8
Spionieren
27. August 1981
Ich bin inzwischen schon fast wieder eine Woche in Schottland. Und es ist eine öde, farblose Landschaft. War ich hier je glücklich? Grania begrüßte mich mit einer ganzen Latte von Klagen an der Tür, die greinenden Blagen an den Schürzenbändern. Es hatte zehn Tage ununterbrochen geregnet, und das Dachstroh leckte, sodass das ganze Haus nach Moder roch. Oh, und die kleine Iona bekam einen Zahn, ob ich nicht eine Tinktur gegen die Schmerzen machen könnte? Es wundert mich, dass sie mich nicht gebeten hat, den Regen zu stoppen. Dabei besitzt Grania eigene magische Kräfte. Bevor die Kinder kamen, war sie eine vielversprechende Hexe. Doch jetzt gibt sie die Märtyrerin und an mir bleibt alles hängen. Ich war noch keine halbe Stunde zu Hause, da bin ich in den Pub gegangen und habe seither die meiste Zeit dort verbracht. Mein eigenes Heim ist mir unerträglich. Das Leben ohne Maeve ist unerträglich.
Doch die letzte Nacht war bisher die schlimmste. Die Kleinen waren krank: Kyle hat gefiebert, und Iona hat nichts bei sich behalten, was sie gegessen hat. Da Greer immer noch in Ballynigel ist, wurde ich gerufen, um ein Kreisritual zu leiten. Als ich nach Hause kam, kreischte Grania wie eine Hyäne. Wie konnte ich sie mit zwei kranken Kleinkindern alleinlassen? Läge mir denn gar nichts an meinen eigenen Kindern? Ich brachte es nicht über mich, zu lügen. »Nein«, antwortete ich. »Und an dir auch nicht, du fette Kuh.« Da schlug sie mich und beinahe hätte ich zurückgeschlagen. Doch ich sagte ihr nur, sie sei ein zänkisches Weib und eine Beleidigung fürs Auge. Darauf weinte sie, was mich natürlich nur noch rasender machte. Schließlich ging ich mit ihr ins Bett, bloß damit die Flennerei aufhörte. Es war schrecklich. Alles was ich mir wünschte, war, Maeve in den Armen zu halten.
Heute spielt Grania auf Teufel komm raus das Opfer, und ich wünschte, ich könnte ihrem jämmerlichen Geflenne ein für alle Mal ein Ende bereiten. Doch es würde mich den Hexenzirkel kosten. Sie ist immer noch Greers Tochter mit einer bestimmten ererbten Position hier, auch wenn sie noch so unverdient ist.
Ich habe so viel Zorn in mir, dass alles was ich sehe, in eine Aura aus flammendem Rot gehüllt ist. Ich bin zornig auf Maeve wegen ihrer selbstgerechten Zurückweisung. Zornig auf mich selbst, weil ich Grania geheiratet habe, wo ich doch hätte wissen müssen, dass Maeve da draußen ist und auf mich wartet. Und zornig auf Grania, weil sie das Pech hat, die zu sein, die sie ist.
Sie ist gerade hereingekommen, um mir zu sagen, dass sie von der Farce der ehelichen Vereinigung letzte Nacht schon spürt, dass ein Kind sich in ihr rührt. »Es wird ein Junge«, sagte sie, mit einer kranker Hoffnung in den Augen. »Wie sollen wir ihn nennen?«
»Wir nennen ihn Killian«, antwortete ich. Das bedeutet Zwist.
– Neimhich
Ich war dankbar, dass niemand in der Wohnung war, als ich zurückkam. Nach Robbies Anschuldigungen hatte ich immer noch Mühe, mich zu beruhigen. Nach dem Schock war Wut gekommen. Wie konnte er denken, ich hätte der alten Frau etwas getan? Wie konnte er mir so etwas Schreckliches vorwerfen? Ich hatte angenommen, dass Robbie stark genug wäre, um bei Dingen, die er nicht verstand, nicht gleich auszuflippen. Doch er war total hysterisch geworden. Er hatte nicht einmal zugehört, als ich versucht hatte, es ihm zu erklären.
