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Verbindungen

11. November 1981

Ich dachte, es würde leichter werden. Heißt es nicht, die Zeit heilt alle Wunden? Und wenn nicht die Zeit, dann die Heilrituale, derer sich unser Clan seit Hunderten von Jahren bedient?

Warum sehe ich Maeves Gesicht, wenn ich wach bin und wenn ich schlafe und wenn ich mit Grania im Bett liege? Maeve, hinter jeder Tür, um jede Ecke, in jeder Anrufung der Göttin? Diese Welt birgt für mich keine Freude mehr. Nicht einmal meine Kinder können mein Interesse oder meine Aufmerksamkeit erregen und das ist wahrscheinlich eine Gnade. Wenn ich sie wirklich ansehen würde, dann würde ich bei ihrem Anblick daran denken, dass Maeve mich ihretwegen abgewiesen hat. Wenn sie nicht wären, wären Maeve und ich jetzt zusammen. Ich kann sie nicht vergessen. Und ich kann sie nicht haben. Und der Zorn will nicht verebben.

Es ist witzig. Ausgerechnet die fette alte Greer hat vorhergesehen, was passieren würde. Sie hat kein Blatt vor den Mund genommen. »Deine Seele krankt und dein Herz schrumpft«, sagte sie zu mir. »In dir ist etwas Schwarzes, Verdrehtes. Nutze es, Junge.«

Zuerst war ich so außer mir vor Schmerz, dass ich nicht verstand, was sie meinte. Doch es war nicht schwer zu begreifen. Wer könnte schwarze Magie besser anrufen als der, dessen Seele in Finsternis versunken ist?

– Neimhich

Hunter stierte aus dem Wohnzimmerfenster in den bleifarbenen Winterhimmel, das Kinn starr vor Frust. Raven schlief noch, und Robbie war runtergegangen, um Bagels zu besorgen.

Bree saß auf dem Wohnzimmerboden und machte Yoga-Dehnübungen. »Also, ich weiß, dass du versuchst, Killian zu beschützen, aber ich persönlich bin mir nicht so sicher, ob sein Verschwinden so ein großer Verlust ist.«

»Ich weiß, was du meinst«, sagte Sky, die auf der Couch saß.

Hunters Blick richtete sich auf mich. »Ich würde gern noch einmal durchgehen, was gestern Abend passiert ist, als Killian und du diese feindselige Präsenz gespürt habt. Ich weiß, dass du glaubst, du hättest mir alles erzählt, aber erzähl es mir noch einmal. Selbst das kleinste Detail, egal wie unwichtig es dir erscheint.«

Ich setzte mich auf die Couch. »Wir waren im Wohnzimmer und haben uns unterhalten, als wir beide eine Präsenz spürten. Killian sagte, etwas würde versuchen, in das Apartment zu kommen. Da habe ich dir die magische Botschaft geschickt und wir haben beide unsere Sinne ausgeworfen. Ich bin an die Gegensprechanlage und habe den Portier angerufen, ob er jemanden gesehen hat. Killian hat den Flur überprüft. Und dann gab es einen gewaltigen Knall am Fenster, der uns beide zu Tode erschreckt hat …«

»Gestern Abend hast du davon nichts gesagt«, sagte Hunter scharf.

»Weil da nichts war. Nur eine Taube. Und gleich danach bist du aufgetaucht.«

Hunter runzelte die Stirn. »Eine Taube?«

»Ja«, antwortete ich. »Wieso?«

»Tauben sind keine Nachtvögel«, sagte Hunter angespannt. »Was genau hast du gesehen?«

Die inneren Alarmglocken schrillten los. »Ähm, viel war nicht zu erkennen. Federn. Braun und grau, glaube ich. Ungefähr so groß.« Ich hob die Hände und zeigte etwa die Größe einer Zuckermelone.

»Das ist zu groß für eine Taube«, sagte Hunter sofort. »Vermutlich eher eine Eule.«

Mein Mund wurde trocken. »Du meinst …«

Er nickte. »Ich meine einen Gestaltwandler von Amyranth.«

Schweigen machte sich breit. Ich versuchte, das entsetzte Flattern in meinem Bauch zu beruhigen.

