DAS BUCH
Die Welt ist verwüstet, bereits seit sechs Monaten streifen die
Toten durch die zerstörten Städte, und ihrem Hunger nach
Menschenfleisch sind keine Grenzen gesetzt. Eine kleine
Gruppe Überlebender ist jedoch fest entschlossen, den seelenlosen Kreaturen nicht kampflos das Feld zu überlassen. Von ihrem Stützpunkt aus, einem verlassenen Bunker mitten in
der texanischen Wüste, rüsten sie zum Gegenangriff und versuchen das zu retten, was von der Menschheit noch übrig ist.
Aber wie lange können sie durchhalten, wenn die Apokalypse
Tag für Tag aufs Neue über sie hereinbricht?
DER AUTOR
J.L. Bourne, geboren in Arkansas, arbeitet hauptberuflich als
Offizier der U.S.-Marine und widmet jede freie Minute dem
Schreiben. Seine Romanserie Tagebuch der Apokalypse ist in den
USA. bereits zum Kultbuch avanciert.
Weitere Informationen erhalten Sie unter:
www.jlbourne.de
J. L. Bourne
TAGEBUCH DER
APOKALYPSE 2
Roman
Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Titel der amerikanischen Originalausgabe
DAY BY DAY ARMAGEDDON: BEYOND EXILE
Deutsche Übersetzung von Ronald M. Hahn
jJ MIX
……… -vw.ntwDr�
FSC -
—
FBCO C014488
Verlagsgruppe Random House FSC-DEU.()100
Das für dieses Buch verwendete
FSC111-zertifizierte Papier Holmen Book Cream
liefert Holmen Paper, Hallstavik, Schweden.
Deutsche Erstausgabe 07/2011
Redaktion: Sven-Eric Wehmeyer
Copyright© 2010 ]. L. Boume
Copyright© 2011 der deutschen Ausgabe
und der Übersetzung by
Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Printed in Germany 2011
Umschlaggestaltung: Animagic, Bielefeld
Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3453-52819-2
www.heyne-magische-bestseller.de
Tagebuch der Apokalypse gewährte uns tiefe Einblicke in
das Bewusstsein eines überlebenden Militäroffiziers, der
zum neuen Jahr den Vorsatz fasste, ein Tagebuch zu
schreiben. Er hat den Vorsatz gehalten und uns in täglichen Einträgen vom Niedergang der Menschheit erzählt.
Seine Notizen zeigen uns, wie man von ei.nem normalen
Leben in eine Existenz wechselt, in der angesichts heranflutender Horden von Toten, die nicht sterben wollen, nur der Kampf um das persönliche Überleben zählt. Wir
sehen, wie er blutet. Wir sehen ihn Fehler machen. Wir
werden Zeugen seiner Entwicklung.
Nach zahlreichen Widrigkeiten und Mühsalen entgehen er und sein Nachbar john der regierungsamtlich befohlenen atomaren Vernichtung der Stadt San Antonio (Texas). Nach vielen Abenteuern verschanzen sich die
beiden in einer verlassenen Rak.etenabschussbasis. Frühere Bewohner haben ihr den Namen Hotel 23 gegeben.
Nach der Ankunft fängt man einen schwachen Funkspruch auf: Eine Familie, die ebenfalls überlebt und Zuflucht in einer Dachkammer gefunden hat, ist von einer riesigen Horde Untoter umzingelt. Außer William, seiner Frau janet und ihrer kleinen Tochter Laura hat in 5
ihrem Heimatort niemand überlebt. Nach einer wunderbaren Rettungsaktion tun sich diese drei um des Überlebens willen mit John und dem Erzähler zusammen. Doch reicht dies aus in einer toten, gnadenlos postapokalyptischen Welt, in der ein einfacher Kratzer - von den vielen Millionen Untoten ganz zu schweigen- einen Menschen
töten und zum Bestandteil der überwältigenden Untatenpopulation machen kann?
Die Lage hat in manchen Menschen das Schlimmste
hervorgebracht …
Plötzlich werden die Bewohner von Hotel 23 von einer
gnadenlosen Banditenhorde angegriffen, die in dem militärischen Stützpunkt mit seinen riesigen Vorräten neue Möglichkeiten für sich sehen. Sie wollen töten,
um die Basis zu übernehmen. Es gelingt den Verteidigern zwar in letzter Sekunde, die Angreifer abzuwehren, doch nun müssen sie befürchten, dass diese- falls sie
nicht vorher den vielen Millionen hartnäckigen Untoten
zum Opfer fallen - irgendwann in größerer Zahl zurückkehren.
Dieses Buch beginnt dort, wo Tagebuch der Apokalypse
endete: bei unserem Erzähler und den wenigen Überlebenden einer unvorstellbaren weltweiten Umwälzung, die im Hotel 23 Zuflucht gefunden haben. Folgen wir ihnen
durch den zweiten Teil ihrer Reise in die Apokalypse. Stellen Sie sich kurz vor, Sie wären einer dieser Menschen.
Auf ein Neues, aber verrammeln Sie die Türl
j. L. BOURNE
r-
— —,
Nachwi rkunge n
·
1
,
-
_
_
_
-
\
Am 21. fühlte ich mich langsam besser. Der Angriff der
Banditen hatte mir wirklich zugesetzt. Ich stand auf,
trank (im Zeitraum mehrerer Stunden) einige Liter Wasser und reckte mich ein bisschen. Dann erkundigte ich mich bei John, wie es an der Oberfläche aussah. Da er in
dieser Hinsicht nicht sehr redselig war, fölgte ich ihm in
den Kontrollraum hinauf und überzeugte mich selbst.
In der Nacht zuvor hatte er sich ins Dunkle hinausgeschlichen, von einer Kamera den Sack abgezogen und war zurückgekehrt. Es waren Untote in der Gegend, deswegen war er nicht scharf darauf, allzu lange im Freien zu sein.
Weitere Untote bevölkerten die Ecke, an der die Umzäunung beschädigt war. Die lebenden Leichen waren wie Wasser. Sie strömten immer dorthin, wo der Widerstand am geringsten war.
Meine schmerzhaften Brandverletzungen heilen inzwischen, aber allzu schlimm waren sie ja nun auch nicht.
Ich hatte nur ein paar Blasen im Gesicht und anderswo.
7
Unser Sieg bei der letzten Begegnung mit den Plünderern war größtenteils auf Glück zurückzuführen. Angenommen, sie wären nicht mit einem Tankwagen übers Land gefahren? Dann wären wir jetzt vielleicht alle tot,
denn gegen diese Überzahl hätten wir uns nicht wehren
können. Nicht nur die Untoten waren uns zahlenmäßig
überlegen, sondern auch jene, die uns den Tod wünschten. Ich fürchtete diese Leute fast ebenso wie die wandelnden Leichen. Zumindest theoretisch wären sie uns strategisch überlegen gewesen; sie hätten nur die Köpfe
zusammenstecken und sich angemessene Schweinereien
ausdenken müssen, um uns wn diesem Landstrich zu vertreiben. Wir wissen nicht, wie viele von diesen Banden sonst noch existieren, aber ich bin mir sicher, dass wir
im Gegensatz zu ihnen nur eine kleine Minderheit sind.
Kamera Nr. 3 zeigte mir verkohlte Leichen, die um die
Wracks des Tanklasters und des Wohnmobils herum torkelten.
Menschen, die ich getötet hatte.
In dieser Nacht gingen wir raus und machten sie kalt.
Um Mündungsfeuer zu vermeiden, schlich ich mich im
Dunkeln mit dem Nachtsichtgerät wn hinten an sie ran,
schaltete meine Waffe auf Einzelfeuer und verpasste
ihnen eins in den Hinterkopf. Ich war so nahe an ihnen
dran, dass ich jeden einzelnen Schädel fast mit dem
Lauf berührte. Jedes Mal, wenn ich den Abzug betätigte,
sah ich sie auf den Krach reagieren und sich in der Dunkelheit blind auf das Geräusch zu bewegen. Obwohl die meisten Untoten nichts mehr hatten, was Ohren ähnelte,
8
konnten sie immer noch hören. Das Verfahren wiederholte ich siebzehnmaL Schließlich hatten sich alle zur Ruhe begeben.
Uns fiel auf, dass drei Fahrzeuge bei der kürzlich erfolgten nächtlichen Treibstoffexplosion nicht besonders stark beschädigt worden waren: ein Land Rover, ein Jeep
und ein relativ neuer Ford Bronco. Die Fahrzeuge standen gut hundert Meter von der abgebrannten Wiese entfernt. John und ich gingen vorsichtig zu ihnen rüber.
Eine nähere Untersuchung ergab, dass die beiden Vorderreifen des Jeeps geplatzt waren. Die Windschutzscheibe sah aus wie ein gewölbtes Spinnennetz.
Der Land Rover und der Ford standen etwa fünfzig
Meter von ihm entfernt. Als ich mich dem Rover näherte,
stellte ich fest, dass er in einem sehr guten Zustand war.
Sein Inneres wurde nicht mehr von seinen früheren Besitzern bewohnt. Wie schön. Wir näherten uns der Tür.
Ich öffnete sie und begutachtete eingehend das Innere
des Fahrzeugs. Es roch nach Tannenzweigen, was vermutlich mit dem Bäumchen zu tun hatte, das am Rückspiegel hing. Wir stiegen ein, zogen die Türen vorsichtigerweise aber nur so weit zu, dass das Schloss gerade eben fasste. Ich drehte den Zündschlüssel. Der Motor
sprang brüllend an. In einer Welt wie dieser hätte ich
den Schlüssel vermutlich ebenfalls stecken lassen. Ich
schaute mir den dünnen Plastikanhänger an und las:
Nelms Land Rover, Texas.
Ich nehme an, die Banditen haben sich das Fahrzeug
unmittelbar nach der ganzen Katastrophe in Nelms Auto-
9
handel unter den Nagel gerissen. Der Tank ist dreiviertel voll, der Tacho zeigt 4.500 km an. Der Wagen war noch nicht mal eingefahren. Ich legte den Gang ein und
raste rückwärts auf die Geländeumzäunung zu. Als wir
die von den Banditen mit Säcken verhüllten Kameras
erreichten, stiegen wir aus. Wir wechselten uns beim
Entfernen der Säcke ab, wobei der eine dem anderen Deckung gab.
Die Lücke in der Umzäunung war ungefähr so groß
wie der Land Rover lang. Mir war nicht danach zumute,
heute Abend Zäune zu flicken, also frischte ich meine
Einparkkenntnisse auf, indem ich den Wagen in die Lücke
manövrierte. Mir lag daran, unsere kaltblütigen Freunde
daran zu hindern, hinter die Umzäunung zu gelangen.
john stieg an der Beifahrerseite aus. Ich kletterte über
den Schaltknüppel hinweg und tat es ihm gleich. Ich
drückte das Knöpfchen, warf die Tür ins Schloss und
steckte den Schlüssel ein. Wozu das nützlich sein sollte?
Ich lasse auch heute noch aus Prinzip keinen Wagenschlüssel stecken.
Ich bin vor ein paar Stunden wach geworden - nach einer
erneut schmerzhaften, größtenteils schlaflosen Nacht.
Meine Blasen platzen allmählich, was ganz schön wehtut. Ich habe ein paar Blasen an den Augen, dort, wo die Nomex-Klamotten meine Haut nicht geschützt haben.
10
Die Beule am Hinterkopf schrumpft langsam, und seit
kurzem juckt es mich beträchtlich mehr als nach dem
kleinen Unfall mit dem Tanklaster. Das ist ein gutes Zeichen. Ich gesunde.
Das Internet habe ich aufgegeben. Dort tut sich absolut nichts mehr. Die Webseiten, auf denen ich früher zugange war, um zu sehen, wie die Lage anderswo aussieht, sind alle tot. Damit meine ich die Militärbasen in den vier Ecken der Vereinigten Staaten. Internet-Aktivitäten: keine. Man kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass es keine Rolle mehr spielt, ob da draußen noch jemand ist, der sich ins Netz einloggt. Das Netz-Rückgrat ist gebrochen, und es sieht so aus, als hätten sich alle
Typen aus der IT-Branche für die nächsten hundert Jahre
zur Mittagspause abgemeldet.
Der Land Rover ist mit einem GPs-Navigationssystem
ausgerüstet. Ich war draußen, um das Ding zu überprüfen, und es hat den Anschein, dass das GPS zur Positionsbestimmung nur drei Satelliten empfängt. Ich weiß nicht, wie lange die Satelliten noch in der Umlaufbahn bleiben,
wenn die Bodenstationen, die sie steuern, nicht mehr
existieren -und ohne die Vögel, die ihnen bisher die
Aufnahmen geliefert haben. Wir nähern uns schnell der
Eisenzeit. Ich wehre ständig ein geistiges Verlangen nach
autodestruktivem Verhalten ab. Ich meine nicht die Gelenkaufschlitzmethode; vermutlich spüre ich lediglich das Verlangen, mehr Risiken einzugehen, weil ich es leid
bin, in diesem Dilemma zu leben … Aber da es den anderen nicht anders ergeht, bleibe ich eben. Ich geh nur ein 11
Weilchen mit john raus. Wir wollen versuchen, die umgefahrene Umzäunung zu f licken.
Wir haben den Zaun mit Schrott und Teilen repariert,
die von den Trümmern des Banditenangriffs übrig geblieben sind. Wir haben uns auch den Ford Bronco gekrallt. Im Kofferraum lagen vier volle Spritkanister. Ich habe .den Rover-Tank mit einem Kanister aufgefüllt; kann
ja sein, dass wir ihn irgendwann brauchen. Ich weiß
nicht, wieso ich nicht schon früher daran gedacht habe,
aber im Verlauf der ganzen Angelegenheit hatte ich
unser Flugzeug völlig vergessen. Es fiel mir erst wieder
ein, als john mit dem Bronco kam. Wir sind dann zum
Wäldchen gegangen, um zu sehen, ob sich jemand an
der Kiste zu schaffen gemacht oder sie bei dem Brand
vielleicht durch Funkenflug was abgekriegt hat. Sie sah
so aus, wie wir sie zuletzt gesehen hatten. Das Laubwerk, mit dem ich. sie getarnt hatte, war derart verschrumpelt und braun, dass sie sich erkennbar vom Rest der Vegetation unterschied. john und ich haben weitere
Zweige gesammelt und die Tarnung etwas aufgefrischt,
dann haben wir die Maschine wieder allein gelassen.
Die Untoten aus unserer Gegend haben sich zerstreut.
Die Banditen haben viele von denen ausgeschaltet, weil
sie sie über unser Grundstück gejagt haben. Die Kame-
12
ras zeigen nur ein paar Nachzügler an der vorderen Sicherheitstür. Der Beknackte mit dem Stein wankt noch immer hier rum, wie schon vor mehr als einem Monat.
Er schlägt gegen die Sicherheitstür und marschiert zum
Rhythmus seiner eigenen Trommel. Das leere Raketensilo ist die reinste Sauerei. Wir haben nicht die geringste Lust, uns darum zu kümmern. Ich weiß nicht, was diese
Dinger dazu treibt, nach dem Tod wieder aufzustehen
und herumzulaufen, aber ich möchte auf keinen Fall da
unten rumschlurfen und mich versehentlich an einem
infizierten Kieferknochen verletzen. Hätte ich einen Betonmischer, würde ich das verdammte Loch zuschütten und einfach vergessen.
Wir leben noch, aber unser Szenario spiegelt das jener
Menschen, die vor dem Weltuntergang in Krankenhäusern an Maschinen angeschlossen waren. Sie lebten mit geborgter Zeit und waren zum Untergang verurteilt. Uns
geht es kein bisschen anders. Irgendwann wird der Mit·
telwert auch mich erwischen. Es ist nur eine Frage des
Wann.
Ich hätte nichts dagegen, noch einen Tanklaster in die
Hände zu bekommen (statt ihn in die Luft zu jagen).
Dann hätten wir Treibstoff für Expeditionen, die wir
vielleicht unternehmen müssen. Ich würde ihn in siehe-
1:5
rem Abstand von uns abstellen, denn aus dem Fehler der
Banditen habe ich etwas gelernt. Ein üppiges Spritlager
wäre ein solches Risiko wert. Ich weiß nicht genau, wie
viel so ein Tankwagen laden kann, aber ich bin mir
ziemlich sicher, dass die Spritmenge unsere beiden Fahrzeuge eine ganze Weile über versorgen könnte. Einen Tankwagen aufzutreiben dürfte kein Problem sein. Wir
brauchen nur einen auf der Interstate aufzulesen, die
ein paar Kilometer von hier nach Norden führt.
ti.OS u�p.
Wieder kodiertes Gerede aus dem Funkgerät. Diesmal
wechseln sie jede Minute die Frequenz. Ich bin sicher,
dahinter steckt ein Plan. Braves COMSEC.
Ich kann nicht einschlafen. Tara und ich haben uns heute
mehrere Stunden lang unterhalten. Ich komme mir ziellos vor und empfinde nicht allein so. Viele von uns vermissen das Normale; das Gefühl, eine Stempeluhr zu drücken und eine berufliche Tätigkeit als langweilig
zu empfinden. Vor dem Untergang hatte ich wenigstens
einen Beruf und Ziele. jetzt habe ich nur noch ein einziges Ziel: am Leben zu bleiben. Die Erwachsenen haben 14
sich heute im Fitnessraum versammelt, Rum getrunken
und sich vergnügt. In meiner vom Alkohol erzeugten Euphorie habe ich unsere Lage fast vergessen. Seit wir hier sind, ernähren wir uns von den abgepackten Fertiggerichten des Stützpunktes. Ich würde gern mal was anderes essen, aber Einkaufsfahrten sind tagsüber gefährlich.
Etwa eineinhalb Stunden lang hatten wir Volkstrauertag. Tara und ich waren gestern draußen und haben in einer Art stillem Gedenken an alle, die von uns gegangen sind, texanisehe Wildblumen gepflückt. Es schmerzt mich unsäglich, wenn ich mir vorstelle, dass meine Eltern
als Untote über die Hügel unseres Landes wandern. Ich
bin fast versucht heimzukehren, nur um mich davon zu
überzeugen und sie, wie es sich für einen anständigen
Sohn geziemt, zur Ruhe zu betten.
Lauras Einschulung steht ebenfalls an. Janice hat mich
gebeten, ihr ein wenig Weltgeschichte nahezubringen,
da mir so etwas in meinem früheren Leben als Offizier
Spaß gemacht hat. Lauras Augen wurden groß, als sie
hörte, wie die Vereinigten Staaten entstanden und einst
Menschen auf dem Mond herumspaziert sind und dergleichen. Sie hat nie eine Welt ohne Smartphones, HTIV
oder Internet gekannt und ist noch viel zu jung, um je
Schoolhouse Rock gesehen zu haben. Ich würde fast alles
dafür geben, nochmal an einem Samstagmorgen in den
frühen Achtzigerjahren bei uns im Wohnzimmer zu sitzen und zu singen, »nur ein Bill auf dem Capitol Hill« zu sein. Irgendwie bereitet es mir ein schlechtes Gewissen,
15
dass Laura keine Gleichaltrigen kennt und kein kleiner
Bengel bei uns ist, der im Unterricht an ihren Zöpfen
zieht.
Ich brauche wirklich Schlaf. John und ich wollen morgen einen Ausflug mit der Maschine machen. Wir wollen Treibstoff für die Kiste aufspüren und uns ein wenig in der Gegend umsehen. Um keinen Beschuss auf uns zu
ziehen, wollen wir diesmal weniger tief fliegen. Ich habe
noch die Karten von unserem Trip zur Insel Matagorda.
Auf ihnen sind auch die Flugplätze der Gegend verzeichnet. Ich würde gern irgendein synthetisches Tarnnetz auftreiben, um die Maschine besser vor neugierigen Blicken verbergen zu können.
16
t
–-
;,��bby II
—
1. Ju…,.
I.J.l.O u�p.
Gestern Morgen sind John, William und ich in aller Frühe
nach Westen aufgebrochen. Bevor die Sonne im Osten über
den Horizont kam, waren wir bereits zum Flugzeug gepirscht. Wir haben es auf den Grasstreifen geschoben, um dort abzuheben. In der Feme sahen wir ein paar untote
Nachzügler herumlatschen. Dann waren wir auch schon
in der Luft. Dass William dabei war, hatten wir in letzter
Minute entschieden. Er wollte unbedingt mitfliegen. Wir
konnten mit dem VHF-Funkgerät der Cessna Verbindung
mit Hotel 23 aufnehmen. Falls die Frauen in Schwierigkeiten gerieten, konnten wir mit ihnen kommunizieren.
Wir hielten Ausschau nach einem großen Flugplatz
außerhalb großstädtischer Ballungsräume. Bevor ich
mich in der Nacht zuvor zum Schlafen gezwungen hatte,
hatte ich den William P. Hobby Airport ausgewählt. Er
befand sich im Süden Houstons, außerhalb des Stadtzentrums.
Der Flug dauerte nicht lange. Wir passierten unterwegs
zahlreiche Örtchen, d�ren Straßen ausnahmslos mit wan-
17
deinden Toten gesprenkelt waren. Nach nicht mal einer
Dreiviertelstunde kam der Flugplatz in Sichtweite. Ich
hielt es für sicher, runterzugehen, weil man dann vielleicht auch Menschen sah, die uns vom offenen Rollfeld aus beschießen wollten .. Als wir uns der langen Bahn näherten, erspähte ich ein neues TodessymboL
Auf der Landebahn stand eine Boeing 737. Ihr Rumpf
war heftig zerknittert, was auf eine schwere Bruchlandung hinwies. Sie war das einzige Großflugzeug auf dem Gelände. Ich sah zwar andere, kleinere Kisten - Privatjets und Propellermaschinen ähnlich der Cessna -.
aber die 737 war das letzte große Passagierflugzeug auf
dem Hobby Airport. Wir umkreisten den Platz ein weiteres Mal, um uns vor der Landung zu versichern, dass wir die Lage richtig eingeschätzt hatten. In der Feme,
nicht weit entfernt von einem der Hangars, konnte
ich einen Tankwagen erkennen. Im Vergleich zu den
anderen war der Hangar groß und sehr wahrscheinlich eher für Boeings statt für jene Maschinen gedacht, die nun, für immer nutzlos, auf dem Rollfeld herumstanden.