Und doch hatte ich auch einen Hauch – mehr als einen Hauch – Schuldgefühle. An dem, was Robbie gesagt hatte, war etwas Wahres dran gewesen. Und ich hatte mein Versprechen Hunter gegenüber gebrochen.
Ich holte die Uhr heraus. Das goldene Gehäuse schimmerte weich im Licht, das durch die Wohnzimmerfenster hereinfiel. Ich zog die Krone mit dem Rubin heraus und drehte sie nach rechts. Sofort spürte ich den Widerstand der Feder. Ob sie nach so vielen Jahren noch funktionierte? Ja, ich hörte ein leises, gleichmäßiges Ticken.
War sie den ganzen Ärger wert gewesen?, überlegte ich und dachte an den Streit mit Robbie. Ja. Ich hatte die Uhr genauso wenig in der Wohnung lassen können wie damals Maeves Buch der Schatten in Selenes Bibliothek.
Ich setzte mich mit verschränkten Beinen auf die Couch und dachte nach. Ich würde Robbie nicht verlieren, sagte ich mir. Besonders jetzt nicht, da ich Bree gewissermaßen verloren hatte. Wir mussten uns beide nur beruhigen und wahrscheinlich mussten wir uns auch beide entschuldigen. Und Robbie musste begreifen, dass ich noch die alte Morgan war, der er vertrauen konnte.
Aber das bist du nicht, sagte eine Stimme in mir. Du bist eine Bluthexe, nur andere Bluthexen werden das je verstehen.
Wieder überlegte ich, warum ich die Uhr unbedingt hatte haben wollen. Nur weil Maeve sie sehr geliebt hatte? Oder übte die Tatsache, dass Ciaran – ihr mùirn beatha dàn, der Mann, der schließlich zu ihrem Mörder geworden war – sie ihr gegeben hatte, eine gewisse Faszination aus? Bei dem Gedanken an ihn verkrampfte sich unwillkürlich meine Kinnmuskulatur und ich musste mich zwingen zu entspannen.
Dann kribbelten meine Sinne. Hunter kam. Ich atmete ein paarmal tief durch, um mein uneiniges Herz zu beruhigen. Ich war noch nicht bereit, mit Hunter darüber zu reden. Erstens weil ich mir sicher war, dass er sich auf Robbies Seite schlagen würde, und zweitens weil ich wusste, es wäre ihm nicht recht, dass ich irgendetwas im Besitz hatte, was mich mit Ciaran verband.
Ich steckte die Uhr in die Tasche und ging zur Tür.
»Hey«, sagte ich, als er hereinkam. »Wie war dein Tag?«
Hunter zog mich an sich. »Spektakulär lausig. Und deiner?«
»So la la. Hast du das Gebäude gefunden?«
»Nein, noch nicht. Aber ich suche weiter. Ich wollte nur vorbeischauen und euch sagen, dass ich heute Abend nicht beim Kreisritual dabei bin.« Hunter zog eine blonde Augenbraue hoch. »Sonst noch jemand hier?«
»Nein. Nur du und ich.«
»Göttin sei Dank dafür«, sagte er. Er hielt mich eng umschlungen, und ich spürte die vertraute Verschiebung, als unsere Energien sich in vollkommener Gleichzeitigkeit aneinander anpassten. »Mhm«, sagte ich. »Das ist schön. Ich glaube, mir reicht’s erst mal mit der Gruppenerfahrung.«
Hunter lachte. »Hast du nicht damit gerechnet, dass wir einander auf die Nerven gehen, wenn wir auf so engem Raum zusammenleben? Versuch mal, in einem Hexenzirkel aufzuwachsen, wo alle seit dem Tag deiner Geburt deine Gefühle lesen können. Es gibt einen Grund dafür, dass es in New York nur so von Hexen wimmelt, die von zu Hause weggelaufen sind.«
Er zog seine Jacke aus, und wir gingen in die Küche, wo ich mir eine Cola light aus dem Kühlschrank holte.
