tetraeder oben, während es auf dem Bildschirm bei den vergleichbaren Quadraten und Dreiecken umgekehrt war.

Gerda wollte schon abschalten lassen, aber Nora empfahl: »Laß mal weiterlaufen!«

Und richtig – Caesar nahm seine Wanderung wieder auf, kehrte nach einem Rundgang durch den Raum schnurstracks zum Regal zurück und vertauschte die Würfel und Tetraeder.

Das alles hatte die Zeit in Anspruch genommen, für die die Akku-Ladung reichte. Gerda Sommer beendete den Versuch und stellte Caesars Verhalten zur Diskussion.

Nach anfangs zögerndem, dann immer lebhafter werdendem Streit wurde Übereinstimmung erzielt über folgende Analyse von Caesars Verhalten: Caesar zeigte fünf verschiedene Verhaltensweisen, und zwar:

Erste Verhaltensweise – ein sogenanntes Nullverhalten: keine Aktivität, da aus den eingegangenen Informationen kein Auftrag formulierbar.

Zweite Verhaltensweise – ziellose Aktivität, entstanden aus Nullverhalten durch Aufschaukelung. Da Nullverhalten infolge der Wirkung des V-Zentrums unstabil ist, entstand aus minimalen zufälligen Informationen sowohl von außen als auch von innen zufällige Bewegung, die sich immer neue Richtungen zum Ziel setzte, aber wieder abgebrochen wurde, da der Raum selbst und seine Begrenzung bereits in das Innenmodell aufgenommen waren. Daraus entstand zunächst in Ansätzen, dann mit zunehmender Konsequenz die dritte Verhaltensweise – Vergleich des Bildschirms mit dem Regal und Feststellung einer Analogie, die bis zur Anordnung reichte.

Vierte Verhaltensweise – Aktion zur Herstellung der vorgegebenen Anordnung, folgt unmittelbar aus der Feststellung, daß mit den gegebenen Elementen im Regal eine ähnliche Anordnung hergestellt werden kann wie die im Modell gespeicherte.

Fünfte Verhaltensweise – nur scheinbar eine Wiederholung der dritten, in Wirklichkeit enthält sie neue Qualitäten. Offenbar sind bei der dritten Verhaltensweise bereits Ansätze einer Analogie zwischen den Figuren auf dem Schirm und den entsprechenden Körpern festgestellt, also zwischen Quadrat und Würfel beziehungsweise zwischen Dreieck und Tetraeder. Jetzt wird diese Analogie aktiv gesucht, und zwar durch Betrachten von allen zugänglichen Seiten, also so lange, bis der Würfel wirklich einmal als Quadrat und der Tetraeder wirklich einmal als Dreieck gesehen wurde. Danach sofort Wiederholung der vierten Verhaltensweise – Aktion.

Der eigentliche Zweck – Herstellung einer Beziehung zwischen räumlichem Gegenstand und bildlicher Darstellung – schien erreicht. Das galt es nun zu kontrollieren. Dazu wurde das Experiment wiederholt, aber ohne Farben.

Es dauerte fast so lange wie das erste, vielleicht weil Caesar, wie wir ja schon wußten, besonders farbempfindlich war, aber es führte zum gleichen Ergebnis.

Der dritte, vierte und fünfte Versuch waren Wahlversuche – Caesar sollte auf Grund der Abbildung auf dem Schirm jeweils aus Kugel, Würfel und Tetraeder einen Körper aussuchen und in das Regal legen. Diese Versuche liefen zunehmend schneller ab.

Bald kam die erste wirkliche Arbeitsverrichtung: Caesar sollte, nach dem Vorbild des Bildschirms, einen Bolzen in eine Hülse stecken. Es ist nicht zu beschreiben, wieviel komisches Ungeschick der Storo dabei an den Tag legte. Man wurde buchstäblich an das Spiel der Affen mit Gegenständen erinnert, nur daß der Storo sich natürlich nicht zwischendurch am Kopf oder am Bauch kratzte. Aber schon die Wiederholung war wesentlich geschickter, und beim drittenmal hatte Caesar sein Verhalten bereits optimiert. Das Ziel war erreicht das Ziel dieser Versuchsreiche, auf dem nun in schneller Folge alles aufgebaut werden konnte, was zur Vorbereitung der folgenden Etappe notwendig war.

