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Blendwerk

15. Juli 1981

Ich schreibe dies auf der Fähre, die die Irische See überquert. Ich gehöre einer Delegation von Liathach an, die in den Westen Irlands reist, in das Dorf, in dem ich geboren wurde, Ballynigel. Wir sind als Clansleute unterwegs, um dem Belwicket-Hexenzirkel einen Besuch abzustatten. Ich erinnere mich überhaupt nicht an sie. Ich bin sehr neugierig, einen Woodbane-Hexenzirkel zu sehen, der vor mehr als hundert Jahren dem Bösen abgeschworen hat. Weiße Magie oder schwarze, Woodbanes haben weder die eine noch die andere je gefürchtet. Wie Belwicket die Hälfte unserer uralten, lebenswichtigen magischen Kräfte aufgeben konnte, kann ich einfach nicht begreifen. Doch deswegen fahren wir ja hin. Und wir werden sehen, ob sie in Ballynigel stark genug sind, um uns zu widerstehen. Wir können und werden keinen Widerstand dulden. Wenn wir auf welchen stoßen … es hat Gerede über die dunkle Welle gegeben.

Mutter steht mit Greer am Bug, wahrscheinlich tratschen sie über die Kinder. Die beiden Großmütter sind verrückt nach Iona, die ja auch wirklich ein süßes kleines Ding ist, auch wenn sie genauso viel Ärger macht wie ihr Bruder Kyle. Ich betrachte es als gutes Zeichen, dass Greer mich eingeladen hat, an dieser Mission teilzunehmen. Endlich lässt sie mich in Liathachs inneren Kreis von Führern ein.

Grania wollte natürlich nicht, dass ich gehe. »Du kannst mich doch nicht mit zwei kleinen Kindern allein lassen«, sagte sie immer wieder. Doch ich kann es und ich tue es auch. Ich träume immer noch den Traum, und ich sehne mich danach, Ballynigel wiederzusehen.

– Neimhich

Ich schaute hinauf zum Wintermond und spürte, wie ich von meiner magischen Kraft durchdrungen wurde, frei von Fragen, ob ich sie missbraucht hatte oder ob ich es wert war, dass Cal sein Leben für mich geopfert hatte. Es war, als wäre meine Welt still und leise in eine perfekte Balance geraten. Ein paar Meter weiter stand der dunkelhaarige Mann und schwieg. Er hatte mich kein einziges Mal angesehen, doch ich empfand eine seltsame Verbindung zwischen uns, sicher und stark, als hätte er mir ein Seil zugeworfen.

Wo bist du? Hunters magische Botschaft ließ mich beinahe zusammenzucken. Zögernd stand ich auf. Der Mann nickte, wie um mir zu zeigen, dass er mitbekam, dass ich ging, doch er sagte immer noch kein Wort. Mit dem Gefühl, ein seltsames, aber schönes Geschenk erhalten zu haben, ging ich zurück in den Club.

Meine Freunde hockten auf einer halbrunden Ledercouch im Barbereich. Die großspurige Hexe, mit der Raven getanzt hatte, saß neben ihr am Couchende.

Sky schaute auf, als ich näher kam. »Morgan, das ist Killian«, sagte sie in absolut neutralem Tonfall, und ich fragte mich, ob ich etwas verpasst hatte.

Killian schenkte mir ein Grinsen, reichte mir die Hand und sagte: »Entzückt.«

Hunter machte mir neben sich Platz. Killians dunkle Augen huschten zwischen uns hin und her. Merkte er, dass ich mich gleich viel lebendiger fühlte, wenn ich neben Hunter saß?

Bree maß Killian mit einem berechnenden Blick. »Du bist also auch Brite?«, fragte sie.

»Ja, wir sind überall in New York – eine verdammte Plage«, gestand er vergnügt.