Hunter zog die Nase kraus. »Wie kannst du nur dieses eklige Zeug trinken?«
»Es ist köstlich. Und nahrhaft.«
»Das glaubst aber auch nur du«, sagte er düster. »Ich stehe vor einer Backsteinwand, Morgan. Killian war hier und jetzt ist er fort. Ich habe … wie sagt man so schön? ›Halb New York durchpflügt‹ ist es nicht.«
»Die Straßen abgeklappert«, schlug ich vor.
»Wie auch immer. Keine Spur von ihm, nirgends. Es ist fast, als hätte er nie existiert.« Hunter füllte sich am Wasserhahn ein Glas Wasser. »Ich habe ihn mir doch nicht eingebildet, oder?«
»Wenn, dann hatten wir beide dieselbe arrogante Halluzination.«
Hunter zog einen Mundwinkel hoch. »Du fandst ihn nicht … attraktiv?«
»Nein«, sagte ich und erkannte äußerst überrascht, dass ich vollkommen ehrlich war und nicht versuchte, Hunters Gefühle zu schonen. »Ich mochte ihn. Ich fand ihn lustig. Aber er kam mir auch ganz schön selbstverliebt vor.«
»Ich persönlich finde ihn nervig, aber das heißt nicht, dass er es nicht wert ist, gerettet zu werden.«
»Sehr edel von dir«, neckte ich ihn, doch die Besorgnis in seinem Blick machte mir Angst. »Glaubst du, Amyranth hat ihn schon?«
Er antwortete nicht, doch seine Lippen wurden ganz schmal.
»Warum verschieben wir das Kreisritual nicht um einen Abend?«, schlug ich vor. »Wir könnten dir doch helfen, ihn zu suchen.«
»Nein«, antwortete Hunter ebenso rasch wie entschieden. »Besonders jetzt nicht, wo wir wissen, dass Ciaran die Finger mit im Spiel hat. Ich will dich nicht in die Nähe dieser Sache bringen.«
»Glaubst du, er weiß schon von mir? Ich meine, dass Maeve und Angus eine Tochter hatten?«
Hunter sah ganz unglücklich aus. »Gott, ich hoffe, nicht.«
Ich atmete ein paarmal tief durch und versuchte, gegen die Angst anzukämpfen, die mich beschlich.
Hunters Hand schloss sich um mein Handgelenk. »Ich muss bald weg. Aber vorher … komm mit. Lass uns … lass uns einfach ein Weilchen zusammen sein.«
Ich nickte. Wir gingen ins Gästezimmer und legten uns auf meine schmale Matratze. Ich ließ mich von Hunter entspannt in den Armen halten. Am liebsten hätte ich mich an ihn geklammert, um die Verzweiflung und die Angst, die mich bedrängten, abzuwehren. Am liebsten hätte ich ihn nie mehr losgelassen.
»Wir können uns nicht ewig aneinanderklammern, weißt du«, sagte er wie ein Echo auf meine Gedanken.
»Warum nicht?«, fragte ich. »Warum können wir nicht einfach hierbleiben und aufeinander aufpassen?«
Er drückte mir einen Kuss auf die Nasenspitze. »Zum einen bin ich Sucher. Zum anderen kann keiner von uns für die Sicherheit des anderen garantieren, so sehr wir uns das auch wünschen.« Er küsste mich wieder, diesmal auf den Mund, und ich spürte, wie sein Herz gegen meines schlug. Eines Tages, dachte ich, wenn das hier alles vorbei ist, können wir einander die ganze Zeit so halten: warm und nah.
Eines Tages.
Als ich mich umgezogen, Kerzen aufgestellt, Salz bereitgestellt und das Wohnzimmer mit dem Rauch von Zeder und Salbei gereinigt hatte, war Hunter fort und die anderen waren in die Wohnung zurückgekehrt.
Bree und Robbie hielten sich weiter auf Abstand, doch Sky und Raven waren zusammen aufgetaucht. Einkaufstüten wurden weggeräumt und Pläne für den späteren Abend diskutiert. Schließlich versammelten wir uns im Wohnzimmer zu unserem Kreisritual. Es war komisch ohne Jenna, Matt, Ethan, Sharon und die anderen Mitglieder von Kithic. Kurz überlegte ich, was sie wohl zu Hause in Widow’s Vale machten.