Vielleicht mögen dem einen oder anderen diese Versuche mit ihrem einfachen Repertoire an Gegenständen kindlich erscheinen. Aber bis heute hat sich am Aufbau der Storo-Ausbildung wenig geändert, ich meine prinzipiell. Hier und da wurde in den letzten zehn Jahren gestrafft, die Methoden sind weitgehend automatisiert, aber die Etappen und vor allem die ersten Schritte auf jeder Etappe blieben die gleichen. Man muß sich immer wieder darüber klar sein, daß der ZR, der Zentralrechner des Storo, alle die bemerkenswerten und manchmal unglaublichen Fertigkeiten des Storo nur als Möglichkeit enthält, und daß die Aufgabe, daraus wirkliche Fertigkeiten zu entwickeln, schwieriger ist als die Abrichtung eines Tieres – und das wird so bleiben, bis wir einmal in der Lage sein werden, auch unbedingte Reflexe technisch zu modellieren.

Horst Heilig nahm mich mit zum Professor, er wollte eine schwierige Frage unserer Arbeit mit ihm besprechen. Ich wußte nicht, warum er mich dabeihaben wollte, mir fiel nur auf, daß er nervös zu sein schien – etwas, was ich an ihm noch gar nicht kannte.

Es war ein herrlicher Vorfrühlingstag, und Horst Heilig machte ein paar Bemerkungen über das Wetter – sehr zum Erstaunen des Professors und auch zu meiner Verwunderung, denn sonst war es bei uns üblich, geradezu auf das Ziel loszugehen. Na, dachte ich, wenn das so ist, nutze die Gelegenheit!

»Ist die Entscheidung in puncto Mensch-Verbot schon gefallen?« fragte ich den Professor.

»Wir haben alles überprüft und durchgerechnet«, antwortete der Professor. »Ihre Argumente stimmen. Der neue Plan liegt auch schon hier«, er deutete auf seinen Schreibtisch, »und trotzdem zögere ich noch.«

Ich schwieg und sah ihn wartend an. Auch Horst Heilig war aufmerksam geworden, er kannte die Zusammenhänge, ich hatte ihn informiert.

»Ich habe zwei Gründe für dieses Zögern«, fuhr der Professor fort, »aber ich habe ja auch noch eine gute Woche Zeit für die Entscheidung.«

»Darf man die Gründe erfahren?« fragte Horst Heilig brummend.

»Deswegen sind Sie doch wohl nicht zu mir gekommen?«

»Nein, aber es interessiert mich.«

»Also gut«, sagte der Professor, »meinetwegen. Der erste Grund ist der, daß ein Verzicht auf das Mensch-Verbot einen Bruch mit allem darstellen würde, was bisher auf dem Gebiet des Roboterwesens für gut und richtig angesehen wurde. Erst kürzlich hat Professor Williams in ›Science‹ Material dazu veröffentlicht…«

»Bernard F. Williams?« fragte Horst Heilig.

»Ja«, sagte der Professor, »eine Kapazität auf unserem Gebiet. Immerhin haben die Amerikaner mit Robotern allerhand Erfahrungen, und wir müssen uns nicht in die Lage von Leuten begeben, die die Dampfmaschine neu erfinden. Sie haben dort auch auf das Mensch-Verbot verzichten wollen und schlechte Erfahrungen damit gesammelt.«

»Einverstanden«, erklärte Horst Heilig, »was die Dampfmaschine betrifft. Man sollte aber auch nicht unbedingt die Dampfmaschine von James Watt originalgetreu nachbauen. Soviel ich weiß, machen sie doch dort das große Geschäft mit Küchenrobotern, indem sie die Dinger zum Standardsymbol des gehobenen Mittelstands gemacht haben – also zu dem, was früher mal der Straßenkreuzer war. Diese Dinger brauchen natürlich solch ein Verbot, sie kommen ja dauernd mit Menschen zusammen. Außerdem haben sie kein inneres Umweltmodell, sondern arbeiten nur in Normküchen nach festen Programmen, lediglich die Bewegungen unterliegen ein bißchen der Selbstregulierung. Aber wenn Sie als glücklicher Besitzer eines solchen Roboters die Boxen für Salz und Zucker verwechseln, liefert er Ihnen salzigen Pudding und süßen Braten.«

Ich staunte mal wieder, was mein Inspektor alles wußte, aber der Professor lachte.

»Sie haben also den Artikel auch gelesen?«

»Ja«, antwortete Horst Heilig, »ich habe sogar noch einen Artikel von dem Herrn hier, aus der neuesten Ausgabe.« Er reichte sie dem Professor. »Wir haben vor einigen Wochen dem Gegner freundlicherweise die Information zukommen lassen, daß wir uns über die Frage serielle oder selektive Methode streiten. Da haben Sie das Ergebnis!«

Der Professor überflog den Artikel, ich konnte die Überschrift entziffern. Sie lautete auf deutsch: Die Vorteile der selektiven Methode.