Sein Akzent klang anders als der von Hunter und Sky. Ich war froh, als Robbie fragte: »Aus welchem Teil von England?«

»Oh, ich bin durch das ganze verdammte Vereinigte Königreich gekommen. Geboren wurde ich in Schottland, in London bin ich zur Schule gegangen, habe eine Zeit lang in Irland gelebt, außerdem Sommerferien in Wales und auf den Shetlands. Und überall regnet es zu viel. Ich bin immer noch feucht.« Er hielt mir den Arm unter die Nase. »Siehst du das Moos?«

Ich musste unwillkürlich lachen. Ich mochte ihn. Er hatte eindeutig was. Seine Züge waren nicht vollkommen, wie die von Cal etwa, und er besaß nicht Hunters klassischen, wie gemeißelten Knochenbau, doch er war energiegeladen und hatte etwas Wildes, fast Animalisches an sich. Ich überlegte, welchem Clan er angehörte. Doch ich wusste, dass ich ihn das nicht fragen konnte. Diese Frage galt unter Hexen als äußerst aufdringlich.

Killian stand auf. »Ich hole mir ein Bier. Möchte sonst noch jemand eins?«

»Du bist schon einundzwanzig?«, fragte ich überrascht, denn er sah nicht älter aus als wir.

»Fast zwanzig«, gestand er mit einem Grinsen. »Aber ich altere gut.« Während er das sagte, zeichnete er etwas in die Luft, und sein Gesicht wurde weicher und voller. Linien überzogen seine Stirn und zwischen den Augenbrauen hatte sich eine Falte gebildet. Jeder würde denken, er gehe auf dreißig zu. »Also, möchte jemand Bier, Wein, Scotch?«

»Ich nehme auch ein Bier«, sagte Raven hingerissen.

»Eine Sprite wäre toll«, sagte Robbie.

»Sprite. Kommt sofort«, sagte Killian freundlich, doch ich spürte Hohn.

»Er ist gut«, sagte Bree, als sich Killian zur überfüllten Bar begab.

»Nichts als Blendwerk«, sagte Sky wegwerfend. »Eine optische Täuschung.«

Bree sah mich an. »Was hältst du von ihm?«

Ich zuckte die Achseln, denn ich wusste nicht recht, was ich antworten sollte. Einerseite konnte ich nicht anders, als ihn zu mögen, seine fröhliche Respektlosigkeit und die Tatsache, dass er Spaß daran zu haben schien, einfach Killian zu sein. Doch er hatte auch etwas an sich, was mich beunruhigte, etwas Gefährliches in seinem rohen, animalischen Schwung. Hinzu kam, dass mich, als er sein Blendwerk gewirkt hatte, der reine Neid überkommen hatte. Ich wusste, dass ich genügend magische Kraft besaß, um solche Magie zu wirken, doch meine mangelnde Erfahrung hielt mich zurück. Alyce wusste nicht, wie man Blendwerk wirkte, und ich auch nicht.

Hunter bedachte mich mit einem seltsamen Blick. »Was ist los?«

»Ich weiß nicht.« Ich rutschte auf dem Sitz herum, genervt über mich selbst, dass ich so ein Konkurrenzgetue an den Tag legte. Ein guter Wiccaner könnte sich einfach über Killians magische Kräfte freuen.

»Ich weiß nicht recht, ob ich ihm traue«, sagte Hunter nachdenklich. Er warf einen Blick auf Killian, der gerade die zwei Bier und Robbies Sprite bestellte.

Raven zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch durch die Nase in unsere Richtung. »Was ist eigentlich euer Problem?«, fragte sie. »Killian gibt ein bisschen an mit seiner Magie, na und? Das heißt doch nur, dass er anders ist.«

»So kann man es auch nennen«, sagte Sky bissig.

Da kam Killian zurück – das Blendwerk hatte er wieder aufgelöst – und reichte Robbie und Raven ihre Getränke. »Wie lange seid ihr in der Stadt?«, fragte er Raven.

Sie wollte antworten, wurde jedoch von einem warnenden Blick von Hunter aus dem Takt gebracht. »Ähm, wissen wir noch nicht so genau«, sagte sie.

»Dann sehen wir uns wieder?«, hakte er nach.