Da Sky die einzige initiierte Hexe unter uns war, würde sie den Kreis leiten. Doch zuerst erklärte ich auf Hunters Bitte hin allen die Situation mit Killian.
»Lasst uns einen magischen Spruch wirken, um Hindernisse aus dem Weg zu räumen und Hunter Kraft zu schicken«, schlug Sky vor.
Wir schoben die wenigen Möbelstücke an die Wand und rollten den Teppich auf. Mit Kreide zog Sky einen großen Kreis auf den Holzfußboden. In die vier Himmelsrichtungen stellte sie jeweils eines der vier Elemente: eine kleine Schale Wasser für Wasser, ein Räucherstäbchen für Luft, einen Kristall für Erde und eine Kerze für Feuer. Nacheinander betraten wir den Kreis und Sky schloss ihn hinter uns.
»Wir kommen zusammen, um Göttin und Gott zu ehren«, setzte sie an. »Wir bitten um ihre Hilfe und Führung. Möge unsere Magie rein und stark sein, und mögen wir sie nutzen, um denen in Not zu helfen.«
Wir reichten einander die Hände und konzentrierten uns ganz auf unseren Atem. Bree stand auf der einen Seite von mir, Robbie auf der anderen. Ich öffnete meine Sinne. Ich konnte die vertraute Präsenz der anderen spüren, ihren Herzschlag, und ich erkannte, dass sie mir alle sehr viel bedeuteten, selbst Raven. Der Kreis machte uns zu Verbündeten im Kampf gegen die Dunkelheit.
Langsam bewegten wir uns im Uhrzeigersinn. Ich spürte, wie die magische Kraft mich durchfloss. Aus der Erde und vom Himmel zog ich Energie herab.
Sky ließ uns die Rune Thorn visualisieren, die für die Überwindung von Widrigkeiten stand. Dann sangen wir ein Lied zum Beseitigen von Hindernissen. Der Kreis bewegte sich schneller. Ich spürte die Energie summen, aufsteigen, zwischen uns fließen und stärker werden. Skys blasses Gesicht war erleuchtet von der Reinheit der magischen Kraft, die sie leitete. Mit schwingenden Bewegungen zeichnete sie eine Sigille in die Luft, und ich spürte, wie sich die magische Kraft erhob und über den Kreis stieg.
»Zu Hunter«, sagte sie.
Abrupt veränderte sich die Luft. Das Surren der magischen Kraft war fort. Plötzlich waren wir nur ein Haufen Teenager, die in einem Wohnzimmer in New York City standen, statt die magischen Wesen, die wir noch vor wenigen Augenblicken gewesen waren.
»Gute Arbeit.« Sky klang zufrieden. »Setzt euch bitte alle einen Augenblick, um euch zu erden.«
Wir setzten uns auf den Boden.
»Das war heftig«, sagte Robbie.
Bree wirkte besorgt. »Woher wissen wir, dass die Energie tatsächlich zu Hunter ging und nicht von irgendwelchen Woodbanes weggeschnappt wurde?«
»Ich habe sie mit einer Schutzsigille gebunden, bevor ich sie losgeschickt habe«, antwortete Sky.
»Dann kann er Killian jetzt finden?«, fragte Raven.
Sky zuckte ihre schmalen Schultern. »Es gibt natürlich keine Garantie. Aber was wir gerade getan haben, hilft Hunter vielleicht ein wenig.« Sie sah sich in der Runde um. »Wir räumen besser auf.«
Die nächsten zwanzig Minuten räumten wir auf und besprachen, was jeder mit dem Rest des Abends anfangen wollte. Raven wollte in einen Club – aber diesmal in einen normalen Club, keinen Hexentreffpunkt –, während Robbie sich eine unbekannte Band anhören wollte, die in TriBeCa spielte, und Bree wollte in eine trendige Billardhalle in der Nähe des Battery Parks. Ich fragte mich natürlich, ob Hunter noch mal auftauchen würde, doch es kam mir erbärmlich vor, es auszusprechen. Und ich war müde. Vielleicht war es der Streit mit Robbie gewesen, vielleicht auch das Kreisritual, jedenfalls war ich richtig kaputt.