»Wollen Sie damit andeuten, daß Professor Williams bestellte Arbeit liefert?« fragte der Professor ungläubig.

»Ja, das wollte ich damit zart andeuten.«

»Immerhin ein Gelehrter von Weltruf!«

»Der seinen Lehrstuhl verließ und in den Vorstand der General Electric eintrat. Und danach diese Artikel schrieb. Und was war der zweite Grund?«

»Was für ein zweiter Grund?« fragte der Professor etwas verwirrt. »Ach so ja – für mein Zögern. Der zweite Grund ist, daß der Verzicht auf das Mensch-Verbot dem Gegner Stoff liefern würde für eine Flut von Verleumdungen.«

Horst Heilig wiegte den Kopf. »Wir müssen’s ihm ja nicht auf die Nase binden, wenigstens nicht gleich. Und außerdem, mit der Verleumdungskampagne wartet er nicht, bis wir ihm Stoff liefern, die läuft schon auf Hochtouren. Wollen Sie ein paar Spitzenmeldungen der USA-Presse von voriger Woche hören? Hier:

WELTUNTERGANG DURCH ROBOTER? Der Bund der Geschworenen des Jüngsten Gerichts verurteilt Technokratie!

MASCHINENSTÜRMER AM ISKU-FLUSS! Arbeitslose Landarbeiter zerstören automatisierte Farmen in Afrika.

ROBOTER VERBRÜHT BABY! Flüchtender Küchenroboter verursacht Verkehrschaos in Upperton!

DEANEY: HALTET UNS DIE ROBOTER VOM LEIBE! Gewerkschaftsführer droht mit Streik gegen Pläne zur Einstellung von Robotern.

KRACH IM KREML? Vor Auseinandersetzungen in der kommunistischen Führung über die Roboterfrage.

Reicht das, oder wollen Sie noch mehr? Ich kann das beliebig fortsetzen.«

»Nein, nein, um Himmels willen, es reicht!« rief der Professor lachend.

»Na sehen Sie«, brummte Horst Heilig, »das einzige Mittel, der Verleumdung aus dem Wege zu gehen, besteht darin, auf die Storos zu verzichten. Und das wollen wir ja partout nicht.«

»Also gut, ich gebe mich geschlagen«, sagte der Professor. »Aber nun mal wirklich zur Sache – worum geht’s?«

»Wir sind schon mitten drin«, meinte Horst Heilig. »Die gegen uns arbeitende Gruppe wird natürlich von ihren Auftraggebern gedrängt, Ergebnisse vorzuweisen, wenigstens zunächst hauptsächlich in Form von Informationen. Sie hat aber bisher nur den Kontakt, der über Nora Siebenstein läuft. Und der gibt nicht viel her, sie können nur aus ihrem munteren Geplauder Rückschlüsse ziehen, was sie ja auch fleißig tun, wie der Artikel beweist.«

»Sind Sie sicher, daß das ihr einziger Kontakt ist?« fragte der Professor besorgt.

»Ziemlich. Wenn sie einen hätten, den wir nicht kontrollieren, dann würden sie wissen, daß wir schon viel weiter sind und die Frage selektiv oder seriell längst hinter uns haben. Dann wäre aber der Artikel nicht erschienen. Und auf jeden Fall würden sie den Kontakt mit Nora abbrechen, weil sie ihn durchschauen würden.

Sie können sich aber auch nicht zufriedengeben mit dem, was sie durch Nora erfahren haben. Sie wissen selbst, daß solch ein Artikel nicht viel ausrichtet. Sie müssen etwas unternehmen.«

»Und das bereitet Ihnen Sorgen.«

»Ja. Ich bin sogar ein bißchen nervös. Ganz offen, ich sorge mich um unsere Mitarbeiter. Daß nicht plötzlich einer einen Unfall erleidet, so daß er durch jemand anders ersetzt werden muß. Nein, kein leitender Mitarbeiter, da würden sie auch an einen Ersatzmann nicht herankommen. Aber…«

Er breitete die Arme und schwieg.

»Was können wir denn da tun? Da muß man doch was machen!« rief der Professor.

»Wir können ja nicht für jedes Belegschaftsmitglied einen Bewacher stellen«, sagte Horst Heilig.

Der Professor sah ihn argwöhnisch an.

