GESCHWINDIGKEIT UND POLITIK

Ein Lächeln überzog Anjas Gesicht, als sie Hektor sah, der brav vor dem Institut auf sie wartete. Hektor war ein neun Monate alter, nachtblauer Mercedes Sechshundert SEL mit schwarzen Ledersitzen und Nußholzarmaturen. Anjas Eltern waren vor einem knappen Jahr bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen und hatten der einzigen Tochter eine Erbschaft hinterlassen, die sich zwar als niedriger erwies, als diese gehofft hatte, aber immerhin groß genug für die Erfüllung ihres zärtlichsten Wunsches war. Als erste Amtshandlung nach Testamentsverlesung und einigen kleinen Rechenarbeiten hatte Anja also die Bestellung dieses Wunderautos mit Sitzheizung, Klimatisierungsautomatik, Doppelverglasung und Achtzehn-Loch-Leichtmetallfelgen aufgegeben. Mit dem restlichen Geld hatte sie ein spezielles Erbschaftskonto angelegt, das nun Hektor gehörte, und von dem er – wenn keine größeren Zwischenfälle passierten – die nächsten drei Jahre würde leben können. Schließlich war Hektor gar nicht so gefräßig, wie man ihm nachsagte. Bei seinem Gewicht von über zwei Tonnen fand Anja die zwanzig Liter »Super bleifrei«, die er im Stadtverkehr schluckte, eigentlich recht bescheiden. Dennoch: der Tag, ab dem Hektor ihr die Haare vom Kopf fressen würde, rückte näher.

Hektor startete mit sonorem Schnurren, offensichtlich dankbar, daß man ihn aus der peinlichen Nachbarschaft der drei grün-weiß gepinselten Polizei-Ladas befreite.

Der Verkehrsfunk meldete Stau auf allen Strecken. Anja überlegte, ob sie die nächste Stunde lieber in der Innenstadt oder auf der Stadtautobahn stehen würde. Sie entschied sich für letzteres. Stau auf der Autobahn war eine klare Sache.

Das Radio hatte nicht zuviel versprochen. Bereits auf der Autobahnauffahrt am Breitenbachplatz regte sich nichts mehr. Aber Anja hatte Zeit. Die notorische Party-Stimme des RTL-Moderators verriet ihr, daß es in Berlin und Brandenburg jetzt fünfzehn Uhr sei. Anja mußte erst um sechzehn Uhr in ihrer Praxis sein.

Nach zwanzig Semestern hatte sie die Hoffnung, daß Philosophie und klares Denken etwas miteinander zu tun hätten, endgültig fahrenlassen und ihr Studium an den Nagel gehängt. Ihrem ausgeprägten Sinn für Direktheit waren die geistigen Knoten, mit denen sich dieses Institut selbst fesselte, immer unerträglicher geworden. Da Anja nun aber nicht zu dem Genre Frau gehörte, das im Alter von dreißig, nach abgebrochenem Geisteswissenschaftsstudium, heiratete oder zur Fremdsprachensekretärin umschulte, hatte sie im vornehmen Berliner Stadtteil Halensee eine »Philosophische Praxis für Lebensfragen« gegründet. Das Geschäft lief zwar nicht gerade großartig, aber es gab doch einige reiche Sorgenkinder, auf die Anjas Werbespruch von der »diskursiven Verflüssigung Ihrer Lebensprobleme« tiefen Eindruck machte.

Im Radio lockte an diesem Tag zum zweiten Mal: Go west, life is peaceful there, go west, in the open air, go west, where the skies are blue, go west, this is what we gonna do. Wenn Anja sich auf der Straße umblickte, kam sie zu dem Entschluß, daß man diesen Song verbieten sollte. Es gab zu viele naive Skodas und Ladas, die dieses Lied auf dumme Gedanken brachte.

Anja lehnte sich in Hektors breitem Fahrersitz zurück. Im allgemeinen wunderte es sie ja nicht, daß an diesem Institut ein Mord begangen worden war, an diesem Institut, in dem man stundenlang darüber diskutieren konnte, ob Tod und Leben immer entgegengesetzt sein müssen. Ebenso wunderte sie es im besonderen nicht, daß es Schreiner erwischt hatte. Er und seine Nietzsche-Mannen hatten um sich schon immer die Aura des Katastrophischen verbreitet, wenn sie mit ihren vom »Oh-Mensch«-Gebrülle gezeichneten Mienen im Foyer herumstanden. So betrachtet konnte Schreiner mit seinem Abgang aus dem Diesseits zufrieden sein.