Wir waren immer noch dabei, einen Plan zu machen, als die Wohnungstür aufging – Hunter kam herein und zog Killian am Arm hinter sich her. Killian machte ein störrisches Gesicht, Hunter war genervt. Killian war eindeutig nicht aus freien Stücken mitgekommen.
Wir starrten die beiden wohl alle mit offenem Mund an, denn Killians Miene hellte sich plötzlich auf, und er meinte grinsend: »Ich bin echt phänomenal, was?«
»Geht es dir gut?«, fragte ich, denn ich brachte seine fröhliche Erscheinung nicht mit dem Killian in meiner Vision in Übereinstimmung.
»Tipptopp«, antwortete Killian. »Und selber?« Er zeigte mit dem Daumen auf Hunter. »Muss hart sein mit Mr Schwarzmaler hier. Nimmt einem ja die komplette Lebensfreude.«
»Halt den Mund und setz dich«, fuhr Hunter ihn an.
Killian holte sich zuerst etwas zu trinken aus dem Kühlschrank und ließ sich dann auf die Couch plumpsen.
»Er war in Chelsea«, sagte Hunter, »wo er sich in einem verlassenen Mietshaus versteckt hat.«
»Wer hat was von verstecken gesagt?«, protestierte Killian. »Ich wollte nur ein bisschen allein sein. Niemand hat dich gebeten, dich einzumischen, Sucher.«
»Wäre es dir lieber, dein Vater hätte dich zuerst gefunden?«, fragte Hunter gereizt.
Killian zuckte betont lässig die Achseln. »Warum sollte es mich stören, wenn mein Vater mich findet? Solange er mich nicht früh ins Bett schickt.« Als Hunter etwas sagen wollte, hob er die Hände. »Und bitte fang nicht wieder mit dem Blödsinn an, von wegen, er wollte mir meine magische Kraft entziehen. Ich meine, ehrlich, wie kommst du auf so was? Verbringt der Rat seine Zeit etwa damit, sich bescheuerte Verschwörungstheorien auszudenken?«
Ich begriff das nicht. War meine Vision falsch gewesen? Oder war Killian irgendwo festgehalten worden und entflohen? War Killian womöglich gar so machtvoll, dass er mein Wahrsagen manipulieren konnte?
Hunter sah Bree an. »Glaubst du, dein Vater hätte was dagegen, wenn Killian heute Nacht hierbliebe?«
»Wahrscheinlich nicht«, sagte Bree, auch wenn sie nicht besonders begeistert wirkte.
»Gut«, sagte Hunter. »Er kann bei Robbie und mir im Wohnzimmer schlafen.«
»Welch Freude«, jubilierte Killian.
Robbie kramte aus dem Gepäckberg im Wohnzimmer einen weiteren grünen Packsack und warf ihn Killian zu. Der fing die Luftmatratze auf, ließ sie zu Boden fallen und richtete den Blick auf Raven. »Ich wusste doch, dass wir uns wiedersehen würden. Wie wäre es, wenn wir auf ein schnelles Bierchen verschwinden, um uns besser kennenzulernen?«
»Das reicht«, ging Sky dazwischen.
Killian zuckte die Achseln und grinste mich an. »Empfindlicher Haufen, mit dem du da rumhängst. Alle sind dauernd eingeschnappt. Bist du genauso schlimm wie der Rest?«
»Willst du uns gegeneinander ausspielen?«, fragte ich, auch wenn es mir nicht gelang, so viel Empörung in meine Stimme zu legen, wie angebracht gewesen wäre. Er hatte einfach etwas an sich, was mir gefiel. Fast kam ich mir vor, als wären wir Verschworene. Ein völlig fremdes Gefühl, aber es gefiel mir.
Killians Grinsen wurde noch breiter. »Na ja, dann wäre doch wenigstens mal was los.«
»Oh, ich denke, in deinem Leben ist genug los«, sagte Hunter. »Egal, du verschwindest heute Abend nirgendwohin. Ich hatte zu viel Mühe, dich zu finden. Ich gehe jetzt bestimmt nicht das Risiko ein, dass du wegläufst oder eingefangen wirst.«
»Als wüsstest du was über mein Leben«, sagte Killian voller Verachtung.
