Davids Aufbruch

London, Januar 1971

»Für jede Trumpfkarte, die er in der Hand hat, wedelt unser David mit einer Niete«, sagte Emil am ersten Morgen des neuen Jahres. »Das war um Gottes willen keine Klage. Nur eine Feststellung. War das eigentlich schon immer so?« »Immer«, bestätigte Liesel. »Und das war sehr wohl eine Klage.«

Trotzdem schneite es Hoffnung. Die Welt wurde mit jedem Ticken der großen Standuhr in der Diele schöner. In einem sanften Wind tanzten winzige Schneeflocken Ballett; sie sahen so rein und unschuldig aus wie in alten Märchenbüchern. Der einzige Baum im Garten, der den wutschäumenden Sturm im November gesund überstanden hatte, hatte sich mit einer weißen Mütze und erstarrten Zweigen als Riese verkleidet. Es war ein Riese mit sanftem Gemüt, der seine gefrorenen Äste ausstreckte und versprach, dass im neuen Jahr alles anders und vieles besser werden würde. Er stellte gar in Aussicht, dass diesmal aus Apfelblüten Äpfel werden würden und aus dem Vergissmeinnicht am Rande des Rosenbeets ein Gedicht. Vielleicht würde gar das Eichhörnchen zurückkehren, das in den Nachbargarten umgezogen war, weil Martha es seit Rose’ Aufbruch nicht mehr regelmäßig mit Nusskuchen versorgt hatte.

»Hier hat es immer gesessen«, sagte Liesel. Sie zeigte in Richtung des Maulbeerbusches. »Merkwürdigerweise hat es gern Maulbeeren genascht. Rose hat mal gesagt, es würde für seine ganze Familie Maulbeermarmelade kochen. Maulbeermarmelade mit Ingwer.«

»Es wird wieder hier sitzen«, wusste Emil. »Eichhörnchen sind anhänglich.«

»Eichhörnchen ja«, schniefte seine Frau.

Es war das ruhigste Silvester gewesen, das je im Hause Procter gefeiert worden war, gedämpft, melancholisch, gedrückt und vom Abendessen bis zur letzten Minute des Jahres bedrückend. Resignation war ein unangenehmer Tischgenosse - besonders an Tagen, da der Kalender ausschließlich den Blick nach vorn empfahl. Martha und Samy hatten den Jahreswechsel mit Katze Mieze gefeiert. Samy hatte eine leichte Grippe hinter sich und Martha sich mit dem Arzt verbündet. Das Thermometer musste mindestens zehn Grad plus aufweisen, ehe er das Haus verlassen durfte. Liesel und Emil hatten die beiden um die Möglichkeit beneidet, in einer Atmosphäre zu feiern, in der nichts an Rose erinnerte. Ihrerseits hatten sie bei einer Flasche Rosé d’Anjou Zuflucht genommen und zu spät bemerkt, dass der Wein aus Frankreich stammte und er in ihrem speziellen Fall sehr viel weniger stimmungsfördernd war, als sie ihn von einer Geburtstagseinladung bei Emils Partner in Erinnerung hatten. David, besorgt wie immer, niemandem wehzutun und jedem etwas Gutes, hatte mit ungeduldigen Blicken, die abwechselnd der eigenen Uhr und dem Fernsehgerät galten, den Jahreswechsel abgewartet und war dann verlegen murmelnd, aber entschiedenen Schrittes in sein Zimmer gegangen. Von Rose war eine der üblichen Karten gekommen, diesmal mit der Auskunft, dass es in Nizza keinen Winter gebe und sie ohne Strümpfe auf einer Bank sitzen könne.

»Wenigstens scheint sie noch zu wissen, was Strümpfe sind«, hatte ihre Mutter kommentiert, eine Spur zynischer als sonst. Seit der Lektüre eines Artikels, den ein junges Mädchen bei der Berufsberatung auf Liesels Schreibtisch hatte liegen lassen, bildete sie sich ein, Zynismus in moderaten Dosen wäre Balsam für eine erstarrte Seele.

Nun schaute sie ihren Mann an, der inbrünstig hoffte, die Gedanken seiner Frau wären ausschließlich bei dem Marmelade kochenden Eichhörnchen. Sie waren es nicht, sondern zum Ausgangspunkt des Gesprächs zurückgekehrt. »Wahrscheinlich«, sagte sie, »gehört der Kartentrick mit den Nieten zum besonderen Charme unseres Sohns. Es soll bloß niemand dahinterkommen, dass sein Hintern gescheiter ist als bei den meisten Leuten der Kopf.«

»Wo in aller Welt hast du das aufgeschnappt? In der Na-kuru School hätten sie dich für eine solche Ausdrucksweise auf der Stelle mit einem Flamingo erschlagen und im See ertränkt. Vorsicht, fang bloß nicht an zu lachen. Sonst denkt das neue Jahr, bei uns geht es immer so lustig zu, und dann haben wir den Schlamassel.«

»Das mit dem Hintern hat Samy vor ein paar Tagen gesagt, als ich ihm die Kurzgeschichten von Somerset Maugham an sein Krankenbett brachte und bei ihm klagte, ich hätte immerzu Angst, wir könnten David auf die gleiche Art verlieren wie Rose.«

»Und was wusste unser Meisterphilosoph zu deinem Problem zu sagen?«

»Merkwürdigerweise wenig«, erinnerte sich Liesel. »Er hat nur gesagt: David wird bestimmt nicht auf die gleiche Art von zu Hause weggehen. Und dann hat er noch gesagt: Wir haben unsere Kinder nur von Gott gepachtet, nicht gekauft.«

»Wenn du mich fragst, hat der gute Samy da mehr gesagt, als manche Leute je in ihrem Leben begreifen werden. Ich weigere mich, auch nur für eine Minute zu denken, dass wir unsere Rosie verloren haben. Sie ist zurzeit nur unabkömmlich. Wer weiß, vielleicht überlegt sie just in diesem Moment, wie sie wieder nach Hause kommen kann, ohne ihr Gesicht zu verlieren. Leider spielt so etwas bei jungen Leuten eine große Rolle. Glaub mir, Liesel, irgendwie und irgendwann regeln sich die Dinge. Man muss nur Geduld haben. Und Vertrauen.«

»Glaubst du eigentlich, was du sagst?«

»Gerade in unserem Fall hat es Gott nicht verdient, dass wir so kleingläubig sind. Es ist absolut nicht abwegig, anzunehmen, dass er weiß, was er tut. Schau dir zum Beispiel die Sache mit Samys Sohn an. Der ist keineswegs General beim Militär geworden, wie er seinem Vater immer angedroht hat, sondern Vertreter des Generaldirektors bei einer recht bekannten Mineralölfirma, und wenn er gute Laune hat wie neulich bei Samys Geburtstag, gibt er seinem Vater sogar zu verstehen, dass er ihn für einen ganz passablen Kerl hält. So wird es uns auch eines Tages mit David gehen. Warte nur ab, der findet noch Freude an Jura und behandelt uns mit der Nachsicht, die Eltern verdienen. Vielleicht lacht er sich sogar eine Freundin an und lässt uns wissen, dass wir uns auch in dieser Beziehung zu viele Sorgen machen.«