Die Neugier trieb uns an. Wir beschlossen, in der Nähe
der 737 zu landen, um rauszukriegen, ob sie vielleicht
Dinge enthielt, die wir brauchen konnten. Es war ein
Vorteil, dass sie im Freien stand und nicht an einem Gebäude, das uns für jemanden (oder etwas) zu einer leichten Beute machte, wenn er oder es sich an uns heranschleichen wollte. William sollte draußen, in der Nähe unserer Kiste, Posten beziehen, während wir eine Einstiegs-18
möglichkeit suchen wollten. Sämtliche Sichtblenden der
737 waren unten, was aber keine Rolle spielte, da die Bullaugen ohnehin gute fünf Meter über dem Boden lagen.
Die Notausgänge über den Schwingen waren gesichert,
so dass uns bei dem Versuch, sie zu öffnen, kein Glück
beschieden war: der verzogene Rumpf hatte sie auch
noch heftig verklemmt. So blieb uns nur der Notausgang des Kopiloten auf der Steuerbordseite des Cockpitfensters.
Ich schaute auf der rechten Cockpitseite gute drei
Meter hoch in die Luft und wusste, wie wir uns Zutritt
zu der Maschine verschaffen würden. Mit einem Enterhaken, den William und ich kürzlich mit einem Seil und etwas Metall gebaut hatten, das von der Tankerexplosion im letzten Monat übrig geblieben war, konnte ich zum Fenster hinaufklettern. Zuerst stützte ich johns
Gewicht auf meinen Schultern, als er nach oben zur Notluke griff, um die luftdicht abschließende Cockpitversiegelung zu lösen.
Ich hätte ihn beinahe fallen gelassen, als er sorglos
ein loses Stück Cockpitscheibenglas ins Innere der Maschine schlug. Als mir klarwurde, was er getan hatte, stieß ich einen Fluch aus, grunzte unter seinem Gewicht
und fragte ihn, ob der von ihm veranstaltete Lärm im
Inneren der Maschine irgendwelche vernehmbaren Reaktionen erzeugt habe. William verneinte, erwiderte aber, dass der aus dem Flugzeug kommende Geruch grässlicher als grässlich sei und die Cockpittür nicht offen stünde. Unter Zuhilfenahme der Pitotrohre, die aus der
19
Aluminiumhaut der 737 hervorragten, klettertejohn von
meinen Schultern, und wir fassten einen Beschluss.
Mir reichte es. Ich hatte nicht vor, meinen Hals zu riskieren. Ich wollte meinen Arsch nicht durch die enge Luke schieben und ihn mir bei dem Versuch, das Gleichgewicht zu halten, abbeißen lassen. Die Maschine war ein Grab und würde es bleiben. Ich kann mir nur ausmalen, welches Grauen in dem Ding auf uns gewartet hätte.
Angeschnallte Passagiere, die hin und her hampeln, um
sich von ihren Gurten zu befreien, und tote Flugbegleiterinnen, die vorsichtig durch·die Gänge schreiten und ihre Pflicht auch im Leben nach dem Tod erfüllen.
Wir kehrten zu unserer Kiste zurück und besprachen
unser Vorhaben erneut: Wir wollten Treibstoff und jene
Dinge erbeuten, die wir brauchten. Unser Ziel war der
Hangar. Ich bezweifelte, dass es uns gelingen würde, den
Tankwagen dorthin zu bewegen, wo unser Flugzeug stand,
also stiegen wir wieder ein und fuhren dem Hangar und
dem Treibstofflager entgegen. Je näher wir unserem Ziel
kamen, umso mehr wertschätzten wir die Aufklärung
aus Erster Hand. Durch die Fenster unserer Kiste nahmen wir im Inneren des Flughafengebäudes Bewegungen wahr. Sie wurden ausnahmslos von Untoten ausgeführt. Ich dachte nicht weiter über sie nach, als ich das Grauen aus dem offenen Hangar strömen sah, dem wir
uns zügig näherten.
Ich hielt an. Ich ließ den Motor laufen und sprang,
das Gewehr in der Hand, ins Freie. john war ebenfalls
schnell draußen, und William war gleich neben mir. Er
20
wollte an mir vorbei, doch ich streckte den Arm so aus,
wie meine Mutter mich immer zurückgehalten hatte,
wenn unser Auto im Begriff war, urplötzlich abzubremsen. William war so auf die Untoten fixiert, dass er beinahe in den rotierenden Propeller unseres Flugzeugs gelaufen wäre.
Wir wichen zurück und beschäftigten uns damit, sie
zu beseitigen. Ich nahm etwa zwanzig Gestalten wahr. Ich
konnte die Schatten ihrer Bewegungen unter dem Bauch
des Tankwagens tanzen sehen. Ich überbrüllte den Motor,
damit meine Freunde zuerst jene ausschalteten, die sich
dem Propeller näherten, denn an einem Maschinenschaden war mir nicht gerade gelegen. Wir brauchten den Treibstoff und mussten den Motor laufen lassen, bis sie
keine Gefahr mehr für uns darstellten. Es war eine Zwickmühle. Ich begann zu feuern. Meine Freunde taten es mir gleich. Ich erledigte fünf. Nummer sechs weigerte sich,
zu Boden zu gehen. Ich verpasste ihr zwei Kopfschüsse.
Trotzdem ging sie weiter. Ich vergaß ihren Kopf und
schoss ihr die Beine unter dem Hintern weg.
John und William machten mit den anderen Untoten
kurzen Prozess. Ich knöpfte mir währenddessen die restlichen hinter dem Tankwagen vor. Für den Moment waren wir sie los. Ich schaute mir den Tankwagen an, um’ nachzusehen, ob er fahrtüchtig war, und schlug mit dem Kolben meines Gewehrs gegen den Tank. Das Geräusch, das ich vernahm, deutete auf Treibstoff im Inneren. Eines
kam mir allerdings komisch vor. Warum stellte jemand
ein Tankwägelchen für Propellerflugzeuge vor einem
21
Boeing-Hangar ab? Allmählich schwante mir, dass ich
seit dem Ende der Welt wohl nicht der einzige Pilot war,
der sich auf diesem Flugplatz umgeschaut hatte. Ich
fragte mich, ob der Laster kürzlich verwendet oder wiederverwendet worden war oder ich einfach nur zu viel nachdachte.
Bevor ich die Tür öffnete, stieg ich zur Fahrerseite
rauf und lugte durchs Fenster. Es gab nichts zu sehen.
Der Zündschlüssel steckte. Der Laster war in einem guten
Zustand. Ich betätigte den Schlüssel. Der Motor erwachte
beim ersten Versuch hustend zum Leben. Entweder hatte
jemand den Wagen gewartet, oder wir hatten hinsichtlich seiner Batterie unglaubliches Glück. Ich legte die Pumpenschalter um und stieg aus. Bevor ich den Flugzeugmotor abschaltete, prüfte ich die Umgebung, um sicher zu sein, dass uns niemand überfallen konnte. Als der Propeller langsamer wurde und der Motorenlärm
nachließ, fing mein Gehör das nervtötende Klicken von
Schmuck auf, das einige Hundert Meter von uns entfernt gegen die Scheiben des Flughafengebäudes schlug und meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Die Untaten
erweckten den Eindruck, gegen den Treibstoffdiebstahl
zu protestiem. Sie sahen uns vom Gebäude aus zu und
schlugen auf die Scheiben ein. Ihre Armbanduhren,
Ringe und Armreife klangen aus der Feme wie ein lauter Regen auf Sekuritglas.
Ich schraubte die Tankdeckel ab und ging zum Tankwagen hinüber. Als ich den Schaltkasten öffnete, um den Schalter zu betätigen, fiel ein etwa briefbogengro-22
ßer gelber Zettel heraus, den der Wind davontrug. Ich
lief hinter ihm her, erwischte ihn mit einem Stiefel. faltete ihn auseinander und las: Familie Davis
Flugplatz Lake Charles, Louisiana, 14. 5.
Eine ganze Familie von Überlebenden. Wie klug, die Nachricht im Inneren des äußeren Treibstoffpumpen-Schaltkastens zu hinterlassen. Mit dieser einfachen Geste hatte Davis sich als Mensch mit Grips erwiesen. Er hatte seinen Namen und seinen Wohnort nicht in riesengroßen Buchstaben aufs Rollfeld gesprüht, sondern seine Botschaft an einem Ort hinterlegt, an dem nur ein anderer Pilot sie finden würde. Autofahrer können mit Flugbenzin nichts anfangen; was also soll sie zu einem Flugzeugtankwagen locken? Ich schob den Zettel in die Tasche. Auf dem Weg zur Maschine fiel mir auf, dass john und William auf heißen Kohlen saßen. Ich behielt sie im
Auge und füllte die Tanks bis zum Rand. In Erwartung
dessen, was ich als Nächstes sagen würde, schien William schon im Voraus leicht zu erblassen.
Es war Zeit, den Hangar zu überprüfen.
Ich weiß nicht, warum sie sich fürchteten. Die Hangartore standen weit offen. Alles, was uns anspringen wollte, brauchte nur herauszukommen und es versuchen. Nach
der ganzen Ballerei war ich mir ziemlich sicher, dass
sich in diesem Hangar keine Untoten mehr befanden. Ich
hatte Recht.
2:5
Als wir zu dritt über die Schwelle des riesigen Hangar-Rolltors traten, hätte ich mir beinahe in die Hose geschifft. Irgendetwas rauschte aus der Dunkelheit heran und hätte mich beinahe am Kopf getroffen. Allem
Anschein nach hatte eine Schwalbenfamilie ihr Sommernest genau über dem Eingang gebaut, und die Mutter wollte mich nicht in der Nähe ihrer jungen sehen.
Ich hörte sie über mir zwitschern und fragte mich,
wie viele Untatenaugen sie in den vergangeneo Wochen herausgepickt hatte. Ich hielt mich von dem Nest fern und arbeitete mich nach hinten zu den Vorräten
durch.
Der Hangar verfügte über zahlreiche Oberlichter aus
Plexiglas. Es war ein schöner, sonniger Tag. Der Geruch des Todes lag in der Luft, doch der Verwesungsmief war den Untoten bei ihrem durch die Hände unseres
kleinen Teams besorgten Ableben ins Freie gefolgt. Es
dauerte nicht lange, bis wir die Tür des großen Lagerraums fanden.
Ich öffnete sie langsam - mit einer langen Stange, die
man normalerweise dazu verwendet, nicht leicht erreichbare Flugzeugbullaugen zu putzen. Abgesehen von Mottenkugelgeruch wehte uns nichts entgegen. Der Raum war sauber. An den Geruch der Untoten war ich gewöhnt,
aber wenn es nicht nach ihnen roch, erkannte ich das
genauso sicher. Der Lagerraum war beinahe ein kleines
Lagerhaus. Die Regale wimmelten von Ersatzteilen für
Flugzeuge und anderen Ausrüstungsgegenständen. Wir
waren im Wartungshangar der Boeing. Ich suchte aber
24
nicht nach Ersatzteilen für Düsentriebwerke, sondern
nach Funkgeräten und sonstigem Zeug.
Dann fand ich etwas, das ich unbedingt nach Hause
mitnehmen wollte. Zwei Reihen schwarzer Gerätschaften,
die Aktenmappen ähnelten und auf denen »Inmarsat«
stand. Wir waren auf Luftfahrt-Satellitentelefone gesto
ßen. Ich hatte keine Ahnung, ob sie noch funktionierten. Vier der Dinger, sie standen auf der rechten Seite des Regals, waren noch in Kunststoff gehüllt. Wir nahmen sie mit und trugen sie zur Tür. Bei der Fortführung unserer Lagerhallenexpedition fanden wir zahlreiche tragbare Notfunkgeräte, aufblasbare Rettungsflöße und andere nützliche Dinge. Wir nahmen die Satellitentelefone und tragbaren VHF-Notfunkgeräte und gingen hinaus.
Unsere Kiste war voll betankt. Wir besaßen vier neue
Satellitentelefone, mehrere tragbare Funkgeräte und hatten zudem die überraschende Entdeckung gemacht, dass eine Familie vor einigen Wochen zu einem Flugplatz in
Louisiana aufgebrochen war. Es wurde Zeit, also luden
wir alles ein und machten uns auf den Rückflug. Diesmal blieben wir so lange auf einer Höhe über 7000 Fuß, bis sich Hotel 23 beinahe genau unter uns befand. Ich
wollte nicht das Risiko eingehen, von verirrten Kugeln
abgeschossen zu werden. Als wir uns dem Stützpunkt
näherten, funkte ichjan und Tara an und meldete: »Navy
One- Bug- und Hauptfahrwerk ausgefahren und eingerastet.« Ich fragte mich, ob jemandem das Rufzeichen der Präsidentenmaschine auffiel, aber niemand raffte
25
es. Davis würde es bestimmt raffen. Wir landeten und
versteckten die Kiste wie zuvor. Als wir in den Bunkerkomplex zurückkehrten, dachte ich an die Familie Davis.
Ob sie den Flugplatz in Louisiana überhaupt erreicht
hatte?
26
‘ Charles’
l1. Juu1
tl..tl u�p.
Ich habe mich in den vergangenen drei Tagen mit der
Gruppe über die Frage auseinandergesetzt, ob ich versuchen soll, die Familie Davis am Lake Charles zu finden.
Ich habe das Kartenmaterial überprüft und festgestellt,
dass Lake Charles so weit nicht entfernt ist. Natürlich
muss ich, sollte ich den Plan verwirklichen, nicht nur
die Entfernung, sondern auch den für die Strecke nötigen Treibstoff genau berechnen. Die anderen glauben wohl, dass das Risiko den Nutzen, die Davis’ zu finden,
bei weitem überwiegt. john hält sich raus, doch jan,
Tara und William vertreten hartnäckig den Standpunkt,
ein solcher Flug könne rasch zu einer Reise ohne Wiederkehr werden.
Obwohl es uns gelungen ist, die Satellitentelefone aufzuladen, gibt es, wie wir feststellen mussten, leider niemanden, den man damit anrufen kann. Sie scheinen aber gut zu funktionieren, wenn wir sie dazu verwenden,
sie untereinander anzuwählen. Es hat nicht lange gedauert, ihre Funktionsweise zu verstehen, aber wir haben 27
keine Ahnung, wer die Rechnung kriegt. Ich weiß, dass
die Telefone den Fluggesellschaften gehören und weiß
auch, dass niemand mehr da ist, der für die Nutzung der
Satelliten Rechnungen verschicken kann; ich habe aber
die Sorge, es könne eine Art automatische Systemabschaltung geben, wenn so ein Telefon eine gewisse Minutenzahl in Betrieb war.
Im Moment interessiert es mich brennend, was die
Leute am Lake Charles gerade tun. Haben sie gehofft,
dass jemand ihre Nachricht findet? Ich habe das Bedürfnis, mich mit ihnen zu unterhalten, selbst wenn es bedeutet, dass ich ein Satellitentelefon an einem selbst gebastelten Fallschirm aus der Maschine werfen muss. Das wäre wenigstens etwas. Dann könnten wir mit ihnen
kommunizieren, mehr über sie erfahren und Ideen austauschen.
Ich breche heute Morgen auf. John und die anderen bleiben hier für den Fall, dass ich jemanden mitbringe. Ich möchte die Maschine nicht überbelasten. Ich hoffe, die
Familie Davis hat sich nicht zu weit vom Flugplatz am
Lake Charles entfernt. Während ich hier sitze und den
gelben Zettel begutachte, der fast einen Monat alt ist,
frage ich mich, ob sie überhaupt noch leben oder vielleicht belagert werden, wie John und ich damals im 28
Tower. William hat mich fast angefleht, ihn mitzunehmen, aber wie gesagt: Es könnte sein, dass ich den Platz für andere Menschen brauche. Ich habe keine Ahnung,
was mich erwartet, deswegen kann ich das Risiko nicht
eingehen, die Kiste zu überladen.
Neben der üblichen Ladung- einer Pistole mit 50 Schuss
9-mm-Munition und dem Gewehr mit mehreren Hundert Schuss- nehme ich zwei aufgeladene Satellitentelefone mit. Wasser und Proviant für mehrere Tage sollen ebenfalls im Laderaum der Maschine heimisch werden.
Ich habe immer gedacht, mir würde, wenn ich irgendwann meine letzten Worte in dieses Tagebuch schreiben muss, etwas Prägnantes und Bedeutendes einfallen. Da ich
aber weder prägnant noch bedeutend bin, leihe ich mir
einen Satz eines bedeutenden, längst (wirklich und endgültig) verstorbenen Menschen aus: »Bis zum Letzten ringe ich mit dir; aus dem Herzen der Hölle steche ich auf
dich ein; um des Hasses willen spucke ich mit dem letzten Atemzug nach dir.« (Herman Melville/Kapitän Ahab).
Und auf geht’s zur Pequod.
11..01 u�p.
Zweihundertsiebzig Kilometer in gerader Linie, das war
die Entfernung zum Lake Charles. Es sollte aber kein gerader Schuss für mich werden, da ich mir vorgenommen hatte, nochmal über dem Hobby-Flugplatz zu kreisen,
um nachzusehen, ob der Tankwagen - für den Fall, dass
29
ich ihn auf dem Rückflug brauchte - noch dort stand.
Ich konnte knapp neunhundert Kilometer zurücklegen,
bevor meine Kiste vorn Himmel fiel.
Als ich in sechshundert Meter Höhe über den Flugplatz
düste, sah ich den Tankwagen dort stehen, wo wir ihn
hatten stehen lassen. Ich konnte auch erkennen, dass
eine Scheibe des Flughafengebäudes zerschlagen war
und zahlreiche Untote aus der neuen Öffnung aus dem
Gebäude heraus- und hineinströmten. Sie führte auf ein
Dach, das knapp sechs Meter über dem Rollfeld lag.
In der Nähe des Tankwagens sah ich niemanden. Ich
weiß allerdings, dass Untote keine Höhenangst und nichts
dagegen haben, einfach in den Abgrund zu laufen, wenn
sie glauben, aufgrund ihrer Bemühung winke ihnen
eine Mahlzeit. Zufrieden mit dem, was ich sah, flog ich
nach Nordosten zum Lake Charles. Die Sonne stand hoch
arn Himmel. Sie leuchtete mir genau in die Augen, als
ich in 7000 Fuß Höhe die Horizontale verließ. Eine halbe
Stunde später konnte ich in der Feme die Überreste der
Stadt Beaurnont ausmachen. Ich beschloss, tiefer zu
gehen und nach möglichen Überlebenden Ausschau zu
halten. Laut meinem Kartenmaterial war Beaurnont ein
mittelgroßer Ort.
Rauch und Feuer urnwirbelten die höheren Gebäude.
aber auch das Innere der Häuser. Sie sahen aus wie
Streichhölzer unterschiedlicher Länge. Jedes wies seine
eigene Form von Feuer und Rauch auf. Wenn das Satellitenfotosystem unseres Bunkers ordentlich funktioniert hätte, hätte ich mir den Ausflug sparen können. Wir
30
hatten den Passierschein nach Louisiana (den Satellitenfußabdruck) zwei Wochen zuvor verloren. Ich hätte die Koordinaten von Lake Charles sehr gern eingegeben und
mir Antworten geholt, ohne das Haus zu verlassen.
In diesem Gebiet gab es keinen Strom mehr. Die roten
Antikollisionsleuchten auf den hohen Funktürmen waren
allesamt ausgeschaltet, was mir noch mehr Spaß bereitete. Ich flog niedrig und langsam und schaute mir die noch nicht in Flammen stehenden Straßen und Gebäude
genau an. Doch sosehr ich meine Augen auch anstrengte:
Überlebende sah ich nicht. Das Einzige, was sich an diesem schönen Sommertag da unten bewegte, waren sie …
Die, die nicht zu uns gehören.
Nachdem ich dreimal etwas überflogen hatte, das ich
für das Stadtzentrum hielt, war ich überzeugt, dass hier
niemand mehr lebte. Jedenfalls war kein Schwanz da,
der mir ein Zeichen gab. Der Flugplatz von Lake Charles
lag knapp achtzig Kilometer östlich von Beaumont. Bei
meinem gegenwärtigen Tempo würde ich ihn in 28 Minuten erreichen. Dies erwies sich als sehr lange Wartezeit.
Hinsichtlich meiner Begegnung mit den Überlebenden
war ich besorgt. Ich wusste ja nicht, was mir bevorstand.
Auf dem Zettel in meiner Tasche stand zwar eindeutig »Familie Davisc, aber ich wusste noch immer nicht, ob sie sich als Freund oder Feind erweisen würde. Verdammt nochmal, das Datum betraf den 14. des vergangenen Monats. Ich hatte nicht mal eine Garantie, ob die Leute noch auf den Beinen standen - beziehungsweise
noch welche hatten.
3 1
Nach nicht allzu langer Zeit konnte ich einen vor dem
Bug meiner Maschine größer werdenden sicheiförmigen
See erkennen. Auf der Landkarte lag er nur ein Stückehen südwestlich meines Zielortes. Ich musste diese Leute fmden. Für meine Freunde konnte sich, falls mir etwas zustieß, ein zweiter Pilot als sehr nützlich erweisen. Allein Davis’ Anwesenheit war eine Art Versicherungspolice.
