Samy und Martha

London, Frühjahr 1967

Am 15. Mai 1967 schrieb David in sein Tagebuch »Heute ist schon die Hälfte unserer Ferien um. Ganz großer Jammer beim besten Schüler von Rabbi White. In Afrika vergeht die Zeit doppelt so schnell wie zu Hause. Ich hätte nie gedacht, dass mir das Leid tut. Wenigstens wird sich Granny freuen, wenn wir in einer Woche wieder da sind. Die arme alte Frau muss ganz schön einsam sein ohne uns.« Davids Mutmaßungen entsprachen nur in Bezug auf die zu erwartende Wiedersehensfreude der Wirklichkeit. Ihm blieben noch acht Tage Zeit, ehe er zum ersten Mal mit dem Umstand konfrontiert werden sollte, dass im Leben am wenigsten Verlass auf Beständigkeit ist. Wesentlich weniger Zeit würde seine Großmutter haben, um den Ihrigen klar zu machen, dass sie weit jünger war als von ihnen angenommen und weder bedauernswert noch vereinsamt.

Seit ihrem Umzug von Londiani in das Haus von Tochter und Schwiegersohn hatte sich Martha Freund absolut getreu den Vorstellungen ihrer Generation verhalten. In aller Augen - auch in den eigenen - war sie eine würdige Witwe. Von der kam noch nicht einmal eine Andeutung, sie könnte irgendwelche Ansprüche jenseits von guten und geregelten Mahlzeiten und einem Zimmer mit eigenem

Zugang haben. Am allerwichtigsten: Sie zeigte sich stets stolz und zufrieden mit ihrer Rolle als hingebungsvolle Großmutter und empfand es immer noch als Kompliment, dass sie ihr Schwiegersohn eine »Patentoma« nannte und ihr zum Muttertag immer ein Sträußchen Vergissmeinnicht überreichte.

Martha war nun neunundfünfzig Jahre alt, zur Begeisterung der Procters eine rastlos tätige und einfallsreiche Hausfrau, vorwiegend gesund und an allem interessiert, das ihren Geist bewegte. Das ließ sie sich allerdings nur in Ausnahmefällen anmerken - war sie allein im Haus, rezitierte sie beispielsweise beim Pulen von Erbsen Schillers »Taucher« und das, was ihr von seiner »Glocke« nach dem Schock der Auswanderung und fünfzehn Jahren afrikanischem Farmleben noch im Gedächtnis geblieben war. Zudem war diese liebenswert bedürfnislose Großmutter sehr kontaktfreudig. Wann immer sie konnte, trotzte sie den ironischen Bemerkungen ihrer Tochter und nahm an den Treffen ehemaliger deutscher und österreichischer Juden teil. Die fanden an jedem ersten Mittwoch im Monat im Heim einer wohlhabenden Zahnarztwitwe aus Graz statt. Deren schönes altes Haus hatte eine so gute Lage, dass nach dem Kaffee - mit einer Sachertorte, wie es sie noch nicht einmal in dem Wiener Café im Bezirk Hendon gab - meistens erholsame Spaziergänge in Hampstead Heath auf dem Programm standen.

Die Frage, ob ihre häuslichen Pflichten zum Glück reichten oder ob die ständige Verleugnung der eigenen Bedürfnisse ihr wohl bekam oder nicht, stellte Martha sich nie. Sehr dankbar war sie dem Schicksal, dass es sie mit einem so zärtlichen und sanften Schwiegersohn bedacht hatte. Emil erwärmte ihr Herz und ihre Seele; mit jedem Wort und jeder Geste ließ er sie spüren, dass er in ihr die Mutter sah, die ihm als Zehnjährigem genommen worden war. Ebenso wohltuend bestätigten ihr die Enkel, dass es keinen Grund mehr für die depressiven Verstimmungen gab, die ihr Leben nach dem frühen Tod ihres Mannes lange Zeit umschattet hatten. Vor allem David brachte Heiterkeit und Herzlichkeit in Marthas Leben. Er umarmte sie ohne Scheu und meistens auch ohne Anlass. Kaum einer ihrer Bekannten mochte glauben, dass dieser rebellische Knabe mit dem kecken Mundwerk seiner Generation nie eine Spur von Ungeduld zeigte, wenn seine Großmutter Schwierigkeiten mit seiner Muttersprache hatte. Fast täglich dachte sie an die Zeit, als Liesel in seinem Alter gewesen war, und wie vorsichtig sie hatte sein müssen, um die schwierige Tochter bei Laune zu halten und sie nicht mit den eigenen Empfindungen und Hoffnungen zu belasten. Als sie ihre Kinder und Enkel zum Flughafen begleitete, hatte Martha wahrhaftig nicht im Sinn, sich mehr als nötig mit sich selbst zu beschäftigen. Allerdings übersah sie dabei die Entwicklung der letzten Monate und dass sie bereits sehr wesentliche Schritte getan hatte, um einen neuen Fixpunkt in ihrem Leben anzupeilen. Zunächst war ihr die Länge und die Kraft dieser Schritte entgangen. Sie hätte sonst Angst vor der eigenen Courage gehabt und alle Pläne umgehend als jene lästigen Wunschträume und späten Bewährungsversuche abgetan, zu der ihrer Meinung nach alternde Frauen keine Berechtigung mehr hatten. »Die gute alte Granny Gram Gramps« war dabei, noch einmal flügge zu werden.

»Ich wollte«, resümierte sie später ihre Aufbruchszeit, »meine Flügel benutzen, ehe ich als Engel umherschwirre.« Selbstverständlich hatte Martha vor, weiter im Hause Proc-ter zu wohnen, aber die bis dahin unermüdliche Dienerin von zwei fordernden Teenagern und einer Tochter, die sich nur mäßig für den Haushalt interessierte, würde künftig nicht mehr die Gesamtheit ihrer Tage mit der Familie teilen. Noch quälte die mutige Revolutionärin allerdings die Vorstellung, dass sie nicht die geringste Ahnung hatte, wie sie ihren Kindern und Enkeln von Samuel Bronstein aus Golders Green berichten könnte. Noch im Schlaf hörte sie die Glocken Sturm läuten. Äußerst zuwider war Martha der Gedanke, vor allem ihre spröde Tochter könnte grundverkehrte Schlüsse ziehen und mit hochgezogenen Augenbrauen zu Ergebnissen gelangen, die für die Mutter schon in der Theorie kränkend waren.

Zur gleichen Stunde, in der David den rasenden Pulsschlag der Zeit beklagte, vertraute seine Großmutter einer Schildpattkatze mit smaragdgrünen Augen an: »Mein Gott, Mieze, wenn wir uns nicht beeilen, sind die Feiertage um, und es sieht hier immer noch aus wie bei Hempels unter dem Sofa.« Da die an jeder Facette des Lebens interessierte Katze seit drei Jahren im Hause Bronstein lebte, und dies seit ihrer zehnten Lebenswoche, schien sie zu wissen, dass die neue Frau im Haus von einem jüdischen Feiertag und nicht von einem allgemeinen Ruhetag sprach. Es war das erste Mal, dass die Fremde das Wort an die Katzenschönheit richtete. Die machte aus ihrem Rücken eine fein geschwungene Brücke, sprang tatenfroh vom Sessel und klammerte sich an den Besen im rastlosen Einsatz. Martha, die in all den Jahren in Kenia nie die intime Bekanntschaft einer Hauskatze und stattdessen sehr ärgerliche mit Servalkatzen gemacht hatte, die nachts ihre Küken fraßen, deutete das Verhalten von Mister Bronsteins Hausgenossin als erstes Freundschaftsangebot. Das war nur bedingt richtig, doch wie sich einige Sekunden danach zeigte, gefiel der Katze Marthas bayerisch tiefe Stimme, und sie schnurrte Zustimmung.