»Deine Phantasie möcht’ ich haben«, seufzte Liesel. »Oder ist es Optimismus?«

Die von dem stolzen Vater am Neujahrstag erwähnten Trumpfkarten waren zwei Stipendien, für die andere Studenten ihre letzte Habe hergegeben hätten. David waren sie unmittelbar nach Abschluss der Schule angeboten worden. Er hätte entweder in Edinburgh oder in Oxford studieren können. Als eine Niete von besonderem Gewicht wurde dann von seinen Eltern der Umstand empfunden, dass David beide Stipendien umgehend abgelehnt hatte, und dies mit einer Begründung, für die Liesel und Emil wieder einmal Rabbi White schuldig sprachen. »Und am Sabbat«, hatte David mit denen gerechtet, deren Enttäuschung ihm genauso peinlich war wie in seinen Kindertagen, »gehe ich entweder in Oxford rudern, oder ich hänge mir in Edinburgh einen Dudelsack um.«

Wie üblich stimmten die elterlichen Mutmaßungen in Bezug auf Rabbi White. Und wie seit Jahren deckten sie lediglich einen Teilaspekt der Wirklichkeit ab. Gewiss war der Einfluss des Rabbiners auf David mit jedem Jahr stärker geworden, und zweifellos bedingte Davids Fixierung auf das religiöse Element in seinem Leben ein sehr distanziertes Verhältnis zum irdischen Recht und zur irdischen Gerechtigkeit. Außer dem Umstand, dass ihn ohnehin nichts interessierte, was er auf einer weltlichen Universität hätte in Erfahrung bringen können, und er sich noch nicht traute, dies seinen Eltern zu offenbaren, gab es jedoch einen weiteren - sehr ausschlaggebenden - Grund für die Abneigung des jungen Procter, sich mit der ehrwürdigen Tradition von Oxford oder mit der Geschichte der Stadt Edinburgh zu beschäftigen. Nur in Ketten hätte sich David aus Hampstead wegbringen lassen. Die Ursache für diese Heimatverbundenheit galt in dem Umfeld, in dem er aufgewachsen und erzogen worden war, als ungewöhnlich, nein, als eine schier unvorstellbare Katastrophe für einen modernen jungen Mann in seinem Alter.

Die Begegnung, die David zum Schicksal wurde, war einhundertunddreiundsechzig Zentimeter hoch, siebzehn Jahre alt und nach dem Dafürhalten ihrer Eltern seit mindestens einem Jahr sowohl ehetauglich als auch ehewillig. Mit jedem Zentimeter und erst recht durch einen Charakter und eine Erziehung, die Glaubenstreue und den Gehorsam gegenüber Gott und den Eltern als die heiligste Pflicht des Menschen empfanden, entsprach das junge Mädchen allen oberflächlichen, bornierten Klischeevorstellungen, die liberale Juden für ihre orthodoxen Glaubensgenossen parat halten. Sie hieß Miriam Myers. Soweit ihre Art, sich zu kleiden, eine Beurteilung ihres Äußeren zuließ, war sie zierlich und hatte schmale Schultern. Auch ihre Hände, die selbst an heißen Tagen aus langen Ärmeln hervorschauten, waren schlank. War Miriams Taille zu sehen, was nur sehr selten der Fall war, so war das zu Besichtigende erstaunlich. Es handelte sich um die klassische, von allen Frauen in der westlichen Welt erträumte Wespentaille, und niemand wäre auf die Idee gekommen, sie mit den fetten Speisen und den schweren Kuchen der jüdischen Küche in Verbindung zu bringen.

Miriams Vater war Rabbiner, ihr Großvater und ein Onkel waren es auch. Ihre Mutter erwähnte dies mindestens einmal pro Tag, damit ihre Kinder nicht auf die Idee kamen, sie dürften so sein wie andere. Das älteste der sechs war ebenso zurückhaltend wie wohlerzogen. Nur an ihre drei Brüder und an die beiden Schwestern richtete Miriam ohne Aufforderung das Wort. Das scheue junge Mädchen überließ es ihren schönen Augen, für sie zu sprechen; wäre sie ein Teenager wie die Genormten und Unbelasteten der ungezwungenen Siebziger gewesen, wäre ihr diese Art der Kommunikation bestimmt als Koketterie und zu früh entwickelte Weiblichkeit ausgelegt worden. In der Welt von Miriam Myers zählte Koketterie allerdings nicht zu den Ausdrucksmöglichkeiten, die für eine junge Frau infrage kamen. Dennoch war es so, dass Miriams dunkle Augen mit den langen Wimpern spontan Menschen verzauberten, so sie gewillt waren, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.

Die gleiche Wirkung ging von ihrem Lächeln aus. Es verhieß nie, wie in der Welt der jungen Lebensentdecker, gute Laune, Erwartung und Fröhlichkeit, doch immer Wärme, Freundlichkeit und Lebensbestätigung. Ihr Haar, schwarz, dicht, wellig, reichte bis zu den Schultern. Miriam ließ es nur sehen, wenn sie im Schutz der Ihrigen war. Auf der Straße verbarg sie das schöne Haar unter grob gestrickten Wollmützen oder Kopftüchern, die sie wie die russischen Bauersfrauen auf den Bildern von Marc Chagall band. Ihr Teint erweckte den Eindruck, sie würde den ganzen Sommer im Bikini auf dem Balkon liegen oder sich an der italienischen Riviera sonnen. Tatsächlich hatte Miriam noch nie das Meer und auch noch nie einen Bikini gesehen, weder in einem Schaufenster noch in einer Modezeitschrift.

Chic oder Charme waren Begriffe, die sie nicht beschäftigten. Dass es Modezeitschriften gab, wusste sie, denn auf dem Weg zur Schule kam sie an einem Zeitungsstand vorbei, doch es wäre ihr auch dann nicht in den Sinn gekommen, eine solche Zeitschrift zu kaufen, wenn sie Geld in der Tasche gehabt hätte. Miriam trug keine Jeans, mit denen sie sich, wie einst Rose, in die gefüllte Badewanne hätte legen können, damit die Hosen noch enger wurden, als sie waren, und die Hüften der Trägerin schmal, wohlgeformt und sexy wirkten. Miriams Röcke waren weit und sowohl im Sommer als auch im Winter aus einem derben aschgrauen Wollstoff geschneidert, der so strapazierbar war, dass die Röcke auf die beiden jüngeren Schwestern übergehen konnten, ohne dass die Mädchen ärmlich wirkten.

Die verhüllenden Röcke ließen nicht den Hauch einer Ahnung zu, ob die Hüften der Trägerin schmal oder, was als Segen empfunden wurde, zum Gebären geeignet waren. Kleider und Röcke reichten bis zu den Waden; sie zwangen zu weit ausholenden Bewegungen und erweckten den Eindruck, Miriam würde durch hohes Gras marschieren. Dass sie lange schlanke Beine hatte und ihre Fesseln wohlgeformt waren, stellte David erst an dem Tag fest, der für ihn noch als Achtzigjährigen zu den glücklichsten in seinem Leben zählen sollte. Als er sie kennen lernte und noch Jahre später, trug Miriam dicke Wollstrümpfe und schwarze Schuhe mit flachem Absatz.