»Vielleicht«, antwortete sie und warf einen raschen Blick auf Sky, als wollte sie fragen: Wie weit lässt du mich noch gehen?, bevor sie hinzufügte: »Warum gibst du mir nicht deine Nummer?«

Er sah sie mit großen Augen an. »Nicht zu fassen, aber ich bin bei Freunden zu Besuch und hab die Nummer nicht im Kopf. Wie wär’s, wenn du mir deine gibst?«

Das war eine offenkundige Lüge, und ich fragte mich, wieso er sie überhaupt erzählte, wo er sich doch nicht die geringste Mühe gab, sie überzeugend rüberzubringen. Ich spürte, dass Sky allmählich überkochte. Raven spürte es wohl auch, denn sie zuckte die Achseln, trank einen Schluck Bier und stand auf. »Geht mir genauso«, sagte sie. »Ich kann mich nicht erinnern. Dann sieht man sich wohl, wenn man sich sieht.«

Killian streckte die Hand nach ihr aus, zog sie an sich und gab ihr schnell einen Kuss, hart an der Grenze zwischen Freundschaft und Anmache.

Erschrocken schaute ich zu Sky. Ihr Gesicht war starr, ihre Naseflügel bebten.

»Raven, wir gehen jetzt«, sagte Hunter laut.

Raven sah Killian an und zuckte die Achseln. »Ich muss.«

Er zog seine dunklen Augenbrauen hoch. »Wirklich?«

»Ja, wir müssen«, sagte Hunter. Wir holten unsere Mäntel, verließen den Club und traten hinaus in die Kälte.

Wir machten uns auf den Weg zum Apartment. Sky und Raven gingen voraus und schufen eine eisige Distanz zwischen sich und uns. Robbie legte Bree einen Arm um die Schulter, beide sagten nichts, sondern gingen in verträglichem Schweigen die Straßen hinunter. Welches Auf und Ab der Abend ihnen auch beschert hatte, sie schienen ihn auf einem Aufwärtstrend zu beenden.

Hunter schwieg ebenfalls; er ging so langsam, dass wir nach ein oder zwei Blocks hinter Robbie und Bree zurückfielen. »Denkst du an deinen Auftrag?«, fragte ich.

Er nickte abwesend.

Wie konnte er sich so intensiv auf etwas so Nebulöses, so Ungeformtes konzentrieren? Ich könnte das nicht – erst recht nicht in seiner Nähe. Die vertraute Unsicherheit überkam mich. Liebte er mich überhaupt? Er hatte es mir nie gesagt.

Natürlich liebt er dich, sagte ich mir. Er trägt es nur nicht so vor sich her wie Cal.

Plötzlich war ich traurig und zog die Jacke enger um mich. Über uns strahlten weiße Sterne am klaren schwarzen Nachthimmel. Der Mond war fort, irgendwo hinter der Skyline von Manhattan untergegangen.

»Kalt?«, fragte Hunter und zog mich an sich.

»Ich weiß nicht, ob ich da noch mal hinwill«, sagte ich. »Die ganze Magie, die da durch die Luft schwirrte, war mir fast zu viel.«

»Stimmt, es war sehr intensiv. Aber es ist gut, sich sehr viel Magie auszusetzen, die aus verschiedenen Quellen kommt. Außerdem trägt es zu deinem Allgemeinwissen bei, denn es hilft dir, schwarze Magie zu erkennen und damit umzugehen. Was, wie du weißt, für dich besonders wichtig ist.«

Mir wurde eng um die Brust. Wir hatten schon öfter als einmal darüber gesprochen – über die Tatsache, dass Selene einer größeren Verschwörung angehört hatte und ihr Tod wahrscheinlich nicht hieß, dass ich jetzt in Sicherheit war. Andere Mitglieder ihres Hexenzirkels oder andere Splittergruppen konnten mir immer noch gefährlich sein. Den Rest meines Lebens werde ich mir über die Schulter blicken, dachte ich trübsinnig.