»Du hast ganz Recht«, sagte die Besenschwingerin, »wir beide werden das schon schaffen.«

Es war drei Tage vor Schawuoth. Bei dem Fest, das in die Pfingstzeit fällt, wird nicht nur für die erste Ernte gedankt, sondern auch des Tages gedacht, an dem den Juden am Berg Sinai die Zehn Gebote offenbart wurden. Frau Freund, die nicht religiös war und sehr selten in die Synagoge ging, interessierte an Schawuoth in erster Linie, dass nach alter jüdischer Sitte das Heim mit grünem Laub geschmückt wird und dass keine Fleischgerichte, sondern vorwiegend solche mit Quark gereicht werden. Die Katze war noch jung genug, um Freude an dem unerwarteten Laub in Mister Bronsteins vier Zimmern zu haben. Von der drohenden Fleischlosigkeit konnte sie freilich nichts ahnen. Sie war ja nicht in einem auf Tradition bedachten Umfeld aufgewachsen. Von der verstorbenen Mrs Bronstein war sie durchnässt und abgemagert im Narzissenbeet gefunden und am gleichen Abend mit dem englischen Allerweltsnamen »Pussy« bedacht worden.

Miriam Bronstein war seit fünfzehn Monaten tot und wurde von ihrem Mann nun ausschließlich als »meine selige Frau« ins Gespräch gebracht, doch wurde sie längst nicht so von ihm betrauert, wie der im Judentum gebrauchte Ausdruck für Verstorbene vermuten lässt. Sie hatte, was dem Glück der Ehe im Laufe der Jahre immer weniger hold gewesen war, Assimilation für ihr gesamtes Lebenspanorama erstrebt. Ihr Ehemann hingegen war ihr exakter Gegenpart. Wann immer sich dazu Gelegenheit bot, nannte sich Miriam ausgerechnet »Mary«. Samy verübelte ihr das sehr. Sie wiederum nahm ihm übel, dass er - auf ihr Drängen - zwar die englische Staatsbürgerschaft angenommen hatte, jedoch so an seinem Familiennamen hing, als wäre es ein einmaliges Privileg, in England Bronstein zu heißen.

»Unsere jüdische Mary«, wie der Trotzkopf seine Gattin in besonders unpassenden Momenten zu nennen pflegte, stammte aus einem Dorf in der Nähe von Würzburg und war 1937 nach England gekommen - zunächst als Dienstmädchen und zwei Jahre danach, wie sie in ebenso unpassenden Momenten zu sagen beliebte, »als Mister Bron-steins unbezahlte Haushälterin«. Schon vor der Geburt des ersten ihrer beiden Kinder hatte sich diese Haushälterin wider Willen enorme Mühe gegeben, ihre Muttersprache zu vergessen. Das Gleiche hatte sie von ihrem Mann verlangt. Samuel Bronstein, von allen, die er schätzte und von denen, die seinen Familiennamen nicht aussprechen konnten, Samy genannt, gab aus Prinzip nur Forderungen nach, die mit seinem Stolz vereinbar waren. Er hatte in Offenbach eine kleine Lederfabrik besessen, in der Handschuhe und leichtes Reisegepäck hergestellt wurden. Gerade in seinem zweiten Leben als Buchhalter in einem Betrieb, der im Osten Londons Fisch verarbeitete, hielt er Leder für den Stoff, der ihn geprägt hatte. Sein Sinn für Ästhetik und sein Interesse für Bilder galten im Freundes- und Kollegenkreis als ungewöhnlich für einen früh entwurzelten Kaufmann. Seine Begabung für Sprachen lag indes weit unter dem Niveau, das bei Emigranten üblich war. Die fast dreißig Jahre, die er nun in London lebte, hatten Samy nicht gereicht, so gut Englisch zu lernen, dass sich die selige Mrs Bronstein sich nicht seiner schämte. Obwohl man ihm in seiner Heimatstadt alles genommen hatte außer dem Leben, hatte der einstige Offenbacher Bub immer noch Sehnsucht nach seinen Ursprüngen. Nur so war erklärbar, dass er Englisch mit hessischem Tonfall und entsprechendem Akzent sprach und bei einem der wenigen Ausflüge, die er mit seiner Miriam während der Ehe unternahm, trüben Sinnes in die Themse starrte und seufzend klagte: »Der Main wäre mir lieber.«

Zu seiner Freude lachte Martha Freund herzhaft über diese Geschichte, als er sie ihr bei einem der Nachmittage im Hause der Grazer Zahnarztwitwe erzählte. Es war eine besonders gelungene Veranstaltung gewesen, an die er sich durch die hoch geschätzte Reaktion von Martha Freund besonders gern erinnerte. Ausnahmsweise hatte es keine Sachertorte gegeben. Stattdessen hatten die teilnehmenden Damen Kuchen gebacken, die Herren für die Getränke gesorgt. Eine ehemalige Oberstudienrätin, die seit dreißig Jahren in Hendon lebte und die stets glaubhaft versichert hatte, sie esse nichts lieber als das englische Teegebäck mit Schokoladenfüllung und grünem Zuckerguss, hatte Zwetschenkuchen gebacken. Die Backkünstlerin, die in der ersten Zeit ihrer Emigration mit diesem Talent sogar ihren Lebensunterhalt bestritten hatte, war eine gebürtige Frankfurterin.

Samy Bronstein, der neben Frau Freund saß, die er erst zum zweiten Mal traf, hatte plötzlich Tränen in den Augen gehabt und gesagt: »Mein Gott, der Zwetschekuche schmeckt ja ganz lebendig.« Das war der Auftakt zu einem langen, unerwarteten und gerade einen Witwer animierenden Gespräch gewesen. Mrs Freund, von der Samy fand, dass sie mit ihren dunklen Augen und farblich dazupassendem Teint wirklich apart aussah, und dies nicht nur für ihr Alter, hatte ihm, auch äußerst angeregt von Zwet-schenkuchen und von der Bäckerei ihres Mannes in Cham erzählt und wie sie in Kenia gelernt hatte, Brot aus Mais zu backen, das nur ganz wenig nach Mais schmeckte.

»Ich habe überhaupt das meiste in meinem Leben gelernt, nachdem ich von zu Hause wegmusste«, war ihr beim Erzählen aufgegangen. »Und dabei denkt man als Kind doch immer, man hat ausgelernt, wenn man mit der Schule fertig ist.«

»Das kenne ich«, nickte Bronstein Bestätigung. Marthas Lächeln gefiel ihm, noch mehr, dass sie »zu Hause« gesagt und Cham gemeint hatte. Nachdenklich lauschte er in das Stimmengewirr hinein, diese kuriose Mischung aus schlechtem Englisch und verlegen aus dem Gedächtnis geförderten deutschen Brocken. Kaum ein Emigrant kam noch auf die Idee, von seiner deutschen Geburtsstadt als Heimat zu sprechen. Und wäre den anderen in diesem Kreis ein solch unpopulärer Einfall gekommen, hätten sie sich nicht getraut, solche Sehnsüchte vor Menschen zuzugeben, die alle an Deutschland gelitten hatten. Samy Bron-stein war jedoch immer ein Querdenker gewesen, einer, der nicht einsah, weshalb er zum Verlust der Heimat auch noch den Verlust der Persönlichkeit hinnehmen sollte. »Cham«, sagte er animiert. Es tat ihm Leid, dass sein Wissen von Bayern sich auf Bier, Leberkäse und nackte Männerwaden beschränkte. Dass er besonders gut gelaunt war, machte er dennoch deutlich. Wenn ihm etwas an seinem Dasein als Witwer gefiel, dann der Umstand, dass er nur noch auf seine Katze und ihre Aversion gegen englische Würstchen Rücksicht nehmen musste.