Ihr Vater war ein Kollege von Rabbi White - nur sehr viel orthodoxer als der. Ihr ältester Bruder war zwölf Jahre alt, von rührendem Eifer und minderer Begabung. Er hatte enorme Schwierigkeiten, das Lernpensum für seine Bar-mitzwa einzuüben, und er war es, mit dem David auf Vermittlung von Rabbi White jeden Montag und Donnerstag zwei Stunden übte. Ein Jahr lang hatte David zwar gewusst, dass Rabbi Myers’ Sohn zwei jüngere Brüder und drei Schwestern hatte, doch bei seinen Besuchen im Haus des Rabbiners war er immer nur dem männlichen Teil der Familie und nie der Frau und den Töchtern begegnet. Entscheidend für Davids Lebensweg wurde die Bitte von Rabbi Myers, der geduldige junge Tutor möge auch nach der Barmitzwa seinen Sohn weiter betreuen. »Der Junge mag dich«, hatte er gesagt. »Man muss ihm helfen zu lernen. Er ist nicht gescheit, doch so was hat seine Vorteile. Dümmer kann er nicht mehr werden, aber vielleicht wird er ein kleines bisschen klüger.«

»Simon ist so, wie ein Mensch sein muss, der immer nur dazulernen kann«, hatte David eingewandt.

Diese diplomatische Formulierung, die fast an eine Lüge grenzte, war von einem gefunden worden, der sich stets bewusst war, wie es um die gewaltige Sehnsucht von Vätern steht. Sie erhoffen allzeit für ihre Söhne den Glanz, der ihnen selbst verwehrt war.

»Mein Vater wünscht sich ein Genie zum Sohn«, hatte es Nat Glueck einmal ausgedrückt. Damals waren die Freunde gerade in die sechste Klasse versetzt worden. Nat hatte zum Abschluss des Schuljahres eine Auszeichnung für Geschichte bekommen, David den ersten Preis für Algebra und eine öffentliche Belobigung für seine Jahresarbeit über die Lebensgewohnheiten und Riten der Pygmäen.

»Das ist noch gar nichts«, hatte David erwidert, »meiner hält mich für ein Genie.«

Rabbi Myers hatte solche Träume nicht. Ihm hätte es gereicht, und er hätte zweimal täglich dem Allmächtigen für seine Güte und Gnade gedankt, wenn seine drei Söhne wenigstens halb so klug wie seine Töchter gewesen wären. Umso mehr wusste er es zu schätzen, dass es David gelungen war, den schwerfälligen Simon zu loben, ohne das Ohr des Vaters mit törichten Schmeicheleien zu verstopfen und ihm Versprechungen zu machen, die nicht von einem Menschen zu halten waren. Von da an ließ sich Rabbi Myers bei vielen Gelegenheiten anmerken, wie wohl er dem gescheiten jungen Mann gesinnt war. Sobald er David sah, wurde sein Gesicht hell. Wenn er Zeit hatte, setzte er sich nach Beendigung von Simons Lernstunde zu ihm. Seinen Sohn schickte er mit einem kleinen Auftrag aus dem Zimmer, wobei er stets darauf achtete, dem Jungen seinen Stolz und seine Würde zu belassen. Die Männer, der junge, der ins Leben drängte und den Weg nicht kannte, und der Vater, der sich in Acht nehmen musste, damit die Enttäuschung mit den Söhnen sein Gesicht nicht zeichnete, tranken eine Tasse Tee. Sie aßen ein Stück quittegelben, mit einem schweren Mandellikör aus Israel getränkten Kuchen, der die Zunge geschmeidig machte und die Ohren empfänglich für die Botschaft, dass ein jeder vom anderen zu lernen imstande ist. Der eine sprach von der Welt, wie sie ein Mann sah, der sie nur aus einer Perspektive kannte, und der andere hörte zu und wünschte sich, er hätte den Schritt, den er tun wollte und tun musste, schon getan. Häufig, wenn David sich von Rabbi Myers verabschiedete, bemerkte er in dessen Augen ein Feuer. Es erwärmte ihn, obwohl er es nicht zu deuten wusste. Der fromme Diener des Allmächtigen wusste indes Bescheid. So einen Sohn, wie David für seinen Vater und dem Vater allen Lebens war, hatte er sich immer gewünscht. Und er wünschte ihn sich noch, obwohl er fürchtete, dass der Leib seiner Frau nach dem sechsten Kind nicht mehr gesegnet werden würde.

In der Weihnachtszeit, in der Rabbi Myers seine Kinder nicht gern aus dem Haus ließ, damit sie nicht von den Lichterbäumen und dem falschen Sternenglanz in den Kaufhäusern geblendet wurden und Sehnsüchte entwickelten, die ein jüdisches Kind nicht zu entwickeln hat, lernte David den kleinen Benjamin kennen. Er war das jüngste der sechs Geschwister; wenn die Dinge so liefen, wie der Vater sie ersehnte, würde David in fünf Jahren auch Benjamin mit den Lernvorbereitungen zu seiner Barmitzwa helfen. Benjamin war acht Jahre alt, körperlich gut entwickelt und sehr geschickt mit seinen Händen. Er konnte besser als seine Schwestern stricken und machte für die Mutter kleine Reparaturen im Haus. Leider zeichnete es sich aber bereits ab, dass für ihn das Lernen eine noch größere Last als für Simon werden würde. Jeden Jom Kippur mussten die Eltern Benjamin erklären, dass Kinder noch nicht fasten dürfen, und jeden Freitagabend fragte der Junge aufs Neue, weshalb die Mutter und nicht der Vater die Sabbatkerzen anzündete und warum er nicht, wie an allen anderen Tagen, den Lichtschalter bedienen durfte. Zu Pessach aber, wenn das jüngste Kind der Tischgemeinschaft seit alters vier Fragen zu stellen hat und seit Jahrtausenden immer die gleiche Antwort bekommt, konnte er sich immer nur die erste Frage merken. Die hebräischen Buchstaben, die Miriam und ihre Schwester bereits als Vierjährige unterscheiden konnten, verwechselte er. Schon im Januar bekam David den Auftrag, mit Benjamin alle vier Fragen für Pessach einzuüben.

»Wir haben Zeit bis April«, ermunterte David das Kind. »Wer ist April?«, fragte Benjamin.

Vor drei Monaten und zwei Wochen war es zu der ersten Begegnung mit der ältesten Tochter von Rabbi Myers gekommen. War es nur Zufall, oder steuerte da bereits ein Weitsichtiger mit geschickter Hand die Zukunft? Jene, die es betraf, würden es nie erfahren. Miriam war, von der Mutter beauftragt, mit einem Glas Wasser und einer Tablette für den Bruder, den ein schmerzhafter Husten plagte, ins Zimmer gekommen. Für die Dauer eines Wimpernschlages hatte sie den jungen Lehrer angelächelt, der zu ihrem Erstaunen absolut nicht so wirkte, als würde es ihn anstrengen oder gar seinen Geist beleidigen, sich mit dem schwerfälligen Simon abzumühen. Sie beneidete David um die Geduld und den Optimismus, die sie ihren Vater schon oft hatte mit Bewunderung erwähnen hören. Ihr fehlten zu schnell Hoffnung und Ausdauer, wenn sie merkte, wie rasch ihre rührend eifrigen Brüder, die nur selten von der Mutter ermutigt und sehr viel öfter als ihre Schwestern vom Vater gescholten wurden, vor verschlossenen Türen standen.