Unter einer Straßenlaterne blieb Hunter stehen und hielt mich fest. Das Licht warf so harte Schatten über sein Gesicht, dass seine Wangenknochen rasiermesserscharf hervortraten. »Mach dir keine Sorgen«, sagte er sanft. »Ich passe auf dich auf. Und du kannst auch ziemlich gut auf dich selbst aufpassen, weißt du. Außerdem – falls Amyranth überhaupt von dir weiß, dann wissen sie auch, dass du im Augenblick ganz im Fokus des Rats stehst.«

Ich dachte an Killian. »Vielleicht sollte ich die Kunst der magischen Verstellung erlernen.«

»Das ist das Mindeste.« Hunter sah mich stirnrunzelnd an. »Warum bist du überhaupt so scharf darauf, Blendwerk zu wirken? Ich habe es heute Abend in deinen Augen gesehen. Die sind ganz rund geworden vor Neid, als Killian seinen kleinen Taschenspielertrick vorgeführt hat.«

»Das ist nicht nur Neid«, sagte ich und überlegte laut. »Es ist das Wissen, dass ich die magische Kraft besitze, wie diese anderen Hexen zu sein, außer dass ich nicht weiß, wie ich meine Kraft nutzen soll. Es ist, als würde man den Schlüssel zu einem fantastischen Haus in die Hand gedrückt bekommen, in dem die wunderschönen Zimmer alle hell erleuchtet sind, aber man weiß nicht, wie man den Schlüssel ins Schloss bekommt.«

»Ist das schlimm?«, fragte er. »Du praktizierst Wicca erst seit zweieinhalb Monaten. Um zu lernen, wie man Magie richtig wirkt, braucht man ein ganzes Leben.«

O Göttin, ich konnte es nicht mehr hören! Ich setzte mich wieder in Bewegung.

Hunter fasste mich am Arm und zog mich an sich. »Morgan. Du weißt, ich will, dass du den Schlüssel ins Schloss stecken lernst, nicht wahr? Ich will dich nicht daran hindern, das wunderschöne Haus zu betreten. Ich möchte, dass du deine magische Kraft ganz entwickelst und die Magie in dir voll ausschöpfen lernst.« Er streichelte mein Gesicht und ich trat auf ihn zu. »Ich will nur nicht, dass du oder sonst jemand auf dem Weg dahin verletzt wird.«

»Ich weiß«, flüsterte ich, als er sanft den Kopf zu meinem hinunterbeugte. Dann legte er seine Arme um mich, unsere Lippen berührten sich, und ich spürte, wie die ganze Anspannung des Abends sich auflöste. Ich öffnete mich Hunter, und es war, als würde sich ein Fluss aus saphirblauem Licht in mich ergießen, als würde er mich in seiner Magie und seiner Liebe baden. Ich spürte, wie mein Herz sich öffnete und meine magische Kraft sich rührte, durch meinen Körper strömte und sich mit seiner verflocht. Es fühlte sich an, als wäre dieser Fleck auf dem Gehweg in Manhattan der Mittelpunkt des Universums, und die Nacht und die Sterne würden sich nur um uns drehen. In diesem Augenblick, an diesem Ort, hegte ich keine Zweifel, keine Unsicherheiten.

Liebe, dachte ich. Die absolute Magie.

Hunter und ich waren die Letzten, die zurück ins Apartment kamen. Robbie war in der Küche, wo er eine Tüte Popcorn in eine Schüssel gab, Bree holte Laken und Decken aus dem Wäscheschrank, und Sky und Raven standen an gegenüberliegenden Enden des Wohnzimmers. Mr Warren war nirgends zu sehen.

Als ich meine Jacke aufhängte, schaute Robbie auf seine Uhr. »Wo wart ihr zwei?« Er klang wie ein tadelnder Vater.

»Wir … haben uns ein bisschen verlaufen«, sagte Hunter und warf mir ein schnelles, heimliches Lächeln zu, bei dem sich die Farbe auf meinen kalten Wangen noch ein wenig vertiefte.

Raven nahm sich eine Handvoll Popcorn. »Und wer schläft jetzt wo?«, fragte sie.

Niemand antwortete. Sky starrte aus dem Fenster, Robbie konzentrierte sich ganz auf das Popcorn, und Bree murmelte etwas von Kopfkissenbezügen und wandte sich wieder dem Wäscheschrank zu.