Die Sonne stand noch immer hoch am Himmel. Es
war fast 14.00 Uhr, als ich den Flugplatz erreichte. Ich
musste einen kleinen Schaufensterbummel machen, um
ihn unter mir in dem Qualm und Durcheinander des
Stadtgebietes zu finden. Ich ging mit dem Bug runter, verlangsamte auf 70 Knoten und leitete den Landeanflug ein. In der Nähe des Rollfeldes sah ich zahlreiche Gestalten.
Aus meiner Höhe betrachtet schien es da unten jede
Menge Überlebende zu geben. Sogar aus der Ferne konnte
ich ihre hellen bunten Klamotten erkennen, die sich
gänzlich von dem dreckigen zerrissenen Zeug der Untaten unterschieden. Ich hatte sogar den Eindruck, dass die Leute arbeiteten, denn ich sah jemanden, der eine
Kelle mit einem Blinker trug, die man auf Flugplätzen dazu verwendet, Maschinen in ihre Parkposition zu lotsen.
Ich weiß nicht, was mich dazu brachte, Dinge zu sehen,
die ich sehen wollte, aber ich merkte schnell, dass ich
mich getäuscht hatte. Der Flugplatz war in der Hand der
Untaten. An der Westseite des Geländes fehlte ein gro
ßes Stück Zaun; die wandelnden Leichen hatten sich auf
das Gelände ergossen. Ich zog den Bug wieder hoch und
wollte am Kontrollturm vorbeifliegen - für den Fall, dass
die Familie Davis darin verbarrikadiert war.
Es war niemand darin. Außer den Untoten. Sie waren
überall, auch im Inneren des Towers. Als ich ans andere
Ende der Rollbahn kam, sah ich unter mir ein Kleinflugzeug stehen. Die Türen standen offen; rings um den Flieger lagen Leichen am Boden. Es waren so viele, dass ich mit dem Zählen nicht mitkam. Einige Leichen lagen
rings um die Propellersektion der Kiste - als wären sie
genau auf den Propeller zugegangen und auf der Stelle
in Scheiben geschnitten worden. Ich sah auchjede Menge
Gliedmaßen, meist Arme. Sie lagen um den Vorderabschnitt herum.
Als ich höher ging, bestätigte sich mein Verdacht. Fast
genau in dem Moment, in dem ich den Schluss zog, dass
es an der Zeit war, nach Hause zurückzufliegen, sah ich
sie. Zwei Personen winkten mir aufgeregt von dem Laufsteg aus zu, der um den Hauptwassertank des Flugplatzes herumwand. Sie winkten um ihr Leben. Ein junge und eine Frau.
Ich zog an ihnen vorbei und ließ die Schwingen wippen, damit sie wussten, dass ich sie sah. Neben den beiden lagen ein Schlafsack und einige Kisten auf dem Wasserturm. Ich konnte kaum fassen, dass sie auf dem Turm festgesessen und doch überlebt hatten. Sie mussten Gott
weiß wie lange den Elementen ausgesetzt gewesen sein.
Ich war zu schnell, um sie mir genau anzuschauen, aber
langsam genug, um zu erkennen, dass sie lebten.
:n
Der Wasserturm stand abseits vom Flugplatz, auf der
anderen Seite des kaputten Maschendrahtzauns. Hätte
seine untere Hälfte nicht im Schatten von Bäumen und
Gesträuch gestanden, hätte ich sie wegen der Untatenschar, die an den Säulen kratzte, auf denen der Turm stand, eher gefunden. So sah ich die ihre Arme unermüdlich in die Höhe reckenden Untoten erst, als ich genau über dem Wasserturm kreuzte.
Auf dem Rollfeld konnte ich unmöglich landen. Bei
dem Loch im Zaun wären die Untoten, die die Überlebenden belagerten, sofort aufmich zugeströmt. Der Motorenlärm hätte sie angezogen. Noch dazu hätte ich eins der Viecher beim Start touchieren können, mit katastrophalen Folgen für meine Maschine. Ich hätte gern eine Möglichkeit gefunden, den Leuten mitzuteilen, dass ich
zurückkehren würde, aber da das Adrenalin angesichts
der Aussicht, die Untoten am Hals zu haben, in mir raste,
fiel mir keine ein.
Ich ging höher, ließ den Flugplatz hinter mir und
suchte eine passende Landebahn. Ich flog so niedrig wie
möglich nach Osten und hielt im Umkreis von fünfzehn
Kilometern Ausschau nach einem Platz, an dem ich runtergehen konnte. Laut meiner Karte und der Aussicht aus der Kanzel flog ich genau über der Interstate 10. Auf
der nach Osten führenden Spur sah ich überall Fahrzeuge. Die nach Westen führende Spur war hingegen relativ frei. Ich notierte mir geistig die Zeit und das Tempo, mit dem ich flog, damit ich den Rückweg zum Wasserturm besser berechnen konnte.
34
Während meine Kopfberechnungen sich in meinem
Schädel überschlugen, entdeckte ich am Boden eine weitere postapokalyptische Odyssee. Ein großes Stück der 1-10 war verschwunden, ebenso wie eine an sie grenzende Überführung. Dort war neben einem Krater ein grünes Militärfahrzeug abgestellt. Mehrere Schilder mit
der Aufschrift GEFAHR! umgaben die Stelle. Ich nehme
an, der Highway wurde nach dem Untergang bewusst gesprengt, oder die Brücke war zusammengebrochen, und chronische Erosion hat den Rest des Highways mitgerissen. Wie auch immer: Es war die Gelegenheit, die ich nutzen musste. Ich setzte zur Notlandung auf der Interstate an. Mir fiel ein, dass ich vor zwei Jahren über dieses Stück Highway gefahren war, nachdem man mich zu
einer militärischen Ausbildung abkommandiert hatte.
Nun wollte ich ein Flugzeug dort landen.
Die Straße war frei. Ich sah zwar in der Feme Trümmer, doch bevor sie zum Problem wurden, würde ich längst am Boden sein. Ich brachte die Maschine runter, wenn auch nicht ohne Komplikationen. Nach dem Aufsetzen trat ich auf die Bremse, um die Geschwindi,gkeit zu verringern. Ein, zwei, dann vier Untote schlurften aus dem von hohem Gras bewachsenen Mittelstreifen. Es waren weniger als ich erwartet hatte. Als ich etwas fester auf die Bremse trat, spürte ich ein Rucken in den Pedalen. Die Maschine drehte sich jäh nach rechts. Eine der Bremsen war im Eimer. Ich hatte
keine andere WahLich musste das Ruder auf der anderen Seite einsetzen, um die Kiste auf geraden Kurs zu
bringen, damit sie ausrollte, bis der Luftwiderstand sie
stoppte.
Die Trümmer, die ich bisher für kein Problem gehalten hatte, wurden plötzlich zu einem sehr großen. Ich trat auf die funktionstüchtige Bremse und bewegte das
Gegenseitenruder, um nicht vom Kurs abzukommen.
Dabei küsste ich leider jedes Mal die rechte Seite des
Highways. Hätte ich nicht kurz vor den Trümmern angehalten, wäre es wahrscheinlich zu einem verhängnisvollen Zusammenstoß gekommen. Der Schrott, der meinen Weg fünfzig Meter weiter blockierte, bestand aus einem
grünen Army-Laster und einer eingesackten Überführung.
Ich bezweifelte, dass zwei Überführungen zufallig so zusammenkrachen konnten. Sie waren wahrscheinlich das Ergebnis eines professionellen Abrisses. Ich hatte kaum
genug Platz, die Maschine zu wenden und für einen Start
in Position zu bringen. Vorausgesetzt natürlich, ich kam
überhaupt zu ihr zurück. Ich schaltete den Motor ab, behielt die kleine Anzahl der in meine Richtung latschenden Untoten im Auge und stellte meine Expeditionsausrüstung zusammen.
Ich griff auf den Rücksitz und nahm mein Gewehr und
die Magazine an mich. Die Reservemagazine stopfte ich
in meinen Tornister, dann noch vier weitere in leicht erreichbare Taschen. Meine Handfeuerwaffe hing bereits am Gurt. Ich packte des Weiteren vier Flaschen Wasser und
zwei Einmann-Rationen in den Tornister. Ich wusste nicht,
wie lange die beiden schon auf dem Turm waren und ob
sie überhaupt noch über Essen und Trinken verfügten.
36
Ich machte die Tür der Maschine zu, drehte mich um
und zuckte angesichts der fauchenden und verwesenden Visage einer Kreatur zusammen. Ich schlug mit dem Gewehrkolben gegen ihre Schläfe und trat ihr so fest
vors Knie, dass sie zu Boden ging. Das Ding war weder
eine Kugel noch das unerwünschte Nebenprodukt des
lauten Knalls wert. Als ich mich von der Maschine entfernte, rührte es sich nicht mehr.
Ich ging rechtwinklig zur Interstate in den Wald. Ich
wollte der Straße von dort aus folgen, weil ich dort vor
dem stets suchenden, ständig wachsamen Blick der Kreaturen sicher war. Ich konnte sie im Vorbeigehen hin und wieder zwischen den Bäumen erspähen. Sie kamen mir
verwirrt vor und schienen zu ahnen, dass sich in ihrer
Nähe etwas Interessantes tat, wussten aber nicht, wie sie
davon profitieren konnten. Es war heiß und schwül, aber
ich ging weiter. Meine Seele hatte keine Wahl. Schließlich gelangte ich an den Ort, an dem es zu den ersten Überführungseinstürzen gekommen war.
Beim Überfliegen war mir der untote Soldat nicht
aufgefallen. Er hatte sich hinter dem Laster in einem
toten Winkel befunden. Es war leicht zu erkennen, was
ihm passiert war. Der hintere Teil seines grünen Mantels
war in die Fahrertür eingeklemmt und verhinderte, dass
er sich bewegen konnte. Sein Reißverschluss war bis zum
Brustkorb hochgezogen. Er trug einen Stahlhelm, der mit
einem Riemen unter seinem Kinn befestigt war. An seiner Schulter und seinem Hals fehlten große Fleisch- und Muskelbatzen. Es war offensichtlich, dass er aus dem
‘37
Laster gestiegen war, den Mantel eingeklemmt und die
Katastrophe geradezu eingeladen hatte. Ich schätze, der
Gewinner des Darwin-Preises stand für diesen Monat fest.
Mich ihm zu zeigen hätte nichts gebracht. Er hätte
lediglich wie ein Blöder auf den Wagen eingeschlagen
und weitere seiner Art angelockt. Ich musste ihn so zurüci.dassen, wie er war. Ein Teil meines Ichs hätte ihn gern von seinem Elend erlöst, denn als Soldat war er
mein Kamerad. Ich ging leise zur Beifahrerseite des riesigen Lasters und schaute hinein. Auf dem Sitz lag eine Pistole vom Typ M-9. Das Fenster war hochgedreht; auf
meiner Seite war die Tür verschlossen.
Ich hatte nur mein Gewehr und eine Pistole und hielt
es für eine gute Idee, wenn auch die Leute, zu denen
ich unterwegs war, eine Waffe besaßen, mit der sie sich
während der Rettungsmission verteidigen konnten. Also
änderte ich meine Ansicht und beschloss, den Soldaten
im Tausch für die Waffe auszuschalten. Ich ging vom
Trittbrett runter und begab mich ans Heck. Der Laster
hatte eine mit Leinwand bedeckte Ladefläche. Ich lugte
hinein, konnte aber nichts Brauchbares sehen. Da waren
nur Holzkisten voller Sonstwas. Vielleicht Sprengstoff.
Aber auf diesem Gebiet kannte ich mich nicht aus.
Ich hob einen dicken Brocken Interstate aufund warf
ihn auf den Beton vor die Füße des Untaten, damit er,
wenn ich mich ihm näherte, in eine andere Richtung
schaute. Es klappte. Ich erreichte ihn schnell und schob
die Mündung meiner Waffe unter seinen Helm, damit
ich an dem Kevlar vorbeikam, der seinen Schädel schützte.
38
Ich gab nur einen Schuss ab. Der untote Soldat erschlaffte
und hing in seinem Mantel, bis ich die Wagentür öffnete. Ich durchsuchte seine Taschen. Nichts von Wert.
Ich nahm die M-9 an mich und machte mich davon.
Ich hatte nicht viel Zeit, mir etwas auszudenken, um
die Untoten vom Wasserturm fortzulocken. Wir mussten
vor Sonnenuntergang weg sein. Die Neutralisierung der
Untoten war keine Option. Ich hatte zwar den Vorteil
eines Hirns und meiner Feuerkraft, aber sie waren einfach zu viele.
Ich musste es anders anstellen. Es sah aus, als gäbe es
nur eine Möglichkeit: schießend oder brüllend auf sie
zustürzen, um sie vom Turm wegzulocken. So ähnlich
hatte ich es auch bei der Rettung der Familie Grisham
gemacht. Es war natürlich auch gefährlich, denn diesmal hatte ich kein funktionierendes Auto, um sie abzulenken. Mangelhafte Planung. Ich hatte eigentlich nur bei Lake Charles landen, Kontakt aufnehmen und mögliche Überlebende zum Hotel 23 bringen wollen. Auf eine neue lebensgefährliche Rettungsaktion war ich nicht
vorbereitet.
Der Wasserturm kam in mein Blickfeld. Ich sah eine
Gestalt auf dem Laufsteg. Ich winkte und gab Zeichen,
aber es kam keine Reaktion. Allmählich fing ich an, meinen Plan zu hinterfragen. Hatte ich vielleicht all diese Mühen nur auf mich genommen, um zwei Leichen zu
retten? Doch dann fanden meine Mühen Bestätigung.
Ich sah eine kleine männliche Gestalt am Rand des Geländers, die auf die Untoten hinunterpinkelte. Obwohl 39
ich sie in dem Gebüsch nicht sah, wusste ich, was der
junge tat. Er zielte zweifellos aufihre Köpfe.
Ich lachte leise vor mich hin, wurde dann aber wieder ernst. Der Wasserturm war nur etwa zehn Meter von dem Zaun entfernt, hinter dem der Flugplatz lag. Der
obere Rand des Zauns war nicht aus Stacheldraht und
daher leicht zu überklettern. Ich lief also ein Stück, bis
ich außer Sichtweite der Belagerer war, und stieg hin
über. Sobald ich den Boden berührte, rannte ich auf den
Hangar zu. Ich sah eine Reihe strombetriebener Gepäckkarren, die hinter dem Hangar in eine Ladestation gestöpselt waren. Ich ging langsam zu ihnen hinüber. Da ich nicht wusste, wie lange diese .Gegend schon ohne
Strom war, wusste ich auch nicht, ob die Karren noch
funktionierten. Ich entriegelte einen Karren und zog
ihn zur Hangarseite, um einen ausgiebigen Blick aufihn
zu werfen. Ich hatte die Neugier eines Leichnams hinter
dem Zaun auf mich gezogen. Er hatte mich offenbar
klettern sehen.
Die Gepäckwägelchen funktionierten ohne Schlüssel.
Ich nehme an, man wollte vermeiden, dass sie, falls jemand sie verlor und sie auf dem Rollfeld landeten, Schäden an Flugzeugtriebwerken hervorriefen. Ich schaltete das Wägelchen ein, nahm Platz und gab Gas. Der Elektromotor fing an zu rumpeln, doch der Karren bewegte sich nicht. Ich versuchte einen anderen. Es gab mehrere,
sie standen in einer Reihe hinter dem Gebäude. Beim
dritten Karren hatte ich Glück. Der Motor schnurrte los.
Ich schwang mich rauf und fuhr auf die Zaunlücke in
40
der Nähe des Wasserturms zu. Mitten auf dem Rollfeld
hielt ich an und sprang ab, ohne das Wägelchen abzuschalten. Ich legte mit dem Gewehr an, feuerte auf den unteren Teil des Turms und nietete so viele Untote um,
wie ich konnte. Schließlich blickte jedes untote Auge im
Umkreis von drei Kilometern in meine Richtung.
Ich feuerte so lange auf sie, bis sie massenhaft und
mit ausgebreiteten Armen durch die Zaunlücke strömten, sichtlich scharf auf mich. Ich wartete, bis sie auf fünfzig Meter heran waren, dann schwang ich mich wieder auf das Wägelchen, gab Gas und lockte die Untoten vom Wasserturm weg. Als ich über das Rollfeld fuhr,
lud ich meine Waffe nach. Ich weiß es zwar nicht genau,
aber es waren schätzungsweise zwei- bis dreihundert von
denen hinter mir her.
Ich erreichte das Ende des Rollfeldes, stieg ab und nahm
sie erneut unter Beschuss. Sie waren etwa dreihundert
Meter weit entfernt. Ich hatte also noch Zeit. Jene, die
sich schon innerhalb der Flugplatzumzäunung befanden, zog ich zuerst aus dem Verkehr. Dann knöpfte ich mir nach und nach diejenigen aus der Masse vor, die am
weitesten entfernt waren. Dies würde mir mehr Zeit verschaffen, bevor sie aufholten, wenn ich zum Turm zurückkehrte.
Sie waren nun auf zweihundert Meter herangekommen. Die Meute wurde von so vielen Fliegen umschwärmt, dass mir beinahe übel wurde. Das kollektive Summen
der Insekten war lauter als das Ächzen der Untoten. Das
Schlimmste an ihnen waren meiner Meinung nach ihre
4 1
ausgedörrten, verwesenden Gesichter. Ihre Zähne waren
zu einem permanenten Fauchen gefletscht und ihre knochigen Klauen ständig nach Beute ausgestreckt.
Es war an der Zeit, die Kurve zu kratzen. Ich sprang
auf den Karren und umkreiste die Meute, ohne den
Fuß vom Gas zu nehmen. Da das Wägelchen aus Sicherheitsgründen ein bestimmtes Tempo nicht überschreiten konnte, machte ich bestenfalls 15-20 Stundenkilometer.
Als ich den Wasserturm erreichte, rief ich den Leuten
dort zu, sich bereitzuhalten.
Ich hatte keine Ahnung, ob sie mich hörten oder nicht.
Der Hauptteil der Meute war fast einen Kilometer entfernt. Wir hatten Zeit, aber ich musste mich auch noch um ungefahr ein Dutzend Gestalten kümmern, die am
Fuß des Turms zurückgeblieben waren. Die Batterie des
Wägelchens zeigte erste Anzeichen von Erschöpfung.
Ich erreichte das Loch im Zaun. Buschwerk behinderte
meine Sicht, deswegen konnte ich nicht genau erkennen, was mich dahinter erwartete. Ich eröffnete das Feuer, als ich einen Kopf zu sehen glaubte. Ich gab diese
Taktik auf und drang vorsichtig ins Gestrüpp unter dem
Wasserturm vor. Die hier zurückgebliebenen Untoten
waren vermutlich taub, denn sie befanden sich in einem
fortgeschrittenen Verwesungsstadium. Möglicherweise
hörten sie nicht mal mein Gewehrfeuer. Viele waren ein
äugig oder sahen gar nichts mehr. Sie gaben ein leichtes
Ziel ab. Es dauerte nicht lange, bis die Gegend rund um
den Turm sauber war. lch rief zu den Überlebenden hinauf, sie sollten so schnell wie möglich runterkommen.
42
Ich höre eine gebieterische Frauenstimme sagen: »Tu,
was der Mann sagt, Danny.«
»Ja, Oma«, erwiderte der Junge nervös.
Er kam zuerst. Er war etwa zwölf Jahre alt und hatte
brünettes Haar, dunkelbraune Augen und einen hellen
Teint. Dann kam die Frau. Sie war vielleicht Ende fünfzig oder Anfang sechzig. Sie hatte lockiges rotes Haar und war leicht übergewichtig. Sie trugen ihre paar Habseligkeiten bei sich und schauten mich fragend an, als sie vor mir standen.
Mein Selbstbewusstsein schien wie die Batterie des
Gepäckwägelchens schwächer zu werden, nachdem ich
so viele Untote gesehen hatte. Ich besann mich meiner
gesamten schauspielerischen Fähigkeiten (im Kindergarten durfte ich mal Abraham Lincoln geben), täuschte den beiden jede Menge Zuversicht vor und begab mich
zum Wägelchen.
Die Meute der Verfolger war vielleicht noch sechshundert Meter entfernt und kam rasch näher. Ich stieg auf den Gepäckkarren und schaltete den Rückwärtsgang
ein. Ein lautes Warnpiepsen ertönte. Mit einem Kabelbinder band ich das Pedal fest, damit es Gas gab, bis der Karren gegen etwas knallte oder die Batterie leer war.
Ich sprang und rollte mich ab, um Verletzungen zu vermeiden. Der Karren düste laut piepsend davon, und zwar genau auf die Untatenmeute zu. Wir liefen auf dem Weg,
den ich gekommen war, zu meinem Flugzeug zurück,
wobei wir, als wir uns schwerfällig eine Bahn durchs Gestrüpp an der 1-10 schlugen, sorgfältig darauf achteten,
nicht gesehen zu werden. Hinter uns, aus Richtung Flugplatz, war lautes Stöhnen zu vernehmen. Obwohl ich zugegebenermaßen noch nie einen Untoten so genau untersucht habe, um zu wissen, ob sie überhaupt atmen, nehme ich an dass sie uns irgendwie wittern.
,
Als wir uns durch den Wald in die ungefähre Richtung der Maschine schlugen, reichte ich der Frau die zuvor aus dem Army-Laster entwendete M-9. Sie stellte
sich als Dean und den jungen als ihren Enkel Danny vor.
Ich schüttelte beiden die Hand und zog den auf dem
Hobby-Flugplatz im Tanklaster gefundenen gelben Zettel aus der Tasche.