Miriam schaute Simon an - und stutzte. Sie musste sich zwingen, nur zu beobachten und zu denken und nichts zu sagen. Der Bruder sah so zufrieden aus, wie seine Schwester ihn nur sah, wenn die beiden Schwestern ihrer Mutter zu Besuch kamen. Bei jedem Besuch machten die Tanten sich die Mühe, Simon zu beachten und Fragen zu stellen, die er beantworten konnte, ohne zu stottern. Miriam war ganz sicher, sie hätte einen Ausdruck von Stolz in Simons Augen entdeckt. Er hatte schöne, glänzende Augen. Sie verrieten nichts von seiner Pein. Die Ihrigen, erkannte Miriam und schämte sich, dass es so war, sahen das erst jetzt. Sie lächelte ihren Bruder an, doch der war zu überrascht, um zeigen zu können, dass ihn die ungewohnte Freundlichkeit seiner Schwester erreicht hatte. An Stelle des Schülers lächelte der Lehrer.

Es gefiel Miriam, dass David das ihm nicht zugedachte Lächeln spontan erwiderte. War er gewohnt, angelächelt zu werden? Dann gehörte er zu den Menschen, die Miriam beneidete, weil Liebenswürdigkeit für sie so selbstverständlich waren wie Gebet, Kleidung und Nahrung. Solche Menschen gaben dem Leben die freundlich hellen Farben, nach denen Miriam sich sehnte. Sie lächelte zum zweiten Mal und stellte, auch dies ein Auftrag der Mutter, ein Glas dampfenden Tee vor David. Mit einer winzigen Schüssel

Honig. »Zum Süßen«, murmelte sie, denn sie ahnte, dass er die Sitte nicht kannte, dem Tee durch Honig seine Bitterkeit zu nehmen.

Ihr Gesicht entflammte, als ihr klar wurde, dass sie mit einem fremden Mann gesprochen hatte, dem sie weder Aufmerksamkeit noch Antwort schuldete. David merkte nichts von ihrer Not. Er war ebenso verlegen wie Miriam. Er starrte auf das flache weiße Schüsselchen mit dem gelben Klecks Honig und traute sich nicht, die Überbringerin der süßen Aufmerksamkeit anzuschauen. Er sah nur die runden Kappen ihrer groben Schuhe. Für den Rest des Tages quälte ihn der Gedanke, dass er sich wie ein Tölpel von seiner Unbeholfenheit hatte überrumpeln lassen. Sein hölzernes Verhalten und die kindische Art, den Kopf zu senken und den Honig zu fixieren, als wäre der immer noch das Symbol für die Fruchtbarkeit des Gelobten Landes, hatten dazu geführt, dass David der Moment des Begreifens wie einer erschienen war, der sich in nichts von denen vor ihm unterschied. Zweimal hatte David kurz genickt, und erst, als ihm bewusst wurde, wie einfältig er wirken musste mit seinem wackelnden Kopf auf zu schmalen Schultern und mit brennend roter Haut, hatte er seinen Dank gehaspelt. Wie ein Narr, der erst mühsam im Hirn herumrührt, ehe er die Worte ausspucken kann, war er sich dabei vorgekommen, wie der Narr aller Narren. Und doch brauchte David - selbst Jahre nach diesem Tag - nur die Augen zu schließen, um den Augenblick zurückzuholen, da ihn der Blitzschlag getroffen und er begriffen hatte. Dieser Moment hatte einen unbeholfenen Jungen von achtzehn Jahren, der morgens in den Spiegel blickte und den nicht kannte, den er sah, zu einem Mann gemacht, der fortan immer wissen würde, wohin er wollte und wie er sein Ziel erreichte. Damals hatte David noch nicht begriffen, dass ein Augenblick, der im Paradies gelebt wird, ewig währt. Das Paradies, soweit es das Leben auf Erden betraf, hatte er noch nicht einmal herbeigesehnt, und doch hatte er es gefunden. Eine tiefe, ihn verzehrende Sehnsucht versengte seinen Kopf und seinen Körper, die Nerven und die Seele. Als jede einzelne Flamme dieses Feuers, das in solcher Intensität nur einmal im Leben brennt, zu einem Glücksgefühl wurde, taumelte sein Verstand. Nur noch ein einziger Gedanke war in ihm: Er wollte, nein, er musste Miriam Myers heiraten.

Er hatte sie kaum gesehen, nicht den Mut gehabt, ihr nachzuschauen, als sie eilig das Zimmer verließ. David kannte nicht die Farbe ihrer Augen, er hatte nicht auf ihre Lippen geblickt und nicht auf ihre Hände. Er kannte nur ihren Namen, der nun, da er sich entschlossen hatte, Gott um sie zu bitten, auf seiner Zunge süß war wie der Honig in der kleinen Schale. Er wusste nicht, wie alt sie war, ob sie einfältig und schwerfällig war wie ihre Brüder oder klug und besonnen wie ihr Vater. David hatte keine Ahnung, was ihr Vater mit ihr plante und ob sie nicht bereits einem Mann mit Erfahrung, Beruf und Vermögen versprochen war, mit dem er sich noch in Jahren nicht würde messen können. David hatte weder Erfahrung noch einen Beruf, auch kein Vermögen und noch lange nicht eine Zukunft, und dennoch verschonte ihn die Gehässigkeit des Zweifels. Miriams langer Rock bauschte sich wie ein volles Segel vor seinen Augen, als sie, das leere Tablett in der Hand, zur Tür ging. Ehe sie nach der Klinke griff, drehte sie sich um. Kein Lächeln erhellte ihr Gesicht. Koketterie und Kalkül waren ihr nicht gegeben. Behutsam zog sie die Tür hinter sich zu, um das störende Geräusch zu dämpfen, das sich nicht um die Bedürfnisse eines Mannes schert, der lernt und lehrt. Miriam hatte früh zu dienen gelernt.

David spürte eine gewaltige Erregung. Sie machte ihn willenlos und doch nicht schwach, presste die Luft aus seinem Brustkorb, als wäre der Riese Goliath auf die Erde zurückgekehrt, um Rache für den Stein aus Davids Schleuder nehmen. Die Erregung steigerte sich mit einem berstenden Schlag zu einem Rausch, der Feuer in seinen Kopf trieb und seine Knie so schwach machte wie in Kinderzeiten, wenn er in der Sportstunde mehr und weiter hatte rennen müssen, als es seine Kräfte zuließen. Da begriff er, was geschehen war. David Procter, achtzehn Jahre jung und so empfindsam, wie viele Männer es nie werden, hatte die Zeichen erkannt. Er wusste, dass er nur mit einer Frau, wie Miriam eine war, leben wollte. Ein Sonnenstrahl traf die Türklinke. Im Augenblick, da ihn jeder seiner Sinne in die Verheißung trieb, wähnte er, Miriam würde wieder an der Tür stehen. Das Tablett in ihrer Hand war aus purem Gold.