»Würdet ihr uns kurz entschuldigen?«, sagte ich und bedeutete Hunter und Sky, mir ins Arbeitszimmer zu folgen, um Kriegsrat zu halten.
»Ich finde, ihr könnt ruhig alle gehen, ich bleibe mit Killian hier«, sagte ich.
»Bist du verrückt?«, versetzte Hunter.
»Ich komme … na ja, ich komme doch einigermaßen mit ihm klar«, sagte ich. »Ich verstehe das auch nicht so richtig«, fügte ich schnell hinzu, »aber mit mir flirtet er nicht andauernd, so wie mit Raven. Bree und Sky können ihn überhaupt nicht leiden. Und Hunter, ihr beide geht euch schlichtweg gegenseitig auf den Wecker. Ich glaube, ich könnte ihn zum Reden bringen, wenn ihr uns allein lasst.«
»Es ist zu gefährlich …«, setzte Hunter an.
»Ja, er ist eine Nervensäge«, wandte ich ein, »aber ich spüre keine wirkliche Gefahr von ihm ausgehen.«
»Morgan kann sich gut um sich selbst kümmern, weißt du«, warf Sky ein. »Und es stimmt. Bei ihr geht Killian nicht gleich auf Konfrontationskurs, während wir Übrigen ihm am liebsten fröhlich an die Gurgel gehen würden.«
»In Ordnung«, stimmte Hunter endlich zu. »Aber ich bin im Café unten im Haus. Wenn dir irgendetwas gefährlich oder auch nur ein bisschen schräg vorkommt, schickst du mir sofort eine Botschaft.«
Ich gab Hunter mein Wort und fünf Minuten später waren Killian und ich allein im Apartment. Wir setzten uns auf die entgegengesetzten Enden der Couch und sahen einander an. Ich versuchte dahinterzukommen, wieso ich jemanden so Unangenehmen mochte. Es war keine sexuelle Anziehung. Es war anders, aber genauso stark. Obwohl er eindeutig gewissenlos und egoistisch war, hatte er doch etwas seltsam Liebenswertes an sich. Vielleicht lag es daran, dass er mich ehrlich zu mögen schien.
»Geht es dir gut?«, fragte er. Die Freundlichkeit in seiner Stimme überraschte mich.
»Warum sollte es mir nicht gut gehen?«
»Ich weiß nicht«, sagte Killian. »Ich kenne dich nicht besonders gut. Aber ich spüre, dass du dich schwächer fühlst als sonst. Erschöpft vielleicht.«
Nimm dich vor ihm in Acht, sagte ich mir. »Ich bin nur müde«, sagte ich.
»Richtig, es war ein langer Tag.« Er warf einen Blick auf den grünen Packsack am Boden. »Ich könnte ja schlafen gehen, mich gut benehmen und den Sucher glücklich machen.«
»Er will dich nur beschützen«, sagte ich.
Zorn flackerte in Killians dunklen Augen auf. »Ich habe ihn nicht darum gebeten.«
»Es ist aber notwendig«, erwiderte ich. »Dein Vater möchte dich umbringen.«
Killian machte eine wegwerfende Handbewegung. »So was in die Richtung hat der Sucher auch schon gefaselt. Ich sag dir mal was: Es ist sehr unwahrscheinlich, dass mein Vater mir was antun würde. Er hat sozusagen größere Fische zu braten.« Killian schaute über die Schulter zur Küche. »Apropos Fisch, eins gibt es in den Staaten nicht, nämlich gute Fish-and-Chips-Buden. Das wäre jetzt ’ne feine Sache.«
»Pech gehabt«, sagte ich gereizt. »Zurück zum Thema. Dein Vater leitet Amyranth?«
Killian stand auf und trat ans Fenster, stützte die Hände aufs Fensterbrett und blickte hinaus in die Dunkelheit. »Mein Vater ist eine sehr mächtige Hexe. Ich respektiere seine magische Kraft. Ich wäre verdammt bescheuert, es nicht zu tun. Ich gehe ihm aus dem Weg. Er hat keinen Grund, meinen Tod zu wünschen.«
Mit Interesse bemerkte ich, dass er meine Frage nicht beantwortet hatte. »Und deine Mutter?«, fragte ich.