Die Frau las die Nachricht. Dann füllten sich ihre rot
umrandeten Augen mit Tränen. Sie hielt kurz inne und
sah mich an Dann nahm sie mich in die Arme, drückte
.
mich und weinte. Mein erster Gedanke war, Mr. Davis
wäre ein guter Freund oder Familienangehöriger gewesen und der Zettel die schmerzliche Erinnerung an dessen vorzeitiges Ableben.
,Ich weiß, dass Sie unglücklich sind, aber wir müssen
weitere, sagte ich. »ln dieser Gegend sind viele von denen,
und der Karren wird sie nicht lange in die Irre führen.«
Sie beharrte darauf, ein bis zwei Minuten zu pausieren, um sich zu orientieren. Was hätte ich sagen sollen?
Hätte meine Mutter je erfahren, dass ich älteren Menschen meinen Respekt versagte, hätte sie mir einen Arschtritt verpasst.
Ich fragte die Frau, was Mr. Davis und seiner Familie
passiert sei.
44
»Danny und ich sind die Familie Davis«, erwiderte
sie. »Ich habe den Zettel vor einem Monat auf dem
Flugplatz hinterlassen - kurz bevor wir hierhergeflogen
sind.«
Verdattert und mit dem Gefühl eines leichten Stichs
von sexistischem Neid im Hinterkopf erkundigte ich mich
demütig, wer die Maschine denn geflogen hätte.
Sie lächelte ein knappes Sekündchen und sagte dann:
»Ich. Ich habe einen Pilotenschein. Weil ich in einer Zeit
Pilotin war, in der ein solcher Schein noch etwas bedeutete.«
Um mich nicht als Vollidiot zu erkennen zu geben,
suchte ich die Umgebung nach Gefahren ab und unterhielt mich weiter mit der Frau namens Dean. Danny saß zu ihren Füßen auf dem Boden. Sein Köpfchen war ständig in Bewegung, denn auch er hielt nach Gefahren Ausschau.
Als ich mich mit ihr unterhielt, empfand ich friedliche und behagliche Gefühle; als wäre sie die letzte Großmutter auf dem Planeten; als wollte ich nichts anderes, als ihren Geschichten zu lauschen.
Nur hatten wir dafür jetzt keine Zeit.
Ich hatte die Pause hauptsächlich deswegen einlegen
wollen, um den beiden nach allem, was sie auf dem
Wasserturm erlebt hatten, eine emotionale Rast zu gewähren. Obwohl Dean in jeder Hinsicht fähig schien, für sich selbst zu sorgen, war sie nicht mehr die jüngste,
und ich hatte das Gefühl, dass sie eine kurze Kampfpause gut gebrauchen konnte. Dean zeigte offensichtli-4 5
ehe Anzeichen von Unterernährung. Lose Haut hing von
ihren Armen und Beinen herab und bewies die Liebe,
die sie für ihren Enkel empfand. Danny sah zwar auch
nicht gerade toll aus, aber ich erkannte, dass da jemand
zu seinen Gunsten auf Nahrung verzichtet hatte.
Mit schlechtem Gewissen und leichter Besorgnis in
der Stimme schlug ich vor, uns wieder in Bewegung zu
setzen, um so schnell wie möglich zu meinem Flugzeug
zu gelangen. Wenn wir gezwungen wurden, am Abend
zu fliegen, würde es nämlich nicht einfach sein, den
Tankwagen am Hobby Airport zu finden. Als wir gingen,
lenkte ich Dean von den Ereignissen des heutigen Tages
ab, indem ich sie fragte, warum sie Fliegen gelernt hatte.
Sie war gern bereit, darüber zu reden. Während sie leise
erzählte, schaute ich an ihr vorbei ständig in die Lücken
zwischen den Bäumen, die dann und wann die Interstate enthüllten. Von Zeit zu Zeit sah ich während unseres Marsches zum Flugzeug auch Untote.
Während wir gingen, berichtete sie leise, dass sie vor
ihrer Pensionierung als Pilotin für die Feuerwehr von
New Orleans gearbeitet hatte. Das Fliegen fehlte ihr sehr,
zumal sie es immer als ihre Berufung empfunden hatte,
Menschen in Not beizustehen. Während des Gesprächs
nannte sie auch ihr Alter, als sie zur Sprache brachte,
vor zehn Jahren, mit fünfundfünfzig, in Rente gegangen
zu sein. Ich konnte kaum fassen, dass es ihr und dem
Jungen gelungen war, so lange in dieser Welt zu überleben. Ich war voller Ehrfurcht und Respekt vor dem Überlebenswillen dieser Frau.
4 6
Zwischen dem Flugplatz und uns hielten sich an der
Interstate nur wenige Kreaturen auf. Ihr Gestöhne war
bei dieser Entfernung nur noch mit viel Fantasie wahrzunehmen. Ich schilderte Dean, wie ich bei der Landung die linke Radbremse verloren hatte sowie meine Hoffnung, den Start nicht wegen eines schönen großen grünen Armee-Lastwagens, der am Ende dieses Teils der Interstate auf uns wartete, abbrechen zu müssen. Sie schien darüber nicht besorgt und stellte keine Fragen bezüglich meiner Flugkenntnisse. Sie war offenbar nur dankbar, am Leben zu sein.
Als wiT den Flieger erreichten, öffnete ich die Tür und
ertappte mich dabei, Dannys Blick von der Leiche des zuvor von mir erledigten Untaten abzuschirmen. Warum eigentlich? Der junge hatte wahrscheinlich mehr Untote
bepisst, als ich je gesehen hatte.
Nach der Inspektion der Maschine schnallten wir uns
an und gingen die Checkliste durch. Damit wir uns verständigen konnten, setzten Dean und ich Headsets auf.
Sie half mir bei der Checkliste, da sie über zweihundert
Flugstunden in einer Kiste dieses Typs verbracht hat
(also weit mehr als ich). Der Motor sprang problemlos
an. Ich gab Gas und rollte vorwärts. Es war unnötig, die
Bremse zu testen. Das Gebiet war frei. Ich bretterte mit
50 Knoten voraus. Ein einzelner Untoter näherte sich
dem Beton der Interstate vom mit Gras bewachsenen
Mittelstreifen aus, der die nach Osten und Westen führenden Spuren teilte. Ich war mir nicht sicher, ob er es schaffen würde.
4 7
Dann spürte ich, dass das Steuerhorn der Maschine
zu mir zurückgezogen wurde. In meinem Headset sagte
Deans Stimme: »Diesen Steigflug schaffen wir.« Ich war
fassungslos. Unser Steigflug war noch steiler als der, bei
dem john und ich von dem unbefestigten Streifen hatten starten müssen, bevor die Raketen San Antonio ausgelöscht hatten. Es waren nicht die Triebwerke, die mich in den Sitz drückten, es war die Schwerkraft. Wir hatten
den wandelnden Leichnam verfehlt und waren fast dreihundert Meter vor der Stelle in die Luft gegangen, an der ich vom Boden abgehoben hätte. Ich musste mich
zusammenreißen und mir eingestehen, dass Dean beim
Fliegen dieser Kiste mehr draufhatte als ich.
Als wir den Laster, den Krater und die Überführung
passierten, kam der Flugplatz wieder in Sicht. Aus purer
Neugier bat ich Dean, uns nochmal dorthin zu bringen.
Als wir über das Gelände hinweg flogen, sah ich jede
Menge Untote, die sich am anderen Ende des Platzes um
den Elektrokarren scharten. Er hatte sich im Zaun verkeilt und piepste vermutlich noch immer, weil die Untoten sehr daran interessiert waren, ihn in Stücke zu rei
ßen. Vielleicht lag es an seinem Geruch, vielleicht an
den Geräuschen, die er von sich gab; vielleicht aber auch
an beidem.
Dean fragte nach unserem Ziel. Ich bat sie, ihren
Tankwagen anzufliegen. War kein Problem für sie.
Da ich wissen wollte, wie sie auf den Wasserturm gelangt war, stellte ich ihr, nun in der Luft und in Sicherheit, ein paar Fragen. Sie waren am Abend des 14. Mai 48
beim Lake Charles gelandet. Dean erwähnte zwar keine
Einzelheiten, begann jedoch, heftig mit den Händen zu
zittern, als sie erzählte, wie Danny und sie aus ihrem
Flugzeug gestürzt waren und sich so schnell wie möglich zum Wasserturm durchgeschlagen hatten, um nicht gefressen zu werden. Auf dem Turm hatten sie nur das
gehabt, was sie tragen konnten. Ich fragte, warum sie
nicht mit dem Augzeug abgehauen waren. Sie antwortete mit einer Gegenfrage: »Haben Sie den Leichenberg vor dem Bug unserer Kiste nicht gesehen?«
Ich erkannte, dass es ihr Unbehagen bereitete, über
diese Sache zu reden.
Dean erzählte, dass sie ihr Bettlaken benutzt hatte,
um an Wasser für Danny und sich herankommen zu
können. Am sechsten Tag, als ihre Trinkwasserrationen
zu Ende gegangen waren, war sie über den seitlichen
Laufsteig auf den Turm gestiegen. Irgendwie hatte sie
den Dachstöpsel aufgeschraubt, durch den das Wasser
im Tank normalerweise geprüft wurde. Es war ihr gelungen, das Laken etwa zwanzig Zentimeter tiefins Wasser zu versenken, ohne es zu verlieren. Danny und sie hatten fast einen Monat lang von »frisch gepresstem Louisiana-Lakenwasser« gelebt und sich währenddessen das pausenlose Stöhnen der sie belagemden Toten angehört.
Als Dean davon erzählte, begann sie erneut zu weinen.
Über dem Hobby Airport wurde unser Sprit knapp. Wir
hätten es mit einem Rest heißer Luft vielleicht noch bis
Hotel 23 geschafft, aber ich hielt es für unnötig, dieses
Risiko einzugehen. Ich wusste, dass der Tanklaster funk-
49
tionsfähig war. Ebenso wusste ich, dass er eine Menge
Treibstoff enthielt. Als wir über dem Flugplatz kreisten
und ein Auge riskierten, näherte sich die Sonne dem
westlichen Horizont. Es befanden sich Untote auf dem
Dach neben dem zerbrochenen Terminalfenster, und ich
sah auch ein paar auf dem Boden vor dem Dach. Einige
Kreaturen hatten sich aufgrund ihres Absturzes selbst
zur Unbeweglichkeit verurteilt. Tja, die Schwerkraft ist
‘ne Sau.
Ich brachte die Maschine runter, fuhr gefahrlieh nahe
an den Tankwagen heran und bat Dean, an Bord zu bleiben. Meine Idee gefiel ihr nicht, denn sie wollte helfen, aber ihr Blick sagte mir, dass sie mir Recht gab. Nach
einem Monat auf dem Wasserturm, auf dem sie Kohldampf
geschoben hatte, von der Sonne gebraten und von der
Kälte geschüttelt worden war, war sie nicht hundertprozentig auf dem Damm. Deswegen hatte ich, trotz der vielen Flugstunden ihrer aktiven Zeit, meine Hände in der Nähe der Kontrollen gelassen. Auch wenn sie ein besseres
Gefühl für die Kiste hatte als ich: Sie war fix und fertig.
Ich ließ, wie immer in solchen Situationen, den Motor
laufen und ging zum Tankwagen hinüber. Binnen kurzer Zeit hatte ich die Tanks gefüllt und das Flugzeug zu einem neuen Start positioniert. Am Wartestreifen des
Hobby-Rollfelds wurde mir bewusst, dass ich mich seit
fast zehn Stunden nicht im Hotel 23 gemeldet und die
Headsets nicht auf VHF-Funk eingerichtet hatte. Dean
und ich hatten uns auf dem Flug zum Hobby Airport unterhalten, und da wir ohnehin außerhalb der H23-Reich-50
weite waren, hatte ich das VHF-Gerät nach dem Start
von der Interstate ausgeschaltet, um Störgeräusche zu
vermeiden. Um uns in die Luft zu bringen, benutzte
Dean wie zuvor, als wir dem wandelnden Leichnam ausgewichen waren, den Kopiloten-Knüppel, um nötigenfalls einzugreifen. Ich legte meine Hände auf den Steuerknüppel und behielt Deans Hände im Auge.
Als wir abhoben und ich die Funkgeräte einstellte, um
mit Hotel 23 Verbindung aufzunehmen, sah ich aus den
Augenwinkeln eine Leiche, die aus dem Cockpitfenster
der Boeing heraushing, die John, William und ich Wfr
eben zuvor hatten erforschen wollen. Sie klemmte allem
Anschein nach fest, denn sie ruderte in dem vergeblichen Versuch, sich aufs Rollfeld zu stürzen, mit den Armen. Alle kürzlich erfolgten Aktivitäten auf diesem
Flugplatz hatten die in dem riesigen Multimillionendollar-Sarkophag eingesperrten Untaten offenbar in einen Erregu1;1gszustand versetzt.
Ich sprach ins Mikrofon: »H23, hier ist Navy One, Ende.«
john meldete sich sofort. Obwohl er ein Nervenbündel
war, vergaß er nicht, die Funkdisziplin zu wahren, und
verriet weder Namen noch Orte. »Navy One, hier ist H23.
Wir versuchen dich seit Stunden zu erreichen. Eine Landung bei H23 ist im Moment nicht angeraten.« Ich fragte, was los sei, denn ich machte mir auf der Stelle Sorgen
um einen neuerlichen Angriff des einzigen Feinds, der
gefährlicher war als die Untaten.
John erwiderte, es sei an unserem Landeplatz und auf
dem Gebiet, das die hintere Umzäunung umgab, kürzlich
5 1
zu einem Untoten-Andrang gekommen. Es sei gefährlich,
dort zu landen, da sich dort inzwischen über hundert
mehr oder weniger kaputte Figuren versammelt hatten.
Ich erkundigte mich, ob er eine Möglichkeit sah, das
Gebiet freizuräumen, da außer mir »noch zwei Seelen
an Bord seien«. john erwiderte, es sei zu dunkel, um in
zwanzig Minuten etwas zu bewirken.
Da hatte er Recht. Es war reiner Selbstmord, am Abend
hinaus zu gehen und zu versuchen, sie zu vertreiben.
Und selbst dann gab es keine Garantie für eine sichere
Landung. Wenn ich mit einer Geschwindigkeit von achtzig Knoten aufsetzte, musste mir nur eins dieser Dinger vor den Propeller laufen, und alle an Bord könnten draufgehen. Wir mussten also für heute Nacht einen anderen Ort finden, und zwar schnell.
Der Flugplatz Eagle Lake kam aus offensichtlichen
Gründen nicht infrage. Ich war auch nicht bereit, das
Risiko einzugehen, die Maschine auf einem mir unbekannten Acker zu landen. Es musste ein Flugplatz sein.
Ich nahm mir die Karten vor und suchte mögliche Kandidaten. Ich fand eine schmale Rollbahn namens Stoval: sie lag etwa 22 Kilometer südwestlich von H23. Sie musste reichen. Wenn wir dort ankamen, würde die Sonne
untergegangen sein, also stand mir eine weitere Nachtsichtgerät-Landung bevor.
Diesmal wollte ich die Triebwerke nicht abschalten,
denn wir hatten keine garantierte Zuflucht, wenn die
Sache schiefging. Wir mussten das Risiko mit dem Motorenlärm eingehen. Ohne·Deans Reaktion einschätzen 52
zu können, bat ich Danny, in meinen Tornister zu greifen und den grünen Behälter aus Hartplastik herauszuholen. Er tat es. Dean saß am Steuerlmüppel. Ich erklärte ihr, was Danny tun sollte, und dass wir in dieser Hinsicht eigentlich keine andere Wahl hatten. Ich bat
sie, die Antikollisionsbeleuchtung abzuschalten und sich
darauf vorzubereiten, mir die Steuerung zu übergeben,
wenn es für sie zu dunkel war, um am Boden Einzelheiten zu erkennen. Ich zeigte ihr das Rollfeld, auf dem wir landen wollten. Dean änderte den Kurs um eine Spur,
und wir nahmen es aufs Korn.
Ich nahm das NSG aus der Schachtel und setzte es auf.
Um sicherzugehen, wollte ich meinen Augen genügend
Zeit geben, sich an die Lage anzupassen. Ich drehte die
Helligkeit so weit runter, dass die Brillengläser eher zu
einer Augenbinde statt zu einer Sehhilfe im Dunkeln
wurden. Draußen wurde es sehr dunkel. Ich justierte die
Bildverstärker des NSG und bat Dean um die Steuerung.
Unter uns erwachte die Landschaft wieder zum Leben,
in der vertrauten grünen Farbe, die ich inzwischen so
gut kannte.
Ich suchte den Flugplatz. Er war nicht da. Ich suchte
ihn überall und prüfte erneut die Karte. Ich hielt nach
einer Rollbahn mit Kontrollturm Ausschau. Ich brauchte
zwanzig Minuten, bis ich begriff, dass wir mehrmals
genau über ihn hinweg geflogen waren. Der Flugplatz
war verlassen, und er hatte gar keinen Tower. Als wir
landeten, fuhren wir durch Gras, das so hoch war, dass
unser Propeller es fast hätte mähen können. Ich konnte
5 3
allerdings noch den Beton der einstigen Rollbahn erkennen. In dieser Gegend des Flugplatzes gab es außer einem einsamen Hangar rein gar nichts mehr. Ich flog
nahe an ihn heran, um zu sehen, ob das Tor offen stand.
Es schien hier sicher zu sein. Ich wendete nochmal und
ging dann runter. Inzwischen hatte ich mich an das
NSG-Tiefenwahmehmungsproblem gewöhnt und kam
besser unten an als bei früheren Versuchen. Ich positionierte die Maschine für den Start am nächsten Tag, schaltete den Motor aus und blieb wachsam.
Dean und Danny schlafen jetzt. Wir sind um 21.00 Uhr
gelandet. Ich habe john angefunkt und ihm unsere Koordinaten durchgegeben. Er hat gesagt, dass er und die anderen sich Morgen mit dem Rover unserer Gäste annehmen werden; ich solle mir keine Sorgen machen. Er hat gelacht und gemeint, ich solle nicht vergessen, morgen früh den Funk einzuschalten; er würde auf alle Fälle die ganze Nacht über wach bleiben. Ich habe ihn gefragt, wie es Tara geht. Er hat erwidert, dass sie neben ihm sitzt. Sie hätte gesagt, dass ich ihr fehle.
Ich sehe Bewegungen am äußeren Flugplatzrand. Keine
Ahnung, was es ist. Die Kabinentüren sind verschlossen.
Ich bin zwar müde, werde aber keinesfalls einnicken.
Dean ist wach. Ich sage ihr nicht, was ich gesehen habe.
54
Die Bewegungen in der Ferne haben sich als Hirschrudel
erwiesen. Dass es sich um Lebewesen handelte, konnte ich
an den spiegelartigen Reflektionen ihrer Augen erkennen, die man im Nachtsichtgerät deutlich wahrnimmt.
Augen von Untoten sehen anders aus.
Die Sonne ist aufgegangen, das Funkgerät eingeschaltet.
Ich habe bereits mit john gesprochen. Er will mir im
Laufe der nächsten Stunde grünes Licht geben. Hier
rührt sich nichts; die Hirsche haben sich verzogen. Dean
und Danny haben schon einen Großteil meiner Wegzehrung verputzt. Kann’s ihnen nicht verübeln.
1.ao u�p.
Habe angerufen. Bei John ist alles klar. Wir heben in
Kürze ab.
5 5
11. Ju�1
� . ll.o u�p.
Wir haben Hotel 23 am Morgen des 9. ohne Zwischenfall
erreicht. Janice blieb über VHF-Funk mit uns in Verbindung und teilte uns johns und Williams Position mit, während die beiden den untoten Mob von unserem Landeplatz weglockten. Bevor wir sicher bei H23 landeten, habe ich Dean gesagt, sie solle nicht allzu viel von unserer Zuflucht erwarten, und dass wir nun (mit Annabelle) neun sind. Danny saß hinten und trug ein Headset. Es
war ihm zu groß, und ich fand es ziemlich erheiternd,
wie es fortwährend aufseinem Kopf herumrutschte, als
er fragte, wer Annabelle �ei. Ich erzählte ihm, dass wir
im Hotel 23 ein Hündchen haben, das Annabelle heißt
und auf kleine Jungs steht. Bei der Vorstellung, bald
etwas wirklich Liebenswertes berühren zu können und
sich keine »hässlichen Menschen«, wie er sie nennt,
mehr anschauen zu müssen, traten Danny Tränen in die
Augen.
Laura hielt ich als seine Überraschung zurück. Ich versuche mir seine Freude über eine gleichaltrige Spielgefährtin auszumalen. Auch wenn ich es nur alle Jubeljahre mal empfinde und der vertraute Geruch einer alten Kiste aus Zedernholz mit Andenken immer nur für Sekunden über mich kommt … Ich habe noch nicht vergessen, wie es ist, ein Zwölfjähriger zu sein.
5 6
lll. Ju�1
l.Lll1 u�p.
Wir haben heute eine Konferenz abgehalten. l.aura, Danny
und Annabelle haben ihr zwar keine Beachtung geschenkt,
aber zumindest daran teilgenommen. Während wir uns
unterhielten, spielten sie leise in einer Ecke. Dean sieht
schon viel besser aus. Ich habe sie über die jüngsten Ereignisse am Hotel 23 und die Banditen aufgeklärt und ihr erzählt, wer wir sind und wie wir zueinandergefunden haben.