»Machen wir weiter«, forderte er Simon auf, als der Tag ihn zurückholte und ihm wieder Stimme gab. Sie beugten sich über die Bücher, das Kind, das nie auf einem Gipfel stehen würde, und der junge Mann, der seine Zukunft gesehen hatte. Das Papier war gelb geworden in den Jahren des Lernens, doch die hebräischen Buchstaben leuchteten. Sie machten deutlich, dass die Freuden des Lesens ewig sind und von Gott befohlen werden. Simon las mit singender, noch ungebrochener Stimme. Sein schmales Gesicht war ernst. Für einen Augenblick machte es der Eifer klug. Der Junge stand auf, ohne dass der Lehrer es ihm befahl. Er wiegte den Körper nach vorn und wieder zurück, wie er es bei den betenden Männern in der Synagoge sah. Den Knabenkörper im Rhythmus des Lesens schaukeln zu sehen machte David schläfrig. Der Honig war noch in seinem Mund, war ein süßes Versprechen auf der Zunge. Es machte einen, dem bis dahin die Verlockung noch nie die Ruhe genommen hatte, pflichtvergessen und leichten Sinnes. Zufrieden schloss David die Augen. Hinter dem Vorhang der Lider fingen die Buchstaben, auf die er eben noch mit dem Stift gedeutet hatte, damit der Schüler beim Lesen nicht in die falsche Zeile geriet, wild zu tanzen an. Die kühnsten von ihnen wurden so stark wie Samson, als er noch ein mächtiger, unversehrter Langhaariger gewesen war. Kraftvoll und kriegerisch sprangen die Buchstaben aus den Seiten. Der entrückte Lehrer in einem Paradies, von dem er noch am Abend zuvor nichts gewusst hatte, ließ es zu, dass Simon der Eifrige dabei war, zurück in die Schlucht des Unwissens zu stürzen. Schon stolperte er und hatte Mühe, wieder aufzustehen. David streckte seine Hand aus, um nach den gedruckten Zeichen zu greifen, die auch den Klugen den Gehorsam verweigern, wenn sie ihren Träumen nicht beizeiten entkommen. Obgleich sich jeder einzelne von den Aufsässigen mit einer Verbissenheit wehrte, die einem Buchstaben nicht zukam, gelang es David schließlich doch, seine Gegner zu bezwingen und wach zu werden. Er jagte die Versucher zurück ins dunkle Tal, zwang seine Augen auf und überschritt aufatmend die Brücke zur Wirklichkeit. Als er tief einatmete, merkte er, dass er immer noch die Botschaft hörte und dass sie eine der Verheißung war. Mit Tränen tranken seine Augen die Freude.

Obgleich der Schüler ihn nun fragend ansah und eine Hand an der anderen rieb, weil er ohne Stütze nicht mehr lange würde weiterlaufen können, nahm sich sein Lehrer

Zeit, ehe er wieder in das Geschehen eingriff. Seine Glieder waren heiß. Die Stirn brannte. Er wusste, dass er ein für alle Mal seinen Weg und das Ziel erkannt hatte. David Procter, der nie einer wie die anderen hatte werden wollen, würden die kränkenden Umwege erspart bleiben, auf denen die Jugend so oft Orientierung und Mut verliert. Während er die Jubelschläge seines Herzens zählte und seine Hand auf die Brust presste, erstellte David die Bilanz seiner Zukunft. »So Er es will«, murmelte er.

Simon sah ihn verblüfft an und lächelte. Er ahnte, dass auch die Reifen und die Weisen und die, die sich ihre Fehler nicht anmerken lassen, sich wie die Kinder verirren, sobald sie Bildern nachgeben, die sie von der Pflicht in die Freiheit führen. David nickte dem Jungen zu und lächelte auch. Seit wann war eine Frau wie Miriam die Seligkeit, um die er bitten und beten würde? Seit dem Augenblick, da er sie erblickt hatte? Seit Rabbi White die Sehnsucht nach der Welt des Glaubens in sein Herz gepflanzt hatte? Seitdem er ein Denkender geworden war? Ein Leben lang? Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass eine Ehe mit Miriam eine erfüllte und gesegnete sein würde, denn sie war zu der Gläubigkeit erzogen worden, nach der er sich alle Tage und jede Nacht sehnte.

David war sicher, dass er sich nicht täuschte. Er fühlte, dass sich Gott mit einem jungen Mann, der solche Vorstellungen von der Ehe und vom Leben hatte, keine Scherze leistete. Wohl prüfte der Allmächtige die Ernsthaftigkeit eines Mannes, der eine Frau zu seiner machen wollte. Diejenigen aber, die ihm mit so großem Vertrauen dienen, führte Er nicht in die Irre. In dem Moment, da Miriam das erste Mal mit ihm gesprochen hatte, hatte David endlich einen Satz aus dem Talmud begriffen, der ihn bereits als Kind be-schäftigt hatte. Weil seine Mutter nur zwei Kinder geboren hatte, war dieses Gebot ihm sehr lange verschlüsselt gewesen: »Seid fruchtbar und vermehret euch.«

Das wollte David, und nur Miriam wollte er zur Mutter seiner Kinder machen. Weiter vermochte er nicht zu denken, doch noch nicht einmal für den Bruchteil einer Sekunde ließ ihn die Vorstellung zögern, dass er einem Elternhaus entstammte, das der modernen Zeit sehr viel näher stand als dem Judentum. Seine Mutter war auf einer Farm in Afrika und in einem britischen Internat aufgewachsen, sein Vater, als Zehnjähriger ohne Eltern und ohne Bindungen in England angekommen, in einer britischen Pfarrersfamilie erzogen worden. Religion war ihnen beiden gleichgültig. Jüdisches Wissen hatten sie nie begehrt. Ihnen reichte das Bewusstsein um ihre Wurzeln und dass sie die Tradition ihrer Eltern fortsetzten. Und dennoch ließ David den Einwand nicht zu, der von seinen Eltern, der Großmutter und auch von Samy kommen würde, ja von Samy, dem liebenswerten Gütigen, der sonst so bereit war, sich mit jedem Thema auseinander zu setzen, das die Jugend bewegte. In dem Umfeld, in dem Liesel und Emil, Martha mit Samy, David, Rose und ihre Weggenossen lebten, wurde eine frühe Heirat nur für Mädchen akzeptiert. Die Hochzeit einer Teenagertochter wurde enthusiastisch gefeiert - als Glück und Seligkeit und als der Beweis, dass die stolzen Eltern schöne Töchter hatten, um die sich Männer in guter Stellung und mit guten Aussichten rissen.

Söhne heirateten so spät wie möglich. Wünsche oder gar die feste Absicht, aus dieser bewährten Konvention auszubrechen, waren ihnen umgehend auszureden. Zukunftspläne von männlichen Achtzehnjährigen galten als unreif und im besten Fall als skurril. Hochzeiten von Jungen, die gerade der Pubertät entkommen waren, waren absurd. Sie waren eine Absage an die Vernunft, eine Provokation, eine Verfehlung wider den guten Geschmack und wider die zu jedem Opfer bereiten Eltern, denen der Sohn gemäß jüdischer Tradition ein Leben lang Dank schuldete. Wer das vergaß, dem gewährte das Schicksal kein Pardon.

In der assimilierten Welt der Procters heirateten die jungen Männer nicht, ehe ihre Selbstständigkeit durch Leistung und Karriere zu belegen war. Achtzehnjährige Knaben hielten sich für Helden und wurden als Helden gefeiert. Noch ehe sie eingeschult wurden, wussten sie, dass ihnen die Bewunderung der Eltern mit der gleichen Selbstverständlichkeit zustand wie die Spiegeleier zum Frühstück und ein neuer Anzug zu den hohen Feiertagen. Junge Männer, die gerade die Schule beendet hatten, stellten sich nicht unter einen Hochzeitsbaldachin, um mutwillige junge Mädchen zu heiraten, die den Schwiegermüttern das Herz ihrer Söhne stahlen.

