TRANSZENDENZ

Rebeccas schwarzseidener Rücken schimmerte schwach in dem spärlichen Licht, das durch die zugezogenen Samtvorhänge ihres Arbeitszimmers fiel. Sie saß an dem Nußholzschreibtisch, ihr Oberkörper und der rechte Arm waren auf die Tischplatte gesunken, der linke Arm hing schlaff herab. Frau Krause, die Nachbarin, die Anja Rebeccas Haustür aufgeschlossen hatte, stieß einen gellenden Schrei aus, schlug die Hand vor den Mund und rannte aus dem Zimmer.

Anja trat näher an den Schreibtisch. Die Bücher und Papiere auf ihm waren blutdurchtränkt, eine kleine, goldene Pendeluhr war umgefallen, das Glasgehäuse zerbrochen. Anja setzte sich auf den zweiten Stuhl, der neben dem Schreibtisch stand. Vico kauerte leise wimmernd zu Rebeccas Füßen. Ansonsten herrschte im ganzen Haus pelzige Stille.

Anjas Blick irrte über die Wand mit den deckenhohen Bücherregalen. Nun hatte sich Rebecca also endgültig in ihr Element zurückgezogen. Vielleicht fünftausend Seiten Papier würden von ihr übrigbleiben. Ohne es zu merken, starrte Anja die alten Kupferstiche an.

Sie konnte nicht glauben, daß Rebecca sich selbst ermordet hatte. In ätherischen Wesen wie ihr pulste das Leben zu schwach, um sich selbst zu vernichten. Eines Tages, unmerklich und gewaltlos, hätte das Blut in ihr zu fließen aufgehört. Nicht durch einen Schuß oder Messerstich. Auf den Blättern, die über den Schreibtisch verstreut lagen, hatte sich die Tinte mit dem Blut zu einer schwarzrot marmorierten Fläche verbunden. Auch die vergilbten Seiten eines aufgeschlagenen Aristoteles-Bandes waren blutdurchtränkt. Es waren nur noch die Zeilenanfänge »Jede Kunst und – irgendein Gut – alles strebt« zu lesen.

Anja entdeckte die halbleere Whiskyflasche und das Glas, die neben dem Anrufbeantworter standen. Johnnie Walker, Red Label. Sie hatte gar nicht gewußt, daß Rebecca getrunken hatte. Das kleine rote Lämpchen des Anrufbeantworters blinkte, zwei Anrufe waren registriert. Anja schraubte die Whiskyflasche auf, nahm einen Schluck und stellte die Flasche zurück.

Nach kurzem Zögern drückte sie die oberste Taste des Anrufbeantworters, das kleine Tonband spulte zurück, dann erklang eine tiefe, gepreßte Stimme. »Frau Lux, gehen Sie ran. Ich muß mit Ihnen reden. Es ist wich – «

An dieser Stelle brach die Aufzeichnung ab. Offensichtlich hatte Rebecca den Hörer abgenommen. Anja war sich nahezu sicher, die Stimme nicht zu kennen, sie konnte nicht einmal mit Bestimmtheit sagen, ob es eine Männer- oder eine Frauenstimme war. Sie spulte das Tonband noch einmal zurück. Vico jaulte auf, als die Stimme zum zweiten Mal erklang.

»Frau Lux, gehen Sie ran. Ich muß mit Ihnen reden. Es ist wich – «

Anja fragte sich, ob der Anruf etwas mit Rebeccas Tod zu tun hatte. Während sie aufstand, ertönte hinter ihr eine zweite, tiefe Stimme. »Rebecca, ich bin’s. Ich wollte mich nur mal erkundigen, wie’s dir heute geht. Ruf mich doch nachher an, ich bin den ganzen Nachmittag zu Hause.« Nach dem kurzen Knacken am Ende der Aufzeichnung herrschte im Zimmer wieder völlige Stille. Anja drückte die Löschtaste. Das rote Lämpchen hörte auf zu blinken.

Jetzt erst merkte Anja, daß sich eine schmale Goldkette um die Finger ihrer linken Hand gewickelt hatte. Sie konnte sich nicht erinnern, wann und wie sie dorthin gekommen war. Anja ließ die Kette mit dem goldenen Münzanhänger vor ihrer Nase pendeln. Sie war das einzige Schmuckstück gewesen, das Rebecca stets getragen hatte. Sicher ein Geschenk ihres Vaters.