Auch sie hatte ein paar Geschichten auf Lager. Wir erfuhren, wie Danny und sie überlebt und die Monate vor ihrer Gefangenschaft auf 1Charles’ Wasserturm• verbracht
hatten. Wir hörten, wie es den beiden in New Orleans ergangen war; dass sie die Warnung gehört hatten, laut der die Stadt ein Bombardierungsziel war. und dass sie sich
mit ihrer Maschine in die nächstgelegene sichere Zone
aufgemacht hatten. Sie hatten sie j edoch nie erreicht
und Monate damit verbracht, von einem Flugplatz zum
anderen zu fliegen und Proviant, Wasser und Treibstoff
zu organisieren, bis das Glück sie schließlich verließ.
57
Dean ist nun unsere Oma vom Dienst, die sich um die
Kinder kümmert und uns berät. Gestern war sie sogar
privat bei mir, um mir zu sagen, dass sie sehen kann,
dass Tara in mich verknallt ist. Ich weiß es zwar schon
seit einer ganzen Weile, doch war ich immer zu sehr mit
Überleben beschäftigt, um aus meinem Wissen etwas
zu machen. Dean fragte mich, welchen Sinn das Überleben hat, wenn man niemanden liebt, von dem man ebenfalls geliebt wird. Die Frage konnte ich nicht beantworten. Ich war für Gefühle nicht in Stimmung. Wir waren noch immer in ernsthaften Schwierigkeiten, und
meiner Ansicht nach hatte ich für Liebe und Romantik
keine Zeit.
Ich habe Dean gefragt, ob sie bei den Flügen von einem
Flugplatz zum anderen nie auf Überleb�nde gestoßen
ist. Daraufhin hat sie mir eine weitere grässliche Geschichte erzählt. Danny und sie hatten versucht, zwei Menschen zu retten, die ihnen von einem Feld aus gewunken hatten. Sie waren von Hunderten von Untoten umgeben gewesen, die sie aber selbst nicht sahen, weil
sie sich hinter einem Hügel befanden. Dean hatte versucht, die Leute zu warnen, doch es war bereits zu spät gewesen. Als sie kapierten, was um sie herum vor sich
ging, waren die Untoten schon auf der Hügelkuppe aufgetaucht. Deren schiere Anzahl hatte von den zwei Leuten nichts als sauber abgenagte Knochen übrig gelassen.
Dean hatte deswegen ein schlechtes Gewissen gehabt.
Sie hatte sich oft gefragt, ob die beiden nur auf dem Feld
gestanden hatten, um Danny und ihr ihre Anwesenheit
58
zu signalisieren. Ich versuchte sie zu trösten, indem ich
erwiderte, sie wären wahrscheinlich schon dort gewesen, als Dean das Feld zufällig im richtigen Augenblick überflog. Natürlich bestand auch die Möglichkeit, dass
die beiden ihr Versteck verlassen hatten, um ihren potenziellen Rettern zu winken, aber was hätte es gebracht, Dean mit diesem furchtbaren Gedanken zuzusetzen?
Ich bin in letzter Zeit recht gut in Schuss. Seit dem
Angriff der Banditen hat sich die Anzahl der unseren
Komplex belagernden Untaten stark reduziert. Im Kontrollraum habe ich ein Reck aufgebaut. Ich habe es aus Schrott gebastelt und mit Schnüren an Deckenbalken
aufgehängt.
John überwacht zwar ständig die Funkgeräte, hat aber
weder verschlüsselte Meldungen noch irgendwelchen
Tratsch gehört. Dean glaubt wohl, dass wir, solange wir
die Umgebung im Auge behalten, hier sicher sind. Ich
habe sie informiert, dass mehr als ein Einstieg in diesen
Komplex existiert. Habe mir vorgenommen, sie in den
nächsten Tagen durchs gesamte Hotel 23 zu führen. Sie
weiß übrigens auch mit Schusswaffen umzugehen, und
ich glaube, dass sie sich, wenn es sein muss, auch zu
wehren weiß. Sie ist zähes altes Mädel; Produkt einer altmodischen Erziehung. Ihren Mann hat sie Jahre vor dem Auftreten der Untaten verloren. Der Tod ist ihr nicht
fremd. Wandelnde Tote allerdings schon.
11. JUlJI
11.o(, u�s:r.
Das Globale Positionsbestimmungssystem hat den Abschied eingereicht. Ich bin mir zwar sicher, dass noch Satelliten um die Erde kreisen, aber ohne Einwirkung
der sie regelmäßig kalibrierenden Bodenstationen können sie nicht richtig senden, und ich bekomme keinen Empfangsmodus. Das interne DVD/GPS.Navigationssystem im Rover ist nutzlos. Weil wir kein GPS mehr haben, wollte ich unbedingt die Satellitentelefone testen. Sie
funktionierten gut. John und ich haben sie mit nach
oben genommen, und ich habe die Nummer des Geräts
gewählt, das john in der Hand hielt. Sie war an der Seite
auf einen Barcodestreifen gedruckt. Es klingelte. john
hat danach das Gleiche mit meinem Telefon gemacht.
Obwohl diese Dinger ein ausgezeichnetes Verständigungsmittel sind, sind sie nicht unbedingt zuverlässig. Das gilt übrigens auch für jede andere Form der Kommunikation, sofern sie auf die Mitwirkung komplizierter Drittmechanismen angewiesen ist.
Ich schlafe nun im Umweltkontrollraum, weil ich mein
Quartier an Danny und Dean abgetreten habe. Die neue
Unterkunft ist etwas kühler. Zwar gibt es hier jede Menge
andere Buden, unter denen ich wählen könnte, aber
ich bin halt gern in der Nähe der anderen. Es gibt hier
sogar einen ziemlich großen Schlafsaal mit Spinden
und Klappbetten. Ich nehme an, er sollte ursprünglich
dazu dienen, im Fall eines nuklearen Schlagabtausches
60
zivile Überlebende unterzubringen. Ich wünsche mir
nur, ich könnte neben dem allgemeinen Ziel. einfach
am Leben zu bleiben, auch irgendwas Nützliches und
Positives leisten.
Ich habe heute meine Brieftasche aus meinem persönlichen Kram gefischt und einen Blick auf meinen Truppenausweis geworfen. Der Mann, der da beschrieben wird, sieht mir überhaupt nicht ähnlich. Na schön, er hat mein
Gesicht, meinen Namen und meine Sozialversicherungsnummer, aber … Sein Blick ist ganz anders. Die Augen auf dem Foto schauen anders in die Welt als die des
Typen, den ich nun im Spiegel sehe. Ich werde den Ausweis behalten. Ich behalte ihn als Andenken an das, was ich mal war; ein Rädchen im Getriebe einer größeren
Sache. Es ist nun sechs Monate her, seit ich dem ersten
Untoten gegenüberstand. Es läuft mir noch immer kalt
den Rücken runter. Ver.mutlich wird sich daran nichts
ändern.
10. JUl.JI
13 .o� u�p.
Im Moment haben wir starken Regen. Das Wetter wirkt
sich sehr heftig auf unser internes Fernsehprogramm
aus. Es rauscht und führt zu Verlust an vertikalem Bildfang. Die Untoten in der Umgebung haben sich zwar ziemlich zerstreut, aber wenn es ordentlich blitzt, kann
man sie noch immer sehen. Über Funk kommt auch
61
nichts rein, was die Stimmung heben könnte. Da drau
ßen ist niemand mehr - zumindest nicht in unserer
Reichweite. Ich habe, um während des Gewitters die Zeit
totzuschlagen, das Tagebuch des Wächters durchgeblättert. Aufgrund der Ereignisse, die Hotel 23 in jüngster Vergangenheit in Atem hielten, hatte ich es völlig vergessen.
Als ich gestern Abend nochmal in meinem alten Quartier war, um meinen restlichen Kram zu holen, tauchte es wieder auf. Dean hatte meine Sachen in einen Pappkarton gepackt und bedankte sich, weil ich Danny und ihr meinen Raum überließ. Sie meinte, sie hätte mein
Tagebuch gefunden, aber nicht gewagt, einen Blick hinein zu werfen. Ich erklärte ihr, dass es nicht mein Tagebuch ist, sondern einem Mann gehörte, der hier früher stationiert war. Ich erklärte ihr, dass ich es für ihn aufbewahren wollte. Sie verstand, bändigte es mir aus und versuchte sich darüber klarzuwerden, ob sie etwas Falsches gesagt hatte.
Ich nahm das Tagebuch mit einem beruhigenden Lächeln an mich, warf es in den Karton und begab mich in meine neue Unterkunft im Kontrollraum. Erst heute
Nacht habe ich Captain Bakers Tagebuch wieder aufgeschlagen. Der 10. Januar ist mit einem Eselsohr markiert. Mir fiel ein, dass ich auf dieser Seite zuletzt geschmökert hatte. Ich blätterte weiter und las seinen Eintrag vom ll. januar.
62
II. )AUJAp.
\YI’E. � AUF� PEP. �’( 1!.1�6W(:oWUl
MI!.Ll>lÄJ(:ol!.lJ V.:PMU1‘1!.‘fl!., \VIP.P MAtJ Ut.h \�l 2-I’E.ML.Ja.l lAlJ6I!. l..AGI-I’f I!.P.LAUBE.l.J, I>ElJ �’(�’( lU ‘A:�l.J·
[i’I’E. ALA.Al:4 �,.. 2-WAP.. FÜP. � ßl!.\�
MI!.I.IP. AL� Wt:.I!.MI!.� ��‘fA’f’fl!.‘f1 � FOP.PI!.p,‘f
l!.ll.JW t>A� UlJ’fl!.� LI!.BE.l.J ME.l.J’fAL 6Wz. �
1.11!.�· IM 6�1’! lU MIP. �’( I!.P, �‘fl!.‘f, UlJt>
� ,VI!.Iß �,.., wll!. LW6I!. �l.JI!. �1‘1611!. 61!.�,..
�1.1 Al.JI-IÄL’f1 \Wl.Jl.J PEP. ßi!.FI!.I-IL1 Pli!. �‘fl!.l.l.Ul.J6r lU I-IAL’fW1
�’( BAlt> AUFt:.l!.l.lllßl!.lJ \VIP.P· E …. �,.. Ml’f PElJ Ul!.�
lJI’E. Bl!.l t>l!.p. �� UlJt> �161’ p�� ßp.fE.FI!. w
�ll.JI!. fP.AUj ßp.I’E.f’l!., Pli!. 1!.”’ l!.p,�‘f A�l.J w.Au.J1
\Wl.Jl.J t>A� PB!! …. � Ut.h Pli!. Era.LAU6t.J6 l!.p,‘fi!.JL’f,
� �l.J lU t:.I!.I.IW·
IGI.I I-lABE. �-���L.Ja.l t>l!.p, LA6I!. ltJ A� l!.ll.JI!.
AM’fUGI.II!. Ml’f’fl!.ll.Ul.Jt!o l!.p.I.IAL’fl!.l.J· 1�-�P.E U1!.1.11!.1MI-IAL’fLh..i!!6-
�‘fUFI!. \VIP.t> ABI!.p, \llllJ t>I’E.�M 1A61!.8UGI.I � t:.l!.t>I!.OI.‘fl oSil PA* IGI.I � � l..lll.JI!.!� \VI!.III.t>l!.·
IG�.� WI!.Jß, PA* , …….. I.III!.P. UlJ’fw � -stl.Jt>1
wM � P�‘f, UlJt> t>A� �’( AL.Le1 wM FÜP. Pli!.
�,..p,A,..I!.� A�� PE”’ u�A z.Ä�o�L’f·
Ansonsten befand sich auf der Seite nur eine gekritzelte
Rakete, die durch die Luft über etwas hinweg zischte,
das die Vereinigten Staaten darstellen sollte.
1.3. JUlJI
l.ISO u�p.
Ich habe grässliche Kopfschmei”Zen. Normalerweise zwinge
ich mich, genug Wasser zu trinken, um nicht auszutrocknen, aber heute ist es mir einfach nicht gelungen. Ich habe Kopfschmerzen, weil ich zu wenig getrunken habe, aber auch noch so viel Wasser wird daran nichts ändern. Ich muss es ausbaden. Am Morgen des
21. sind John, William und ich rausgegangen, um die
Lage zu peilen. Statt in Richtung der Kreuze zu gehen,
haben wir uns nach Westen aufgemacht, in Richtung
einer kleinen Ortschaft namens Hallettsville. Da wir
leise sein und nicht entdeckt werden wollten, sind wir
nicht mit dem Land Rover gefahren. Es ist ja nicht auszuschließen, dass sich noch Banditen in der Gegend aufhalten.
64
Wir sind über Felder und brachliegendes Farmland
marschiert. Es ist mehr als sechs Monate her, seit sich
der letzte Mensch um das Land gekümmert hat, deswegen war es keine Überraschung, als wir über sie stolperten. Wir waren gerade mal wieder über einen Zaun auf ein anderes Stück verwildertes Farmland gehüpft, als
wir die Wächtersymbole amerikanischer Gier und Macht
sahen: das Gelände einer großen Raffinerie und die skelettartigen Kolosse riesiger Erdpumpen, die regungslos in der Landschaft hockten. Überall um sie herum spross
hohes Gras. Man sah deutlich, dass hier seit Monaten
alles tot war.
Ich schätze, die gute Nachricht für den zwar lebenden,
doch vernichteten Teil der Bevölkerung besteht darin,
dass unsere Ölvorräte nun noch einige Jahrtausende
lang reichen. Der schlechte Teil der Nachricht ist natürlich der, dass niemand mehr da ist, der sich in der Kunst versteht, aus Rohöl brauchbaren Treibstoff zu machen,
so dass es nun so nutzlos ist wie eine Schnurrbartbinde.
john und ich haben seitdem lange darüber diskutiert,
dass wir technische Handbücher für alles brauchen, von
Landwirtschaft über Medizin bis hin zu Dingen wie dem
Raffinieren von Rohöl. Die Informationen, die wir brauchen, stehen in zahllosen verlassenen Bibliotheken im ganzen Land. Sie zu finden und zum H23 zu bringen,
könnte sich allerdings als äußerst tödlich erweisen.
Als wir die zweite große Ölpumpe passierten, machte
ich noch eine makabre Entdeckung. Als die Welt im
Januar endete, haben die Pumpen wahrscheinlich noch
6 5
eine Weile gearbeitet. Es sieht aus, als hätte der Pendelarm der Pumpe einen dieser Scheißkerle zerquetscht und seinen unteren Torso in der Maschinerie festgehalten. Ich konnte nicht erkennen, ob er noch zuckte. Als ich an ihm vorbeiging, wollte ich auch nicht darüber
nachdenken. Allem Anschein nach hatten Vögel das ihrige zu der verrottenden Monstrosität beigetragen.
William musste sich zwingen, den Blick von der Kreatur abzuwenden. Wir gingen weiter und entdeckten keine Anzeichen von Leben. Unsere Taktik bestand darin, Gefahren zu umgehen, da wir keine Schalldampfer aufunsere Waffen geschraubt hatten. Wir wollten nur schie
ßen, wenn unser Leben in Gefahr war. Bevor wir uns
wieder auf den Heimweg machten, wichen wir auf dem
Feld drei Untoten aus. Sie waren ziemlich mobil, aber
noch immer zu langsam, um mit uns Schritt zu halten.
Sie würden uns aber garantiert verfolgen. Ich bezweifle,
dass es ihnen gelingt, über die vielen Zäune zu klettern,
die unser Gelände von den Ölfeldern trennen. john und
ich haben uns weiter darüber unterhalten, einige Handbücher auftreiben zu müssen, also werden wir in nächster Zeit wohl ein neues Unternehmen planen.
66
-
-
–
1._(, . Juut
1 ‘6 .5‘3 u�s:r.
Während der Routineüberwachung des Geländeparkplatzes bemerkten wir auf dem Weg dahinter Bewegungen. Es sah so aus, als handele es sich um einen leichten vierachsigen USMC-Panzerspähwagen. Es war nur einer.
Er fuhr mit hoher Geschwindigkeit parallel zu uns nach
Nordosten. Ich hätte gern eine Aufnahme des Fahrzeugs
gemacht, um sie später nach Möglichkeit zu vergrö
ßer,n und den Kanonier deutlicher erkennen zu können. Ich kann nur einen Schluss ziehen. Es handelt sich um einen Späher, der vorausgeschickt wurde, um dem
Führer seiner Einheit Bericht zu erstatten. Ich könnte
aber auch völlig falschliegen. Es könnte auch ein Deserteur sein, der mit seinem Fahrzeug das Land unsicher macht. Ich weiß nicht viel über Amphibienfahrzeuge
dieser Art. Ich habe bisher nur einmal eines gesehen.
Sie stecken Beschuss aus normalen Gewehren weg wie
nichts.
Es könnte ein letzter Überrest des Marinekorps in dieser Gegend sein. Wer weiß, ob sie noch zur Verfassung 67
stehen? Stünde ich noch zu ihr, würde ich dies hier nicht
schreiben.
Nach der Sichtung des amphibischen Panzerspähwagens waren Dean und ich mit den Kindern ein paar Stunden lang zum Spielen oben. Ich habe ihr von meinem Plan erzählt, mich mitjohn einem Stadtrand zu nähern,
um einige überlebenswichtige technische Handbücher
zu ergattern. Sie hält es wohl für eine gute Idee. Sie hat
allerdings auch gesagt, dass sie bereits von meinem Vorhaben wusste. Tara hat ihr nach einem Gespräch mit john davon erzählt. Tara hält unseren Plan wohl für ziemlich verrückt. Mir gegenüber hat sie ihre Gefühle zwar noch nicht geäußert, aber mit Dean kann sie anscheinend
über alles reden. Dean hat mich gewarnt: Tara könnte es
mir verübeln, wenn ich die Sicherheit des Stützpunkts
wegen so trivialer Dinge wie Bücher verlasse. Nach Sichtung des Militärfahrzeugs heute Morgen weiß ich nicht mehr genau, was ich machen soll. lch weiß nur, dass wir
ganz sicher medizinische Handbücher brauchen, denn
zu uns gehören zwei Kinder und eine ältere Dame. Ich
bin kein Mediziner. janice kommt einer solchen Fachkraft noch am nächsten.
68
Gestern Abend fing alles an. Es begann als simples Funkgebrabbel. In der Nacht kam dann mehr. Ich hörte eine aufgeregte Stimme. Das Knallen automatischer Waffen
überlagerte sie. Ich verstand nur einzelne Worte. Bei Einbruch der Dunkelheit verstummte es. In der Nacht, als john Wache schob, ging es wieder los. Es war 23.00 Uhr.
Die Häufigkeit des Geballers und seine Lautstärke hatten nachgelassen. Ich fühlte mich an Popcorn in der Mikrowelle erinnert - in der abnehmenden Knallphase.
Die Stimme identifizierte sich als Lance Corpora! Rarnirez vorn 1. Bataillon der 23. Marines.
Rarnirez und seine Truppe saßen nicht nur voll in der
Scheiße, sondern in ihrer Karre auch in der Falle. Laut
ihm hatte er sechs Seelen an Bord. Ihr Fahrzeug hatte
eine mechanische Fehlfunktion erlitten, und jetzt waren
sie mitten in einem Meer von Untaten gestrandet. Im
Hintergrund schrie jemand, aber ich konnte nicht ausmachen, ob jemand verletzt war oder einfach nur durchdrehte. Diese Marines waren höchstwahrscheinlich mit der Einheit identisch, die gestern an unserem Stützpunkt
vorbeigedüst war.
john rief mich an dieser Stelle in den Kontrollraurn, so
dass ich beschloss, mit den Marines Kontakt aufzunehmen.
Ich schaltete das Mikrofon ein und sagte ganz ruhig und
gelassen: »An die Marineeinheit, die das Notsignal sendet … Übermitteln Sie Längen- und Breitengrad. Ende.c 69
Nach einigen Sekunden statischen Rauschens erhielten wir die Antwort. »Unidentifizierte Station, wir brauchen dringend Unterstützung und müssen abgeschleppt werden. Bitte, wiederholen Sie … Ende.«
Ich wiederholte meine Frage viermal, erst dann übermittelte der Funker die gewünschten Daten. ,sendestation, unsere Position müsste N29-52, W097-ü2 sein. Wir empfangen Sie sehr schwach und wirklich kaum verständlich. Wir haben keine Munition mehr für unsere schweren Waffen. Die Luke unseres Fahrzeugs ist geschlossen.
Die Lage ist verheerend. Bitte, stehen Sie uns bei.«
Ich hatte wirklich keine Wahl. Ich konnte die Leute
nicht im Regen stehen lassen. Zwar konnten die Untaten nicht zu ihnen rein, aber die Marines konnten nicht raus.
Ich markierte die Position auf der Landkarte, dann
nahmen john, William und ich eiligst Vorbereitungen
in Angriff. Wir gingen in dieser Nacht so früh wie möglich raus, um den Vorteil der Dunkelheit zu nutzen.
Ich griff mir ein tragbares Kurzwellen-HF-Funkgerät, die
M-16 mit dem M-203-Granatwerfer, meine Glock und das
NSG. Ich zeigte meinen Freunden auf der Karte, wohin
wir fahren würden. William schlug vor, einen Geigerzähler mitzunehmen. Ich war einverstanden. Bevor wir gingen, bat ich john, mir zu helfen, meine Schulterklappen abzuschneiden. Ich konnte nicht riskieren, dass die Männer erfuhren, dass ich Soldat bin (oder war). Außerdem packten wir für den Fall, dass wir sie mitnehmen mussten, mehrere Kopfkissenbezüge ein.
70
Wer nachts mit einem Nachtsichtgerät ein Flugzeug
landen kann, kann wohl auch einen Land Rover steuern.
Das einzige Problem, dem ich mich gegenübersah, bestand darin, dass ich, um nicht stecken zu bleiben, mich auf dem Asphalt halten musste. Das Fahrzeug war zwar
tauglich für Geländefahrten, aber im Gegensatz zu dem
Ding, in dem die Marines festsaßen, war es nicht dazu
gebaut, den Fäusten und blutigen Stümpfen von Untatenscharen standzuhalten, falls es liegen blieb.