Die jungen Recken, die von ihren Eltern, Großeltern, Tanten und Onkel angebetet wurden, gingen in Discos und tanzten sich lahm. Oder sie schrien sich bei Sportveranstaltungen oder in Konzerten für die Massen heiser. Wenn es das väterliche Einkommen gestattete, wurden sie auf Reisen geschickt, damit sie in der Fremde das Leben ausprobierten und erwachsen wurden. Sie studierten an den bestmöglichen Universitäten und imponierten der Verwandtschaft und Freunden mit Leistungen, die die eigenen Eltern nicht beurteilen konnten und um die sie die Eltern von nur durchschnittlich begabten Kindern seufzend beneideten. Den Freundinnen imponierten diese strahlenden Genies eigener Prägung mit Vaters Konto. Von

Vätern, die nicht gewohnt waren, ihren Söhnen einen Wunsch abzuschlagen, erbettelten sie erst die Autoschlüssel und bald eine eigene Kreditkarte. Keck ängstigten sie ihre Mütter, die allzeit fürchteten, ihre Hätschelsöhne würden den warmen Schal vergessen oder ihr Leben in einem fremden Bett riskieren. Dieselben Mütter, die Tränen für ein legitimes Mittel hielten, um das Verhalten der Söhne nach ihren Wünschen zu regulieren, waren gerührt, wenn diese Söhne sie küssten und ihnen zusicherten, dass sie ihr Leben lang nie eine Frau so lieben würden wie die sich aufopfernde Frau, die sie geboren hatte.

Die Väter hätten jeden Eid geschworen, dass sie sich genau solche Söhne, wie sie ihnen Gott beschert hatte, immer gewünscht hatten, denn die Söhne waren zwar verzogen und anspruchsvoll und als Kinder unleidliche Tyrannen, doch sie waren gutmütig und ihren Eltern gegenüber so rücksichtsvoll, wie es nur die sein können, die früh zu durchschauen gelernt haben. Die Söhne - und auch die Töchter - waren sich nämlich allzeit bewusst, weshalb sie ein Vierteljahrhundert nach dem Krieg immer noch als ein Wunder gefeiert wurden. Es war das Wunder, das Gott an den Überlebenden hatte geschehen lassen. Auch in England, das im Krieg von deutschen Truppen verschont geblieben war, gab es sehr viele jüdische Familien, die Angehörige in den deutschen Konzentrationslagern verloren hatten. David, dessen Großeltern väterlicherseits aus ihrer Wohnung in Wien in einen Viehwaggon Richtung Auschwitz verschleppt worden waren, war einer von vielen.

Die, die es betraf, sprachen nicht über die Vergangenheit. Sie schauten auch nicht zurück. Schon gar nicht in der aufgeklärten Welt der Liberalen, die es für Elternpflicht hält, die Kinder von Belastendem und Schrecklichem fern zu halten. Meisterhaft spielten die wissenden Schweigenden ihre Rolle als vergötterte Söhne. Ihnen war es wichtig, ob ihre Hosen gut saßen und wie ihre Frisuren, wen sie zu ihren Freunden zählten und wer Zeuge ihrer Erfolge war. Nur mit der Schönsten der Schönen wollten sie gesehen werden. In endloser, nebulöser, wohltuender Ferne lag aber für sie der Tag, da sie den beschützenden Horst aus Verdrängung und Elternliebe verlassen würden, um zu heiraten. Und war es schließlich unvermeidbar, dass die endlich flüggen Vögel goldene Eheringe und schwarze Hochzeitsanzüge bestellten und ihnen die bewegten Eltern Häuser kauften oder Hilfe leisteten, eine dem Familienprestige adäquate Wohnung anzumieten, dann entschieden sie sich bestimmt nicht für Frauen aus orthodoxem Hause, deren Namen sie nicht kannten und die kein Vermögen hatten außer ihrem frommen Herzen.

David war mit Eltern bedacht worden, die ihn zwar verwöhnten und gewähren ließen, ihn jedoch nicht auf den Thron stellten, der in den Kinderzimmern des jüdischen Bürgertums zur Grundausstattung gehört. Trotzdem machte er sich keine Illusionen. Unmittelbar nachdem er den Entschluss gefasst hatte, durch eine frühe Heirat aus seiner Welt auszubrechen, wurde ihm klar, dass sein Dilemma selbst für Gott eine unzumutbare Herausforderung werden würde. Mochte er seine Phantasie mit all der Kraft antreiben, die in ihm war, und mochte er seinen Schöpfer bis zum Ende seiner Tage um Beistand und Erleuchtung anflehen, David konnte sich nicht vorstellen, wie es ihm je gelingen würde, durch den nachtschwarzen Tunnel ans rettende Licht zu gelangen.

Seine Mutter hielt Logik für den Hauptpfeiler allen Seins, Vernunft für Lebenssaft. Sie wollte Beweise wie in der

Mathematik sehen, ehe sie zu glauben bereit war. Auch der Vater war ein Skeptiker. Er wurde misstrauisch, sobald die Nadel des Lebenskompasses in eine andere Richtung als die erwartete auszuschlagen begann. Und er hatte Erfahrungen gemacht, die ihren Zugriff auf den, der sie machen musste, nie lockern. Weil ihm zwei Monate nach seinem zehnten Geburtstag die Eltern genommen worden waren, hatte sich dieser skeptische, misstrauische, unendlich liebevolle Vater als Kind Tag für Tag geschworen, er würde später alles Menschenmögliche tun, um die eigenen Kinder vor allem zu schützen, das das Leben verdüstert.

Wie diesen besonderen Eltern von der Rabbinerstochter in schwarzen Wollstrümpfen erzählen, mit der sich ihr einziger Sohn, schon im Kinderwagen das ersehnte Wunderkind, seine Zukunft erträumte? Wie dafür sorgen, dass Lie-sel und Emil Procter ohne das Gefühl weiterleben könnten, sie hätten ihren Sohn so endgültig verloren wie ihre Tochter?

David konnte sich ebenso wenig vorstellen, wie er Rabbi Myers beibringen sollte, dass ihn, den eifrigen, von Rabbi White empfohlenen Tutor, dessen Tochter so sehr viel mehr beschäftigte als die Söhne, die er auf dem Pfad des Lernens zu begleiten hatte. Es führte ein anderer Regie. Der, der auf eine Antwort des Himmels lauerte, brauchte nicht lange auf den Beweis zu warten, dass das Schicksal seinen Plänen zustimmte. Bereits drei Tage nach der unverhofften Begegnung im Studierzimmer wurde David klar, dass das scheue Wesen, das mit einem Schälchen Honig in sein Leben gestampft war, künftig auch für ihn ein Teil der Gegenwart sein würde.

»Heute«, sagte Rabbi Myers, als er, wie üblich nachmittags um drei mit dem jungen, sympathischen, zurückhaltenden, wohlerzogenen Lehrer seines Sohns den Tee einnahm, »hat Miriam für uns den Kuchen gebacken«. Der Vater, der nicht anders als in den liberalen Familien, mit Stolz und Absicht von den hausfraulichen Tugenden seiner heiratsfähigen Tochter sprach, goss noch mehr von dem süßen Likör als sonst auf den gelb leuchtenden Kuchen. Er nickte David zu.