Eine Weile verfolgte Anja die gleichmäßigen Bewegungen der Münze. Rechts. Links. Rechts. Links. Sie begann, in dem schmalen Zimmer auf und ab zu gehen. Neun Schritte hin. Neun Schritte zurück. Sie betrachtete erneut die Stiche an den Wänden, verfolgte die rostroten Linien auf dem gelblichen Papier, ohne wahrzunehmen, was sie darstellten. Sie betrachtete das Portrait von Rebeccas Vater, verlor sich in den Falten seiner Reptilienhaut. Sie fuhr mit einer Hand an den Buchrücken in den Regalen entlang. Es half nichts. Der Sog, den der schwarz gekleidete Körper neben ihr ausübte, war stärker als je zuvor.

Anja trat von hinten an Rebeccas Stuhl. Vorsichtig strich sie mit ihren Händen über den gekrümmten Rükken, Millimeter für Millimeter, hinauf zu den Schultern. Ihre Finger erzeugten auf dem Seidenstoff ein leises, schleifendes Geräusch. Behutsam hob sie den todesschweren Oberkörper von der Schreibtischplatte und setzte ihn an die Stuhllehne zurück. Unter der linken Brust steckte ein Dolch oder Messer. Nur der Griff ragte heraus, es war die flache Skulptur einer antiken Göttin.

Anja ließ ihre Hände langsam an Rebecca hinabgleiten, während sie sich zu dem schneeweißen Gesicht hinunterbeugte. Die dunklen, fast schwarzen Augen waren aufgerissen, der Mund leicht geöffnet, ein dünner, eingetrockneter Blutfaden lief aus dem rechten Mundwinkel. Anja schloß die Augen. Rebeccas Lippen fühlten sich kalt und trocken an wie Papier. Anja schmeckte Blut, als sie die Zunge berührte, die leblos hart zwischen den unteren Zähnen ruhte.

Im Hausflur wurden Stimmen und Schritte laut, Frau Krause hatte offensichtlich die Polizei gerufen. Anja tippte mit ihrer Zungenspitze ein letztes Mal an die versteinerte Gaumenhöhle, dann richtete sie sich auf. Rebeccas Lippen glänzten feucht.

 

Als Kriminalhauptkommissar Glombitza, eskortiert von Schulze und der immer noch hysterisch aufschluchzenden Frau Krause, wenige Augenblicke später das Zimmer betrat, saß Anja wieder auf dem Stuhl neben dem Schreibtisch.

»Was, Sie schon wieder?«

Anja blieb sitzen und schaute zu Glombitza hoch. »Ich war mit ihr verabredet. Frau Krause hat mir die Tür aufgeschlossen, nachdem Rebecca Lux selbst nicht geöffnet hatte.«

Glombitza schickte einen knappen, fachmännischen Blick über die Szenerie. »Haben Sie irgendwas angefaßt?«

»Nein.«

Frau Krause unterbrach für einen Moment ihr Schluchzen und wandte sich an Glombitza. »Doch, Herr Kommissar, ich habe es genau gesehen. Vorhin lag Frau Professor Lux auf dem Schreibtisch. Nun sitzt sie.«

Glombitza zog seine buschigen Augenbrauen hoch. »Was, die Leiche lag auf dem Tisch?«

»Nicht direkt auf dem Tisch, aber so – mit dem Oberkörper.« Frau Krause versuchte die gemeinte Position durch eine Beugung ihrer fülligen Oberweite nachzustellen, wobei ihr Wintermantel sich öffnete und die Sicht auf ein rosa Negligé freigab. Schulze grinste, Glombitza räusperte sich und machte einige Schritte auf Anja zu. »Der Tatort ist bis zum Eintreffen der Polizei so zu belassen, wie er vorgefunden wurde. Sie haben durch Ihr eigenmächtiges Handeln vielleicht wertvolles Beweismaterial vernichtet.«

»Ich hab’ gar nichts vernichtet. Ich wollte nur sehen, ob sie erstochen oder erschossen wurde.«

»Was heißt hier ›erschossen oder erstochen wurde‹? Die Frau hat sich selber umgebracht.«

Anja stand auf. »Hören Sie, ich kenne sie besser, sie würde keinen Selbstmord begehen. Das hier war Mord.«

Glombitza musterte die Fingerspitzen seiner ausgestreckten rechten Hand. »Ich denke, das zu beurteilen, sollten Sie lieber uns überlassen.« Mit mokantem Lächeln drehte er sich auf den Absätzen um. Frau Krause schluchzte jetzt nicht mehr, sondern murmelte in kurzen Abständen: »Daß so was passiert ist, nee, wie so was passieren konnte.«

Zwei weitere Beamte – vermutlich von der Spurensicherung – hatten sich inzwischen darangemacht, das Zimmer zu durchforsten.