»Mögen Sie Katzen?«, fragte er.

»Warum fragen Sie?«

»Beantworten Sie eine Frage immer mit einer Gegenfrage?« »Tue ich das?«

Beide prusteten im gleichen Moment los, als hätten sie den schönen alten Witz zum ersten Mal gehört - Bronstein konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt so heiter gewesen war. Jedenfalls nicht auf der Hochzeit seiner Tochter. Im Laufe der folgenden beiden Stunden erwischte er sich dabei, dass er Details aus seinem Leben preisgab, die er sonst unter der Bonhomie und dem Humor verscharrte, für die er in seinem Bekanntenkreis geschätzt wurde. So erzählte er Frau Freund, dass sein Sohn Daniel, der als Zehnjähriger ein Stipendium für eine äußerst renommierte Schule und danach immer das beste Zeugnis in seiner Klasse erhalten hatte, nach genau fünfzehn Monaten und zwei Tagen sein Medizinstudium abgebrochen hatte und nun eine militärische Laufbahn anpeilte. »Haben Sie schon mal von einem jüdischen General gehört?«, fragte er klagend und hob, wie der alttestamentarische Hiob in größter Not, seine Hände himmelwärts.

»Die Generale in Israel werden doch nicht alle katholisch sein, Mister Bronstein.«

»Von wegen Israel. Der Junge ist ein englischer Patriot. Der hat schon seinem Teddy >God Save the Queen< vorgesungen.«

Er griff unter dem geblümten Tischtuch nach Marthas Hand. Einen Augenblick nur, aber so fest, dass ihr Ehering sie schmerzte. »Sie gefallen mir«, sagte er, so ungeniert, als wäre er siebzehn und verliebt in das hübsche Mädchen mit den schokoladenbraunen Ringellocken, das ihm 1935 noch einmal in der Offenbacher Marktstraße begegnet war und das seinen erfreuten Gruß mit »Hau ab, du Drecksjud« beantwortet hatte. Einen Moment fühlte er einen scharfen Stich zwischen den Rippen. Die Bilder wirbelten im Kreis herum, und er musste kurz überlegen, weshalb Martha soeben gesagt hatte: »So etwas kann vorkommen.« Er löste das Rätsel gerade noch rechtzeitig; die Gespenster vertrieb er mit der Routine, die ihn in Sachen Vergangenheit sehr zuverlässig durch die Jahre geleitet hatte. »Aber«, erzählte er munter, »ich kann den Sohn noch mit der Tochter überbieten. In Rebekka haben die selige Mrs Bronstein und ich mindestens so große Hoffnungen gesetzt wie in unseren Dani. Sie ist bildhübsch und klug und bezaubert alle Leute mit ihrem Charme. Schon in der vierten Klasse hat sie immer einen Rattenschwanz von Bewunderern um sich gescharrt. Auch der Sohn von Abraham Silverstone hat sich für sie interessiert. Natürlich kennen Sie den Sohn von Silverstone und Partner. Die besten Wollstoffe seit der Erfindung des Schafs. Steinreiche Leute sind das und hoch vornehm, die sich ihr jüdisches Herz bewahrt haben. Der Sohn soll heute schon so viel Geld haben, dass er sich leisten kann, den Flohwalzer von lebendigen Flöhen spielen zu lassen. Und in Paris hat er schon in dem Lokal gegessen, das dafür berühmt geworden ist, dass der Koch die Ente durch die Fleischmaschine dreht. Na ja, die Franzosen sind halt so. Mein Fall waren sie nie. Und trotzdem habe ich im Sommer vor zwei Jahren Becky mit ihrer Gruppe vom Religionsunterricht nach Paris gelassen. Und wie hat sie mir das gedankt? Nur weil der junge Silverstone nicht so schmuck ist wie Prinz Philipp und lieber hinter seinem Schreibtisch sitzt als auf einem meschuggenen Polopferd, lässt sie ihn nach einem halben Jahr sitzen und heiratet heraus.«

Der besorgte Vater hatte in seinem eifernden Erzählfluss eine von Martha noch nie gehörte Redensart wörtlich aus dem Englischen übernommen. Da zum damaligen Zeitpunkt in der Familie Procter eine Ehe zwischen einer jüdischen Frau und einem nichtjüdischen Mann noch nicht einmal im Ansatz zur Diskussion stand, brauchte Martha umfassende weitere Erklärungen. Erst nach zehn Minuten, die noch mehr Vorstellungsvermögen als Konzentration erforderten, war sie in der Lage, Samy ihr Mitgefühl auszudrücken. Es stellte sich heraus, dass Tochter Rebekka einen nichtjüdischen Graphiker ohne feste Anstellung geheiratet hatte und nun hochschwanger war. Im vergangenen Jahr hatte sie noch nicht einmal gewusst, wann Rosch Hashanah war, und ausgerechnet am ersten Tag des neuen jüdischen Jahrs ihrem Vater ein Foto von sich samt Mann und Hund geschickt, aufgenommen vor der Kathedrale von Canterbury. »Fehlt nur noch«, malte er sich düster aus, »dass sie zu meinem siebzigsten Geburtstag mit Mann und Köter hier auftaucht und ein Kreuz um den Hals trägt. Und natürlich wird das Kind, wenn’s ein Junge wird, nicht beschnitten sein.«

»Jetzt übertreiben Sie, Mister Bronstein!«

»Das ist schon passiert, glauben Sie mir. Mehr als einmal. Beispielsweise bei dem armen Greencage. Der hat in einem einzigen Jahr seine Frau verloren und seine Tochter an einen katholischen Lehrer abtreten müssen, der von dem unbedarften Mädel verlangt hat, dass es sich noch vor der Hochzeit taufen lässt. Und eingebrochen wurde bei Greencage auch. Da hat Siegfried Grünthal sein neuer englischer Name nämlich keinen Pfifferling genützt. Der Mann hatte eine der schönsten Briefmarkensammlungen, die ich je gesehen habe. Und alles unter Lebensgefahr vor Hitler gerettet.«

»Ich meine doch, dass sie siebzig werden«, unterbrach ihn Martha. »Wie sagen die Engländer? Compliments for den

Fish. Das haben Sie doch weiß Gott nicht nötig, Herr Bronstein.« Diesmal entzog sie ihm nicht ihre Hand.

Ihm gefiel es, dass sie wie ein junges Mädchen lächelte - mit den Augen und nicht nur mit den Lippen. Das sagte er ihr, ehe er überhaupt auf die Idee kam, sich altersgemäß zu verhalten. Danach nahm der Austausch von Komplimenten sehr viel mehr Zeit in Anspruch, als es Menschen gewohnt sind, die geschickter mit der Vergangenheit als mit der Gegenwart umzugehen wissen. So kamen sie nicht mehr dazu, den einen Punkt zu erörtern, der beide gleich stark beschäftigte. Würden sie einander vor dem nächsten Seniorennachmittag in Hampstead wiedersehen? Unter welchem Vorwand und wo? Martha nahm versehentlich einen falschen Regenschirm mit nach Hause, zudem einen ganzen Berg von Fragen, von denen sie fand, ihre Enkeltochter hätte jede einzelne sehr viel besser beantworten können als sie.