»Wenigstens können wir jetzt ziemlich sicher sein, dass wir recht mit der Annahme hatten, Killian wäre ihr auserkorenes Opfer«, sagte Hunter. »Amyranth ist ihm offensichtlich hierhergefolgt.«

»Er hat es gewusst«, sagte ich, denn plötzlich begriff ich, warum Killian nach dem Vorfall mit der »Taube« so einsilbig war. »Er hat nichts gesagt, aber ich bin mir sicher, dass er genau gewusst hat, was es war.«

Hunter stieß den Atem langsam aus. »Bleibt nur noch die Frage, ob Killian sich aus eigenen Stücken abgesetzt hat oder ob es jemandem gelungen ist, ihn fortzuzaubern. Aber beides führt zum gleichen Ergebnis: Wir müssen ihn irgendwie wiederfinden, bevor ihm etwas passiert.«

Ich dachte an Ciarans Uhr und fragte mich, ob wir sie irgendwie benutzen konnten, um herauszufinden, wo Ciaran war. »Hunter«, sagte ich nervös. »Ich muss dir etwas zeigen. Komm mal bitte mit.«

Bree und Sky sahen mich fragend an, als Hunter mir ins Gästezimmer folgte. Hätte ich ihm doch von Anfang an alles erzählt! Ich holte die Uhr aus meiner Jackentasche und reichte sie ihm.

Er zog eine blonde Augenbraue hoch, als er das grüne Seidentuch aufschlug. »Woher hast du die?«, fragte er. Sein Blick war nicht zu deuten.

Ich erzählte ihm die ganze Geschichte.

Er hörte schweigend zu. Dann sah er mich endlose Minuten nur an. Ich brauchte nicht meine magischen Sinne, um zu wissen, dass ich ihn enttäuscht hatte – weil ich so voreilig gehandelt und ihm die ganze Sache verschwiegen hatte, besonders nachdem ich wusste, dass Ciaran Amyranth leitete.

»Es tut mir leid«, sagte ich. »Ich hätte es dir sagen sollen.«

»Ja. Allerdings.« Er klang müde. »Trotzdem, die Uhr könnte uns eine wertvolle Hilfe sein. Schauen wir mal, ob sie es tatsächlich ist.« Er zog sie auf. »Da du eine Verbindung zu Maeve hast und die Uhr ihr gehört hat, musst du sie auch halten.«

Ich nahm sie und hielt sie in der Hand. Intuitiv sanken wir beide in einen meditativen Zustand und konzentrierten uns ganz auf ihr rhythmisches Ticken.

Hunter sang ein paar Worte auf Gälisch. »Ein magischer Spruch, um die Energien desjenigen sichtbar zu machen, dem die Uhr einst kostbar war«, erklärte er.

Ich spürte eine Wärme von dem goldenen Uhrgehäuse ausgehen, und eine Welle der Zärtlichkeit durchflutete mich – inzwischen erkannte ich die Energie meiner Mutter.

»Maeve hat sie sehr geschätzt«, sagte ich zu Hunter.

Er zeichnete eine Rune in die Luft, und ich erkannte Peorth, die Rune, die Verborgenes zum Vorschein bringt. »Was noch?«, fragte er.

Etwas flackerte über die Oberfläche des golden schimmernden Uhrgehäuses. Etwas Grünes. Maeves weit aufgerissene grüne Augen, dann ihr rostbraunes Haar. Tränen schnürten mir den Hals zu. Das letzte Mal, als ich eine Vision von Maeve gehabt hatte, war es das Bild gewesen, wie sie in der brennenden Scheune eingesperrt und gestorben war.

Hier stand sie auf einem offenen Feld und ihre Augen strahlten vor Freude und Liebe. Das Bild wandelte sich. Diesmal zeigte es Maeve in einem Zimmer, vermutlich ihr Schlafzimmer. Ein kleiner Raum unter einer Dachschräge mit einem schmalen Bett, auf dem ein bunter Quilt lag. Maeve stand in einem weißen Nachthemd am Fenster und schaute voller Sehnsucht hinauf zum Mond. Ich war mir sicher, dass sie an Ciaran dachte.

Jetzt zeig mir Ciaran, bat ich die Uhr stumm. Doch da war nur Maeve und ihr Bild verharrte noch einen Augenblick und verblasste dann.

Ich sah Hunter an. »Keine große Hilfe, fürchte ich. Nur meine Mutter aus der Zeit, bevor ich auf die Welt kam.«

»Geht es dir gut?«, fragte er.

Ich nickte, wickelte die Uhr wieder in die grüne Seide und steckte sie zurück in meine Jackentasche.

»Also, eins kann ich noch versuchen«, meinte Hunter. Er langte in seine Gesäßtasche und holte etwas heraus, das aussah wie eine Spielkarte, doch es war ein Bild der Jungfrau Maria, die mit einem stacheligen goldenen Heiligenschein und einem kleinen Engel über dem Kopf dargestellt war.