»Wollen Sie mich auf kleiner Flamme schmoren lassen? Sie haben doch etwas Bestimmtes im Auge!«

»Ja«, sagte Horst Heilig plötzlich sehr bereitwillig. »Wir müssen dem Gegner mal eine richtige Information zukommen lassen. Eine handfeste, die er zu Hause vorzeigen kann. Und zweitens müssen wir ihm einen anderen Kontakt vermitteln, der mehr verspricht, und den Kontakt Nora abbauen. Wir müssen drittens auch mal einen kleinen Erfolg zeigen, sonst wird er mißtrauisch, weil er uns genausowenig für dumm hält wie wir ihn. Und diesen Erfolg hätten wir, wenn wir Noras Kontaktleute fassen – aber erst, wenn er es verschmerzen kann.«

»Ein gutes Programm«, sagte der Professor. »Und was soll ich dabei? Der Teufel steckt im Detail, wie?«

»Für Punkt eins hätte ich einen Vorschlag. Die anderen Punkte sind noch nicht so klar, darüber müssen wir erst noch mal in der Sicherungsgruppe sprechen.«

»Gut, also was wollen Sie dem Gegner in den Rachen werfen?«

»In zirka vierzehn Tagen werden die Maschinen für Metallbearbeitung geliefert, an denen die Storos ausgebildet werden sollen. Das ist Ende April. Schlechtes Wetter. Viele Leute kriegen Schnupfen. Vielleicht auch ein paar Kraftfahrer des Transportbetriebes. Wenn man dem Gegner einen Tip geben würde, könnte er da einen Mann einschmuggeln.«

»Und der würde hier in die INSEL kommen?« fragte der Professor entsetzt.

»Ja. Aber der Stollen bliebe natürlich zu, und Kontakt aufnehmen könnte er auch nicht.«

»Was soll er aber hier tun?«

»Was wird er tun?« wiederholte Horst Heilig im gleichgültigsten Ton der Welt. »Zum Beispiel fotografieren!«

»Sie sind verrückt!« rief der Professor, sprang auf und lief im Zimmer hin und her. Ich muß zugeben, auch ich war etwas schockiert. Plötzlich blieb der Professor stehen, lachte und sagte: »Ich verstehe – und Sie tauschen den Film aus gegen einen andern?«

»Nein«, sagte Horst Heilig.

»Sie wollen wirklich, daß der Gegner Fotos von der INSEL bekommt?« fragte der Professor, immer noch zweifelnd.

»Ja.«

»Das kommt nicht in Frage!«

»Ich bin sicher, daß wir uns einigen!« sagte Horst Heilig in aller Ruhe. »Setzen Sie sich wieder hin, Professor, und hören Sie mir zu. Sie sind darüber genauso entsetzt, wie der Gegner erfreut sein wird, und das bestärkt mich noch in meinem Vorschlag. Man darf in dem Kampf, den wir führen, den psychologischen Faktor nicht unterschätzen. Für eine Agentenzentrale ist auch heute noch der Mikrofilm das Nonplusultra, weil er nämlich gleich zwei wesentliche Informationen enthält: erstens das, was aufgenommen wurde, und zweitens die Tatsache, daß es aufgenommen wurde.

Was erfährt er nun wirklich durch das, was aufgenommen wurde? Über die Gestalt des Tales und den Ort des Stolleneingangs kann er sich ohne große Schwierigkeiten informieren, und wenn er es noch nicht getan haben sollte, wird er es sicher zur Kontrolle nachholen, sobald er den Film hat.

Auch die Lage unserer Hütte würde nicht schwer zu ermitteln sein. Es haben genügend Leute am Aufbau gearbeitet.

Was erfährt er noch? Daß wir Metallbearbeitungsmaschinen kommen lassen. Das könnte er sich selbst ausrechnen.

Das einzige, was wir wirklich verraten, ist die Existenz des zweiten Tores hinter der Biegung an der Felsenecke. Und sogar das wäre für ihn auch anders zu ermitteln. Na?«

»Das klingt ja alles ganz logisch«, sagte der Professor, »aber wenn Sie mich fragen…«

»Dann kommt Ihnen das irgendwie unheimlich vor, nicht wahr? Sehen Sie, mir kommen die Storos auch unheimlich vor, das kommt daher, sage ich mir, weil ich nicht mit ihnen vertraut bin. Der Professor zum Beispiel, sage ich mir, hat solche Gefühle bestimmt nicht – ich meine, den Storos gegenüber.«