Beim Aufbruch verwechselte er zwei dunkelgrün gestrichene Türen und landete statt im Badezimmer im Schlafzimmer. Unter einer Jugendstillampe stellte er verblüfft fest, dass die vornehme Gastgeberin, die den Eindruck machte, als interessiere sie sich ausschließlich für Backrezepte und den beruflichen Werdegang ihres Sohnes, eines angehenden Augenarztes, über ihrem Bett ein Bild hängen hatte, das zwei nackte Frauen auf einer Liegestatt aus roten Rosen zeigte. Samy, der sein Lebtag nicht indiskret gewesen war, beschloss, ein wenig peinlich berührt, dies Martha zu erzählen - falls er das Glück hätte, sie wiederzusehen. Auf dem Heimweg vergaß er, der Katze Futter zu kaufen. Er musste Pussy mit portugiesischen Ölsardinen ruhig stellen, die sie misstrauisch in Empfang nahm und zwei Stunden später jammernd auf dem hellgrauen

Teppich im Wohnzimmer aus sich herauswürgte. Kurz vor dem Einschlafen vermeinte er, die Stimme seiner früheren Gattin zu vernehmen. Sie nannte ihn einen verantwortungslosen Nebbich.

Schon am nächsten Tag rief Samuel Bronstein bei Martha Freund an. Es war nachmittags um halb vier. Die Sonne bestrahlte das Maigrün der Bäume und das Gemüt von Menschen, die Jahr für Jahr lauter den Frühling als Wunder bejubeln. Martha, den Telefonhörer so fest umklammert haltend, als wollte ihn ihr ein Berserker entreißen, seufzte erleichtert auf. Sie war froh, dass sie allein zu Hause war, also ihrer kritischen Tochter nicht den Seufzer zu erklären brauchte und ebenso wenig den Grund für die roten Flecken auf ihren Wangen. Trotz ihrer Gesichtsfarbe, über die ihr die soeben gewienerten Scheiben im Wohnzimmerschrank beredt Auskunft gaben, und ihres beschleunigten Herzschlags, der Zeitläufte durcheinander wirbelte wie ein Schneeschläger das Weiße vom Ei, zierte sich Martha nicht, Samys ungewöhnlichem Vorschlag zuzustimmen. Sie versprach, ihn am darauf folgenden Mittwochnachmittag in Golders Green zu besuchen, und flehte ihn besorgt an, sich »nur ja keine Mühe zu machen«. Übermäßig überrascht war sie von seiner Einladung nicht, nur ein wenig beklommen, als sie am nächsten Tag eine Verabredung beim Friseur machte, ihre sämtlichen Röcke anprobierte und dann ausgerechnet einen hellbeigen kürzte, den sie eigentlich Liesel hatte schenken wollen. Schon beim ersten Tragen war der Rock ihr zu jugendlich für eine Frau in ihrem Alter erschienen, und dann hatte Emil auch noch gesagt, sie würde in ihm wie eine japanische Geisha im Teehaus schreiten.

Ehe die Procters nach Kenia aufbrachen, gab es für Martha noch nicht einmal den Bruchteil von einem Grund, mit ihrer Familie andere Themen zu erörtern als die üblichen. Wie auch hätten sie ihre Kinder und Enkelkinder wissen lassen sollen, dass sich aus einer ganz alltäglichen Plauderei über aufmüpfige Söhne und unbelehrbare Töchter, über Leberkäse, Zwetschenkuchen und Katzen eine nicht alltägliche Geschichte entwickelt hatte? Und dies in einem Tempo, das beiden Beteiligten Vernunft und Sprache raubte? Diese Geschichte war alt, und doch war sie immer noch jenen neu, denen sie widerfuhr.

Bei ihrem ersten Besuch in Golders Green regte sich nur Marthas weiblicher Schutzinstinkt. Zu sehen, wie ein allein lebender Mann sich so energisch bemühte, das Gefüge seines bisherigen Lebens zu erhalten, rührte sie. Ihr war klar, dass sie nicht nach einem Staubtuch fragen konnte und erst recht nicht nach einem Fensterleder, ohne den Witwer zu kränken, doch auf einen Schlag vergaß sie dann doch, sich an die Spielregeln für den Umgang mit Männerstolz zu halten. Ihr fiel auf, dass der mittlere Knopf an seinem dunkelblauen Blazer nur noch an einem Faden hing. Als sie vorschlug, den Knopf festzunähen und »dann auch gleich nach den anderen beiden zu sehen«, musste sie lächeln -obwohl sie ihr Gesicht nicht sah, wusste sie, dass es wie in den Zeiten aussah, da sie weibliche List als eine selbstverständliche Begleiterin der Tage empfunden hatte. Nur weil sie ohnehin in den Nähutensilien der seligen Mrs Bron-stein wühlte - ein ihrer Einschätzung nach recht liederlich eingeräumter Blechkasten mit nur einer Spule Knopflochseide und einer zu stumpfen Schere -, schlug Martha vor, die »Gelegenheit zu nutzen« und den aufgetrennten Saum der Küchengardine zu richten.

»Bedank’ dich wenigstens bei unserem lieben Gast, das war dein Werk, du Monster«, wisperte Samy seiner Katze zärtlich ins Ohr.

»Sie stecken doch nicht mit Ihrer Katze unter einer Decke, Mister Bronstein?«

»Nur noch mit meiner Katze, Mrs Freund. Leider.«

Beim zweiten Treffen, es war noch keine Woche seit dem ersten vergangen, beschränkte sich Martha auf kleine, nützliche Handgriffe, die Männern in der Regel nicht auffallen, aber einem Mann, dessen Sinn für Ästhetik an feinem Leder geschult worden ist, eben doch. Es wurde ein Nachmittag, der beide überaus zufrieden stimmte. Er hatte eine Flasche Port besorgt. Es war eine Preisklasse, der sich auch der reiche Mister Silverstone nicht hätte schämen müssen, doch Samy tat so, als wäre ihm schon immer eine teuer gefüllte Hausbar Herzensanliegen gewesen. Eine Viertelstunde später war er allerdings nicht mehr auf der Hut und gestand versehentlich, sein Lieblingsgetränk wäre Ginger Ale mit drei Spritzern Zitrone. Martha aber blieb tapfer und bis zum Aufbruch bei der Behauptung, ein Gläschen Port würde ihr zu jeder Tageszeit munden. Beim dritten Rendezvous trafen sie sich zu einem Konzertbesuch, das sogar in der U-Bahnstation Finchley Road plakatiert worden war, wohin er immer zu einem Metzger böhmischer Abstammung fuhr, der ihn mit preiswertem Futter für seine Katze versorgte. Es genierte Bronstein enorm, dass er das Plakat zu flüchtig gelesen hatte. Es wurde ausschließlich Musik moderner englischer Komponisten gespielt. Er beneidete die Männer vom Orchester um die Robustheit ihrer Ohren, und zum Zweiten neidete er den Platzanweisern ihr freies Leben. Sie hatten beim ersten Ton geschlossen den Saal verlassen. Samy konnte sich nicht erinnern, je so hämmernde, aggressiv dröhnende

Musik gehört zu haben - auch nicht als seine Kinder im Teenageralter gewesen waren. Noch vor der Pause fielen ihm drei wirklich einfallsreiche Entschuldigungen ein, um seine Fehlentscheidung zu begründen, doch zu seinem Erstaunen verlangte die Frau an seiner Seite kein Wort der Erklärung. Ihr schmeichelte es, dass er sie für jung und weltoffen genug für eine Veranstaltung hielt, in dem der größte Teil des Publikums so aussah, als hätte er seine einzige saubere Hose verkauft, um sich das Konzert leisten zu können.