»Unsere Liebe Frau von Guadalupe«, erklärte Hunter. »Als ich Killian gestern Abend schließlich in dem verlassenen Haus fand, habe ich dort auch dies hier gefunden. Ich habe es an seinen Ursprung zurückverfolgt.«

»Hä?« Jetzt konnte ich ihm überhaupt nicht mehr folgen.

Hunter lächelte. »Willst du mitkommen und sehen, wo er es herhatte?«

Auf einmal schien es mir ein toller Tag zu werden: Ich würde ihn mit Hunter verbringen!

Im Wohnzimmer besprachen wir uns kurz mit den anderen, was wir alle heute vorhatten. Sky und Raven wollten in die Cloisters. Bree und Robbie hatten sich noch nicht entschieden. Am Abend wollten wir uns alle zu einem richtigen Essen in einem schicken Restaurant treffen.

Hunter und ich gingen quer durch Manhattan ins West Village. Hunter wollte in einen kleinen Laden westlich der Hudson Street. Das Schaufenster war überladen mit Kerzen in farbigen Glasbechern, Kreuzen, Rosenkränzen, Heiligenstatuen, Wahrsagekugeln, Kräutern, Ölen und Pudern. Wir traten ein, und eine seltsame Mischung stieg mir in die Nase: Weihrauch und Rosmarin, Moschus und Myrrhe.

»Das ist ja irre«, flüsterte ich Hunter zu. »Wie eine Kreuzung zwischen einem Devotionalien-Laden und einem Wicca-Laden.«

»Die Frau, die den Laden führt, ist eine Curandera«, erklärte Hunter mir flüsternd. »Eine mexikanische weiße Hexe. Die zentralamerikanische Magie enthält sehr viel christliche Symbolik.« Er läutete eine Glocke auf der Ladentheke. Ich machte große Augen, als eine schöne, dunkelhaarige Frau aus dem Hinterzimmer trat. Es war die Hexe aus dem Club: Die Frau, die mir erklärt hatte, ich müsse mein Herz heilen.

»Buenos días«, sagte sie. Ihr Blick verweilte auf mir, und es gab einen stummen Augenblick, da wir beide einander wiedererkannten und grüßten. »Kann ich Ihnen helfen?«

Hunter hielt ihr die Karte mit der Jungfrau unter die Nase. »Stammt die aus Ihrem Laden?«

Sie betrachtete sie einen Augenblick und sah dann wieder zu Hunter auf. »Sí. Manchmal gebe ich solche Karten denen, die Schutz brauchen. Wie sind Sie auf mich gekommen?«

»Der Karte haften Ihre Energiemuster an.«

»Die meisten Hexen könnten so etwas nicht aufgreifen«, sagte sie. »Ich belege meine Karten mit magischen Sprüchen, damit sie nicht zu mir zurückverfolgt werden können.« Sie betrachtete ihn eingehender. »Sie sind vom Rat?«

Er nickte. »Ich suche eine Hexe namens Killian. Ich glaube, er schwebt in Gefahr.«

»Der schwebt immer in Gefahr«, sagte sie, doch ihr Blick war plötzlich voller Misstrauen.

»Wissen Sie, wo er ist?«, fragte Hunter.

Sie schüttelte stumm den Kopf.

»Wenn Sie ihm über den Weg laufen«, sagte Hunter, »würden Sie mir dann Bescheid sagen?«

Sie sah ihn wieder an, und ich hatte das Gefühl, sie las ihn, wie sie mich gelesen hatte. »Ja«, sagte sie schließlich, »mache ich.«

Nach kurzem Zögern fragte Hunter: »Wissen Sie irgendetwas über Amyranth?«

»Brujas!«, sagte sie schaudernd. »Die huldigen der Dunkelheit. Mit denen wollen Sie nichts zu tun haben.«

»Wir befürchten, sie haben Killian in ihrer Gewalt.«

Etwas Unergründliches flackerte in ihren Augen auf. Dann kritzelte sie einen Namen auf einen Zettel und reichte ihn Hunter. »Sie hatte einmal das Pech, die Geliebte des Leiters von Amyranth zu sein. Seither ist sie in Angst und Schrecken gefangen. Ich weiß nicht, ob sie mit Ihnen redet, aber versuchen können Sie es. Zeigen Sie ihr unbedingt meine Karte.«

»Danke«, sagte Hunter, und wir wandten uns zum Gehen.

»Sie schieben etwas vor sich her, Sucher«, sagte die Frau.

Hunter drehte sich um und sah sie überrascht an.