Um 0.30 Uhr traten wir ins Freie und eilten zu unserem nordwestlich gelegenen Treffpunkt. Beim Verlassen des Geländes griff ich an meine linke Schulter und riss
die mit einem Klettverschluss an meiner Jacke befestigte os-Flagge ab. Auch jetzt wollte ich das Risiko nicht eingehen, erkannt und für eine fruchtlose (oder noch
schlimmere) Sache in den aktiven Dienst gezwungen zu
werden - oder gar in den Knast zu wandern. Mit dem Beschluss, meine Einheit zu verlassen und· zu überleben, hatte ich mein Schicksal selbst besiegelt. Außer mir lebt
wahrscheinlich keiner mehr. Ein Sieg über unseren Gegner war unmöglich. Wir konnten ihn nur aussitzen.
Laut Landkarte lagen vor uns etwa fünfzig Kilometer
gefährliches Gelände.
Laut den mir übermittelten Informationen hielten
sich die Soldaten etwa zwölf Kilometer westlich von La
Grange, Texas, auf. Auch diesmal besagte die Karte, dass
es nur ein kleines Örtchen war. Die Marineinfanteristen
waren kaum einen Kilometer vom Colorado River entfernt. Das Gebiet lag rein technisch gesehen tief in der 7 1
verstrahlten Zone und außerdem näher an einem radioaktiven Niederschlagsgebiet als alle Gegenden, die ich seit der Rettung der Grishams betreten hatte. Dies sorgte
mich, denn mir fielen die Funksprüche des Abgeordneten aus Louisiana vom letzten März ein. Es war durchaus möglich, dass wir uns in die Höhle des Löwen begaben.
Wir hatten aus Louisiana nichts mehr gehört, und ich
hatte mich seither oft gefragt, was dort passiert war.
Hatten die von dem Abgeordneten in Marsch gesetzten
Kundschafter nur eine Legion verstrahlter Untoter zu
ihrer Stellung gelockt?
Bis zur 1-10 hatten wir keine Schwierigkeiten.
Natürlich war auch diese Landstraße ein Kriegsschauplatz. Auf dem Mittelstreifen spross hohes Gras. Hinter dem Grünzeug hätte sich ein ganzes Heer verbergen
können. All dies erzeugte in mir ein Gefühl der Unwirklichkeit und verdeutlichte mir, wie schnell alles den Bach runtergehen konnte, wenn der Mensch sich nicht
um alles kümmerte. An der Auffahrt zur 71 North stie
ßen wir auf eine von vier Vehikeln erzeugte Massenkarambolage. Es gab keine Möglichkeit, den Trümmerhaufen zu umfahren, denn eine hohe Betonmauer hatte den Schrott zwischen Scylla und Charybdis gequetscht. Wir
hatten keine andere Wahl. Wir mussten eins der Fahrzeugwracks mit dem Land Rover beiseite ziehen. Einige Wochen zuvor hatten wir aus den Heck- und Bremsleuchten alle Birnen entfernt. Bei ausgeschalteten Scheinwerfern gaben wir, so fest man auch auf die Bremse latschte, kein Licht mehr ab. Wir hatten ebenfalls die Blinker-72
birnen ausgebaut; konnte ja sein, dass einer von uns sie
beim Abbiegen aus Gewohnheit bediente.
Natürlich … mit menschlichem Versagen musste man
auch in einer untoten Welt immer noch rechnen. john und
William stiegen aus, um die Kette an einer der Schrottkarren zu befestigen. Ich sah durch mein NSG, dass William mir signalisierte, zurückzufahren. Bei der körnigen grünen Bildauflösung konnte ich nicht über ihn undjohn
hinweg bis in die Finsternis der hinter ihnen liegenden
Auffahrt sehen. Ich legte den Rückwärtsgang ein … Auf
der Stelle erzeugte das Licht der Rück- und Seitenspiegel ein starkes Schneegestöber in den Sichtgläsern. Scr sehr wir auch in die Einzelheiten gegangen waren, wir
hatten die Birne übersehen, die aufleuchtet, wenn man
rückwärtsfährt. Das Licht war so hell wie ein Phönix. Ich
riss mir das NSG vom Kopf und prüfte erneut die Spiegel.
Hinter meinen Freunden bewegte sich etwas.
Ich bezog Stellung, schaltete schnell in den Leerlauf
und zog die Handbremse. Ich rief john und William
zu, sie sollten die Kette fallen lassen und wieder einsteigen. Da ich als Einziger im Dunkeln etwas sah, war es nur logisch, dass ich deijenige war, der das sichtete, was
sich als Reaktion aufunser Licht in Bewegung setzte.
Als ich im Begriff war, das NSG wieder aufzusetzen,
hörte ich, dass john und William die Kette fallen ließen.
Ich vernahm ihre klatschenden Schritte und ein etwas
weiter entferntes Geräusch.
Ich verließ den Wagen und schob die Tür nur so weit
zu, dass sie nicht ins Schloss fiel. In der Hoffnung, durch
7‘3
das NSG die vertraute Reflektion der lebendigen Augen
eines Tiers zu sehen, trat ich vor.
Der Leichnam eines Monteurs oder Bauarbeiters kam
hinter einem Unfallwagen hervor. An seinem Ledergürtel baumelte ein Hammer. Sein restliches Werkzeug hatte er vermutlich verloren. Er sah noch nicht allzu schlimm
aus. Da er mich nicht sehen konnte und keinen Weg
durch den Trümmerhaufen fand, stand er einfach nur
da und versuchte zu erfassen, wo ich war.
Sein Haar war nicht sehr lang. Er wies kaum Gesichtsbehaarung auf. Im Allgemeinen gilt ja der Mythos, dass das Haar und die Nägel von Verstorbenen im Grab weiter
wachsen. Das ist natürlich Unsinn. Aus dem Tod kann
nichts erwachsen …
Es sei denn, man zählt den Hunger der Untoten mit.
Ich war mir nicht sicher, aber angesichts des Werkzeuggürtels, den kurzen Haaren und dem fast glattrasierten Kinn gehörte der Mann zu denen, die vor einem halben Jahr zuerst dran hatten glauben müssen.
Abgesehen von einem dicken Fleischbatzen, der an
seiner Schulter fehlte, war er sehr gut erhalten. Als
ich ihn mir näher ansah, bemerkte ich, dass an dem
Tischlerhammer Haut und Haare klebten. Wahrscheinlich hatte er den Untoten, der ihn gebissen hatte, mit dem an seinem Gürtel baumelnden Werkzeug getötet.
Da der Bursche sich nicht rührte und keine unmittelbare Gefahr darstellte, kehrte ich zum Wagen zurück und schnappte mir den Geigerzähler. Ich hatte einige
Zeit damit verbracht, Gebrauchsanweisungen zu lesen,
74
seit meine neueste Unterkunft der Umwelt- und Instrumentenraum von Hotel 23 war. Ich wusste alles über die Grenzen von MCU-2P-Gasmasken und chemischer, biologischer und radiologischer Schutzkleidung. Dem Studium des Geigerzähler-Einsatzes hatte ich sogar eine ganze Nacht gewidmet.
Ich schaltete das Gerät ein und schob mir den Stöpsel
ins Ohr. Nachdem ich ihm genügend Aufwärmzeit gegeben hatte, richtete ich das Gerät aufjohn. Es zeigte einen normalen Strahlungswert an. Das statische Klicken in
meinem Ohr war regellos. Als ich mich dem Trümmerhaufen näherte, wurde das Klicken schneller. Da wir uns innerhalb der heißen Zone befanden, wusste ich,
dass die Fahrzeuge einiges an Strahlung abbekommen
hatten. Solange man nicht über längere Zeit hinweg in
ihnen saß, war das Strahlungsniveau aber tolerierbar.
Ich schob das Gerät über die kaputte Motorhaube eines
Fahrzeugs, um zu prüfen, inwiefern der Untote strahlte.
Das, was ich hörte, erinnerte mich an das Schnurren
eines alten Einwahlmodems. Die wandelnde Leiche war
so heiß, dass es gefährlich war, sich ihr zu nähern. Ein
Blick auf die Messskala: 400 Röntgen. Ich war nicht darauf aus, mich von dem Ding umarmen zu lassen. Beim Zurückziehen meiner Hand muss der Untote wohl Witterung aufgenommen haben, denn er warf sich mit aller Kraft gegen den Wagen, so dass dieser auf den Stoßdämpfern wackelte. Im Gegensatz zu jeder anderen mir bis dahin begegneten Leiche zuckte er unberechenbar
hin und her. Ich ging seitlich an dem Wagen entlang
75
und konnte einen Blick auf die Füße meines GegenüberS
werfen. Seine Stiefel waren so gut wie abgelatscht. Vermutlich war er seit Monaten in ihnen auf Achse. Die Sohlen waren verschwunden und seine entstellten Füße
unter den Lederfetzen und um die Knöchel baumelnden
Schnürriemen sichtbar.
Das Ding war sichtlich aufgeregt - möglicherweise
aufgrund meiner Anwesenheit. Es bewegte sich wie ein
Spielzeugroboter vor und zurück. Hin und wieder bumste
es gegen die Trümmer, dann drehte es sich um und versuchte es an einer anderen Stelle. Wenn es weiterhin so verfuhr, würde es den Wrackhaufen zweifellos irgendwann umrunden. Da es in radioaktiver Strahlung ersoff, konnte ich mir keinen Kontakt mit ihm leisten. Ich hob
die Kette auf, ohne die Roboterleiche aus den Augen
zu lassen. Ich befestigte sie an der Achse des Fahrzeugs,
das wir beiseiteziehen wollten. Dann schlich ich lautlos
zum Land Rover zurück und stieg ein. Ich sagte John
und William, wie heiß es draußen war. Ich wollte den
Wagen zur Seite ziehen, die Kette wieder lösen und abhauen, ohne mich mit dem Untaten anzulegen. Ich legte den Gang ein und fuhr langsam vor. Ich spürte, dass die
Kette sich spannte, bis sie stramm war. Ich gab etwas
mehr Gas und merkte, dass der Wagen nachgab. Ich fuhr
etwa fünfzig Meter weit, dann stieg ich aus, um meinen
Plan auszuführen.
Im Freien richtete ich den Blick dorthin, wo der Wagen
zuvor gewesen war. Der Untote folgte uns. Er machte
einen Versuch zu laufen, doch anscheinend mangelte es
76
ihm an Koordination. Er fiel, stand wieder auf und ging
weiter. Er hatte zwar keine Ahnung, wohin er ging, aber
wie der Teufel es wollte, latschte er genau auf unseren
Land Rover zu. Ich löste zügig die Kette, öffnete die Hecktür und warf sie hinein. Ich hörte William fluchen, als das über vierzig Pfund schwere Ding seine Beine traf. Als
ich wieder im Wagen saß und die Türen verschloss, hörte
ich den Untoten von der Heckscheibe abprallen. Ich gab
Gas, wendete den Land Rover und bretterte durch die
Lücke, die wir im Trümmerhaufen erzeugt hatten. Im
Rückspiegel sah ich, dass der Untote, vom Motorenlärm
angelockt, den schwerfalligen Versuch unternahm, die
Verfolgung aufzunehmen.
Ich mache mir nichts vor. Ich überlegte einen kurzen Augenblick, ob es nicht besser sei, das Unternehmen abzubrechen und nach Hause zu fahren. Was konnten
wir drei schon gegen ein Heer verstrahlter Toter ausrichten?
Wir waren unserem Ziel nun näher. William versuchte
Funkkontakt herzustellen. Er schaltete das Mikro ein
und rief nach den Soldaten. Wir hörten nichts, aber
das Gerät war auch weniger leistungsfci.hig als das im
Hotel 23. Die Männer konnten noch am Leben sein. Ich
stellte mir vor, wie mir in ihrer Lage wohl zumute wäre.
Danach vergaß ich den Gedanken, das Unternehmen abzubrechen.
Wenige Minuten nach Williams erstem Versuch kam
Antwort. Auch diesmal identifizierte sich der Lance Corporal mit Namen und Einheit. Ich fuhr an den Stra-77
ßenrand und ließ mir von William das Mikro geben. Ich
fragte Ramirez, ob er seine Position aktualisieren wolle
und ob sein Fahrzeug mit irgendwelchen Handfeuerwaffen ausgerüstet sei. Er erwiderte, ihre Position hätte sich nicht geändert, und sie wären alle gut bewaffnet und
hätten auch genügend Munition und Handfeuerwaffen.
Allerdings wäre es unmöglich, aus dem Fahrzeug heraus
gezielt zu schießen, ohne die Deckenluke zu öffnen. Er
meldete auch, dass sie keine Munition mehr für das Bord
MG besaßen und dass sie die Luke aus diesem Grund
hatten schließen müssen. Ich fragte ihn, wie viele Untote
sich an seinem Standort aufhielten. Nach einer Pause
(ich hatte den Eindruck, er wollte es lieber nicht sagen),
informierte er mich, dass er Marineinfanterist wäre und
nicht so weit zählen könnte. »Dann sind es also Hunderte, Corporal?«, fragte ich.
•Ja, Sire, erwiderte er.
john und William stießen laute Verwünschungen aus
und schüttelten angesichts dessen, was sie sich auf den
Hals geladen hatten, den Kopf. Es würde ernst werden.
Wir fuhren nur drei Kilometer weit über die 1-10. Auf
der 71 fuhren wir nach Norden raus und düsten auf die
Marines zu. Die einzige Taktik, die wir vielleicht anwenden konnten, war die, die ich schon bei den Grishams angewendet und auch bei den Banditen gesehen hatte.
Wir mussten die Untoten von dem havarierten Fahrzeug
fortlocken. Unter Beibehaltung des Funkkontakts bemühte ich mich um einen lockeren Tonfall, um die Männer von dem, was sie unmittelbar umgab, ein bisschen 78
abzulenken. Ramirez informierte mich, dass sie vom Highway aus zum Fluss abgebogen waren, da die schiere Masse der Untoten auf der Straße zu aufdringlich gewesen war.
In Flussnähe hatte ihr Fahrzeug dann einen mechanischen Schaden davongetragen. Sie hatten versuchen wollen. mittels der amphibischen Fähigkeiten des Panzerspähwagens den Fluss zu überqueren, um den Untoten zu entkommen.
Es war übrigens nicht das Funkfeuer des Lance Corporals, das mich befähigte, die Männer überhaupt zu finden, sondern das unüberhörbare Stöhnen der Toten.
Ich verkündete, dass ich versuchen wollte, die Masse
der Belagerer mit der Hupe und dem Lärm unseres Fahrzeugs fortzulocken. Wir machten einen Sammelpunkt aus, und ich riet den Soldaten, aus dem Panzerspähwagen abzuhauen und zum Highway 71 zu rennen, und zwar genau dorthin. wo sie von der Straße abgebogen
waren. Sie waren einverstanden. Nach einem stummen
Gebet meinerseits fragte ich john und William, ob sie
bereit seien. Ich gab ihnen jedoch keine Zeit für eine
Antwort, sondern trat aufs Gas und raste auf den die gestrandeten Marineinfanteristen umgebenden Untoten
Belagerungsring zu.
Der Boden war schon mit jenen Leichen gepflastert,
die das Bord-MG des Panzerspähwagens angehäuft hatte.
Als ich noch etwa hundert Meter von den Belagerem
entfernt war, drehte ich die Scheibe runter und eröffnete das Feuer. john und William luden meine Waffen nach. Der Blitzdämpfer passte das Ucht meinen Augen-79
gläsern an, aber es war fast vorteilhafter, einfach nur
das Mündungsfeuer zu nutzen, um mein Ziel zu sehen.
Ich feuerte volles Rohr auf die Untoten.
Als ich um die zwanzig Gestalten von den Beinen geholt hatte, musste ich einen Ortswechsel vornehmen und fuhr hundert Meter weiter. William reichte mir ein
neues Magazin; ich zog das leere raus, gab es john und
schob das neue rein. Die Untoten kamen schnell näher,
denn das laute Knallen und die Mündungsblitze meines
Gewehrs zogen sie an. Wie der untote Bauarbeiter, dem
wir aus dem Weg gegangen waren, näherten sie sich uns
mit ruckartigen ungleichmäßigen Bewegungen. So, wie
sie aufuns zukamen, erinnerten sie an eine Polizeitruppe,
die eine Leiche suchte. Ironischer Weise war es umgekehrt. Die Leichen suchten nach Lebenden.
Ich schoss fortwährend und bewegte dabei den Wagen.
John und William versorgten mich ständig mit vollen
Magazinen. Nachdem wir unseren Standort zum vierten
Mal gewechselt hatten und ich wieder das Feuer eröffnete, sah ich Bewegung auf dem Dach des Panzerspähwagens. Ich hielt kurz inne, um meine Augen daran zu gewöhnen. Die Marineinfanteristen nutzten die Gelegenheit zur Flucht. Exakt wie geplant rannte der Trupp dorthin, wo wir ihn auflesen wollten. Ich leerte das
sechste Magazin auf die Meute, dann übergab ich William das inzwischen ziemlich heiße Eisen. Ich betätigte die Hupe und lockte die Untoten noch ein Stück weiter
von den Soldaten fort. Dann drückte ich auf die Tube
und raste zum Treffpunkt.
80
Die sechs Männer gingen in Verteidigungsstellung und
streckten ihre Waffen in die Finsternis hinaus. Sie waren
uniformiert und trugen Splitterschutzwesten und Stahlhelme.
Ich fuhr die Scheibe runter und riefihnen zu, dass sie
einsteigen sollten. Aus Höflichkeit schloss ich die Augen
und schaltete die Fahrgastraurn-Beleuchtung ein, damit
sie uns sehen konnten. Sie sprangen in den Land Rover.
Drei Mann mussten ganz hinten Platz nehmen, aber ich
bin mir sicher, dass sie nichts dagegen hatten. Wir rasten zur 1-10 zurück, dann in Richtung Hotel. Die Marineinfanteristen bedankten sich aufrichtig bei uns allen für die Rettung ihrer Leben.
Auf der Rückfahrt bat ich john, die Männer mit dem
Geigerzähler zu überprüfen, um zu sehen, ob sie in Ordnung waren. Wie sich ergab, hatten sie von der schieren Masse der Untoten ein wenig Umgebungsstrahlung a}}.
sorbiert, aber es war nicht schlimm.
Kurz vor der Stelle, an der wir den Unfallwagen von
der Fahrbahn gezogen hatten, hielt ich an. Ich drehte
mich um und fragte nach dem Gruppenführer. Ramirez
sagte, er leite den Trupp.
Ich sagte, für jemanden, der einen Spähtrupp an den
Arsch der Welt zu führen hätte, wäre sein Rang ja nicht
besonders hoch. Seine verschämte Antwort: 1Da müssen
Sie erst mal unseren kommandierenden Offizier sehen.«
Einer seiner Leute gab ihm mit dem Ellbogen zu verstehen, die Klappe zu halten. Dies war der Augenblick, in dem ich glaubte, dass es an der Zeit war, die Regeln
8 1
zu verkünden. »l..ance Corpora! Ramirez«, sagte ich, »ich
kann Sie an einen Ort bringen, an dem es Wasser, Nahrung und einen Schlafplatz gibt, aber dort müssen Sie tun, was ich sage. Sie werden keine Gefangenen sein
und können jederzeit wieder gehen.«
Im Rückspiegel sah ich Ramirez nicken. Er war bereit,
mir zuzuhören.
»Sie müssen Ihre Waffen abgeben und sich einverstanden erklären, dass wir Ihren Kopf verhüllen, bis wir in unserem Zuhause sind und weitere Beschlüsse fassen
können.«
Ramirez wies seine Kameraden nach kurzem Zögern
an, meinem Wunsch zu entsprechen.
john konfiszierte ihre Waffen und lagerte sie vorn bei
uns ein. William durchsuchte die Männer nach Handfeuerwaffen. Ich wies William an, ihnen die Messer zu lassen. Mit sechs Marineinfanteristen an Bord, die alle
einen Kissenbezug über dem Kopf trugen, raste ich los.
Hinter dem Ort der Massenkarambolage sah ich keine
Spur mehr von der radioaktiven Bauarbeiterleiche.
Die Rückfahrt zum Hotel 23 dauerte nicht lange.
Als wir aufs Gelände fuhren, leuchteten die Infrarotlämpchen der Außenkameras hell in unsere Richtung.
Die Frauen erwarteten uns. Wir stellten den Wagen ab
und führten die Soldaten durch den Zaun und die Treppe
hinab ins Großraumquartier. Dort verkündete ich, sie
sollten die Kissenbezüge nun abnehmen. Wir entnahmen ihren Waffen die Magazine und gaben sie ihnen gesichert zurück. Ich verdeutlichte ihnen, dass sie die
82
Munition zurückbekämen, wenn sie uns verlassen wollten. Es war spät. Ich zeigte ihnen, wo die Feldbetten und Decken lagerten. Ich informierte sie, dass sie sich in einem
sicheren unterirdischen Bunker befanden; dass sie beruhigt schlafen konnten und wir am nächsten Tag über alles weitere sprechen konnten.
Heute Morgen kam der Lance Corpora! in aller Frühe
an meine Tür, um mit mir zu reden. Er wollte mir zwar
nicht verraten, wo seine Einheit stationiert war, aber er
sagte, dass nicht mehr viel von ihr übrig sei. Ich erwiderte, er könne gern unsere Funkgeräte benutzen, um mit seinem kommandierenden Offizier Verbindung aufzunehmen. Natürlich konnte ich nicht zulassen, dass er erfuhr, wo wir waren. Ich machte den Vorschlag, er solle
noch einen Tag bleiben, sich alles gut überlegen und
erst mal etwas essen und trinken, bevor er den Beschluss
fasste, ob er mit seinen Leuten wieder gehen wollte. Die
Namen der anderen Marines wurden mir nur insofern
bekannt, als dass sie auf ihren Brusttaschen standen.