Ein noch größerer Erfolg als das Konzert wurden der Tee und die Sandwiches mit gegrillter Pute und Pflaumenchutney in einem Lyons Corner House. Das Restaurant versprach nicht nur Schutz vor einem plötzlich einsetzenden Regenschauer, sondern auch Kuchen zu ermäßigten Preisen - es war die gastliche Stätte, in der sich Emil und Liesel sechzehn Jahre zuvor ineinander verliebt hatten. Obwohl Martha das nicht wusste, wurde sie in einem Moment, in dem sie das am wenigsten erwartete, mutig. Sie fragte Samy erstens nach seinem Geburtstag und zweitens nach seinem Lieblingsgericht. Als Antwort schlug er ihr das Du vor und bestellte für beide einen trockenen Sherry, der mit einem Schälchen Erdnüsse serviert wurde.

»Der ist noch besser als mein Port zu Hause«, schwärmte er. »Finden Sie nicht auch?«

»Du«, verbesserte Martha und wurde rot. Sie dachte an David, der sich immer über eine Sprache lustig machte, die zwischen dem Du und dem Sie unterscheiden musste, und errötete noch mehr bei dem Gedanken, was er über eine Großmutter sagen würde, die auf einem Barhocker saß und sich nach dem Geburtstag fremder Herren erkundigte. Sie wippte leicht mit ihrem rechten Bein und beschloss, für den Sommer Sandalen mit einem kleinen Absatz zu kaufen.

Vor dem nächsten Trip nach Golders Green ging sie zum Metzger und danach zu dem Gemüsehändler, bei dem sie, der überzogenen Preise wegen, für die Procters nur an den hohen Feiertagen einzukaufen pflegte. Unter den wachsamen Augen der Katze, die während des gesamten Kochvorgangs Begeisterung schnurrte und sich in graziöser Erwartungshaltung Fell und Barthaare leckte, bereitete Martha in einem hohen Topf, den sie von zu Hause mitgebracht hatte, genau den Eintopf zu, von dem in der schönen Stunde bei Lyon’s die Rede gewesen war. Samuel Bron-stein, geboren und aufgewachsen in Offenbach am Main, seit fast dreißig Jahren auf der britischen Insel lebend, doch dies mit einer Nase, die ihm nicht in die Emigration gefolgt war, konnte sein Glück nicht fassen. Das aus seinem Gedächtnis nie verbannte Lieblingsgericht trieb ihm schon die Tränen in die Augen, als Frau Martha noch am Küchentisch saß und Sellerie schälte. In seinem ersten Leben hatte immer am letzten Mittwoch im Monat Pichelsteiner Eintopf auf dem Herd gestanden - in dem orangefarbenen Suppentopf seiner Mutter -, und stets war Tante Amalie aus Neu-Isenburg zum Essen gekommen und hatte selbst gebackenen Streuselkuchen und drei Liter Apfelwein für den Abend mitgebracht. Und den Bembel ihres seligen Mannes, um ihn auszuschenken.

»Mein Onkel war«, erzählte Samy, »nämlich ein Frankfurter, aber er soll besonders nett gewesen sein. In Offenbach waren wir ja immer ein bisschen heikel, wenn einer aus Frankfurt war. Massel hat er auch gehabt, der selige Onkel Siegfried. Er ist schon 1928 gestorben und konnte also noch an den Dank des Vaterlands glauben. Das hatte ihn mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet. Die Lebenden hat es ja später nicht vor dem KZ gerettet.«

Mutter und Tante waren, wie er nach dem Krieg von einem Cousin zweiten Grades erfuhr, der das Lager überlebt hatte, schon sechs Wochen nach ihrer Deportation in Theresienstadt verhungert. Um den Gespenstern zu entrinnen, ehe sie ihm das Herz aus dem Körper rissen, stand Samy auf. Nicht nur seine Knochen schmerzten. Einen Moment musste er sich am Küchentisch festhalten. Da sah er, dass sich das Schnürbändel an seinem rechten Schuh gelöst hatte. Er hatte gerade der Köchin erzählen wollen, dass seine Mutter nie Schweinefleisch in das Pichelsteiner getan hatte, obgleich das seines Wissens im Rezept stand, doch seiner feuchten Augen wegen dauerte es unziemlich lange, bis er den Schuhsenkel wieder ordentlich zugebunden hatte. Die Zeit reichte nicht mehr aus, um die mütterlichen Kochgepflogenheiten zu erörtern, ehe Martha zu reden begann. Mit besorgter Stimme merkte sie an: »Ich hoffe, du wirst das Schweinefleisch nicht allzu sehr vermissen. Ich weiß, dass es eigentlich dazugehört, aber ich habe mein Lebtag kein Schwein auf den Tisch gebracht.« Gerührt nahm Samy ihr das kleine Küchenmesser aus der rechten und eine Möhre aus der Linken. Ohne dass sie es merkte, verschluckte er einen Seufzer.

»Wenn ich jünger wäre und keine Angst vor meinem Sohn hätte, dem künftigen Herrn General, würde ich dir auf der Stelle einen Heiratsantrag machen«, sagte er. »Ich glaub, ich kann noch knien.«

»Ich habe auch Angst vor meiner Familie. Das ist ein Altersleiden, Samy. Es kommt eines Tages über Nacht und trifft jeden von uns. Die ganze Sache ist so wie Masern bei Kindern.« »So wie Masern bei Kindern«, wiederholte er. »Was hilft denn gegen Masern?«

»Die Zeit.«

Auch in diesem Fall rechtfertigte die Zeit ihren Ruf. Innerhalb der nächsten beiden Wochen, die für beide Beteiligten schneller vergingen als in der Vergangenheit eine einzige, vollzogen sich einige - sehr auffällige - Veränderungen. Der Kühlschrank im Hause Bronstein wurde nicht mehr leer und Samys Herz so voll wie einst im Offenbacher Mai. Er hatte nur noch selten Sodbrennen und nahm auch keine Schlaftabletten mehr, um die Nacht zu verkürzen. Den Beipackzettel der Pillen benutzte er als Lesezeichen. Im Übrigen las er nicht mehr eine Biographie über das Leben des im Ersten Weltkrieg gefallenen Dichters Rupert Brooke, die ihm sein Sohn zum Geburtstag geschenkt hatte, sondern Tania Blixens »Afrika, dunkel lockende Welt«. Das Buch hatte Martha vor der Auswanderung nach Kenia in Nürnberg gekauft und hatte es sowohl bei der hastigen Übersiedlung nach London als auch vor dem spöttischen Ausdruck in den Augen ihrer Tochter gerettet. Es war das erste Mal seit Jahren, dass Samy wieder Deutsch las. Seine Kinder hatten das nie gern gesehen und behauptet, so würde sich ihr Vater nie in England integrieren.

Eines Tages wachte dieser dickköpfige Vater auf und hörte jemanden eine Melodie aus dem »Land des Lächelns« pfeifen. Er brauchte einige Sekunden, bis er die Operette überhaupt erkannte und dann auch noch den fröhlichen Solisten entlarvte. Es war der Mann, der er jahrzehntelang nicht mehr gewesen war. Beim Blick in den Spiegel beschloss er, es endlich einmal mit dem Rasierwasser zu versuchen, für das seit Weihnachten in der U-Bahnstation

Tottenham Court Road Reklame gemacht wurde. Die Katze Pussy erlebte ihrerseits alle häuslichen Veränderungen, ohne dass sie sich Gedanken über Zukunft und Sehnsucht machte. Sie wurde nun täglich frisch gebürstet. An Tagen mit besonders angenehmen Düften aus der Küche schnurrte sie schon, wenn Martha ihr mit der Bürste zuwinkte. Zudem lernte das kluge Tier, auch auf den Namen »Mieze« zu reagieren; statt zwei Hände forderte es nun vier an, um des Lebens Lust von Kopf bis Schwanz zu spüren. Mieze schwärmte neuerdings für gehackte Kalbsleber. Genau wie ihr Herrchen. Seine wurde mit Zwiebeln serviert, ihre mit einem Klecks Butter.