»Tun Sie es«, drängte sie ihn. »Zögern Sie nicht länger. Sonst ist es vielleicht zu spät. Comprende?«

Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, doch Hunter machte große Augen. »Ja«, sagte er langsam.

»Warten Sie, ich habe etwas, das Ihnen vielleicht hilft.« Die Frau verschwand im Hinterzimmer und tauchte mit etwas auf, das aussah wie eine große Samenschote. »Sie wissen, was man damit machen muss?«, fragte sie.

»Ja«, sagte Hunter noch einmal, und sein Gesicht wurde blass. »Danke.«

»Hasta luego, chica«, rief sie mir zu, als wir gingen.

»Was war das denn?«, fragte ich, kaum waren wir draußen.

Hunter fasste mich am Arm und führte mich nach Westen Richtung Hudson River. »Sie ist mit Killian befreundet«, erklärte er. »Sie hat versucht, ihm zu helfen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie ihm gesagt hat, er solle sich in dem Haus in Chelsea verstecken. Die Kirche gegenüber von dem Haus ist nämlich Unserer Lieben Frau von Guadalupe geweiht.«

»Aber worüber hat sie am Schluss gesprochen?«

Er schwieg fast einen ganzen Block lang. Schließlich sagte er: »Sie ist sehr einfühlsam. Sie kann die tiefen Ängste und Sorgen der Menschen aufspüren.«

»Das ist mir auch schon aufgefallen.« Ich dachte daran, was sie im Club zu mir gesagt hatte. »Und?«

»Und … sie hat meine Besorgnis um meine Mutter und meinen Vater gespürt. Sie hat mir eine sichere Möglichkeit gegeben, mit ihnen Kontakt aufzunehmen – glaube ich jedenfalls. Hiermit.« Er senkte den Blick auf die Samenschote.

»Wie funktioniert das?«, fragte ich.

»Indirekt, wenn ich es recht verstehe«, antwortete Hunter. »Ich habe noch nie eine benutzt – sie sind eine Spezialität lateinamerikanischer Hexen. Sie hat eine ähnliche Funktion wie eine Flaschenpost, aber sie ist mit einem einfachen Suchspruch belegt, um die Person ausfindig zu machen, die man erreichen möchte. Für den Fall, dass jemand mich im Visier hat, ist der magische Spruch so schlicht, dass die Schote ihm mit ein wenig Glück entgeht. Der Nachteil bei einem so schwachen magischen Spruch ist, dass die Botschaft eine Weile brauchen könnte, um ihr Ziel zu erreichen – und unterwegs kann alles Mögliche passieren.« Er atmete tief ein. »Aber ich muss es versuchen.«

»Bist du dir sicher?«, fragte ich zögernd. »Ich meine, der Rat hat gesagt, du sollst es ihm überlassen. Ich bin zwar nicht der größte Fan des Rats, aber vielleicht hat er in diesem Punkt recht. Es scheint zu gefährlich zu sein, es allein zu machen.«

»Der Rat hatte auch keinen Erfolg«, sagte Hunter. »Und mich beschleicht das Gefühl, dass die Zeit knapp ist und dass ich jetzt Kontakt zu meinen Eltern aufnehmen muss. Ich hoffe, ich täusche mich, aber ich traue mich nicht, noch länger zu warten, um am Ende festzustellen, dass ich recht hatte.«

Als wir uns dem Fluss näherten, frischte der Wind auf. »Hier lang«, sagte Hunter und führte mich zu einem kleinen Landungssteg. Zur Landseite gab es ein Eisentor mit einem Schloss, doch Hunter belegte es mit einem magischen Spruch, und es sprang auf. Wir gingen durch das Tor und schoben uns an einer Reihe von Fässern und Holzkisten vorbei.

Hunter kniete sich ans Wasser, das eine glatte bleigraue Fläche bildete. Behutsam öffnete er die Schote. Ich sah zu, wie er Sigillen zeichnete, die zart in der Luft glitzerten, bevor sie in der Schote verschwanden. Er sang ein langes gälisches Lied, das ich noch nie gehört hatte. Dann schloss er die Samenschote und hüllte sie in weitere magische Sprüche ein. Schließlich warf er sie in den Fluss. Wir sahen zu, wie sie einige Augenblicke auf der Wasseroberfläche hüpfte. Ich schnappte nach Luft, als sie schließlich untertauchte.

Hunter nahm meine Hand, und ich versuchte, ihm etwas von meiner Kraft abzugeben. »Ich habe getan, was ich konnte«, sagte er. »Jetzt bleibt mir nichts, als zu warten … und zu hoffen.«