Hunter sah mich mit seinen grünen Augen an, und ich wandte den Blick ab, wieder ganz schüchtern. War es möglich, dass wir am Ende im selben Bett landen würden? Selbst wenn, ich war mir ziemlich sicher, dass wir nicht groß rummachen würden, dazu war es in der Wohnung einfach zu eng. Insgeheim war ich erleichtert. Ich war noch nicht so weit. Doch mein Herz schlug heftig bei dem Gedanken, neben Hunter zu liegen und ihn im Schlaf zu berühren. Ich sehnte mich danach, ein paar friedvolle Stunden mit ihm zu verbringen, ohne Gedankenkuddelmuddel. Ich sehnte mich danach, in seinen Armen aufzuwachen.

Ich fragte mich, was Bree und Robbie wollten. Sie schienen gerade gut klarzukommen, doch ich konnte nicht vergessen, was Bree im Supermarkt gesagt hatte.

Endlich räusperte sich Bree, die Arme voll Bettwäsche. »Also, die Couch im Wohnzimmer lässt sich zum Doppelbett ausziehen. Das Bett im Gästezimmer ist ein Rollbett, da ist also eine zweite Matratze drunter, und im Arbeitszimmer steht ein Schlafsofa.« Sie setzte ein übertrieben strahlendes Lächeln auf, das mir verriet, dass sie genauso nervös war wie ich.

Raven schnaubte ungeduldig. »Bringen wir es hinter uns. Wie wollen wir uns aufteilen?«

Wieder antwortete niemand. Schließlich ergriff Hunter das Wort. »Also, ich sehe es so, dass es sehr nett ist von Mr Warren, uns hier übernachten zu lassen. Was auch immer wir tun, es sollte ihn nicht vor den Kopf stoßen.«

Brees Blick verharrte in einer Mischung aus Begehren und Bedauern auf Robbie. »Ich bin mir nicht sicher, ob mein Vater überhaupt mitbekommt, was wir machen«, gestand sie, »aber wahrscheinlich ist es eine gute Idee, es nicht darauf ankommen zu lassen. Es ist wohl besser, Mädels und Jungs zu trennen.«

Ich hatte Mühe, mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, und sagte mir, Bree und Hunter hätten recht.

»Robbie und ich können das Arbeitszimmer nehmen«, schlug Hunter vor.

Robbie ging zu dem Haufen Taschen im Wohnzimmer und holte seinen Rucksack und einen kleinen grünen Packsack. »Luftmatratze«, erklärte er.

»Morgan und ich können das Gästezimmer nehmen«, sagte Bree. »Da schlafe ich sowieso, wenn ich hier bin.«

»Klingt gut«, sagte ich, überrascht und froh, dass Bree mich zu ihrer Zimmergenossin gewählt hatte.

»Das heißt, Sky und ich nehmen das Wohnzimmer«, sagte Raven.

»Ich glaube, ich gehe noch eine Runde spazieren«, sagte Sky. »Warte nicht auf mich.«

Raven starrte sie ungläubig an. »Ach, komm schon! Nicht zu fassen, dass du immer noch sauer bist. Ich habe doch nur mit ihm geflirtet. Völlig harmlos.«

»So hat es aber nicht ausgesehen«, entgegnete Sky mit gepresster Stimme.

Raven verzog das Gesicht. »Oh, Jesus.«

»Also, dann machen wir es anders«, sagte Hunter müde. »Robbie und ich können auf der Klappcouch im Wohnzimmer schlafen. Dann kann Sky das Arbeitszimmer haben.«

»Und ich?«, wollte Raven wissen, eine Hand in die Hüfte gestemmt.

Bree nahm Robbie die Luftmatratze ab. »Du kannst bei Morgan und mir im Gästezimmer schlafen«, sagte sie. »Ehrlich, das wird total gemütlich.«

»Wunderbar«, meinte Hunter. »Dann sind doch alle glücklich.«

Ich ging nicht davon aus, dass irgendjemand das wirklich glaubte, aber wir wandten uns alle unseren zugeteilten Schlafstätten zu.

Die nächste Viertelstunde waren Bree, Raven und ich damit beschäftigt, die Luftmatratze aufzublasen und alle drei Betten mit Laken und Bettzeug zu versehen. Ich kämpfte gegen ein niederschmetterndes Gefühl der Enttäuschung an. Wie war mein romantischer Ausflug mit Hunter zu einer Pyjama-Party mit den Mädels geworden?