An einem Samstag, zwischen einem späten Frühstück mit Eiern in einem Glas, das Martha aus ihrem Hausstand mitgebracht hatte, und einem geplanten Spaziergang in Hampstead Heath, wo gemäß der Jahreszeit die frühen Rosen und späten Hoffnungen blühten, machte Samy einen Vorschlag, den er als ebenso ungeheuerlich wie tollkühn empfand. Ging es um wichtige Entscheidungen, war er sonst eher ein Zauderer. Die selige Miriam hatte ihn des Öfteren gar als Memme abgetan. Bei Martha brachte er allerdings sein Anliegen so beherzt hervor, dass er den Mann, der da sprach, schon nach dem ersten Räuspern nicht mehr als den vereinsamten Witwer identifizierte, für den selbst er nur kränkendes Mitleid empfunden hatte. Vor der Begegnung mit Martha hatte er gar erwogen, sich für einen Bridgekurs in Golders Green anzumelden, um einen Grund zu haben, regelmäßig aus dem Haus zu gehen. Nun wiesen die Zeiger seiner Lebensuhr allerdings in eine ganz andere Richtung. Martha, schlug der Mann des Entschlusses vor, »könnte vielleicht, aber nur wenn es ihr genehm ist«, doch täglich nach seinem Haushalt schauen.

»Ihn führen, meine ich«, präzisierte er. »Ganz offiziell, versteht sich. Gegen ein Entgelt, über das wir uns bestimmt einigen werden. Wie sich das gehört. Das hat nichts damit zu tun, dass wir privat gute Freunde geworden sind, Martha. Das Geschäftliche muss stimmen. Gerade unter Freunden. Das habe ich sehr früh in meinem Leben gelernt, und darauf bestehe ich.«

»Das kommt überhaupt nicht in Frage«, wehrte sie ab. Ihr Ton war so unliebenswürdig, dass Samy und sie gleichermaßen erschraken. »Ich hab mein Auskommen und muss nichts dazuverdienen. Das käme mir auch nie in den Sinn. Und außerdem würde meine Familie nie erlauben, dass ich arbeiten gehe. Nie und nimmer. Keiner von denen. Mein Schwiegersohn schon gar nicht. Emil ist ganz altmodisch in solchen Dingen. Der sieht es ja schon nicht gern, dass meine Tochter ihm seine Geschäftsbücher führt.«

»Gegen wie viele Leute müsste ich mich denn durchsetzen?«

»Gegen vier und allesamt besondere Dickköpfe.« »Dreschen die denn alle gleichzeitig auf einen alten Mann und eine unschuldige Katze ein?«

»Keine Ahnung. So etwas ist ja noch nie vorgekommen in unserer Familie.«

»Lass mich nur machen, Martha, bitte. Gib mir wenigstens eine Chance. Mit Dickköpfen habe ich mich immer gut verstanden, und ich habe sie sogar recht gern. Sonst müsste ich mich jeden Morgen beim Rasieren ohrfeigen. Und meine Rebekka hätte ich schon als Vierjährige aus dem Haus gejagt. Das Wort Ja hat nie zu ihrem Sprachschatz gehört. Meines Wissens hat sie es bis heute nur ein einziges Mal gebraucht. Und das ausgerechnet in einer Kirche. Als sie ihren Goi geheiratet hat.«

Noch nicht einmal zwischen zwei Schlägen ihres Herzens kam Martha der Gedanke, sie könnte auf Samys Vorschlag eingehen. Grimmig - und selbstquälerisch detailliert -machte sie sich klar, was er einer fast sechzigjährigen Frau zumutete, die ihre Familie liebte und ihre Großmutterpflichten ernst nahm. Obwohl sie gerade das nicht wollte, begann sie sich in allen Einzelheiten vorzustellen, wie sie morgens um acht schon für Samy zum Metzger und ins Gemüsegeschäft lief und sich jeden Samstag grämte, weil sonntags niemand für ihn sorgte. Dann, ausgerechnet bei dem Gedanken, sie müsste mal versuchen, den Gelbstich aus seinen weißen Hemden und den Gardinen im Wohnzimmer zu bekommen, wurde sie so wütend wie seit Jahren nicht mehr. In ihrer Rage konnte sie sich noch nicht einmal entscheiden, ob sie die Idee, sie als eine Kombination von Hausdame und Dienstmädchen einzustellen, verletzend fand, skurril, einen typischen, rotzfrechen Männerstreich oder nur bedauernswert absurd.

Martha wiederholte ihre Ablehnung. Ihre Haut flammte den Zorn der Gekränkten. Ihre Hände wurden feucht. Schon spürte sie auch den Druck von Tränen. Ihr wurde übel, und das Zimmer begann sich zu drehen. Jedes Wort, das sie sagte, klang dennoch wie ein Schuss. Sie nahm genau Maß und verfehlte zunächst kein einziges Mal ihr Ziel. Und doch machte sie einen Fehler, einen nicht wieder gutzumachenden Kardinalfehler. Irgendwann schaute Martha Freund beim Abschuss ihrer Salven Samy Bronstein an. Sie bemerkte seine hängenden Schultern und dass er rote Flecken im Gesicht hatte und schwer wie ein Rennläufer atmete, der sich verausgabt hat.

Es war jedoch die Art, wie Samy die Hände in seine Hosentaschen schob, die sie am meisten verstörte. Der Mann, der mit seinem überraschenden Angriff aus dem Hinterhalt so verwegen wie ein junger Krieger begonnen hatte, war nun verlegen wie ein Schuljunge, der vom Schuldirektor beim Diebstahl ertappt worden ist. Den bittenden Augen dieses ertappten Jungen konnte sich Martha, die eine Tochter, eine Nichte und zwei Enkelkinder durch die Kindheit geleitet hatte, nicht entziehen. Hätte sie sich da, wenn auch nur im Moment der Entscheidung, an die flehenden Augen des Dackels erinnert, der immer in Cham an einem Haken vor der Bäckerei Freund angeleint wurde, wenn Schornsteinfegerswitwe Mosergruber ihre Frühstücksbrötchen holte, wäre ihr vielleicht rechtzeitig eine eigentümliche Variante des Lebens eingefallen. Ein bettelnder Blick, gleichgültig ob aus Hunde- oder Männeraugen, pflegt bei den meisten Frauen eine Überproduktion an mütterlichen Schutzinstinkten zu mobilisieren. Dass diese weichherzigen Frauen bedauernswerte Geschöpfe sind, die zeitlebens vergeblich gegen ihr Naturell kämpfen, wusste sie ja ohnehin. Genau das geschah.

Martha schaute nicht zum Fenster hinaus, nicht gründlich genug in ihre aufgewühlte Seele. Stattdessen tat sie einen tiefen Blick in Samys haselnussbraune Dackelaugen. Erst sagte sie zweifelnd: »Ach«, und dann staunend: »Wir können es ja mal probieren.« In ihrem Rock suchte sie nach einem Taschentuch, in ihrem Gemüt nach der Logik, die Frauen Ja sagen lässt, wenn die Antwort Nein ist. Als sie an den Herd eilte, weil der Topfdeckel fordernd klapperte, war sie immer noch fassungslos. Der Pichelsteiner Eintopf war genau richtig, das Fleisch nicht zu weich gekocht und nicht mehr zäh. Grün leuchtete die Petersilie in der Brühe. Martha fiel ihr seliger Mann ein, der immer Petersilie mit Dill verwechselt hatte, doch statt wie sonst bei dem

Gedanken an männliche Lernunwilligkeit den Kopf zu schütteln, lächelte sie.

