3. Philippas Liebhaber
Ein Jahr darauf kam eine noch bedeutendere Persönlichkeit als
Leutnant Löwenhjelm nach Berlevaag.
Der große Sänger Achille Papin aus Paris hatte eine Woche lang an
der Königlichen Oper in Stockholm gastiert und dort wie überall das
Publikum hingerissen. Eines Abends hatte ihm eine Dame des Hofes,
die von einem Roman mit dem Künstler träumte, die wilde, großartige
Landschaft Norwegens geschildert. Seine eigene romantische Natur
wurde durch die Erzählung angesprochen, und er nahm seinen Weg
zurück nach Frankreich entlang der norwegischen Küste.
Doch in der majestätischen Umgebung fühlte er sich klein; er hatte
niemanden, mit dem er sprechen konnte, und versank in Melancholie,
in der er sich als alten Mann empfand, am Ende seiner Karriere –
bis er an einem Sonntag, da ihm nichts Besseres einfiel, in die
Kirche ging und Philippa singen hörte.
Da wußte und verstand er alles in einem einzigen Augenblick. Denn
hier waren die schneeigen Gipfel, die wilden Blumen und die weißen
nordischen Nächte in die ihm geläufige Sprache der Musik
transponiert und dargebracht in der Stimme einer jungen Frau. Wie
Lorens Löwenhjelm hatte er eine Vision.
Allmächtiger Gott, dachte er, deine Macht ist ohne Ende und deine
Barmherzigkeit reicht bis in Wolkenhöhen. Das ist ja eine
Opernprimadonna, die Paris zu ihren Füßen sehen wird.
Achille Papin war zu jener Zeit ein schöner Mann von vierzig Jahren
mit schwarzem Lockenhaar und einem roten Mund. Die Vergötterung
landaus landein hatte ihn nicht verdorben; er war ein gutherziger
Mensch und ehrlich gegen sich selbst.
Er ging geradewegs zu dem gelben Haus, nannte seinen Namen – der
dem Propst nichts sagte – und erklärte, er halte sich aus
Gesundheitsgründen in Berlevaag auf und werde sich in dieser Zeit
glücklich schätzen, die junge Dame als Schülerin zu
unterrichten.
Die Pariser Oper erwähnte er nicht, sondern verbreitete sich
darüber, wie herrlich Fräulein Philippa in der Kirche werde singen
können, zur Ehre Gottes.
Einen Augenblick vergaß er sich. Als der Propst nämlich fragte, ob
er römisch-katholisch sei, antwortete er wahrheitsgemäß, und der
alte Pfarrherr, der nie einen leibhaftigen Katholiken gesehen
hatte, verfärbte sich ein bißchen. Indessen vergnügte es den
Propst, daß er französisch sprechen konnte; es erinnerte ihn an
seine Jugendzeit, als er die Schriften des großen französischen
Lutheraners Lefèvre d’Etaples studiert hatte.
Und da niemand Achille Papin lang widerstehen konnte, wenn er sein
Herz wirklich an eine Sache gehängt hatte, gab der Alte schließlich
seine Zustimmung und bemerkte seiner Tochter gegenüber: «Gottes
Wege laufen übers Meer und durchs Schneegebirg, wo ein Menschenauge
keine Spur gewahrt.»
So fanden sich also der große französische Sänger und die junge
Anfängerin aus Norwegen zur Arbeit zusammen. Achilles Erwartung
steigerte sich zur Gewißheit, die Gewißheit zur Begeisterung. Er
dachte: Das war ein Irrtum, als ich glaubte, ich würde
alt.
Meine größten Triumphe liegen noch vor mir. Die Welt wird noch
einmal an Wunder glauben, wenn wir zwei zusammen singen.
Nach einiger Zeit konnte er sein Wunschbild nicht länger für sich
behalten. Er erzählte Philippa davon.
Wie ein Stern würde sie aufgehen, sagte er ihr, und höher steigen
als je eine Diva der Vergangenheit und Gegenwart. Kaiser und
Kaiserin, die kaiserliche Prinzessin, die großen Damen und
Schöngeister von Paris würden sie hören und Tränen dabei
vergießen.
Auch das einfache Volk würde sie anbeten, und den Entrechteten und
Unterdrückten würde sie Trost und Kraft bringen. Wenn sie am Arm
ihres Lehrers die Große Oper verließe, würde ihr die Menge die
Pferde ausspannen und sie ins Café Anglais ziehen, wo ein
prächtiges Souper ihrer harrte.
Philippa erzählte dem Vater und der Schwester nichts von diesen
Zukunftsaussichten.
Es war das erste Mal in ihrem Leben, daß sie etwas vor den beiden
geheimhielt.
Nun kam es zu dem, daß der Lehrer seiner Schülerin die Rolle der
Zerline in Mozarts Don Giovanni zu studieren aufgab. Er selber, wie
oft genug vorher, sang den Don Giovanni.
Nie im Leben hatte er so gesungen. In dem Duett im zweiten Akt –
dem sogenannten Verführungsduett – brachte ihn die Himmelsmusik und
der Zusammenklang der beiden Himmelsstimmen völlig aus der Fassung.
Als die letzte Note dahinschmolz, faßte er Philippas Hand, zog die
junge Frau an sich und küßte sie feierlich, wie ein Verlobter seine
Braut am Altar küssen mochte. Dann ließ er sie gehen. Der
Augenblick war zu erhaben für jedes weitere Wort, jede weitere
Bewegung; Mozart selbst blickte auf sie beide herab.
Philippa ging nach Hause, sagte ihrem Vater, sie wünsche keine
Gesangsstunden mehr zu nehmen, und bat ihn, er möchte das Monsieur
Papin brieflich mitteilen.
«Und auch über Wasserflüsse läuft Gottes Weg, mein Kind», bemerkte
der Propst.
Als Achille den Brief des Alten erhielt, saß er eine Stunde wie
gelähmt. Er dachte: Ich habe mich geirrt. Mein Tag ist zu Ende. Nie
wieder werde ich der göttliche Papin. Und die Welt, die elende
Unkrautsteppe, hat ihre Nachtigall verloren.
Später dachte er: Was hat sie denn nur, die kleine Range? Ich habe
sie wohl gar geküßt?
Und zum Schluß: Da hab ich mein Leben für einen Kuß verloren, und
kann mich nicht einmal erinnern an den Kuß. Don Giovanni küßte
Zerline, und Achille Papin muß dafür bezahlen. Das ist
Künstlerlos!
Im Propsthaus bemerkte Martine, daß die Sache tiefer ging, und
forschte im Gesicht der Schwester. Einen Augenblick, und der
Gedanke machte sie zittern, hatte sie das Gefühl, der fremde Herr,
der römisch-katholische, könnte versucht haben, Philippa zu küssen.
Sie konnte sich nicht vorstellen, daß ihre Schwester über etwas in
ihrer eigenen Natur überrascht und erschrocken sein
könnte.
Achille Papin verließ Berlevaag mit dem nächsten Boot.
Von diesem Gast aus der großen Welt sprachen die Schwestern nur
wenig. Es fehlte ihnen an den richtigen Worten dazu.