Bree nahm einen Bademantel von dem Haken hinter der Tür, erklärte, sie würde duschen gehen, und ließ mich mit Raven im Gästezimmer zurück. Ich holte mein Nachthemd aus meinem Rucksack. Es war ein schlichtes weißes Nachthemd, über der Brust gerade geschnitten und mit dünnen Bändchenträgern. Eigentlich war es Mary K.s, sie hatte es mir geliehen. Ich besaß nicht einmal ein Nachthemd.

»Nimm das mit«, hatte Mary K. mir versichert. »Vertrau mir, Hunter wird es gefallen.«

Und jetzt bekommt er es nicht mal zu sehen, dachte ich grimmig.

Raven hatte ein weites schwarzes T-Shirt mit ausgeschnittenem Hals und Ärmeln angezogen. Sie hockte auf der Luftmatratze und musterte den schwarzen Lack auf ihren Zehennägeln. »Sky kann manchmal ganz schön bescheuert sein«, murmelte sie.

»Vielleicht«, meinte ich. »Aber ich glaube, es war hart für sie, dich mit Killian flirten zu sehen.«

Raven schnaubte. »Sie weiß doch, dass das nichts bedeutet.«

»Und warum ist sie dann so ausgeflippt?«

»Keine Ahnung«, antwortete Raven gereizt.

Wie weit sollte ich dieses Gespräch bringen? Auch wenn wir demselben Hexenzirkel angehörten, waren Raven und ich doch nie Freundinnen gewesen. Sie ging in die Abschlussklasse und hing mit viel härteren Leuten rum als ich. Die Vorstellung, dass ich, die insgesamt erst zwei Jungen geküsst hatte, Raven Meltzer Rat in Liebesdingen gab, war einfach lächerlich.

Ich bürstete gerade meine Haare, als Raven sagte: »Also, spuck’s aus, wie lautet deine Theorie? Über Sky, meine ich.«

Okay, es war eindeutig ein seltsamer Abend. Ich wählte meine Worte vorsichtig. »Sky liegt sehr viel an dir und du hast sie gekränkt. Ich glaube, ihre Kälte ist eine Reaktion darauf, verletzt worden zu sein. Wenn ich du wäre, würde ich ihr noch eine Chance geben«, sagte ich. Und bevor die Situation noch abgedrehter werden konnte, schnappte ich mir meine Zahnbürste und ging zum Bad. Robbie stand davor und lauschte dem Rauschen der Dusche. Hieß das, Hunter war allein im Wohnzimmer? Ich war nicht mutig genug, zu fragen.

»Bree ist noch drin«, berichtete Robbie und verdrehte die Augen. »Ich glaube, sie wäscht sich jede Haarsträhne auf ihrem Kopf einzeln.«

»Kein Problem, ich warte.« Plötzlich kam mir eine waghalsige Idee. »Robbie … was hältst du davon, später heimlich mit mir die Plätze zu tauschen?«

Robbie zog die Augenbrauen hoch. »Morganita, du Schlitzohr!«

»Nicht für die ganze Nacht oder so, aber vielleicht für ein Stündchen?«

»Ich weiß nicht«, sagte Robbie. »Du kriegst eine Stunde mit Hunter und ich kriege eine Stunde mit Bree und Raven.«

»Wir warten bis eins«, sagte ich. »Dann schlafen bestimmt alle. Du kannst einfach zu Bree ins Bett schlüpfen. Raven braucht es gar nicht mitzukriegen.«

Robbie sah mich zweifelnd an. »Und wenn Raven wach wird?«

»Dann erklärst du ihr, du wärst schlafgewandelt und ins falsche Zimmer getappt.«

»Ja, sehr glaubwürdig.«

»Ach, komm schon, Robbie. Bitte.«

»Scht«, flüsterte er. »Okay, ich mach’s.«

Mein Herz setzte einen Schlag aus, als Hunter sich mit der Zahnbürste in der Hand zu uns gesellte. Er trug ein langärmeliges schwarzes T-Shirt über einer grauen Sweathose, die nur betonte, wie groß und schlank er war.