»Das«, sagte Samy, als er mit der zweiten Portion begann, »ist Glück.«

»Das Glück«, wusste sie, »ist immer anderswo«, doch sie glaubte, als sie sprach, nicht an die Erfahrungen, die sie in neunundfünfzigeinhalb Lebensjahren gemacht hatte. Noch abends, als die Erinnerungen an den Tag sich anschickten, ihr den Schlaf zu nehmen, kam ihr der Gedanke, irgendwann und irgendwo könnte es das Glück doch schaffen, sesshaft zu werden.

Das Gespräch hatte sechs Tage vor der fälligen Rückkehr der Procters aus Kenia stattgefunden. Martha bereute ihre Zusage an Samy keine Minute, doch der Umstand verunsicherte sie. Sie kam sich wie ein junges Mädchen vor, das schon seine Koffer gepackt hat, um zu Hause auszuziehen, aber Ausschau nach einem Boten hält, der den Eltern die Botschaft überbringen soll. Samy Bronsteins Existenz auch nur zu erwähnen erschien Martha verwegen. Wie aber sollte sie begründen, weshalb sie künftig für einen Mann sorgen wollte, den sie eben erst kennen gelernt hatte? Sie bezweifelte, dass ihr nur ein passendes Wort einfallen würde, um Liesel und Emil die Situation zu erklären. Schlimmer noch: Selbst in ihren Träumen hörte sie ihre Tochter unaufhörlich reden, spotten, zetern. Liesel war nicht die Frau für Kompromisse. Sie hatte schon als Kind eine unangenehm schrille Stimme gehabt, wenn sie sich im Recht glaubte und ihre Forderungen stellte. Seitdem war eine Logik hinzugekommen, der mit einer durchschnittlichen rhetorischen Begabung nicht beizukommen war.

»Mami, du machst dich doch lächerlich«, räsonnierte diese Stimme bei Tag und bei Nacht, »in deinem Alter. Du glaubst gar nicht, wie schnell du siebzig wirst.« Marthas kluge Tochter hatte ihr Lebtag nicht das Bedürfnis gehabt, andere Menschen mit Charme und Rücksicht zu verwöhnen. »Sie ist«, gestand Martha am Tag, als Samy zum ersten Mal ihren berühmten Zimtkuchen mit in Rum getränkten Rosinen probierte, »ein gutes Kind, aber von Toleranz hat sie leider nie viel gehalten.«

»Umgekehrt«, tröstete er, »wäre auch kein Vergnügen. Bei schlechten Menschen hilft auch Toleranz nicht.«

Auch vor Rose’ feixenden Grimassen, ihrer hochfahrenden Art und vor ihrer Überheblichkeit fürchtete sich Martha, als wären die Sünden der Jugend tatsächlich eine Bedrohung für die Alten. »Nur David«, prophezeite die unglückliche Großmutter, »wird mich verstehen. Der Junge ist die Güte in Person. Das Abbild seines Vaters.«

»Hab ich von meinem Sohn auch immer gedacht«, seufzte Samy.

Trotz ihrer Befürchtungen und der Verlegenheit, die sie beutelte, sobald sie an ihre Familie dachte, jubelte Marthas Herz. Ihr machte es von Tag zu Tag mehr Freude, für Samy zu sorgen, für seinen Magen und sein Gemüt, für die Katze, das Haus und für die wunderschöne Passionsblume auf der Fensterbank, die noch Miriam Bronstein aus Kernen gezogen hatte. In einem Zeitraum von nur einem Monat hatte sich Martha an einen äußerst befriedigenden, befreienden Zustand gewöhnt. Jeden Morgen stand Samy, meistens in einer dunkelgrünen Jacke, an der Hecke seines winzigen Gartens und hielt nach ihr Ausschau. Dieser Kavalier einer untergegangenen Zeit war ein Mann, der nicht nur zufrieden in den Suppenteller grunzte, wenn es die fette Rinderbrühe mit den fettfreien Knödeln seiner Jugend gab. Er war ein Ritter, der Komplimente bündelte wie ein Gärtner Rosen. Ohne äußeren Anlass sagte er »Rot steht dir besonders gut, Martha« oder »... dass ich so alt werden musste, um eine Frau kennen zu lernen, die morgens gute Laune hat, ist das wahre Glück!«. Derartige Schmeicheleien hatte sie noch nicht einmal in der Blüte ihres Lebens zu hören bekommen. Bäckermeister Freund hatte seine gesamte Phantasie in die Entwicklung neuer Plätzchenrezepte investiert. Zum ersten Mal seit dem Tag, da ihr Mann im Morgengrauen von Londiani zusammengebrochen war und seine Witwe danach im Familienverband immer mehr geduldet als anerkannt wurde, war Marthas Seele wieder stark. Wenn sie in den Spiegel blickte, sah sie eine Frau von Erwartung und nicht die grauhaarige Granny Gram Gramps, die Englisch mit einem entsetzlichen deutschen Akzent radebrechte, aber zu Geburtstagen »die beste Schokoladentorte der Welt« auf den Tisch brachte und sich diskret zurückzog, wenn die Gäste nicht zu ihrer Generation gehörten. Anders als diese von ihrer Familie mit dem Augenzwinkern der Wohlwollenden behandelte Großmutter brauchte die neue Martha nicht geduldig abzuwarten, ehe sie von ihren Lebensstationen erzählen durfte.

So trug Frauenstolz den größten Anteil an Marthas Entschluss, dem Entsetzen ihrer Familie die Stirn zu bieten und von ihrem neuen Leben mit Samy Bronstein zu berichten. Nun da sich beide einig waren, sich weder um die Konvention noch das Protestgeheul ihrer Kinder zu scheren, machte Samy keinen Hehl aus dem Umstand, dass er am Abend seines Lebens wahrlich nicht auf der Suche nach einer Haushälterin gewesen war, die unter dem Teppich nach Krümeln fahndete und Herrensocken mit dem passenden Faden stopfte. Es war eine Gefährtin, die er an seiner Seite wissen wollte, eine Frau, die ihn fühlen ließ, dass er noch lebte.

»Ich meine, wir können uns doch beide gegenseitig ein bisschen Mut machen«, formulierte der Bedachtsame. »In unserem Alter ist das wichtig. Für alte Leute gehört ja schon eine Portion Mut dazu, vom Wetter in der nächsten Woche zu sprechen, ohne dass sie >so Gott will< sagen.« »Aber du bist doch mutig, mein Lieber. Das fiel mir als Erstes an dir auf, dein Mut und deine Kraft.«

»Siehst du, Martha, genau das habe ich gemeint. Glaubst du, meine Kinder hätten je so etwas zu mir gesagt? Oder mein ehemaliger Chef, für den ich Sonntag für Sonntag in den Betrieb lief, um die Post durchzusehen. Ich treffe ihn noch oft in der Wäscherei mit den Münzautomaten. Er ist zur gleichen Zeit Witwer geworden wie ich, nur halb so gesund wie ich und doppelt so miesepetrig. Er hinkt wie ein Hund mit drei Beinen und hustet wie eine alte Dampflok. Meistens hat er auch Eigelb auf dem Revers seiner Jacke und ungeputzte Schuhe, aber er trägt seine Nase immer noch verdammt hoch und tut so, als hätte er das Rad erfunden und den Krieg persönlich gewonnen.«

»Was dir alles einfällt, wenn du in Fahrt bist«, staunte Martha, »und ich weiß noch nicht einmal, wie ich mit meiner eigenen Tochter sprechen soll, ohne dass wir uns beide zum Narren machen.«

»Wetten, dass du untertreibst! Gerade das gefällt mir an dir. Du bist klug, aber du trägt deine Klugheit nicht wie ein Schild vor dir her.«

