Lina

Paps verschwand für eine Weile, und Ma ging nicht mehr zur Arbeit, aß nicht, kochte nicht für uns, spülte keine Kippen mehr im Klo runter, sondern ließ sie liegen, in leeren Flaschen und Teetassen; nasse Kippen verstopften den Ausguss in der Spüle. Sie schlief nicht mehr in ihrem Bett, sondern auf der Couch oder dem Fußboden, manchmal auch am Küchentisch, den Kopf auf einem Arm, der andere baumelte Richtung Linoleum, wo sich um sie kleine Häufchen aus Kippen und leeren Schachteln und Asche auftürmten.

Wir gingen auf Zehenspitzen. Wir aßen Erdnussbutter auf Salzkräckern und dünne Spaghetti in Pflanzenöl und Reibekäse. Wir aßen die Sachen hinten aus dem Kühlschrank, lang vergessen, Orangenmarmelade, in der die Schalenstreifen schwammen wie Insekten in Bernstein. Wir aßen Instant-Brotfüllung und weißen Reis mit Sojasauce oder Ketchup.

Lina, Mas Vorgesetzte, rief an.

»Es sind jetzt schon sechs Schichten hintereinander«, sagte sie. »Was ist bei euch los?«

Rings um sie herum summten und klapperten Maschinen. Da war das durchdringende Geschepper von Flaschen, die ein Fließband entlanglaufen.

»Was meinen Sie damit?«, fragte ich.

»Lauter, Kleiner«, rief Lina. »Hier ist mehr Krach als in der Hölle.«

»Was meinen Sie damit

»Ich mein, es ist laut hier! Ich kann dich kaum verstehen. Scheiß drauf. Kleiner, ich komm mal vorbei und schau nach dem Rechten.« Die Verbindung wurde unterbrochen, und ich wartete auf den Wählton und dann den anderen Lärm, der einem sagte, dass man vergessen hatte aufzulegen.

Lina kam direkt aus der Brauerei vorbei, noch immer im langen weißen Laborkittel, die Sicherheitsbrille auf dem Kopf. Sie war in China geboren; sie war groß und dick, mit hohen Wangenknochen, die unter ihren Augen hervorstanden wie Lenkergriffe.

»Sie sind riesig«, stellten wir fest. »Hier ist kein Platz für Sie. Sie stoßen sich den Kopf an der Decke.«

Wir versuchten, ihr die Tür vor der Nase zuzumachen, aber sie drückte sie einfach auf, hielt eines ihrer Beine hoch und deutete auf den Stiefel.

»Ohne die da bin ich kleiner.«

Sie zog den Kittel aus und sprach davon, dass es eine Gegend in China gebe, wo alle Frauen so gebaut seien wie sie, »wie Cadillacs«, sagte sie und lachte und machte mit ihren großen Pranken zu beiden Seiten eine Bewegung, die die Größe andeuten sollte. Sie reichte uns eine braune Papiertüte, beugte sich vor, um ihre Stiefel aufzuschnüren, und sagte: »Macht das noch nicht auf, stellt es nur auf den Tisch und holt mir eure Mutter, ganz egal, wo sie sich versteckt.«

»Sie schläft«, brummte Manny. Wir brachten die Einkäufe gar nicht erst in die Küche. Wir schütteten alles auf den Wohnzimmerteppich und stürzten uns auf das Brot, das schon geschnitten war, und den Käse, stopften uns Hände voll in den Mund, tranken die Milch aus der Packung, sahen Lina direkt in die Augen, wir drei, wir forderten sie heraus. Sie zeigte ihre großen, breiten Pferdezähne. Sie pfefferte die Stiefel in die Ecke.

»Ich werdet noch ersticken«, warnte sie, »wenn ihr nicht aufpasst. Genossin«, brüllte sie, trat über uns hinweg, und Ma kam angerannt und warf sich in Linas dicke Arme, vergrub ihr Gesicht in Linas seidig schwarzen Haaren und weinte.

Lina stand eine Weile da, griff dann in ihren Kittel und zog ein Taschentuch heraus, nahm das Gesicht unserer Mutter in ihre Hände, wischte es ab und schob ihre Haarsträhnen hinter die Ohren. Wir knieten keine zwei Schritte entfernt auf dem Boden, und je länger Lina dastand und an Ma herumrieb, umso weniger Aufmerksamkeit schenkten wir den Einkäufen. Dann begann Lina, Ma überall zu küssen, kleine, weiche Küsse, sie bedeckte Mas ganzes Gesicht damit, selbst die Nase und die Augenbrauen. Dann legte sie ihre Lippen auf Mas Lippen und hielt sie dort, weich und regungslos, und niemand – ich nicht, Ma nicht, Joel oder Manny nicht, niemand – sagte ein Wort. Es gab nichts zu sagen.