Ich fühlte seinen Blick auf mir, wie er das weiße Nachthemd und meine Haare, die offen und frisch gebürstet waren, betrachtete, und da wusste ich, dass Mary K. recht gehabt hatte. Ich spürte, wie Hunters Sinne sich nach mir ausstreckten, mich wollten, mich an ihn zogen.

Robbie merkte wohl, wie es zwischen uns knisterte. »Ich gehe mal in die Küche«, sagte er. »Aber wenn Bree jemals aus dem Bad kommt, bin ich der Erste.«

Weder Hunter noch ich sagten etwas, bis Robbie weg war. Dann trat Hunter dicht vor mich. »Du siehst wunderschön aus«, meinte er heiser.

»Danke. Ähm … du auch.« Was war ich mal wieder eloquent. Lächerlicherweise zitterten meine Hände ein wenig, und ich verschränkte die Arme, damit er es nicht merkte. Ich überlegte hin und her, ob ich ihn in Robbies und meinen Plan einweihen sollte. Doch bevor ich den Mut aufbrachte, ergriff er hastig das Wort.

»Glaubst du, ich könnte dich überreden, heute Nacht ein Weilchen mit Robbie die Betten zu tauschen?«, fragte er. Ich hörte die Sorge in seiner Stimme, die Angst, ich könnte Nein sagen, und ich liebte ihn so, so sehr.

»Ich habe ihn schon gefragt«, sagte ich mit hämmerndem Herzen.

Hunter stieß die Luft aus und grinste. In seinen Augen tanzten smaragdgrüne Lichter. »Zwei Dumme …«, sagte er und neigte den Kopf, um mich zu küssen. In dem Augenblick ging die Badezimmertür auf und eine Dampfwolke quoll heraus.

»Huch«, sagte Bree.

Hunter und ich lösten uns voneinander. »Robbie«, rief ich, dankbar dafür, dass der Dampf meine roten Wangen verhüllte. »Das Bad ist frei.«

Eine Stunde später lagen wir alle in den Betten. Ich war viel zu aufgeregt, um überhaupt an Schlaf zu denken. In regelmäßigen Abständen warf ich die Sinne aus und identifizierte die Muster der Menschen in der Wohnung. Bree schlief, Raven und Sky ebenso. Hunter und Robbie waren hellwach.

Schließlich war es ein Uhr. Ganz leise, um Bree und Raven bloß nicht zu wecken, schlich ich hinaus. Im Wohnzimmer brannte eine Kerze. Hunter und Robbie saßen an den gegenüberliegenden Enden der Couch und warteten auf mich.

»Ist Bree …«, flüsterte Robbie.

»Sie schläft«, antwortete ich. »Sei vorsichtig und erschreck sie nicht. Irgendwelche Anzeichen von Mr Warren?«

Hunter schüttelte den Kopf. »Bis jetzt nicht.«

Ich war mir deutlich bewusst, dass er nur ein paar Schritte von mir entfernt war. Mein Herz schlug schneller, und ein komisches Gefühl der Vorerwartung – eine Mischung aus Freude und einer Prise Unsicherheit – machte sich in mir breit. Ich wartete, bis Robbie gegangen war, dann setzte ich mich neben Hunter.

»Ich hatte schon Angst, du würdest nicht kommen«, sagte er und legte eine Hand auf meine. »Ich dachte, du wärst eingeschlafen.«

»Beinahe«, sagte ich neckend.

»Ehrlich?«

»Nein«, gestand ich und fühlte mich plötzlich verwundbar und unsicher. Wieder ging mir durch den Kopf, dass Hunter nie gesagt hatte, er liebe mich, obwohl ich ihm gesagt hatte, dass ich ihn liebte. Lag das daran, dass er ein Kerl war und es nicht über die Lippen brachte? Oder empfand er einfach nicht so? Hunter war übertrieben ehrlich, und ich war mir sicher, dass ihm etwas an mir lag. Aber vielleicht war er nicht verliebt und hatte es deswegen nie gesagt. Hatte Bree etwa recht, was die Liebe anging? Vielleicht würde Hunter mir das Herz brechen und es mir in kleinen Scherben zurückgeben.