Killian lachte freudlos und drehte sich zu mir um. »Grania? Die Frau hat viele Generationen Magie im Blut, aber weiß sie es zu würdigen? Weit gefehlt. Sie bezieht ihre wahre Macht daraus, das Opfer zu sein. Egal was passiert, sie leidet: edel, dramatisch und laut. Ich sag dir, ich verstehe vollkommen, warum mein Vater das Haus verlassen hat. Ich konnte es auch kaum erwarten, wegzukommen.«
»Dann bist du nach New York gekommen, um bei ihm zu sein?«, fragte ich.
»Nein«, antwortete er. »Ich wusste natürlich, dass er hier ist. Und ich hatte bestimmte … Verbindungen in der Stadt, seinetwegen. Aber mein Vater ist ein herzloser Scheißkerl. Wir stehen uns nicht gerade besonders nah.« Er trank seine Cola aus und sah mich an. »Und was ist mit dir? Wie lautet deine Geschichte?«
Ich zuckte die Achseln. Ich wollte ihm keine Lügen über mich erzählen, aber ich wusste auch, dass ich ihm nicht meine wahre Geschichte erzählen sollte.
»Du bist eine Bluthexe«, stellte er fest.
Ich nickte. Das konnte ich nicht vor ihm verbergen.
»Ziemlich machtvoll, das spüre ich«, fuhr er fort. »Und aus mir unerfindlichen Gründen bist du diesem Langweiler von einem Sucher zugetan.«
»Das reicht«, sagte ich scharf.
Killian lachte. »Okay. Da habe ich ja nicht lange gebraucht, um deinen wunden Punkt zu finden, was?«
»Bist du immer so lustig?«, fragte ich genervt.
Killian legte die Hand aufs Herz und schaute zur Decke. »Mögen die Götter mich totschlagen«, sagte er mit gespieltem Ernst. »Immer.«
»Wenn du nicht vor deinem Vater davongelaufen bist, vor wem dann?«, fragte ich, denn ich konnte es nicht lassen. »Und erzähl mir nicht, du hättest dich nicht versteckt.«
Erneut sah er mich an. Ganz plötzlich verschwand die Fröhlichkeit aus seinen Augen. »Okay«, sagte er und beugte sich vor. »Es ist folgendermaßen. Ich glaube nicht, dass der Sucher recht damit hat, dass Amyranth mich zum Opfer auserkoren hat«, fuhr er mit gedämpfter Stimme fort. »Andererseits stimmt es, dass Amyranth nicht unbedingt zufrieden ist mit mir. Weißt du, ich wäre dem Hexenzirkel beinahe beigetreten. Ich habe mich nie der Initiation unterzogen, aber ich war tief genug drin, um einige ihrer Geheimnisse zu erfahren, zumindest die kleineren. Dann … bin ich zu dem Schluss gekommen, mich ihnen lieber nicht anzuschließen. Aber Amyranth ist kein Hexenzirkel, dem man einfach den Rücken kehrt. Und mein Vater hat den Treuebruch sehr persönlich genommen.«
»Es klingt, als hätte es Mut erfordert, dich von ihnen loszusagen«, sagte ich. Allmählich mochte ich ihn wirklich. »Wieso hast du es getan?«
Killian zuckte noch einmal lässig die Achseln. »Zu viele Hausaufgaben«, sagte er lachend. »Hat mich unheimlich viel Freizeit gekostet. New York ist der Hammer. Findest du nicht, dass es die reinste Verschwendung ist, seine ganze Zeit damit zu verbringen, eine der Hexen in einer miesen Produktion von Macbeth zu sein?«
Ich wusste nicht mehr, ob Killian ehrlich war oder nur mit mir spielte. »Ich finde …«
Ich kam nicht mehr dazu, meinen Satz zu beenden, denn plötzlich meldeten meine magischen Sinne kreischend Alarmstufe Rot. Killian spürte es ebenfalls. Er sprang sofort auf und ließ den Blick hektisch durch die Wohnung schweifen.