»Schulze, nehmen Sie die Personalien von den Damen hier auf, und bestellen Sie beide für morgen zur Mordkommission.« Schulze ruckte sich stramm und zückte einen kleinen Notizblock.

Anja war mittlerweile ans Fenster getreten und blickte müde durch den schmalen Spalt zwischen den Vorhängen hinaus. Sie ahnte: Diese Ignoranten hier würden nie zugeben, daß Rebecca wahrscheinlich ermordet worden war. Glombitzas schlecht verhohlenes Lächeln hatte nur zu deutlich verraten, daß die Affäre Schreiner/Lux für ihn eine glückliche Wendung genommen hatte. Eine unangenehme Frau bringt einen Philosophen um, die unangenehme Frau bringt sich selber um, der Fall ist erledigt. Anja mußte dringend mit Stammheimer sprechen.

»Darf ich Sie in Ihrer Trauer einen Moment stören?«

Anja zuckte leicht zusammen. »Was? Ach, lassen Sie mich doch in Ruhe!«

Ein dreckiges Grinsen breitete sich über Schulzes Gesicht aus. »Tut mir leid, aber ich muß Ihre Personalien aufnehmen. Name?«

Anja wollte jetzt nicht reden, am allerwenigsten mit diesem Hilfstrottel in Uniform. »Hier ist mein Personalausweis, schreiben Sie sich ab, was Sie brauchen.«

Schulze kritzelte diensteifrig auf seinem Block herum, dann gab er Anja das Dokument zurück. »Kommen Sie morgen früh um neun in die Keithstraße.«

Anja verließ ohne weiteren Kommentar das Arbeitszimmer, nachdem sie einen letzten Blick auf Rebecca geworfen hatte, an der sich Beamte mit langen weißen Gummihandschuhen zu schaffen machten. Sie wollte allein sein.

Sie war bereits auf die kleine Treppe vor der Haustür getreten, als ihr plötzlich Vico einfiel, der im ganzen Trubel unbemerkt verschwunden war. Ein sie selbst irritierender Restinstinkt von Pietät sagte ihr, daß sie es Rebecca schuldig war, Vico zu sich zu nehmen.

Der greise Neufundländer lag im Schlafzimmer. Als er Anja sah, begann er zu winseln.

»Komm her, du weißt, ich mag dich nicht, aber Rebecca würde es auch noch das tote Herz brechen, wenn du ins Tierheim kämst. Vielleicht würdest du auch gleich eingeschläfert.«

Vico schien zu verstehen, daß er keine andere Chance hatte, als Anja zu folgen. Etwas zittrig rappelte er sich auf und tappte hinter Anja her, die das Schlafzimmer bereits wieder verlassen hatte.

Anja verspürte das dringende Bedürfnis, den Kopf in den Wind zu halten, bevor sie in die Stadt zurückfuhr. Der Wannsee lag nur einige hundert Meter von Rebeccas Haus entfernt. Vico trottete ihr willenlos nach, die Stirn in tiefe Trauerfalten gelegt. Sein kleines Hundehirn begriff, daß für ihn andere Zeiten angebrochen waren. Es begann zu dämmern. Gefolgt von Vico stapfte Anja zigaretterauchend, mit hochgeschlagenem Jakkenkragen durch das Herbstlaub. Ab und zu trat sie in Laubhaufen, so daß die Blätter durch die Luft wirbelten. Sicher würde es bald schneien.

An der Stelle, wo die Uferpromenade direkt an den See führte, blieb sie stehen und starrte über die schwarze, kalt glänzende Wasseroberfläche. Ein leichter Wind kam auf, der das Wasser zu kleinen Wellen kräuselte.