Die Bemerkung war nicht zufällig gemacht worden. Weitblickende Väter, die mit jungen Männern von Töchtern reden, für die es Zeit ist, das Elternhaus zu verlassen, tun das nicht deshalb, weil ihnen nichts von allgemeiner Bedeutung für die Menschheit eingefallen ist. Rabbi Myers wusste, was er wollte, und noch besser wusste er, was geboten war. Seit zwei Jahren machte er sich Gedanken, ja auch Sorgen um den Teil der Zukunft, den ein verantwortungsvoller Familienvater nicht dem Mächtigen allein überlassen mag. Es wurde Zeit, fand der Rabbi, seine älteste Tochter dem Mann zuzuführen, der sie heiraten würde - bevor in ihr der Wunsch erwachte, das Leben kennen zu lernen. Oder gar das, was die Menschen Liebe nannten. Verirrungen im Namen der Liebe geschahen neuerdings öfters. Schuld war die Zeit. Sie bot zu viele falsche Reize und zu große Verlockungen in den Abgrund, zu viele Möglichkeiten zum Ausbruch und zur Abkehr. Es war nicht mehr ratsam, sich nur auf Erziehung, Erfahrung und elterliche Klugheit zu verlassen. Rabbi Myers hörte nun häufig von Töchtern aus orthodoxem Haus, die erst einen Blick über den Zaun riskiert und dann für immer den Eltern die Möglichkeit genommen hatten, sich auf die Beschneidung ihres Enkelsohns zu freuen.

Für den Rabbi gab es aber auch noch einen anderen sehr wesentlichen Grund, sich mit Miriams Zukunft zu beschäftigen. Er wollte nicht irgendeinen beliebigen Schwiegersohn. Wozu einen, der nur auf ihren Fleiß und ihre geschickten Hände setzte? Weshalb die Tochter einem Mann überlassen, der von der kleinen Erbschaft wusste, die Rabbi Myers gemacht hatte und der also auf die Mitgift für die Tochter spekulierte? Es war dem Vater auch nicht wichtig, ob Miriam jemanden heiratete, der im richtigen Alter war, sie zu leiten und zu beschützen, oder ob der Mann es sich leisten konnte, seiner Frau Kleider aus Samt und sich selbst ein Auto mit vier Türen zu kaufen. Der Rabbi suchte keine Investition in die Zukunft. Es war einzig David, dem er die Tochter übergeben wollte. Der Allmächtige hatte ihm den rothaarigen jungen Mann nicht ohne Absicht ins Haus geschickt, und diese Absicht hatte Miriams Vater sofort begriffen.

Obgleich ihm nie ein Wort der Klage entschlüpft war, er nie geseufzt, sich noch nicht einmal gegrämt und sich schon gar nicht mit anderen glücklichen Vätern verglichen hatte, waren im Hause Myers nur die Töchter mit Klugheit bedacht worden. Die Söhne ließen keine Hoffnung im väterlichen Herz keimen. Nie würden sie ein Ziel erreichen, für das ein Vater noch mit seinem letzten Atemzug dem König der Welt dankte. Spätestens als Benjamin die Fragen zu Pessach nicht hatte erlernen können, hatte sich Rabbi Myers mit seinem Los abgefunden. In seinen Gebeten hatte er für den gesunden Körper seiner Söhne gedankt; seiner Sehnsucht nach der geistigen Erleuchtung seiner männlichen Nachkommen hatte er für immer Schweigen befohlen.

David war nicht nur fromm und eifrig und liebenswert. Er war klüger als die Klügsten, die der Rabbi kannte. Vor allem: Er war noch formbar. Er ließ sich lenken wie die aus Wachs, die nicht zu widersprechen gelernt haben. Von dem Augenblick an, da Rabbi Myers zum ersten Mal Zeuge geworden war, wie geduldig und behutsam der junge Lehrer mit Simon umging, der nie klüger werden würde als ein Schaf, hatte der enttäuschte Vater David zum Sohn begehrt. Eine Zeit lang quälte ihn die Reue des Undankbaren. Es war ein Unrecht an den leiblichen Söhnen, sie weniger zu lieben als die, die nicht vom gleichen Blut waren. Das Herz aber, das sich nicht maßregeln lässt, widersprach dem Kopf, der Gerechtigkeit einforderte. Dann siegte das Herz. In seinem Leben hatte der Rabbi das bis dahin nur ein einziges Mal zugelassen. Er wehrte sich nicht.

Zwar studierte David Jura in einer Welt, die nicht jüdisch war, doch lange würde er es bestimmt nicht mehr tun. Schon jetzt ging er nicht mehr regelmäßig zur Universität. Rabbi Myers hatte das gespürt, Rabbi White seine gute Ahnung bestätigt. David, so erfuhr Miriams Vater, hatte schon vor seiner Barmitzwa einen anderen Weg gesucht, andere Ziele leuchten sehen als jene, von denen sich die Assimilierten blenden lassen, wenn sie um das Goldene Kalb tanzen.

»David ist der Sohn, den ich mir immer gewünscht habe«, vertraute Rabbi Myers seinem Freund an.

»Wenn Er es will«, erwiderte Rabbi White, »wird deine Frau ihn gebären.«

»Sie wird nicht«, wusste der, dem es nach David verlangte.

»Er wird sich lohnen, dass wir uns um ihn bemühen«, erklärte er seiner Frau. Er hoffte sehr, sie würde seine Scham nicht wittern, sich nicht kränken, dass ihrem Mann die

Söhne aus ihrem Leib nicht genug waren, doch sie hatte noch vor ihm Bescheid gewusst.

»Ich habe verstanden«, beruhigte sie ihn. Weil sie auch ihre Töchter liebte, wagte sie dennoch eine Frage. »Ist er nicht sehr jung, dein junger Mann?,« sagte sie.

»Er ist ein Jahr älter als Miriam. Wenn sie, so der Allmächtige es so bestimmt, einhundertundzwanzig ist, wird sich der Altersunterschied ausgeglichen haben.«

»Und wie soll er eine Wohnung bezahlen, wie die Töpfe für das Fleisch, das Geschirr für das Milchige und das für Pessach? Und wie soll ein Mann, der keine Stellung hat, zu einem Telefon kommen, um nachts nach dem Arzt zu rufen, wenn sein Kind auf die Welt will?«

»Hat Abraham telefoniert, als es bei Sara so weit war?« Die Frau knetete ihre Hände. Verlegenheit brannte ihr Gesicht rot, aber sie gab nicht auf. Noch nicht. »Wovon sollen sie leben? Er studiert doch noch. Sein Vater bezahlt sein Leben.«

»Hat der Mensch nur einen Vater? Du sprichst wie eine, die nur fragen kann und nicht zu glauben gelernt hat. Er wird nicht mehr lange studieren. Er will lernen. Man hat es mir gesagt.«

»An unserer Schule suchen sie einen Lehrer«, wusste Miriams Mutter, als sie die Partie verloren gab.

»Jetzt sprichst du wie eine, die wie ein Mann denkt«, lobte der Rabbi.

Von dem Tag an, da er und seine Frau sich über Wunsch, Verfahrensweise und Ziel im Klaren war, musste Miriam dem jungen Lehrer ihres Bruders regelmäßig Tee mit Honig bringen. Damit David die Absicht nicht vor der Zeit witterte, wurde Simon weiterhin eine Stunde nach der Mittagsmahlzeit von seiner Schwester eine Tablette überbracht. Es war freilich eine andere als die ursprüngliche gegen den Husten, denn Simon war längst wieder gesund. Nun verrichtete ein Bonbon aus Traubenzucker Vermittlungsdienste - Traubenzucker war unschädlich und gab dem Kopf Nahrung. Bald war es so weit. Rabbi Myers lud David ein, mit seiner Familie den Sabbat zu empfangen. In der Woche nach dem ersten gemeinsamen Mahl sagte er nur im fragenden Ton: »Du kommst doch, David?« Nach dem dritten Mal lud er ihn nicht mehr mit Worten ein. Der gemeinsame Freitagabend war eine Selbstverständlichkeit geworden. David saß neben dem Rabbi, Miriam zu seiner Linken. Sie trug ein helles Kleid, und immer öfters sprach sie mit David, ohne abzuwarten, ob er sie anreden wollte.