Gereiztes Hupen ließ Anja hochschrecken. Die Blechschlange vor ihr hatte sich symbolisch weiterbewegt. Anja tat dem Siebener BMW mit B-MW-Kennzeichen hinter ihr den Gefallen und parkte sich vier Meter weiter nach vorn. Autos mit Minderwertigkeitskomplex mußte man eben auch die eine oder andere kleine Freude im Leben gönnen.

Anja hielt es für möglich, daß einer der Institutsirren, die auf Schreiners Konto gingen, zurückgeschlagen hatte. Andererseits waren die meisten von ihnen bereits so verloren, daß sie nicht einmal mehr wußten, daß Schreiner sie auf dem Gewissen hatte. Außerdem wirkte die Aktion sorgfältig geplant und präzise ausgeführt.

Somit war es vielleicht doch ein ordentliches Institutsmitglied gewesen. Wenngleich Petra Uhse sich keinen Zwang angetan hatte, ihrer Genugtuung über Schreiners Tod Ausdruck zu verleihen, glaubte Anja nicht, daß sie Schreiner zerstückelt hatte: Petra Uhse war nicht die Frau, die konsequent den Schritt vom Schreibtisch zur Kettensäge vollzog.

Hugo Lévi-Brune dagegen schien rührend besorgt, des toten Schreiners Pietät zu wahren. Das mußte nicht unbedingt im Widerspruch dazu stehen, daß Rebecca erzählt hatte, Hugo habe Schreiner für einen ewigen Antisemiten gehalten. Hugo fehlte in Situationen wie der heutigen die Kraft, seine eigentlichen Positionen zu behaupten.

Blieb noch Hinrich Wogner. Er hatte Schreiner schon immer aus seinem ganzen tiefen Herzen verachtet. Für den feingliedrigen Musik-Ästhetiker mußte allein die physische Präsenz des dröhnenden Fleischgebirges eine Qual gewesen sein. Ganz zu schweigen von Schreiners philosophischen Kraftmeiereien, die die Kehrseite seines Welthasses gewesen waren und Wogner regelmäßig zum Erblassen gebracht hatten.

If we took a holiday’ yeah, took some time to celebrate, just one day out of life, it would be, it would be so nice. Anja drehte das Radio leiser. Beim Blick auf den Kilometerstand fiel ihr ein, daß Hektor einen Ölwechsel brauchte.

Sie spürte, daß ihr der Institutsaufenthalt nicht bekommen war. Nicht einmal Hektor gelang es heute, ihre Hirntätigkeit mit seinem vornehm gedämpften Zwölf-Zylinder-Stampfen in Gleichmaß zu bringen. Eigentlich sollte sie sich seit einer Viertelstunde auf die Lebensprobleme Hildegard Kloppenbrinks, ihrer besten – und im Moment auch einzigen – Kundin, einstimmen. Aber – so what.

Der gealterte Intellektuellen-Yuppie Willi Maier-Abendroth war bis zuletzt Schreiners philosophischer Stammtischbruder geblieben. Die beiden hatten sich schon zu Anjas Zeiten bestens verstanden und mit ihrem bevorzugt männlichen Studentenkreis gemeinsame Heidegger-Wochenend-Seminare veranstaltet. Anja hätte zwar vermutet, daß Maier-Abendroths jüngste, sehr weltzugewandte Politikambitionen ein Grund gewesen wären, ihn und den hauptberuflich an der Welt leidenden Schreiner zu entzweien, aber richtige Männerfreundschaften waren über solch kleine Differenzen wohl erhaben.

Im Seitenspiegel verfolgte Anja, wie sich der BMW mittlerweile auf der linken Spur an Hektor heranarbeitete.

Sie verstand immer weniger, wieso Rebecca sie zu sich bestellt hatte. Viel verraten hatte sie ihr nicht, einen triftigen Grund schien es also nicht zu geben. Andererseits wäre es heute das erste Mal gewesen, daß Rebecca einfach nur so nach ihr verlangt hätte. Daß ausgerechnet Schreiners Tod einen derartigen Schwächeanfall bei der einzigen nüchtern denkenden Person an diesem Institut verursacht haben sollte, konnte Anja kaum glauben. Außerdem hatte ihre alte Freundin vorhin nicht besonders anlehnungsbedürftig gewirkt, eher noch unnahbarer als sonst. Anja wußte jedoch, daß es gerade das war, was sie immer noch an Rebecca fesselte. Seitdem sie die Professorin das erste Mal gesehen hatte, kannte sie die verbotene Lust auf ein intelligibles Wesen.

