7. Die
Schildkröte
Im November begab sich Babette auf eine Reise.
Sie habe Vorbereitungen zu treffen, sagte sie den Herrinnen, und
müsse acht bis zehn Tage Urlaub haben. Der Neffe, der sie
seinerzeit nach Kristiania gebracht hatte, fuhr immer noch diese
Route; ihn müsse sie treffen und einige Dinge mit ihm besprechen.
Babette vertrug Seereisen nicht; sie bezeichnete die eine, die sie
gemacht hatte, von Frankreich nach Norwegen, als ihr
abscheulichstes Erlebnis. Nun aber war sie seltsam gefaßt und
entschlossen; die Damen hatten das Gefühl, daß ihr Herz bereits in
Frankreich war.
Nach zehn Tagen erschien sie wieder in Berlevaag.
Ob sie alle ihre Angelegenheiten nach Wunsch erledigt habe,
erkundigten sich die Damen. Ja, war die Antwort; sie habe ihren
Neffen gesprochen und ihm ein Verzeichnis der Waren übergeben, die
er ihr aus Frankreich mitbringen sollte. Für Martine und Philippa
war das ein dunkler Ausspruch, doch hatten sie wenig Neigung, sich
mit Babette über ihre Abreise zu unterhalten, und stellten ihr
daher keine weiteren Fragen.
Babette zeigte sich in den nächsten Wochen etwas unruhig; eines
Dezembertags aber verkündete sie ihren Herrinnen triumphierend, daß
die Waren in Kristiania angekommen, dort umgeladen worden und am
heutigen Tag in Berlevaag angelangt seien. Sie habe, fügte sie
hinzu, einen alten Mann mit einem Schubkarren gewonnen; der werde
ihr alles vom Hafen ins Haus transportieren.
Aber was für Waren eigentlich, Babette? wollten die Damen wissen.
Was für Waren? erwiderte Babette. Die, Waren, Mesdames, die Zutaten
zum Geburtstagsessen. Gott sei Lob und Dank, sie seien alle in
gutem Zustand aus Paris eingetroffen.
Babette war in diesem Augenblick, wie der Flaschenteufel im
Märchen, bereits zu solch gewaltigen Dimensionen herangewachsen,
daß die beiden Damen sich winzig klein neben ihr vorkamen. Sie
sahen nun das französische Diner auf sich zukommen als ein Ding von
unberechenbarem Wesen und Ausmaß.
Indessen hatten sie niemals im Leben ein Versprechen nicht
eingehalten, und so gaben sie sich denn der Köchin in die
Hand.
Gleichwohl, als Martine eine Karrenlast von Flaschen in der Küche
anrollen sah, erstarrte sie. Sie beruhte die Flaschen und hob eine
hoch. «Was ist da drin, Babette?» fragte sie.
«Doch nicht Wein?» – «Wein, Madame», erwiderte Babette, «nein, ein
Clos Vougeot von 1846!» Nach einer Weile fugte sie hinzu: «Von
Philippe in der Rue Montorgueil!»
Martine hatte nicht im entferntesten geahnt, daß ein Wein einen
eigenen Namen haben könnte, und mußte verstummen.
Später am Abend öffnete sie auf ein Klingeln und sah sich abermals
dem Schubkarren gegenüber, hinter dem diesmal ein rothaariger
Schiffsjunge stand, als wäre der alte Mann inzwischen von Kräften
gefallen. Der Junge grinste sie an, als er einen riesigen,
unbestimmbaren Gegenstand von dem Schubkarren hob. Im
Lampenschimmer sah er aus wie eine Art grünschwarzer Stein, aber
als er auf dem Küchenboden abgesetzt war, ließ er plötzlich einen
schlangenähnlichen Kopf nach außen schießen und gemächlich hin und
her wackeln. Martine hatte Abbildungen von Schildkröten gesehen und
als Kind sogar selber eine Zwergschildkröte als Spielzeug besessen,
aber das Ding hier war von unförmiger Größe und schrecklich
anzusehen. Sie drückte sich wortlos rückwärts zur Küche
hinaus.
Sie wagte nicht, ihrer Schwester zu berichten, was sie gesehen
hatte. Sie verbrachte eine nahezu schlaflose Nacht; sie dachte an
ihren Vater und hatte das Gefühl, daß sie und ihre Schwester
ausgerechnet an seinem Geburtstag sein Haus für einen Hexensabbat
zur Verfügung stellten. Als sie endlich einschlief, hatte sie einen
schrecklichen Traum: Babette, träumte sie, vergiftete die alten
Brüder und Schwestern, Philippa und sie selbst.
Frühmorgens erhob sie sich, zog ihren grauen Mantel an und ging auf
die dunkle Straße hinaus. Sie wanderte von Haus zu Haus, vertraute
sich den Brüdern und Schwestern an und bekannte ihre Schuld. Sie
und Philippa, sagte sie, hätten es nicht bös gemeint; sie hätten
ihrer Dienerin eine Bitte erfüllt und nicht vorhergesehen, was
daraus entstehen würde.
Nun könne sie nicht sagen, was beim Geburtstag ihres Vaters den
Gästen an Speis und Trank vorgesetzt würde. Die Schildkröte
erwähnte sie nicht ausdrücklich; doch in ihrem Gesicht und
Stimmklang war das Erlebnis gegenwärtig.
Die alten Leute, wie bereits berichtet, hatten allesamt Martine und
Philippa als kleine Mädchen gekannt und miterlebt, wie sie über
eine zerbrochene Puppe bittere Tränen vergossen hatten. Die Tränen
jetzt in Martines Augen machten auch ihnen die Augen feucht. Am
Nachmittag kamen sie zusammen und sprachen die Sache
durch.
Bevor sie auseinandergingen, gelobten sie einander, daß sie den
kleinen Schwestern zuliebe an dem großen Tage unter keinen
Umständen über Speis und Trank ein Wort verlauten lassen wollten.
Nichts, was man ihnen vorsetzen würde, und sollten es selbst
Frösche oder Schnecken sein, würde ihren Lippen ein Sterbenswort
entringen.
«Denn ob sie auch schweiget», sagte ein weißbärtiger Bruder, «die
Zunge ist doch allemal klein unter den Gliedern des Leibes und
bewirket doch viel. Die Zunge kann kein Mensch bezähmen, sie ist
zuchtlos und vom Übel, und ist voller Gift. Am Tage unseres
Meisters wollen wir unsere Zungen reinmachen von allem Geschmack
und sie reinigen von aller Lust und allem Ekel der Sinne, um sie zu
bewahren und zu behüten für das höhere Geschäft des Lob-und
Dankgesanges.»
So spärlich waren die Begebenheiten im stillen Leben der
Berlevaager Bruderschaft, daß sie sich in diesem Augenblick tief
bewegt und erhoben fühlten. Sie bekräftigten ihr Gelübde mit einem
Händedruck, und ihnen war zumute, als täten sie es im Angesicht
ihres Meisters.