Im Moment spielen sie im Schlafsaal Karten. Ich habe
jemanden sagen hören, wie schön es hier im Vergleich
mit ihrer eigenen Basis ist. Ist von unserem Militär überhaupt noch etwas übrig? Irgendwie würde ich den Männern gern sagen, wer ich bin.
1. JuLI
tt.ut. u�P-
Corporal Ramirez und die fünf anderen Männer sind
heute Morgen abgereist. Ich habe gestern Abend mehrere Stunden lang mit ihnen geredet. Sie sind alle noch sehr jung und heißen Ramirez, Williams, Bourbonnais,
Collins, Akers und Mull. Nach Vornamen habe ich nicht
gefragt; es hätte uns ja auch nichts gebracht. Als ich
mich nach ihrem kommandierenden Offizier und der
Lage ihrer Basis erkundigte, haben sie jeden Kommentar
abgelehnt. Ramirez führte dazu an, wir wären ja auch
nicht bereit, die Lage unseres Stützpunkts preiszugeben.
Dagegen konnte ich nichts einwenden. Er hatte Recht.
Ich fragte Ramirez, wie es um die Regierung der USA
stünde und ob von ihr noch etwas übrig sei. Seine Antwort: Den letzten regierungsamtlichen Befehl von ganz oben hatte seine Einheit Anfang Februar erhalten. Ramirez glaubt nicht, dass wir noch irgendeine Art von Zivilregierung haben. Er hat Gerüchte gehört, laut denen die unterirdische Zuflucht des Präsidenten von innen
infiziert wurde. Dies erklärt vielleicht den letzten Funkspruch der First Lady nach dem Tod des Präsidenten.
Ich fragte ihn, wie eine so große Einheit wie die seine
so lange an der Oberfläche hatte überleben können.
Ramirez schmunzelte nur und sagte: »Tja, wir sind halt
Marineinfanteristen; da ist das Überleben eingebaut.c
Natürlich merkte er, dass meine Frage eine Fangfrage
war und ich lediglich herauskriegen wollte, wie groß
84
seine Einheit war. Er war jung, aber nicht blöd. Heute
Morgen gegen 10.30 Uhr sind John und ich mit den Männem in zwei Fahrzeugen aufgebrochen. Wir haben ihnen erneut Kissenbezüge übergestülpt und sie zum Land Rover
gebracht. John fuhr mit dem Bronco hinter uns. Wir
sind im Kreis gefahren und haben unser Bestes getan,
um die Sinne unserer Passagiere zu verwirren. Ich bin
mir zwar ziemlich sicher, dass wir es mit ehrlichen Kerlen zu tun haben, aber was weiß ich schon über ihren Kommandanten?
Es dauerte nicht lange, bis wir übereinkamen, sie an
einem Ort abzusetzen, von dem aus sie problemlos ihren
Weg finden konnten. Dort angekommen nahmen wir ihnen die Kissenbezüge ab und gaben die Magazine ihrer Schusswaffen zurück. John ließ den Motor des Bronco
laufen. Wir verabschiedeten uns voneinander, dann begaben sich die Soldaten zum Bronco.
Einer der jüngsten Marineinfanteristen drehte die
Scheibe runter und sagte: »Danke für die Gastfreundschaft, Sir.«
So wie er das Sir betonte, hatte ich das Gefühl, dass er
etwas ahnte. Vielleicht lag es aber auch nur an meiner
Paranoia oder an meinem schlechten Gewissen. Die restlichen Soldaten folgten dem Beispiel des jungen Mannes, und ich hätte schwören können, dass Ramirez salutierte, bevor er aufs Gaspedal trat und in der Leere des Untoten-ödlands verschwand.
85
: Jupiterlampe /
S. Juu
tt.ICJ u�sa.
Im Hotel 23 war viel los. Einen Tag nach der Abreise der
Marineinfanteristen hörten wir Geplapper auf UHF. Am
Morgen des dritten Tages fingen wir einen aus Panzerspähwagen und Humvees bestehenden Konvoi auf. Er war in die gleiche Richtung unterwegs wie Ramirez, bevor
wir ihn gerettet hatten.
Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Will man
den havarierten Panzerspähwagen bergen? Er ist ja ziemlich wertvoll und in einer Welt wie der unseren unersetzlich. Auch ich habe schon mehrmals daran gedacht, ihn für uns an Land zu ziehen. Aber wir mussten den Gedanken aufgeben. Das Fahrzeug wiegt Tonnen,
und es wäre unmöglich, sich mit dem Land Rover bis
zu seinem Standort durchzuschlagen, die Kette anzubringen und es in einem niedrigen Gang hierherzuschleppen. Die Marines können es schaffen. So wie der Militärkonvoi aussah, verfügten sie über einige drehmomentstarke Fahrzeuge, mit denen man es bewerkstelligen könnte.
86
Im Funkgerät ist viel los, aber was übermittelt wird,
ist stimmlos. Die Geräusche klingen wie ein altes Einwahlmodem, das Verbindung aufzunehmen versucht.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass mit Verschlüsselung gearbeitet wird. Würde ich auch machen, wenn ich die Möglichkeit dazu hätte.
b. JuLI
10.11 u�p.
Wir sichten fortwährend Teile des Konvois, die durch
unsere Gegend fahren. Suchen sie etwas? Ich hoffe, Ramirez und die anderen haben ihren Stützpunkt erreicht.
Was eins von zwei Dingen ist, die man aus dem Aktionismus in unserer Gegend schließen kann. Entweder sucht man sie oder uns.
Haben gerade einen militärischen Funkspruch erhalten. Man ruft die Zivilisten in dem unterirdischen Stützpunkt, die die Marines gerettet haben. Immerhin wissen wir jetzt, dass sie wieder daheim sind. Man teilt uns mit, dass der kommandierende Offizier ihrer Einheit
um ein Zusammentreffen mit dem Mann im grünen
Overall bittet. Wir haben den Funkspruch nicht beant-
87
wortet, aber ich wette, dass sie ihn alle paar Kilometer
senden, um rauszukriegen, ob wir ihn empfangen. Ich
bin bezüglich der Absichten dieser Leute sehr beunruhigt, da ihre Antworten, als ich um Informationen bat, doch sehr kryptisch ausfielen. Ich weiß wirklich nicht,
mit wem wir es zu tun haben, aber ich bin mir sicher,
dass sie früher oder später auf die Idee kommen werden, dass es sich vielleicht auszahlt, das umzäunte Gelände zu überprüfen, an dem sie so oft vorbeifahren …
Hotel 23.
1 1 . Juu
11 .11 u�P.
Das Militär ist noch immer in unserer Gegend. Aus den
bisher über ungeschützte Funkverbindungen gesammelten Informationen können wir wohl davon ausgehen, dass sie hier einen Außenposten installiert haben, um
uns zu finden. Sie haben ihre Botschaft an uns aufgezeichnet und senden sie auf den meisten Frequenzen, sogar auf der Notfrequenz. Wir haben uns vor ein paar
Tagen zusammengesetzt und beschlossen, dass es für
uns das Beste ist, dem Militär aus dem Weg zu gehen
und uns nicht zu zeigen. Man könnte uns leicht aufspüren. Ich bin mir sicher, dass sie mit der gleichen Taktik wie die Banditen hier bei uns eindringen können. Wenn
sie keine Schneidbrenner besitzen, würden sie sich einfach einen Weg hinein sprengen.
88
Die Zahl der Untaten an der vorderen Sicherheitstür
nimmt allmählich wieder zu. Vor einer Woche waren es
nur zehn bis fünfzehn. Jetzt hängen mehrere Dutzend
vor dem Komplex an der schweren Stahltür herum. Nachts
schalten wir den Infrarot-Modus der Nachtsichtgeräte
aus, um die Möglichkeit zu verringern, dass das Militär
den infraroten Kamerastrahl mit eigenen Nachtsichtgeräten entdeckt. Dies hat uns gezwungen, sämtliche Aktivitäten von Lebewesen im Wärmemodus zu überwachen.
Ohne diese Möglichkeit hätten wir die kleine Militäreinheit nicht gesehen, die gestern Nacht etwa vierhundert Meter vor unserem Stützpunkt vorbeiging. Sie kommen
uns zwar näher, aber aus irgendeinem Grund sind sie
noch nicht über den Maschendrahtzaun und das offene
Raketensilo gestolpert, die Hotel 23 kennzeichnen. Irgendwas in meinem Hinterkopf sagt mir, dass sie längst wissen, was das hier für ein Ort ist und sie die Umgebung nur ausspionieren, um unsere Achillesferse aufzuspüren.
Normalerweise überwacht john nachts nur wenige
UHF-Frequenzen. Er grast sie in willkürlicher Folge ab,
so dass er vielleicht Funksprüche aufschnappt, die ihm
sonst entgehen würden. Gestern Nacht kam es zu einem
solchen Fall. Die Meldung war ziemlich wirr, aber John
schwört, dass der Begriff • Luftwaffenbasis Andrews« gefallen ist. Andrews ist ziemlich nahe am District of Columbia, also Washington, und wir hatten angenommen, der Distrikt sei zusammen mit New York bombardiert
worden.
89
Ich weiß nicht, wie lange wir hier noch bleiben können, bis das Militär uns findet. Natürlich besteht auch die Möglichkeit, dass es wieder abrückt, aber das kommt
mir eher unwahrscheinlich vor. Eine weitere Sache, die
mir zu schaffen macht, ist das Verschweigen des Namens
und Dienstgrades des kommandierenden Offiziers bei
allen aufgezeichneten Botschaften. Vielleicht möchte er,
genau wie ich, lieber anonym bleiben.
90
r
-
-
,
; �elagerungszustand \
ll.l.. JuLI
1 � . l.l. o u�p.
Das, was von der Marineinfanterie in diesem Gebiet noch
übrig ist, hat uns entdeckt. Nicht fern von uns wurden
fünfzehn Militärfahrzeuge abgestellt. Vor Hotel 23 wird
wieder aufUntote geschossen. Bisher hat noch niemand
den Versuch unternommen, unsere Kameras unbrauchbar
zu machen, weswegen wir sie sorgfältig im Auge behalten. Sechs der fünfzehn Fahrzeuge sind Panzerspähwagen.
Dazu gehören auch einige militärische Hummer-jeeps
und sogar ein ATV mit Allradantrieb. Den ATV oder das
olivfarbene Dirt Bike habe ich als Militärfahrzeuge nicht
mitgezählt. Da sie offenbar alle die typische Marinetarofarbe haben, muss es zumindest in dieser Einheit noch so etwas wie Ordnung geben.
Das Funkgerät sendet immer die gleiche Botschaft.
Ich kann nicht genau zählen, wie viele Männer .da drau
ßen sind, da immer wieder Untote zwischen ihnen auftauchen, die das Bild verfälschen.
Die Geschöpfe, mit denen die Marines sich da draußen
abgeben, haben nichts mit denen gemein, denen ich
9 1
während unserer letzten Rettungsmission aus dem Weg
gehen musste. Ich glaube, wenn ich einem großen verstrahlten Untatenheer gegenüberstünde, würde ich wahrscheinlich ihrer leicht erhöhten Mobilität oder extremen Strahlung zum Opfer fallen. Die paar Figuren, die momentan da draußen sind, dürften für die Soldaten aber kein großes Problem darstellen.
Wenn wir jetzt durch den Zweitausgang stiften gehen
und Hotel 23 für immer verlassen, werden wir nie erfahren, ob das Militär dort draußen unser Verbündeter ist. Aber wir können auch bleiben und kämpfen oder
vielleicht versuchen, uns mit den Leuten zu verständi•
gen. Wir halten die Funkstille noch immer aufrecht und
haben, solange es nicht absolut notwendig ist, nicht vor,
sie zu brechen.
Momentan machen die Belagerer noch keinen Versuch, sich Eintritt zu verschaffen. Sie haben auch noch keine Gesten in Richtung unserer Außenkameras gemacht.
Die Sonne geht in knapp zwei Stunden unter. Wenn sie
sich mit Gewalt Eintritt verschaffen wollen, werden sie
es vermutlich mitten in der Nacht versuchen.
Eins steht fest: Eine Banditenmeute mit einem Glückstreffer zu erledigen ist etwas anderes, als einige Dutzend gut bewaffnete Us-Marineinfanteristen am Hals zu haben.
9 2
11. JuLI
11.3€, u�p.
Die Anfangsverhandlungen fielen höflich aus. Dann wurde
der Ton bedrohlich und später gewalttätig. Man begann
mit Funksprüchen, die »an die Leute im Bunker« gerichtet waren. Schließlich fuhr man schwere Waffen auf. Sie wurden zwar auf uns gerichtet, aber nicht abgefeuert.
Man wollte, dass wir widerstandslos aufgaben. Als ich
sah, dass eine Kiste Sprengstoff nach der anderen ins Raketensilo hinabgelassen wurde, hatte ich keine andere Wahl, als die Funkstille aufzuheben.
Ich schaltete das Mikrofon ein und sagte (soweit ich
es noch zusammenkriege): »An die Männer, die gerade
versuchen, diesen Stützpunkt mit Gewalt einzunehmen: Stellen Sie bitte sämtliche feindseligen Handlungen ein, sonst sehen wir uns gezwungen, zurückzuschlagen.«
Ich war mir ziemlich sicher, dass die Antwort aus Gelächter bestehen würde, doch die Reaktion der anderen Seite fiel professionell aus.
»Niemand ist an Feindseligkeiten interessiert. Wir wollen nur die Immobilie. Sie befinden sich auf Eigentum der US-Regierung. Wir erheben laut den entsprechenden Bundesgesetzen und Rechtsverordnungen Anspruch auf diesen Besitz. Wir ersuchen Sie, uns Zutritt zu gewähren, dann wird niemandem etwas geschehen.«
Das war der Augenblick, in dem ich sie auslachte. Wir
hatten ein Patt. Ich musste mit dem Kommandanten
93
der Einheit reden. Ich bat darum, doch man begegnete
mir mit ausweichendem Geschwafel und üppenbekenntnissen.
»Der Kommandant ist nicht anwesend. Er hält sich im
Hauptquartier auf.«
Ich bat den Sprecher, sich zu identifizieren. Er weigerte sich.
»Im Namen welcher existierenden Autorität verlangen
Sie die Übergabe dieses Stützpunktes?«, fragte ich.
»Im Namen des Chefs der Einsatzleitung der Marine«,
lautete die Antwort.
»Meinen Sie nicht den Kommandanten des Marinekorps?c
Zuerst antwortete Schweigen, dann meldete sich das
dünne Stimmchen zurück. »Der Kommandant wird vermisst. Wir können nur vermuten, dass er sich mit seinem Kaderkameraden, dem Leiter der Vereinten Stabschefs, an einem sicheren Ort aufhält … zusammen mit den meisten … toten … Führern der Nation.«
»Dann unterstehen Sie also gegenwärtig der Einsatzleitung der Marine?«
»Wir sind das Marinekorps.c Nun wurde Gelächter hörbar.
Ich sah keinen Grund, zu verbergen, dass wir Ramirez
und seine Leute gerettet hatten.
Da die Marines vermutlich ohnehin wussten, mit wem
sie es zu tun hatten, fragte ich; »Wo sind Ramirez und
die Männer, die wir aus dem havarierten Panzerspähwagen gerettet haben?c 94
»Es geht ihnen gut. Einer von ihnen ist bei uns. Ramirez ist wieder im Basislager, wo er die Außenverteidigung wahrnimmt, aber er wollte persönlich etwas weitergeben.•
Mit so viel Ernst, wie ich am Funkgerät aufbringen
konnte, schrie ich ins Mikro: »Ich möchtejetzt mit einem
Offizier reden, Soldat!«
»Das geht nicht.•
»Wieso nicht?«
»Wir haben keine … Ähm, ich meine, es ist keiner hier.•
Der Mann hatte sich verplappert. Nun fragte ich mich
ernsthaft, wer diesen Trupp befehligte. Das Geplänkel
wogte hin und her, bis ich den Soldaten am Funkgerät
schließlich überzeugte, mich mit dem höchstrangigen
Nicht-Offizier zu verbinden, der dort war.
Artillerie-Sergeant Handley meldete sich bei mir.
»Hört zu, ihr da unten«, bellte er, »wir brauchen den
Stützpunkt als Vorposten-Kommandozentrum, weil noch
immer ‘n bisschen Hoffnung besteht. Momentan bastelt
man an einem Plan … Die Überreste des U5-Militärs sollen versuchen, den Kreaturen die Vereinigten Staaten wieder abzunehmen.«
Ich fragte ihn, wie oft er mit dem Chef der Einsatzleitung der Marine kommuniziert hätte.
»Wir haben regelmäßige, wenn auch seltene HF-Gespräche mit seinem Flugzeugträger. Aufgrund von Wartungsproblemen werden nur wenige Einsätze vom Schiff aus geflogen. Es gibt aber auch Luftaufklärung auf dem Festland, um genaue Informationen über den Zustand der 9 5
Bodentruppen zu gewinnen. Verdammt, er hat uns sogar,
als es richtig beschissen wurde, ein- oder zweimal mit
dem Abwurfvon Eisen unterstützt.«
»Dann kann ich also davon ausgehen«, sagte ich, »dass
die Marine die Pest überlebt hat?«
»Am Anfang haben sich ‘ne Menge Schiffe in schwimmende Särge verwandelt«, erwiderte Sergeant Handley.
»Als es losging, waren von zehn Flugzeugträgem im aktiven Dienst nur vier nicht infiziert und wurden auch nicht von Untoten überrannt. Es interessiert Sie vielleicht, dass wir auch noch ‘n Raketen-U-Boot haben, das sieben Monate unter Wasser war. Die Leute in dem Kahn
leben nur von Eipulver, Trockenobst und Fleisch. Dieses
Boot ist das letzte Stück normaler Lebenskreislauf … An
Bord kann man noch heute sterben, ohne dass man wiederkehrt.«
Ich fragte den Artillerie-Sergeant, was er damit meinte.
»Das Boot war schon unter Wasser, als es losging, deswegen war es von dem, was die Toten wieder aufstehen lässt, nicht betroffen. Die haben auf ‘ner sehr niedrigen
Funkfrequenz mitgeteilt, dass im Februar einer ihrer
Leute ‘nen natürlichen Tod gestorben und nicht wieder
aufgestanden ist. Nach ‘ner vierundzwanzig Stunden
langen Beobachtung hat der Schiffsarzt die Leiche in die
Kühltruhe gelegt und selbige mit Tauwerk zugebunden.
Der Tote hat sich seither nicht gerührt. Natürlich muss
das Boot irgendwann wieder auftauchen, schon wegen
des Proviants, aber im Moment ist es, soweit wir wissen,
als Einziges nicht betroffen. Alle anderen U-Boote haben
9 6
nicht den richtigen Zeitraum erwischt, um sich vor dem
Virus zu verpissen. Vermutlich tragen wir alle irgendeine schlummernde Form dieser Pest in uns … die auf den Tag wartet, an dem unser Herz zu schlagen aufhört.
Tja, wir sitzen echt metertief im Kot, mein lieber.«
Eine beunruhigende Stille folgte. Sie wurde von einer
Salve unterbrochen, die jemand auf die Kreaturen abfeuerte.
»Wir wollen kein Riesenloch in Ihr Clubhaus ballern
und es Ihnen wegnehmen, Sire, sagte der Sergeant. »Können wir uns nicht irgendwie friedlich einigen? In unserem Lager sind auch Zivilisten, die froh sind, noch am Leben zu sein.«
»Wir werden aber in Ihrem Lager nicht glücklich sein,
Sergeant. Wir sind für so was nicht geschaffen. Wir haben
überlebt, seit es losgegangen ist und waren, bevor wir
diesen Ort gefunden haben, fast immer auf der Flucht.«
»Es ist beeindruckend, ändert aber nichts an der Tatsache, dass dieser Komplex unter die Jurisdiktion des Militärs fällt.«
»Sie haben mir noch immer nicht bewiesen, Sergeant,
dass Sie keine versprengte Militäreinheit sind, deren Handlungen keine regierungsamtliche Stelle deckt.«
»Sir, wir haben es regierungsamtlicher Führung und
regierungsamtlichem Zögern zu verdanken, dass wir bis
zum Hals in der Scheiße sitzen und kurz vor der Ausrottung stehen.«
»Tja, Sergeant, da haben Sie vielleicht nicht ganz Unrecht. Andererseits haben wir diesen Ort gefunden und 97
wollen nicht unter der eisernen Faust von wem auch
immer leben. Nicht mal dann, wenn es die Faust des
amerikanischen Militärs ist.«
Handley antwortete nur »Na schön«, dann kehrten wir
wieder zur Funkstille zurück. Dies war die Nacht des
Sechzehnten. Zwei Stunden nach dem letzten Funkspruch ging die erste Ladung im Raketenschacht hoch.
Sie hatte, wenn man von einem kaum sichtbaren Riss
in dem zwanzig Zentimeter dicken Fensterglas der Sicherheitstür absah, keinerlei Auswirkungen. Dann kam die nächste Detonation. Und die übernächste. Die zuvor
schon beschädigte Schachtkamera wurde außer Gefecht
gesetzt und gab fortan nicht mal mehr den Anflug eines
sichtbaren Signals ab. Die Explosionen hatten keine Auswirkungen.
Als ich darüber nachdachte, fragte ich mich, ob die
zivilen Banditen, hätte ich sie nicht in die Luft gejagt,
eine Chance gehabt hätten, mit ihren Schneidewerkzeugen hier einzudringen. Der mit Metall und Fiberglas verstärkte Beton, aus dem Hotel 23 bestand, war sehr stark.