Der Rundfunk-Moderator verkündete die Uhrzeit in dem Tonfall, mit dem man ganz persönliche Geschenke überreicht: fünfzehn Uhr zweiundvierzig. Erschrocken stellte Anja fest, daß sie noch im Privatoutfit, bestehend aus Lederjacke, Jeans und Cowboystiefeln, war. Sollte sie der gediegenen Hildegard Kloppenbrink jemals so über den Weg laufen, wäre sie vermutlich auch ihre letzte Kundin los. Also griff Anja hinter den Fahrersitz, wo ihre Berufskleidung – ein dezent teures Seidenkostüm mit passender Bluse – über einem Bügel wartete. Anja schälte sich aus ihren Stiefeln und Hosen. Aus dem BMW heraus, der sich inzwischen auf Schnauzenlänge mit Hektor befand, wurden ihre Verrenkungen betont unauffällig verfolgt. Anja stellte das Radio wieder lauter: All I want is a little reaction, just enough to tip the scales, I’m just using my female attraction on a typical male.

Anja warf ihre Jeans auf den Rücksitz und schlängelte sich in den knielangen Rock. Auf dem Fahrersitz des BMW ruckte es. Anja überlegte, daß sie Hektor vielleicht nicht nur mit einem Rollo für das Heckfenster, sondern auch noch mit einem für die Frontscheibe und Gardinen hätte ausstatten lassen sollen. Andererseits hatte so ein improvisierter Striptease montags nachmittags auf der Stadtautobahn auch seine Reize. Anja räkelte sich genüßlich aus ihrem schwarzen Wollpulli und warf ihn mit gespreizten Fingern ebenfalls auf die Rückbank. Auf der Straße rührte sich gerade gar nichts, so daß die Chance, einen kleinen BMW-Auffahrunfall zu provozieren, leider gering war. Nachdem Anja noch eine Weile so getan hatte, als ob sie ihr Oberteil nicht finden könnte, vervollständigte sie ihre Garderobe mit Bluse, Blazer und High Heels. Zum Abschluß steckte sie ihren Haarwust hoch und zückte einen knallroten Lippenstift, der sich mit ihrer neuen Haarfarbe »Rubin« gerade um die Nuance biß, daß es pikant aussah. Im Rückspiegel betrachtete sie ihr Werk. Sie war zufrieden mit dem scharfgeschnittenen Gesicht, aus dem zwei dunkle Augen, eine markant gebogene Nase und der signalrote Mund hervorstachen. Jetzt fehlte nur noch die schmale schwarze Kastenbrille mit Fensterglas. Anja fand, daß erst sie ihr den nötigen seriösen Touch verlieh.

Langsam näherte sich Anja der akuten Stauursache, die, mit dem Autofahrer-Unfähigkeitsfaktor multipliziert, die fünf Kilometer lange Blechschlange produziert hatte. In Situationen wie dieser war Anja froh, daß sie schon länger zu der goldenen Berlin-Überlebensregel gefunden hatte: Niemals wundern oder ärgern! Laut Warnschild würde sich in fünfhundert Metern die Stadtautobahn von drei Spuren auf eine einzige verjüngen. Das Wochenende war vorbei, und sicherlich mußte wieder einmal dringend nachgesehen werden, ob unter dem Asphalt noch alles in Ordnung war.

Dem BMW, der Anja nun am Ende des Spurts um drei Pferdelängen überholt hatte, fehlte offensichtlich das entspannte Verhältnis zur Berliner Verkehrspolitik. Er hatte allein in den letzten fünf Minuten elfmal die Spur gewechselt.

Anja erreichte die Trendelenburgstraße um Punkt vier. Ganz gegen alles Gewohnte war vor Haus Nummer siebzehn, in dessen viertem Stock Anjas Praxis lag, nicht nur eine freie Parklücke, sondern sogar eine, die lang genug war, Hektors würdige fünftausendzweihundertdreizehn Millimeter Maximallänge zu beherbergen. Wie zwei kleine Schneckenfühler fuhr Hektor seine Peilstäbe am Heck aus, und Anja parkte ein.