Vielleicht sollte ich nicht hier sein, dachte ich in einem Anflug von Panik. Vielleicht sollte ich zurück in mein Bett gehen und nichts anfangen, womit ich nicht umgehen kann.

Da drehte Hunter meine Hand um und streichelte zärtlich die Innenseite meines Arms. Die Berührung ließ ein Kribbeln durch meinen ganzen Körper wandern.

»Du warst wie eine Vision, weißt du«, sagte er mit tiefer, leiser Stimme, »wie du da im Flur standst in diesem unschuldigen Nachthemd, mit schimmernden Haaren und in der Hand ausgerechnet eine Zahnbürste. Ich wäre am liebsten mit dir durchgebrannt.«

»Ehrlich?«, flüsterte ich. »Wohin?«

»Keine Ahnung. So weit habe ich nicht gedacht.« Er strich mir eine Strähne aus dem Gesicht. »Weißt du, ich habe nie an der Entscheidung gezweifelt, Sucher geworden zu sein. Es kam mir immer folgerichtig vor, Schicksal. Doch in letzter Zeit …« Seine Stimme verlor sich mit einem sehnsuchtsvollen Unterton.

»Was ist in letzter Zeit?«

»In letzter Zeit wünschte ich mir, ich könnte mal eine Pause machen. Ich würde mich gern mit dir ein Weilchen verkrümeln.«

Mein Herz schlug wie eine Trommel. Ich bemühte mich verzweifelt darum, nicht abzuheben, sondern realistisch zu bleiben. »Meine Eltern wären wahrscheinlich nicht gerade begeistert.«

»Richtig. Eltern«, sagte er. »Sie würden das hier wahrscheinlich auch nicht gut finden.« Er küsste meinen Hals.

Ein Frösteln nach dem anderen überkam mich. Die Energie, die zwischen uns floss, fühlte sich stark an, richtig und gut. Ich wollte nicht mehr davor weglaufen. Nie mehr. Behutsam hob ich seinen Kopf, damit ich ihn küssen konnte. Er schlang die Arme um mich.

Zuerst waren unsere Küsse zart und sanft, als würden wir uns gerade kennenlernen. Hunters Hand strich über mein Nachthemd, streichelte meine Taille, meine Hüfte. Jeder Zentimeter meiner Haut flammte auf vor Begehren. Mit jeder Zelle strömte ich Hunter zu. Ich schob die Hand unter sein T-Shirt und berührte die zarte Haut über seinen harten Brustmuskeln. Behutsam drückte er mich nach hinten, bis wir auf der ausgeklappten Couch lagen. Einen Augenblick verharrte er, und ich sah sein Gesicht in dem Licht, das vom Fenster hereinfiel, intensiv wie immer. Doch diesmal war er ganz auf mich konzentriert. Seine Lippen suchten wieder die meinen, jetzt drängender, fordernder.

Doch dann unterbrach Hunter den Kuss ohne Vorwarnung.

»Was ist los?«, fragte ich atemlos.

»Spürst du ihn?«

Da spürte ich ihn tatsächlich: Mr Warren kam den Flur runter.

»Das geht nicht!«, stöhnte ich. »Das ist unfair.«

»Aber er kommt.« Hunter drückte mich mit einem Arm an sich. Mit der anderen Hand streichelte er mein Gesicht und küsste mich zärtlich. »Wir machen besser Schluss für heute.«

»Nein! Können wir keinen magischen Spruch wirken, damit er denkt, er hätte seine Schlüssel fallen gelassen und müsste zurück in die Tiefgarage oder …«

Hunter knuffte mich leicht. »Das weißt du ganz genau. Komm schon. Aber warn Bree und Robbie, bevor du reinplatzt.«

Mit einem Stöhnen stand ich auf. Ich hörte Mr Warrens Schritte im Flur. »Okay.« Ich beugte mich noch einmal hinunter und gab Hunter einen letzten Kuss. »Fortsetzung folgt«, versprach ich.