»Vielen Dank für die freundliche Lektion«, sagte der Professor. »Und was weiter?«

»Jetzt kommt zweitens die Tatsache, daß der Film aufgenommen wurde. Was erfährt der Gegner dadurch? Erstens, daß er unentdeckt und erfolgreich, also gut arbeitet. Zweitens, daß der Kontakt Nora absolut glaubwürdig ist und folglich auch jeder andere Kontakt, der über diesen aufgebaut wird. Drittens, daß wir es für einen großen Erfolg halten müssen, wenn wir später die Kontaktleute greifen können. Nebenbei bemerkt, wenn ich der Gegner wäre, würde ich uns dabei eine Kopie des Films in die Hände spielen, um das zu bekräftigen.«

»Wird er das nicht verhindern? Ich meine, daß wir die Kontaktleute kriegen?«

»Er wird mindestens eine Randfigur opfern. Weil es unsere Arbeit psychologisch stören muß, wenn wir Nora verhaften und bestrafen müssen. Das gibt Mißtrauen im Kollektiv, Rückschläge in der Arbeit und so weiter.«

Eine lange Pause folgte.

Schließlich sagte der Professor: »Sie informieren mich doch noch über den genauen Ablauf?«

»In Ordnung«, antwortete Horst Heilig.

»Uff, das war ein hartes Stück Arbeit!« sagte Horst Heilig, als wir die Treppe zu unserem Zimmer hinaufstiegen.

»Wie ist das eigentlich«, fragte ich ihn, »hätten wir das auch ohne die Genehmigung des Professors machen können?«

»Würdest du das für richtig halten?«

»Nein, das nicht. Aber sag mal, warum hast du mich eigentlich mitgenommen?«

»Als Reserve. Wenn ich ins Stocken gekommen wäre, war dir bestimmt auch noch was eingefallen. Und dann hast du mir ja auch schön über den Anfang hinweggeholfen.«

In unserem Zimmer saßen Werner Frettien und Nora Siebenstein. »Endlich!« rief sie, als wir hereinkamen.

»Wir wissen nämlich jetzt«, sagte Werner, »wer der Kontaktmann ist!«

Doch bevor wir Näheres erfahren konnten, klingelte das Telefon. Horst Heilig hob ab. Sein Gesicht nahm einen verblüfften, ja geradezu bestürzten Ausdruck an.

»Alarm!« sagte er. »Jemand ist eingedrungen, verläßt anscheinend aber wieder die INSEL. Werner, du nimmst die Wachmannschaft. Geht gleich außenrum und nehmt die Verfolgung auf. Nimm das Sprechfunkgerät mit. Jürgen, du bleibst bei mir. Nora, Sie gehen jetzt irgendwohin, wo man Ihr erregtes Gesicht nicht sieht, und verraten keinem Menschen ein Wort. Los!«

Als wir beide allein waren, nahm Horst Heilig die Karte aus dem Schrank und breitete sie aus. Er tippte auf den Sektor, wo offenbar der Einbruch erfolgt war.

»Wenn ich bloß wüßte, was das soll!« murmelte er.

Der betreffende Sektor lag auf der Seite des Tals, die dem Autobahnparkplatz zugewandt war.

»Sollten wir nicht zum Parkplatz fahren?« fragte ich.

»Unsinn, viel zu einfach«, murmelte Horst Heilig, änderte aber seine Meinung plötzlich. »Du hast recht!« sagte er. »Komm!«

Am Tor trafen wir noch Werner Frettien, der gerade letzte Anweisungen gab.

»Der Kerl hat sich davongemacht!« rief er uns zu. »Die erste Streife meldet, sie hat die Stelle gefunden, wo er über den Zaun gestiegen ist!«

»Nimm die Hälfte der Leute und verfolge ihn in Richtung Autobahn«, wies Horst Heilig an. »Die anderen sollen in Bereitschaft bleiben. Die Anlage bleibt voll eingeschaltet. Wir fahren inzwischen zum Parkplatz!«

»Verstanden!«

Horst Heilig holte aus dem Motor heraus, was er hergab. Trotzdem war es fraglich, ob wir noch rechtzeitig dort ankommen würden – zu groß war der Umweg, den wir machen mußten, im Vergleich zur Luftlinie. Die Autobahnstreife der Verkehrspolizei, die ich mehrmals anzurufen suchte, meldete sich nicht, und dann, als ich sie schließlich erreichte, war sie noch weiter vom Parkplatz entfernt als wir.

Als wir schließlich in den Parkplatz einbogen, stand dort nur ein kleiner PKW, vor dem eine Familie auf Klappstühlen in der Sonne saß und frühstückte.

»Ach, entschuldigen Sie«, fragte Horst Heilig, »haben Sie hier einen Wagen gesehen, der auf jemand gewartet hat? Wir waren nämlich verabredet.«

»Wenn Sie den meinen, der den Waldlauf gemacht hat«, sagte der Vater, »der ist gerade weg. Vielleicht vor fünf Minuten.«

»Ja, wir haben uns auch sehr verspätet. So, einen Waldlauf hat er eingelegt? Sieht ihm ähnlich, er ist nämlich Spitzensportler und nutzt jede Gelegenheit zum Training.«

»Sehn Sie«, sagt der Mann, »ich hab’ mir doch gleich so was gedacht. Kommt wie ein Irrer aus dem Wald gehetzt, guckt, geht gemütlich zu seinem Wagen, guckt noch mal, setzt sich ’rein und fährt los!«

»Na ja, wir werden ihn schon noch einkriegen!« sagte Horst Heilig freundlich und fuhr wieder an.

Als wir den Parkplatz verlassen hatten, hielt er und nahm das Sprechfunkgerät heraus.

»Werner, hörst du mich?«

»Höre mit fünnef!« kam prompt die Antwort.

»Wo seid ihr jetzt?«

»Nicht mehr weit von der Autobahn. Man hört schon den Verkehr. Zweimal haben wir ihn gesehen.«

»Hat er euch auch gesehen?«

»Das war nicht zu vermeiden, sonst hätten wir zuviel Zeit verloren.«

»Gut«, sagte Horst Heilig, »kehrt jetzt um, der Kerl ist weg.«

»Verdammt!«

»Und noch was – wenn ihr zurückkommt, untersucht doch mal sorgfältig die Umgebung vom Tor, vielleicht so in hundert Meter Umkreis, ob ihr da Spuren findet.«

»Soll ich dich ablösen?« fragte ich, als ich sah, wie unkonzentriert Horst Heilig fuhr.

»Ja, das ist eine gute Idee!« sagte er. »Und fahr langsam – jetzt haben wir Zeit, und unsere Gedanken müssen jagen.«

Während ich in gemütlichem Tempo zurückfuhr, hatte Horst Heilig den Kopf angelehnt und die Augen geschlossen, als ob er schliefe. Nur in Abständen von vielleicht fünf Minuten öffnete er die Augen, sah mich mit einem leeren Blick an und schüttelte den Kopf. Zuerst dachte ich, er wolle meine Fahrweise kritisieren, aber bald merkte ich, daß er mich gar nicht wahrnahm, sondern vollauf damit beschäftigt war, eine Vermutung nach der andern aufzustellen und wieder beiseite zu legen.

Als wir zurückkamen, erwartete uns am Tor Werner Frettien.

»Ein Stück vom Tor entfernt hat einer auf einem Baum gesessen«, berichtete er. »Wir haben frische Einkerbungen von Steigeisen gefunden.«

Horst Heilig nickte.

»Kommt«, sagte er. »Die Alarmbereitschaft können wir übrigens abblasen.«

Ich war einerseits erregt durch den Vorfall, wie man wohl verstehen wird; aber andererseits auch etwas niedergeschlagen, als ich die Bilanz zog über diesen Vormittag, das Gespräch mit dem Professor eingeschlossen. Denn welche Rolle hatte ich schon gespielt, an welchem Punkt war ich eigentlich nicht überflüssig gewesen?

Aber das waren meine Privatwehwehchen, ich mußte sie unterdrücken, denn ich merkte sehr wohl, daß Horst Heilig diesen Vorfall nicht einzuordnen wußte in seine Vorstellung von den Plänen des Gegners.

»Was meinst du«, fragte er mich plötzlich, »welchen Sinn hat diese Geschichte?«

Ich erinnere mich an die Überlegungen, die ich seinerzeit im Falle Tobias angestellt hatte, und sagte: »Ich nehme an, der Gegner will unser Alarmsystem testen.«

Horst Heilig nickte langsam, und ich freute mich schon, das Richtige getroffen zu haben, da sagte er: »Ja, ich glaube, genau das sollen wir denken.«

Als er mein betroffenes Gesicht sah, lachte er leise und fuhr fort: »Entschuldige, es ging mir nicht darum, dich aufs Glatteis zu führen, ich mußte einfach deine Unerfahrenheit ausnutzen, weil ich mich schon in ein derartiges Gestrüpp von Spekulationen und Schlußfolgerungen verwickelt hatte… Komm, sei nicht beleidigt, wir müssen alle unsere Fähigkeiten nutzen, darunter auch deine, etwas ziemlich unvoreingenommen zu sehen.«

Ich wollte meine Ansicht verteidigen.

»Du hast selbst vorhin beim Professor gesagt, der Gegner wird von seinen Auftraggebern gedrängelt. Irgend etwas muß er doch tun! Und ist die Aufklärung unserer Sicherungen etwa nicht wichtig für ihn?«

»Doch, sicher, das nimmt er am Rande mit. Aber das wäre nie ein zureichender Grund, einen Teil seiner Tarnung aufzugeben. Wenigstens nicht im jetzigen Stadium.«

»Wir haben doch mit deinem Gerät schon ein bißchen gearbeitet«, erinnerte Werner Frettien, »denk doch mal an die Fluchtwege.«

Tatsächlich, er hatte recht – nachdem ich mit seiner Hilfe die Topographie unserer Gegend für das Gefechtsleitgerät bearbeitet hatte, war ich bei ersten Berechnungen auf zwei Fluchtwege gestoßen, auf denen ein Aufklärer die Chance hatte, unentdeckt zu entkommen, wenn er sich nicht zu lange im oder am Objekt aufhielt. Der Weg zur Autobahn gehörte nicht dazu.

»Siehst du«, sagte, Horst Heilig, »dein Gerät fängt an, sich auszuzahlen. Wenn der Gegner geradewegs zur Autobahn flüchtet und dort vor den Augen von Zeugen in sein Auto steigt, so muß das beabsichtigt sein.«

Ich gab noch nicht auf.

»Vielleicht wollte er außerdem herauskriegen, wie unsere Verbindung zu anderen Dienststellen funktioniert!«

»Auch das fällt dabei mit ab«, meinte Horst Heilig. »Paßt mal auf, ich werde mich so lange weigern, diesen Schritt des Gegners zu verstehen, wie wir nicht wenigstens zehn Gründe erkennen können, warum er ihn getan hat.« Er wandte sich wieder direkt an mich. »Versteh mal, die Aufgabe eines Teils der Deckung – und das bedeutet doch das Ganze, wenn man dabei noch den zarten Hinweis auf die Bedeutung der Transit-Autobahn einbezieht –, also diese Aufgabe ist ein einschneidender Schritt, den tut man nur, wenn man ein Bündel von Problemen löst. Ein solcher Schritt ist ein markanter Punkt im strategischen Plan.«

»Zwei von den zehn hat Jürgen ja schon genannt. Wie wär’s mit folgendem Grund als Nummer drei: Es hätte ja sein können, ich meine, wenn das wirklich unser erster Kontakt mit dem Gegner gewesen wäre – ich hab’ mich im Satz verheddert, also noch mal, wenn das unsere Begegnung mit dem Gegner gewesen wäre, hätten wir da nicht unser ganzes Netz alarmiert? Und wenn er nun schon Leute in den Heimen hätte, könnte er daran erkennen, wer für uns arbeitet.«

»Abgelehnt«, sagte Horst Heilig. »Der Gegner kann nicht damit rechnen, daß wir wegen eines Zaunkletterers unser ganzes Netz dekonspirieren. Aber ein anderer Gedanke steckt darin. Wenn er unsere Aufmerksamkeit auf die Autobahn lenkt und uns glauben macht, daß das seine ersten Schritte sind, dann lenkt er uns zugleich ab von den Heimen und dem Zeltlager, daß ja auch dieser Tage eröffnet wird. Das ist doch ein akzeptabler Grund!«

»Ablenkung auch vom Kontakt Nora«, schlug ich vor, »Grund Nummer vier.«

»Ja, aber möglicherweise auch Test des Kontakts Nora – Nummer fünf. Das müssen wir noch besonders gründlich durchdenken.«

»Vielleicht«, sagte Werner Frettien grübelnd, »hat er eine bestimmte Aktion vor und will deshalb unsere Aufmerksamkeit in die falsche Richtung lenken.«

»Ja«, stimmte ich zu, »vielleicht genau das, was wir heute mit dem Professor besprochen haben!«

Auf Werners Frage erläuterte Horst Heilig im groben Umriß den Plan und sagte dann: »Aber das glaube ich nicht – logisch wäre doch für ihn, unsere Aufmerksamkeit erst gar nicht zu wecken!«

»Es hat heute schon mal jemand gesagt«, entgegnete ich, »daß die Psychologie in unserm Kampf eine große Rolle spielt. Muß sich der Gegner nicht sagen, daß wir auch nicht schlafen? Er kann doch nicht mit genereller Unaufmerksamkeit rechnen, sondern bestenfalls mit abgelenkter Aufmerksamkeit!«

»Stimmt«, sagte Horst Heilig, »muß man anerkennen. Das wäre also Nummer sechs. Langsam nimmt die Sache Gestalt an. Bitte weiter.«

Aber weiter kam nichts – sosehr wir uns auch den Kopf zerbrachen, uns fiel nichts mehr ein.