»Was zum Teufel ist das?«, flüsterte ich. Das Gefühl der Bedrohung war so eindringlich, dass ich es fast körperlich spürte.
»Jemand versucht, in die Wohnung zu gelangen«, antwortete er.
Augenblicklich schickte ich Hunter eine Botschaft. Dann lief ich zum Videomonitor im Flur und drückte den Knopf für den Portier. »Ist bei Ihnen gerade jemand vorbeigekommen?«, fragte ich ihn und versuchte, mit ruhiger Stimme zu sprechen. »Haben Sie jemanden in dieses Apartment hochgeschickt?«
»Scheiß darauf«, murmelte Killian. Er linste durch das Guckloch in der Tür und überprüfte den Flur. »Niemand da«, berichtete er einen Augenblick später. Sein Gesicht war blass. »Aber jemand befasst sich gerade eindeutig mit uns. Und er ist uns nicht freundlich gesonnen.«
Etwas krachte donnernd gegen das Wohnzimmerfenster und ich schoss ungefähr dreißig Zentimeter in die Luft. Killian und ich fuhren herum. Einen kurzen Augenblick erkannte ich Federn.
»Oh, Gott sei Dank«, sagte ich erleichtert. »Es war nur eine Taube. Ich dachte schon, jemand wollte durchs Fenster eindringen.«
Die Wohnungstür flog auf und Hunter platzte herein. »Was ist los?«, fragte er atemlos.
»Da draußen ist jemand«, sagte ich und widerstand dem Bedürfnis, mein Gesicht an seiner Brust zu verbergen. »Jemand beobachtet uns.«
»Was?« Er machte große Augen. »Was ist passiert?«
Die Worte purzelten nur so aus mir heraus, als ich erzählte, wie Killian und ich gemerkt hatten, dass eine feindselige Kraft sich auf uns richtete, dass wir aber nicht feststellen konnten, woher sie kam oder wer es war. Killian sagte nichts, er nickte nur ab und zu. Sein Gesicht war immer noch blass, doch nach dem, was wir gespürt hatten, war das wohl normal.
Mit grimmiger Miene lief Hunter durch das Apartment. Ich spürte, dass er sämtliche Sinne ausgeworfen hatte, und daneben spürte ich noch etwas anderes – vielleicht wirkte er so etwas wie einen magischen Sucher-Spruch, um die Gefahr dazu zu bringen, sich zu offenbaren.
»Nichts«, sagte er, als er ins Wohnzimmer zurückkam. »Was nicht bedeutet, dass nicht tatsächlich jemand oder etwas versucht hat hereinzukommen. Nur dass es jetzt fort ist.« Er sah Killian an. »Ist dir sonst noch etwas aufgefallen, was uns helfen könnte?«
Killian schüttelte den Kopf. »Nein. Nichts.« Er klang fast ein wenig aufgebracht. Dann fügte er unvermittelt hinzu: »Also, ich bin ziemlich fertig. Ich gehe jetzt schlafen.« Ohne die Luftmatratze eines Blickes zu würdigen, streckte er sich auf der Couch aus, rollte sich auf die Seite und wandte uns den Rücken zu.
Einen Augenblick später ging die Tür auf und die anderen kamen herein. Anscheinend waren sie in einem Club gewesen, wo eine Band spielte und sämtliche anderen Gäste um die fünfzig waren. Sie diskutierten lauthals, wessen schlechte Idee das eigentlich gewesen war. Killian lag die ganze Zeit mit geschlossenen Augen auf der Couch. Er schien zu schlafen, auch wenn ich mir nicht recht vorstellen konnte, wie das angesichts des Lärms im Zimmer möglich war.
Nach ein paar Minuten zog ich mich ins Gästezimmer zurück und kroch ins Bett. Es war ein langer Tag gewesen, und obwohl mir sehr viel im Kopf herumging, schlief ich schnell ein.
Als ich am nächsten Morgen kurz vor zehn wach wurde, hörte ich Hunter fluchen.
Killian war fort.