Vor dem ersten Mal wurde es David schwer, seinen Eltern von der anstehenden Veränderung zu erzählen. Bis dahin hatte er Simon nur vage und Rabbi Myers noch nie erwähnt. Trotzdem konnte er sich das Gespräch, das zu Hause fällig war, genau vorstellen. Schon als Kind hatte er sich immer gewundert, wie schnell seine Mutter eine Fährte aufnahm und mit welcher Sicherheit sie komplizierte, für ihre Kinder unangenehme Zusammenhänge analysierte. Nun scheute sich David nicht so sehr, den verborgenen Teil seines Lebens zu offenbaren. Noch mehr fürchtete er, die zu kränken, die er liebte. Seit seinem zehnten Lebensjahr war ihm klar gewesen, dass seine Eltern und die Großmutter nur der Kinder wegen am Freitagabend den Sabbat zelebrierten. Umso mehr belastete es ihn, eingestehen zu müssen, dass ihm die häusliche Tradition nicht mehr genügte.

Auch da war der Zeitpunkt, sich der Konfrontation zu stellen, nicht vom Zufall allein bestimmt. Seitdem seine

Schwester nicht mehr mit am Tisch saß, hatte David die Liebe von Mutter und Vater allein tragen müssen, dazu ihre Verzweiflung, die Blicke, die Rose’ leerem Stuhl galten, und die nie endenden rhetorischen Fragen und Grübeleien, wie es ihr wohl gerade in dem Moment erging, da zu Hause die Sabbatkerzen angezündet wurden. Er hätte, das wurde David klar, als es zur Umkehr ohnehin zu spät war, auch dann mit seinen Eltern gesprochen, wenn er Miriam nicht kennen gelernt hätte.

Er wartete, in Spannung und so reuevoll, als hätte er sich tatsächlich einer Sünde wider Vater und Mutter schuldig gemacht, bis Donnerstag. Dann erzählte er von der Sabbateinladung bei Rabbi Myers. Davids schlimmste Befürchtungen wurden noch übertroffen. Seine Mutter war nicht nur erwartungsgemäß konsterniert und enttäuscht, sie war fassungslos. Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht. Sie selbst wich, was sie nicht zu merken schien, einen Schritt von ihrem Sohn zurück und murmelte die ganze Zeit wie eine alte Frau vor sich hin, die ihre Einsamkeit und ihre Angst mit der eigenen Stimme bekämpft. Einen Moment hielt Liesel ihre Hände vor ihr Gesicht, als müsste sie sich vor Schlägen schützen. »Du auch?«, fragte sie, schob die Schüssel, in der sie gerührt hatte, wütend von einem Ende des Tischs zum anderen und rannte aus der Küche. Ihr Sohn setzte an, der Mutter nachzugehen, aber seine Füße klebten am Boden.

Sein Vater sagte nichts, als David mit ihm sprach. Obwohl er es nicht vorgehabt hatte, erzählte der Sohn von der Szene in der Küche. Emil sagte nichts. Er starrte zum Fenster hinaus in das verschwindende Licht des unglückseligen Tages. Beklommen fühlte David, dass sein Vater nicht in der Gegenwart geblieben war. Er stand am Wiener Westbahnhof, ein verwirrter Junge von zehn Jahren mit einem Leberwurstbrot in der Hand und einem Schild um den Hals, und war von seinen Eltern in die rettende Fremde geschickt worden.

»Sorry«, sagte David, als wollte er sich entschuldigen, weil er dem Vater auf den Fuß getreten hatte.

»Du hast immer ganz schnell Sorry gesagt«, erinnerte sich Emil, »auch wenn es gar nicht nötig war.«

Liesel ging unmittelbar nach dem Abendessen, das keiner der drei angerührt hatte, zu Bett. Die beiden Männer saßen vor dem dunklen Fernsehschirm und wagten nicht, einander anzuschauen. Nur die Ohren fanden Erlösung. Der Vater, der nie seine Stimme erhoben und nie den Funken des Zorns in seine Augen gelassen hatte, räusperte sich. »Musste es jetzt sein, David?«, fragte er. »Gerade jetzt, wo Rose uns verlassen hat?«

»Ich verlasse euch nicht. Ich habe eine Einladung zum Sabbat angenommen. Mehr nicht.«

»Zwing du mich nicht auch, mich zu belügen. Vielleicht weißt du es noch nicht. Wenn ein Sohn wie du nicht mehr am Sabbat mit uns am Tisch sitzen will, ist er zum Aufbruch bereit. Du warst nicht vorsichtig genug in der Wahl deiner Eltern, David. Sie lieben dich zu sehr. Das schafft Bindungen, und Bindungen sind Ketten. Besonders in jüdischen Familien. Die haben zu viel hergeben müssen. Die winken nicht und lächeln, wenn sie Abschied nehmen. Denen bricht selbst die kleinste Trennung das Herz. Mach es nicht wie deine Schwester, mein Sohn. Zweimal könnte das deine Mutter nicht ertragen.«

»Rabbi Myers«, sagte David, »wohnt in Whitechapel, Dad. Das liegt nicht in Frankreich.«

Weil sie beide lachten und eine Fröhlichkeit, die sie nicht erwartet hatten, sie wärmte und sie zu beschützen versprach, solange sie beschützt werden mussten, erzählte der Sohn dem Vater genau das, was er noch lange nicht hatte erzählen wollen. Vielleicht nie. Noch wusste er nicht, wohin sein Weg führte, doch schon sprach David von Miriam Myers und der Sehnsucht nach ihrer Welt der Frömmigkeit und des Lernens. Der Vater, dem der Sohn nie etwas hatte erklären müssen, verstand auch dieses Mal. Er begriff, dass David nicht mehr in der Welt leben konnte, die bis zu diesem Tag der Wahrheit die seinige gewesen war. »Es sind nur Träume«, bedauerte David. »Aus ihnen kann nie etwas werden. Wie soll ich dem Rabbi sagen, was ich für seine Tochter empfinde? Du und Mutter braucht euch wirklich keine Sorgen zu machen. Ich werde noch hier wohnen, wenn ich so alt bin wie Samy.«

»Mach du dir keine Sorgen, David. Wenn du so alt bist wie Samy, wirst du deinen Enkeln erzählen, wie dich deine Eltern von zu Hause rausgeschmissen haben, weil sie dein Zimmer brauchten, um neue Schreibtische aufzustellen.«

Wie in den meisten Familien, hatte der Vater Recht, und der Sohn täuschte sich. Es wurde nicht nötig, mit Rabbi Myers über Träume, Sehnsucht und Zukunft zu sprechen. David musste sich nur mit einer besonderen Eigenschaft des Rabbis vertraut machen. Der pflegte diffizile Probleme zu lösen, indem er Themen, die im Gespräch hätten unangenehm werden können, als bekannt und bereits in Einverständlichkeit gelöst voraussetzte.

So kam es, dass er am Tag der Entscheidung, einen einzigen Satz sagte und David dabei väterlich auf die Schulter klopfte. »Deine Stelle als Lehrer in der orthodoxen Schule wird nächsten Monat frei«, erklärte er.