Martha dankte mit dem überraschten Lächeln eines jungen Mädchens, das zum ersten Mal von seiner Mitwelt wahrgenommen wird. Sie klopfte Samy zärtlich auf die Schulter und pflückte ein paar Katzenhaare von seinem

Jackett. Ihre Haut glühte. Sie nahm sich vor, am Abend Gott für ein Glück zu danken, von dem sie nicht gewusst hatte, dass es für Menschen im Alter überhaupt noch existierte. Das neue Glück war ein Wunder, ein Lebenselixier, eine Gnade. Nur den gefürchteten Tag der Konfrontation konnte es nicht aufhalten. Schließlich blieben Martha acht Stunden Galgenfrist. »Ich habe schreckliche Angst«, vertraute sie Samy beim Mittagessen an, »dass ich nicht das richtige Wort zum richtigen Zeitpunkt finden werde.« »Mach dir da mal keine überflüssigen Sorgen, meine Liebe. Soweit ich im Bilde bin, ist das bisher jeder Frau gelungen. Selbst meiner.«

An dem heiteren Mittwochabend, als die vier Procters mit einer scheußlichen hölzernen Giraffe aus Kenia zurückkehrten, die so groß war wie ein vierjähriges Kind und ein Schild mit der Aufschrift »Jambo« um ihren zu dicken Hals trug, entschlüpfte Martha noch nicht dem Schutz der Gewohnheit. Sie erzählte nur das Allernötigste von sich selbst, beschränkte sich auf Wetterberichte, einen tropfenden Wasserhahn, den der Klempner für das Backen einer zweistöckigen Schokoladentorte repariert hatte, mit der er seine Frau zur Silberhochzeit überraschen wollte. Danach folgte das gebrochene Bein einer gemeinsamen Freundin und eine etwas langatmige Schilderung, weshalb sie noch nicht dazu gekommen war, Rhabarbermarmelade einzukochen.

»Und keine Milch zu kaufen«, merkte Liesel an, »aber es macht nichts. Wir haben uns eine Kuh aus Londiani mitgebracht, um unabhängig von einer alten vergesslichen Großmutter zu sein.«

»Du konntest nie melken, liebes Kind«, parierte ihre Mutter.

Der ungewohnt scherzhafte Ton und die Erinnerungen an die Zeit, die nur sie beide miteinander teilten, taten ihr gut. Rose und David sprudelten noch mehr gute Laune als die Eltern. Geschichten, Anekdoten, Erlebnisse und Zukunftspläne, die aus diesen Erlebnissen entstanden waren, drängten aus ihnen heraus wie Wasser aus einem geplatzten Rohr. Souvenirs quollen aus den Koffern, die ersten Fotos waren schon entwickelt, gestochen scharf und doch für Martha fern und fremd. Lange schaute sie auf das alte Farmhaus, das ihr trotz der Beschwernisse der Emigration Heimat gewesen war. Sie hörte den Traktor, die Kühe, die Truthähne geifern und vom See abends die Frösche quaken. »Geht die Sonne immer noch so malerisch unter?« »Wir sind nicht so lange geblieben, um das nachzuprüfen«, sagte Liesel.

Rose erzählte von dem Mann mit der Panga. Martha versuchte, sich eine Panga vorzustellen, doch sosehr sie sich auf Werkzeug und geschliffene Messer konzentrierte, sie sah immer nur ihre Tochter als aufmüpfige Achtjährige. Die kleine Liesel, mit Zöpfen und flammenden Wangen, hatte ein Berchtesgadener Jäckchen an, schwarz, grün, rot und mit silbernen Kugelknöpfen. Sie stampfte Wut in Afrikas Erde und schrie ahnungsvoll: »So etwas werde ich in meinem ganzen Leben nicht mehr anziehen.« Eine, die Zukunft witterte, wenn andere noch lange nichts sahen und hörten, war diese Tochter immer noch. Als die Heiterkeit von Emil und den Kindern ansetzte, zum lauten Jubel anzuschwellen, kniff sie die Augen zusammen und forschte mit Kennerblick im Gesicht ihrer Mutter. »Du siehst irgendwie anders aus als sonst«, sagte sie. »Ist dir was?«

Um ihre Tochter auf Dauer in die Irre zu führen, schüttelte Martha zu heftig den Kopf, aber geschlagen gab sie sich nicht. Sie ließ wissen, dass sie in der ganzen Zeit nicht ein einziges Mal Kopfschmerzen gehabt hatte und weder Ärger mit ihrer Galle noch mit dem Mann von der Versicherung. »Ich habe«, sagte die Listige, »noch nicht einmal Nachrichten gehört.«

»Mum wollte wissen«, interpretierte David, »ob du vielleicht beschlossen hast, dich von uns zu trennen, weil du entdeckt hast, wie angenehm das Leben allein ist.«

»Ja«, erwiderte Martha, »das habe ich. Sofort. Gleich morgen. Nachdem ich deine Wäsche gewaschen habe.« Als sie ihr verlegenes Lachen hörte, wünschte sie sich den Mut, von dem Samy gesprochen hatte, und dass sie bei ihm und seiner schnurrenden Katze statt bei geliebten Menschen wäre, die das Gras wachsen hörten, ehe es gesät wurde. Ins Bett ging sie mit Kopfschmerzen und beim Aufwachen grämte sie sich, dass sie auf keines der vom Zufall so bereitwillig angelieferten Stichworte reagiert hatte.

Dieser Zufall verübelte ihr indes nicht, dass sie eine Zauderin war. Drei Tage später gab er ihr eine zweite Chance. Rose war unerwartet früh nach Hause gekommen - erhitzt und trotzig, weil eine Verabredung, auf die sie sich den ganzen Tag gefreut hatte, nicht nach ihren Wünschen verlaufen war. Missgestimmt verabschiedete sie sich, um ins Bett zu gehen, setzte sich aber dann doch, als hätte sie die ganze Familie mit Engelszungen dazu überredet, mit an den Tisch, wo sie in frappierend kurzer Zeit eine halbe Schüssel Kirschkompott in sich hineinlöffelte. Sie ertränkte die Pracht in einem großen See von Sahne und leckte sich die Lippen sauber. »Zu süß«, sagte sie angewidert, schüttelte ihre langen Haare aus und runzelte die Stirn. »Müssen wir denn immer so essen, dass man bei jeder Mahlzeit zunimmt wie ein Mastschwein?« »Seit wann weißt du über Schweine Bescheid?«, fragte ihr Vater.

In diesem Moment kam auch David nach Hause. Er nickte allen zu, sagte, Rose hätte ihm in die Hand versprochen, nie, auch nicht am Sabbat, mit einem Schwein zu reden, denn Schweine seien nicht koscher und außerdem zu fett. Er übersah den hasserfüllten Blick seiner Schwester. Seine Großmutter drückte er so fest an sich, als wäre er von einer Weltreise heimgekehrt. Davids Herzlichkeit, sonst für Martha Erfüllung und Seligkeit, machte sie verlegen. Sie kannte den Grund und schämte sich. Er spürte nichts und lachte.

»Ich habe mir eine Arbeit gesucht«, sagte sie, als sie kaum noch an sich glaubte. »Aber ihr müsst euch keine Sorgen machen. Hier geht alles so weiter. Es wird euch an nichts fehlen. An gar nichts.« Sie sah, während sie sich dem Pathos ihrer Worte bewusst wurde und schauderte, allein den an, dessen Verständnis sie sicher war.

Später konnte Martha nie mehr rekapitulieren, was sie mehr geängstigt hatte, die verblüffte Stille der ersten paar Sekunden oder der Sturm, der dieser Stille folgte. Rose weinte zunächst lautlos. