Mitternacht
Wir tranken den Schnaps aus, sprangen von der Rampe, und Manny schleuderte die leere Flasche einfach so zwischen die Bäume. Wir hörten sie nirgendwo aufschlagen, wir hörten kein Rascheln, keinen Aufprall – und wir ergötzten uns an der Freude dieses stummen Wunders. Manny erfand ein schwarzes Loch; Joel schlug vor, die Flasche sei einem gähnenden Waschbären genau im Maul gelandet; ich zog die beiden nur auf: »Das ist doch der blödeste Scheiß, den ich je gehört hab.« Wir traten in unsere Schatten und in das Echo unseres Gelächters, gingen nirgendwo hin. Der Alkohol wärmte uns die Bäuche, die Schneeflocken dickten die Luft vor uns an.
Um die Ecke stand der Müllcontainer mit den vier Kammern, und im Schatten des Containers versteckte sich die streunende Katze mit den acht Zitzen. Wir wühlten in unseren Taschen nach Milchgeld; Manny hatte fünfundsiebzig Cent. Fünfzehn Minuten bis zur Tankstelle, keinem war kalt. Am Tresen schoben wir dem Verkäufer, einem Mann aus dem Nahen Osten mit der Hautfarbe und der Statur unseres Paps’, das Kleingeld hin.
»Sie könnten unser Vater sein«, sagte ich, und Manny und Joel mussten vor Lachen husten.
Der Mann besah sich unsere Münzen. »Das langt nicht.«
Wir klopften unsere Taschen ab, taten so, als würden wir suchen, fanden nichts. Das Licht im Laden erschwerte unser lässiges Spielchen; das Furnier des Tresens war von all den Münzen durchgescheuert. Der Mann war überhaupt nicht wie unser Paps.
»Na los, nehmt schon«, sagte er. »Haut ab.«
Also schlenderten wir zu unserer Streunerin zurück, schnappten uns unterwegs, was immer wir am Straßenrand fanden, und warfen es zwischen die Bäume. Wenn etwas davon – ein Stein, ein Stück Autoreifen – landete, ohne ein Geräusch zu machen, brachen wir in Freudenschreie aus. Manchmal taten wir so, als hätten wir das Krachen nicht gehört, und jubelten trotzdem.
Als Milchschale nahmen wir den Plastikdeckel eines Zwanzig-Liter-Behälters, und die Milch bildete nur eine dünne Schicht. Sah nach nicht viel aus. Unsere Streunerin hob kaum die Schnüffelnase.
»Die wird schon fressen«, sagte Joel, »wenn wir weg sind.«
Das hatten wir uns immer gesagt, wenn wir uns um unsere Ma Sorgen machten.
Die Kätzchen krallten und drängelten sich in dem saugenden Haufen; manche schienen an der Zitze eingeschlafen zu sein. Es waren hässliche, verzweifelte kleine Dinger.
»Wie lange dauert es, bis die Kätzchen da vergessen, dass sie aus einem Wurf sind, miteinander streiten und vögeln?«, fragte Manny. »Wie lange, bevor sie den Spacko rausschmeißen?«
Die beiden kicherten, und sie kicherten über mich, die Elfe, den Kümmerling, den Spacko unseres Wurfs; wir waren selbst mal solche Kätzchen gewesen – drei durch dick und dünn und warm. Und wir hatten bis aufs Blut um eine Dose Kondensmilch gekämpft. Und »den Spacko rausschmeißen« war wohl der übelste Streich, den sie mir je gespielt hatten.
»Fickt euch«, sagte ich. Ich hatte nicht halb so viel getrunken wie die beiden – ich nahm nur kleine Schlucke oder ließ den Mund zu und tat nur so. Aber ich hatte genug getrunken, um über den Klang und die Giftigkeit meiner eigenen Stimme verwundert zu sein. »Und scheiß auf dieses Herumgeschleiche. Was machen wir hier draußen überhaupt?«
»He«, machte Joel.
»Immer mit der Ruhe«, sagte Manny. »Mach dir nur keinen Knoten in den Schlüpfer.«
Sie prusteten durch die Nasen.
»Ich hab genug davon. Das ist doch scheiße, dieses Herumgeschleiche.«
»Wer schleicht denn?«, fragte Manny. »Ich steh nur hier.«
»Bist n echtes Arschloch«, sagte ich. »Schau doch mal in den Spiegel. Kannst du dich überhaupt sehen? Ständig erzählst du was von Gott. Und im nächsten Augenblick was von Weibern. Du hast doch von beidem keine Ahnung – Gott findet dich bestimmt genauso widerlich wie die Mädchen.«
»Oh, Scheiße!«, sagte Joel erfreut.
»Was, freut dich das vielleicht?«
»Irgendwie«, antwortete Joel.
»Irgendwie«, äffte ich ihn nach. »Ihr seid solche Ignoranten. Ich finde euch peinlich. Wisst ihr das eigentlich? Dass ich euch peinlich finde?«
»Hast du das gehört?«, sagte Manny zu Joel. »Wir sind ihm peinlich.«
Schaut euch meine Brüder an – ihre schlabbrigen Klamotten, ihre dunkel umrandeten Augen, wie permanent blau geschlagen, ihre hungrigen Galgenvögelgesichter. Ich kam mir vor wie in der Falle, war voller Hass, war beschämt. Heimlich hatte ich außerhalb der Familie einen Hang zur Sprache entwickelt, eine bittere Bosheit. Ich führte ein Tagebuch – darin fand ich scharfe Schimpfwörter für sie alle, meine Leute, meine Brüder. Ich sah sie mit anderen Augen, mit neuem spöttischem Blick. Ich spürte die ausgeprägte Kraft der Beobachtung in mir, eine Intelligenz, die versauerte. Ma und Paps hatten sich mit mir ohne die beiden anderen über meine Berufschancen unterhalten, über diese Belesenheit, die mich von meinen Brüdern unterschied; beide ermutigten mich, davon auch Gebrauch zu machen – sie deuteten an, dass ich es im Leben leichter haben würde als sie, als es meine Brüder jemals haben würden, und ich hasste sie dafür.
Das Schlimmste aber war das Mitleid.
»Wisst ihr was? Vergesst’s«, sagte ich. »Egal.«
Sie ertrugen mein Mitleid nicht.
»Bist doch selbst n Arschloch«, sagte Joel.
Manny streckte die Hände aus und formte einen Schneeball. Er nahm einen Ast, warf sich den Ball selbst zu und peitschte ihn durch die Luft. Der Schneeball explodierte, und wir drei schauten zu, ein kleiner Sturm im Schneegestöber.
»Er hat recht«, sagte Manny, drehte sich abrupt zu mir um und zeigte mit dem Stock auf mich. »Du bist ein Arschloch. Gib’s zu.« Er hielt mir den Ast ganz knapp vor die Nase. »Gib’s zu.«
Dann war Joel hinter mir und hielt mir die Arme auf den Rücken gedreht fest. Ich versuchte, ihn abzuschütteln, aber es hatte keinen Zweck. Die beiden waren betrunken; Manny hielt mir den verdammten Ast direkt vor das Gesicht. Ich stellte mir die Schwellung vor, wenn der Ast mir an den Kopf knallte. Das wollte ich.
»Entweder bist du ein Arschloch, oder wir reißen ihn dir auf. Was darf’s denn sein?«
Schaut uns drei an, schaut, wie sie mich festhielten – sie wollten mich nicht loslassen.
»Na los, Manny, schlag mich mit dem Ast. Mal sehen, ob du dich dann besser fühlst.« Erst sprach ich mit fester Stimme, doch am Ende war sie leise, ein Flüstern, ein Flehen. »Schlag endlich zu, verdammt.«
Manny holte zweimal angetäuscht aus; ich zuckte immer zusammen. Dann seufzte er angewidert, und Joel ließ los. Der Ast fiel zu Boden.
»Ernsthaft«, sagte Manny leise, »du bist doch durchgeknallt. Bei dir ist echt was im Kopf nicht richtig. Darüber sollten wir mal reden.«
Das taten wir aber nicht. Wir konnten nicht.
Wir ließen uns noch eine Weile mit Schnee berieseln, das Weiß sammelte sich auf unseren Haaren, unsere Köpfe sahen aus wie Miniaturberge, bis wir schließlich schweigend übereinkamen, uns unter das Dach des Gebäudes zu stellen. Manny gab Joel und mir eine Zigarette, und wir rissen die Filter ab. Noch immer sagte niemand ein Wort, aber das Ritual nahm ein wenig die Spannung zwischen uns – die Flamme, das laute Ausatmen, die kleinen Qualmwolken.
Dann setzten langsam die Witzeleien und das Herumgealbere wieder ein, und ich stand am Rand, wie immer, bis Manny sich zu mir umdrehte.
»Weißt du, was sie neulich zu mir gesagt hat?«
Ich fragte nicht, wer mit »sie« gemeint war, ich wusste es.
»Sie sagte, du bist zu allem fähig.«
»Ja«, meinte Joel, »denselben Scheiß hat sie mir auch gesagt.«
»Sie sagte, du bist so klug.«
»So klug!«
»Und weißt du was noch? Sie sagte, du bist fähig, dich selbst zu zerstören.«
»Also, wie sie von dir spricht«, sagte Joel, »als ob du eine beschissene Kristallvase bist.«
Manny legte einen Arm um Joels Hals. »Ihrer Meinung nach sind wir beide von derselben Art.« Dann zeigte er auf mich. »Und du, du bist –«
»Ein verdammtes goldenes Ei.«
»Sie will, dass wir dich vor den anderen beschützen.«
Joel lachte. »Ja! Ich hab ihr gesagt, ist doch nicht so, dass wir immer noch in derselben Sandkiste spielen, Frau.«
»Und wir sollen dich vor dir selber beschützen.«
»Wir sind doch keine kleinen Jungs mehr.«
»›Er ist euer kleiner Bruder‹, hat sie gesagt, ›er wird immer euer kleiner Bruder sein.‹«
Schaut mich an, wie es mich juckte, endlich von dieser Laderampe wegzukommen; wie es mich juckte, diese schneereiche Stunde hinter mir zu lassen.
»›Nur, wenn er das auch sein will‹, hab ich gesagt.«
»Beschissenes heiliges Lämmchen.«
Ich reckte die Hände vor mir hoch, gab auf, ging rückwärts, behielt sie im Auge, bis ich an die Ecke des Gebäudes kam.
»Wo willst du denn hin, Mädchen?«
»Wo zum Teufel, glaubst du, gehst du hin?«
Ich ging bis zur Ecke, drehte mich um, den Weg hinunter, weg von ihren Sticheleien. Sie riefen mir nach, setzten ein wütendes Fragezeichen hinter meinen Namen. Ihre Stimmen dröhnten durch die dunkle, kalte Luft – wie Wellen, die von hinten gegen mich schlugen.
Sie riefen und riefen und kicherten, und die Bäume warfen ihren Lärm zurück.
Scheiße, sollten sie doch bellen.
Vielleicht stimmte es ja. Vielleicht gab es nirgendwo einen Jungen wie mich.