Ich nehme an, er könnte sogar einer Atomexplosion widerstehen. Nun empfand ich doch den Anflug eines schlechten Gewissens, denn es war eigentlich unnötig
gewesen, die Banditen umzubringen. Vielleicht hätten
sie aufgegeben, wenn sie gemerkt hätten, dass der Einsatz ihrer Werkzeuge nichts brachte. Vielleicht bräuchte ich sie dann jetzt nicht als wandelnde Flammengestalten vor mir zu sehen. Die Vernunft allerdings sagt mir, dass sie es verdient haben …
98
Jede Synapse klingelnde Pein.
Beim Ertönen der nächsten Explosion wischte ich den
Gedanken beiseite. Ich spürte eine leichte Druckveränderung. Sie führte dazu, dass ich mir die Nase zuhielt, den Mund schloss und blies, um den Druck zwischen
meinen Ohren auszugleichen. Die Explosion hatte die
Struktur des Stützpunkts zwar nicht beschädigt, ließ
aber das Metall so stark vibrieren, um eine schnelle Ver
änderung der inneren Druckverhältnisse hervorzurufen. janice und Tara waren bei der Vorstellung, dass man sie festnahm und in ein vom Militär kontrolliertes Lager
brachte, ziemlich wütend. So wie sie ihre momentane
Lage sahen, würde man sie als Gebärmaschinen verwenden. Dazu wollte ich es nie kommen lassen. Die Explosionen verbesserten meine Laune auch nicht gerade. Laura weinte, Annabelle jaulte vor Angst und zog bei jedem
neuen Krachen den Schwanz ein. Nach einer halben
Stunde hörten die Explosionen auf. Wahrscheinlich mussten sie erst neuen Sprengstoff besorgen.
Das Funkgerät knisterte wieder.
»Habt ihr noch nicht genug? Warum macht ihr nicht
die Tür auf und kommt friedlich raus? Euch geschieht
doch nichts!«
Ich bat Sergeant Handley, uns bis zum Sonnenaufgang
Zeit zu geben, damit wir, bevor wir aufmachten, unsere
Sachen packen konnten. Er kaufte es mir ab.
Ich rief die Erwachsenen zu einer Versammlung. Wir
legten alle Karten auf den Tisch, die wir gegebenenfalls
bei dieser Zockerei ausspielen konnten.
99
Unsere Möglichkeiten waren begrenzt. Wir konnten
wieder auf die Walz gehen und versuchen, eine neue, gut
zu verteidigende Unterkunft zu finden. Etwas, das mit
Hotel 23 vergleichbar war, würden wir aber nie wieder
finden. Man brauchte Jahre, um etwas so Sicheres und
Strapazierfähiges zu bauen.
janice schlug vor, wir sollten mit dem Flugzeug abhauen. Ich erklärte, dass die Cessna uns wahrscheinlich nicht alle tragen konnte, von unserer Ausrüstung ganz
zu schweigen. Diese Möglichkeit konnten wir gleich vergessen. Außerdem war die Kiste in keinem exzellenten Zustand: an einer Seite war die Bremse im Eimer.
Es wurde Mitternacht. Wir hatten noch sechs Stunden, um uns etwas einfallen zu lassen. Ich wandte mich an john, der normalerweise immer eine Querdenker
Antwort auf Lager hatte. Ihm zufolge gab es keine logische Antwort.
Ich wusste nicht genau, ob die Belagerer von unserem
zweiten Ausgang wussten, aber in seiner Nähe, beinahe
am Zaun, waren Fahrzeuge geparkt. Vielleicht wussten
sie von ihm. Der Haupteingang war eine gute Option,
aber dort hielt sich eine zunehmend größer werdende
Anzahl von Untaten auf, die noch immer ans Metall
klopften. Die andere Option war, den Leuten von der Marine zu vertrauen. Wenn sie Wort hielten, ließen sie uns, wenn sie den Stützpunkt übernommen hatten, einfach
ziehen.
Ich war nicht wild darauf, mich mit einer älteren Dame,
zwei kleinen Kindern und einem Hund wieder auf die
100
Flucht zu begeben. Die Klauen und Mäuler der Untoten
würden uns kaltmachen, bevor der Monat zu Ende war.
Ich wusste einfach nicht, was ich machen sollte. Ich
saß in meinem Quartier und dachte über jede mögliche
Lösung unserer prekären Lage nach. Hätte ich doch nur
irgendein Druckmittel gehabt.
Da ich Dean mein altes Quartier überlassen hatte, hatte
ich meinen Kram noch nicht eingeräumt. Eine kleine
Kiste mit Siebensachen stand noch immer in der Ecke
und wartete auf den Tag, an dem ich es leid wurde, sie
anzugaffen. Nun sah es so aus, als käme dieser Tag nie.
Ich musterte die Kiste einige Minuten lang und dachte
darüber nach, wie wir unser ganzes Zeug durch das
Land schleppen und dabei überleben sollten. Dann ging
ich zu der Kiste hinüber und nahm mir den Inhalt vor.
Zwei Ersatz-Pilotenkombinationen, Handschuhe, eine
Schreibunterlage, eine Glock-17-Handfeuerwaffe, drei
kleine Familienfotos, sechs Schachteln 9-mm-Munition
und mein anklettbares Namensschild, auf dem natürlich
auch mein Dienstgrad und die Schwingen des Marinefliegers eingewebt waren. Ich hatte es seit dem Untergang der Zivilisation nicht mehr getragen. Wozu auch?
Schließlich nahm ich meine Brieftasche aus der Kiste.
Ich warf einen Blick hinein und fand zahlreiche Ausweiskarten. Als es die NRA” noch gegeben hatte, war ich dort Mitglied gewesen. Es war noch nicht lange her. Ich
hatte auch Ausweise fast aller Videothekenketten. Ob
•
National Rifle Association
101
man mich wohl, wenn sie den Betrieb wieder aufnahmen, von den nicht geleisteten Mitgliedsbeiträgen befreite? Ich bin mir sicher, dass der Server, der meine verbrecherisch verspätet eintreffenden Mitgliedsbeiträge verbuchte, vermutlich verrostet war, wenn das Stromnetz wieder funktionierte. Falls überhaupt.
Dann fand ich etwas, das alles veränderte. Vor einem
Monat war mir in einem Anfall von Nostalgie eingefallen, einen Blick aufmeinen Dienstausweis zu werfen. Er war noch zwei Jahre gültig. Ich stand da, schaute ihn an
und rieb mit dem Daumen über den in die Vorderseite
eingebetteten Mikrochip. Der Chip enthielt meine Daten
sowie jene, die in den Strichkode auf der rechten Kartenseite eingeprägt waren. Auch befand sich dort mein Foto. Ein glattrasiertes, einfaltig aus der Wäsche schauendes Abbild meines Ichs, das nie auf die Idee gekommen wäre, die Toten könnten wieder auferstehen.
Wenn die Männer da draußen noch immer Infanteristen der US-Marine waren und die Bekleidungsvorschriften der Militärjustiz einhielten, war ich noch immer Offizier und damit ihr Vorgesetzter. Wenn sich überhaupt noch jemand an die Rangstruktur des Militärs hielt,
dann konnte es nur ein Marineinfanterist sein. Bei den
in meiner militärischen Vergangenheit selten erfolgten
Begegnungen mit Navy-Mannschaftsdienstgraden waren
die Männer immer aufgestanden, wenn ich sie angesprochen hatte. Artillerie-Sergeant Handley hatte selbst gesagt, bei ihnen oben sei kein Offizier und er der höchstrangige anwesende Soldat.
102
Er hat die Unwahrheit gesagt, ohne es zu wissen.
Theoretisch bin ich der höchstrangige anwesende Soldat.
Als ich mit dem Rücken an der Tür stand und die
Karte in meiner Hand musterte, griff Dean zu und begutachtete sie. Sie untersuchte den Wehrpass sorgfaltig und schaute mich dann an.
»Der sieht Ihnen aber ähnlich, Seemann«, sagte sie.
Ich erwiderte ihr Lächeln. »Ja, das war ich mal.«
>>Sie sind es noch immer«, meinte sie. »Sie haben nur
die militärische Steifheit verloren und könnten außerdem eine Rasur gebrauchen.«
Mir kam kurz der Gedanke, sie könnte Recht haben.
Obwohl ich seit Januar ein paar böse Dinge getan hatte,
änderte es nichts an der Tatsache, dass es noch immer
aktive militärische Einheiten gab und ich noch immer
Offizier war. Meine Einheit war vernichtet worden. Vermutlich gab es keine Überlebenden. Das wusste ich. Ich hatte unsere Basis überflogen und es mit eigenen Augen
gesehen. Sie war überrannt und später mit Raketen beschossen worden. Das Spiel war aus. Ich war, soweit ich wusste, der einzige Überlebende.
Ich rief die Gruppe zusammen, und wir besprachen
mein Vorhaben. Schon bei der Vorstellung sank allen die
Kinnlade herab, doch schließlich stimmten alle zu, dass
es die einzige Möglichkeit war, mit der Situation fertigzuwerden.
Heute Morgen um 5.00 Uhr wachte ich aufund schaltete das Licht ein. Ich nahm mein Duschzeug und gab 103
mir alle Mühe, mich repräsentabel herzurichten. Als ich
an meinem alten Quartier vorbeikam, ging die Tür auf,
und Dean kam mit einer Schere heraus, die aus dem
Büro des Kontrollzentrums stammte. »Mit dieser Mähne
kann ich Sie nicht nach draußen lassen.«
Ich lachte und achtete darauf, dass das um meinen
Bauch geschlungene Handtuch nicht zu Boden fiel. »Sie
haben wohl Recht, Dean.«
Sie hatte schon Danny, wenn nötig, das Haar geschnitten und meinte, er hätte sich über ihr Können nie beschwert. In den letzten Monaten war mein Haar natürlich gewachsen und laut der militärischen Dienstvorschrift
viel zu lang. Ich hatte es zwar vor drei Monaten geschoren, aber seitdem nicht mehr angefasst. Eine solche Mähne war eigentlich nicht mein Stil. Das Ende der Welt
mochte zwar eine ausgezeichnete Entschuldigung liefern, aber bei Dean kam ich damit nicht durch. Wie eine gelernte Friseuse richtete sie meinen Kopf so her, dass er
den ungeschriebenen Fliegervorschriften entsprach und
mein Haar nur eine Winzigkeit länger war als das eines
gemeinen Soldaten.
Als ich die Dusche hinter mir gelassen und meine Bartstoppeln glattrasiert hatte, schaute ich in den Spiegel.
Für das, was ich vorhatte, sah ich repräsentabel genug
aus. Ich hatte zwar keine Ausgehuniform und kein
Portepee, aber es würde reichen. Mit dem Handtuch um
den Bauch kehrte ich in mein Quartier zurück. Vor der
Tür standen meine Stiefel in perfektem Glanz. Davor lag
ein Zettel mit Kinderhandschrift: »Hoffentlich gefallen
104
sie Ihnen. Ich habe schon die Stiefel meines Vaters geputzt. Danny.«
Wahrscheinlich hat er sich reingeschlichen und sie
gewienert, als ich noch schlief. Ich lasse immer die Tür
offen, um hören zu können, was auf dem Gang vor sich
geht. Entweder geht allmählich meine Wachsamkeit fl�
ten, oder Danny ist ein sehr leiser Bursche. Ich dachte an
den Tag, an dem er auf die Untoten gestrullt hatte. Was
für ein kornischer Anblick.
Ich zog die saubere Fliegerkombination an, befestigte
die Schulterklappen und heftete mir das Namensschild
auf die Brust. Ich nahm die Kappe aus der Hosentasche,
in der sie das letzte halbe Jahr verbracht hatte, und setzte
sie auf. Ich verließ mein Quartier uniformiert und darauf vorbereitet, vor die Marineinfanterie zu treten. Es war 5.50 Uhr. Die Kameras zeigten, dass die Sonne aufging und die Wolken im Osten mit einem unheilschwangeren Orangeton versah.
Ich schaltete das Funkgerät ein. »Sind Sie da, Sergeant?
Ende.«
Nach einem kurzen Moment meldete sich eine müde,
beunruhigt klingende Stimme. »Ja, ich bin hier. Ich war
die ganze verdammte Nacht hier.«
»Gut. Pfeifen Sie Ihre Männer nun von der Siloöffnung
zurück. Ich komme rauf.«
»Wir erwarten sie dort … Ende.«
Nur mit einer Handfeuerwaffe versehen ging ich zu
der Luke, die in den Raketenschacht führte. John und
Williarn gaben mir mit ihren Waffen Feuerschutz. Wir
105
mussten alle drei zugreifen, um das Rad zu drehen und
die Luke aufzubekommen, denn die Explosionshitze hatte
das Metall gedehnt und schließlich schrumpfen lassen.
Als die Luke aufging, flutete von oben Licht herab. Staub
stieg auf. John und William machten die Luke schnell
wieder zu.
Ich hatte das Innere des Silos seit einer geraumen Weile
nicht mehr aus der Nähe gesehen. Überall auf dem Boden
lagen verbrannte Knochensplitter, Kleiderfetzen und jede
Menge Zähne herum. Hier unten hatten sich offenbar
massenhaft Untote aufgehalten, als die Banditen angefangen hatten, sie zu verbrennen. Die Schachtwände waren von den vielen Sprengladungen, die in den letzten vierundzwanzig Stunden detoniert waren, schwarz.
Die Männer oben konnten mich noch nicht sehen,
da ich ganz unten am Schott stand. Ich trat mit kalter
Berechnung ins Licht und kletterte dann über die Leiter nach oben. Die Leitersprossen waren mit Asche verschmiert, aber ich gab nicht auf. Dann härte ich jemanden ))Gottverdammte Kacke!« sagen und wusste, dass man mich gesichtet hatte. Ich kletterte weiter hinauf,
bis ganz nach oben. Die behandschuhte Hand eines Sergeanten der USMC-Artillerie streckte sich mir entgegen und halfmir über den Rand des Raketensilos. Dann stand
ich auffestem Boden und schaute ihm in die Augen. Sergeant Handley knallte die Hacken zusammen und salutierte zackig. Ich erwiderte seinen Gruß, und er nahm die Hand runter. Er geleitete mich auf der Stelle zu seinem Zelt. Mehrere Staff Sergeants folgten uns.
106
»Sir, wir hatten ja keine Ahnung … «
»Nicht nötig, Handley. Sie wussten ja nicht, dass ich
Offizier bin, und ich habe es Ihnen so lange verschwiegen, bis ich nicht mehr anders konnte.«
Danach folgte eine Frage-und-Antwort-Sitzung, auf der
ich alles berichtete, was ich vom ersten Tag an gemacht
hatte. Den Teil, in dem mein Kommandant mir befohlen hatte, mich im Stützpunktbunker zu melden, ließ ich aus. Ich erzählte, ich sei wahrscheinlich der einzige
noch lebende Angehörige meiner Staffel und hätte bei
jeder guten Gelegenheit andere Menschen aufgelesen.
Schließlich wies Handley seine Untergebenen an, das Zelt
zu verlassen.
Er beugte sich vor und sagte ganz ruhig, aber nervös
und leise: »Ich habe seit Monaten keinen Offizier mehr
gesehen, Sir. Unsere gesamten hohen Tiere wurden vor
Monaten an einen unbekannten Ort befohlen. Seither
haben wir sie weder gesehen noch mit ihnen kommuniziert. Im Grunde hat man uns hier draußen dem Krepieren überlassen. Ich habe den Männem erzählt, dass unser Kommandant lebt und mir direkt über eine sichere
Funkverbindung Befehle erteilt. Gelogen ist es eigentlich
nicht, denn ich habe j a wirklich Befehle von Admiral
Goettleman erhalten, der sich an Bord des Flaggschiffs
USS George Washington befindet. Allmählich zweifelt man
aber an meinen Worten. Ich musste schließlich die Moral
aufrecht halten. Wie soll ich die Männer dazu bewegen, dass sie kämpfen oder auch nur als Team handeln, wenn sie wissen, dass ihre Vorgesetzten sie einfach in
107
der Scheiße haben sitzen lassen und vielleicht sogar
schon tot sind?«
Da saßen wir nun. Ich überlegte, was Handleys Worte
implizierten. Meine Konzentration wurde hin und wieder von Gewehrfeuer unterbrochen, wenn die Männer irgendwelche Untoten abwehrten.
»Was wollen Sie mir beibringen, Sergeant?«
»Dass Sie der erste Offizier sind, den ich seit langer
Zeit sehe, Sir, und dass wir Sie brauchen, wenn auch nur
als Sprachrohr für die Mannschaft. Ob Sie nun unser Anführer sind oder nicht, ich brauche Sie einfach, damit Sie diese Rolle spielen, sonst kommt die ganze Sache
raus, und uns fliegt die Scheiße um die Ohren.«
»In diesem Fall steht dieser Stützpunkt, der den Decknamen Hotel 23 trägt, unter meinem Kommando. Sie bleiben hier und schicken die meisten Ihrer Leute mit dem Staff Sergeant zurück, dem Sie am meisten vertrauen.«
Handley war einverstanden. Ich verkündete, ich würde
zu den Männem reden, während er entschied, wer blieb
und wer gehen sollte.
Während der nächsten halben Stunde stand ich auf
einer Munitionskiste und musterte die Gesichter der jungen Patrioten, die mich anschauten und meinen Worten lauschten.
»Ich bin der Kommandant dieses Stützpunktes und
brauche ein paar gute Männer.«
Meine Worte erzeugten begeisterten Applaus.
»Vor sechseinhalb Monaten hat etwas unsere Welt aus
der Bahn geworfen. Nun weiß zwar noch niemand genau,
108
was da passiert ist, aber im Grunde ist es auch unwichtig.«
Ich war zwar nicht der Meinung, dass meine Rede
großartig war, aber die Männer sahen es anders. Sie pfiffen und klatschten.
))So wie ich es sehe, könnten uns zwar die Patronen
ausgehen, aber nicht die Knüppel. Es kann vielleicht lange
dauern, aber wir geben nicht auf. Wir werden so viele
Menschen retten, wie wir können, und was diese Dinger
angeht, so werden wir ihnen gewaltig in den Arsch treten!
Vergesst nie, dass ihr Soldaten der Vereinigten Staaten
seid, Männer! Ich möchte nicht hören, dass es die Vereinigten Staaten nicht mehr gibt. Das ist Quatsch. Unsere Verfassung liegt vielleicht noch immer in Washington rum; aber auch wenn sie verbrannt ist: Es bedeutet nicht, dass sie so tot ist wie die Dinger da draußen. Wir
werden unsere Verfassung hochhalten und bis zum Ende
verteidigen.«
Hochrufe. Die Männer applaudierten erneut. Dann
versammelte sich eine Gruppe Freiwilliger um Handley,
die im Hotel 23 bleiben wollten. Die Sonne ging an diesem Sommermorgen über den Baumwipfeln auf. Meine einfache Ansprache war beendet, und ich nahm schon
jetzt einen sichtbaren Anstieg der allgerneinen Kampfmoral wahr. Der Stützpunkt brummte vor Entschlossenheit.
))Noch eins, Sir«, sagte der Sergeant. ))Rarnirez wollte,
dass ich Ihnen das hier gebe.«
109
Er reichte mir ein feststehendes Messer in einer robusten Lederscheide. Die Scheide war mit einem Täschchen versehen, die einen Wetzstein enthielt. Ich zog die Klinge
aus der Scheide und stellte fest, dass es ein Kampfmesser
mit einem schwarzen Micartagriffvon höchster Qualität
war. Die Klinge war aus rostfreiem Stahl; in der Nähe des
Griffs war auf der Seite » Randall Made Orlando FL« eingraviert. Ich musste lachen, als mir der Satz »So etwas macht heute keiner mehr« einfiel. Teufel nochmal, heute
macht überhaupt keiner mehr irgendwas.
Nachdem alles gesagt und getan war, blieben drei Panzerspähwagen, ein Laster mit Plane und zweiundzwanzig Männer bei uns, Sergeant Handley inklusive. Wir waren oben, als der Staff Sergeant mit dem Konvoi und
der Nachricht zum alten Lager zurückkehrte, dass man
einen Offizier gefunden hatte, der ihnen beistand. Zwei
mit Verschlüsselungsfunktion versehene Militärfunkgeräte wurden in den Bunker getragen und in der Kommandozentrale aufgebaut. Die Marines schlugen flink ihre Kojen unten auf.
Den Hauptteil des Nachmittags verbrachten wir damit, Hotel 23 zu einer militärischen Operationsbasis auszubauen.
110
,__
- -
I , 041 :
·. -
-
-
-
I
-
1 ‘0 . Juu
ll,.oS u�p,
Wir haben Verbindung mit der USS George Washington.
Der stellvertretende Chef der Marine-Einsatzleitung ist
momentan nicht an Bord des Flugzeugträgers, sondern
zu Planungszwecken mit einem seiner Commodores auf
einer kleineren Nussschale zu Gast. Ich bin mir sicher,
dass wir in den nächsten Tagen mehr von ihm hören
werden. Man hat mir mitgeteilt, dass jemand beauftragt
wird, beim nächsten anstehenden Versorgungsflug den
Chip auf meinem Wehrpass zu reprogrammieren, aber
ich weiß nicht, was mir dies nützen oder warum es hier
draußen eine Rolle spielen sollte.
111
1.1.. Juu
11.1.0 u�p.
Ich habe die Büchse der Pandora geöffnet. jetzt habe
ich mehr Pflichten am Hals, als ich brauchen kann. Die
zweiundzwanzig neuen Marineinfanteristen haben sich