»Sechs Gründe sind auch genug«, sagte Horst Heilig.

»Was mich bei der Sache stört«, erwiderte Werner, »ist, daß der Gegner alle diese Überlegungen auch anstellen kann.«

»Das stimmt nicht«, entgegnete Horst Heilig, »er weiß nicht, daß wir den Kontakt Nora in der Hand haben, und er weiß auch nicht, daß er schon bei Jürgen bemerkt wurde. Aber bitte sehr, nehmen wir mal an, er wüßte das alles – wie wäre da sein Verhalten zu erklären?«

»Gar nicht«, gab Werner Frettien zu. »Es sei denn…«

»Es sei denn?«

»Ich sage es ungern, es sei denn, er hätte schon einen Mann hier drin, und von Anfang an war alles, was er tat, nur eine Schein-Strategie, um diesen Mann zu decken.«

»Gut, auch diese Möglichkeit müssen wir berücksichtigen. Es kommt jetzt darauf an, so vorzugehen, daß wir bei all diesen Spekulationen die Spreu vom Weizen sondern können. Vorher noch eins – was ist mit Nora? Ihr kennt ihren Kontaktmann?«

»Ja«, berichtete Werner Frettien. »Mit neunundneunzig Prozent Sicherheit. Ein brasilianischer Student, Joao Bacaro. Mit dem Kubaner befreundet. Hat ihn beim Ball animiert, Nora an den Tisch zu holen. Ist auch der einzige der damaligen Tischrunde, mit dem er ständig zusammen ist. Hat ihm auch das Lokal empfohlen, das er immer mit Nora besucht. Ich lasse ihn zur Zeit überprüfen.«

»Brasilianer«, sagte Horst Heilig nachdenklich.

»Ja, von der KPB delegiert.«

»Die ist doch noch halblegal, soviel ich weiß?«

»Ja«, sagte Werner Frettien und machte ein ernstes Gesicht. »Wenn das stimmt, hat wieder ein junger Genosse sein Leben lassen müssen, damit solch ein Bandit sich einschleichen kann.«

Horst Heilig nickte.

»Aber wenn das stimmt, heißt das auch, daß der Gegner den Kontakt Nora ernst nimmt. Denn dieser Mann würde schon zum Kern der Gruppe gehören. Also das werden wir bald wissen. Wir verteilen jetzt die Aufgaben, schlage ich vor. Du, Jürgen, sprichst mit Nora. Sie muß zwei Dinge übermitteln – erstens, daß es jetzt bei uns flott vorangeht –, weil wir den Zeitunterschied zwischen unseren falschen Informationen und den Tatsachen aufholen müssen, den können wir uns jetzt nicht mehr leisten. Zweitens soll sie so tun, als müsse sie mal telefonieren. Sie soll sagen, sie müsse den VEB Jenatrans anrufen – das ist der Transportbereich, der uns die Maschinen bringt. Ja, und wie machen wir es nun richtig – hat sie etwas bemerkt von dem heutigen Alarm oder nicht?«

»Sie hat immer nur Stichworte gegeben, die scheinbar zufällig ins Gespräch eingebettet waren«, sagte ich. »Sie hat nie direkt Dinge von ihrer Arbeit erzählt. Selbst wenn sie von dem Alarm erfahren haben sollte, wäre es unwahrscheinlich, daß sie gerade in solch ernster Sache zum erstenmal Konkretes äußert. Und so exponiert ist ihre Stellung wieder nicht, daß sie Tag und Nacht an nichts anderes denken würde.«

»Einverstanden. Werner, du leitest alles ein, damit der Gegner denkt, wir seien auf ihn hereingefallen. Die VP soll in den nächsten drei Tagen ständig den Parkplatz beobachten, so oft es geht, der Gegner wird das bestimmt kontrollieren. Ich ackere inzwischen diese Motivliste durch, die wir aufgestellt haben. Morgen machen wir uns an die Ausarbeitung der Aktion Jenatrans. Alles klar?«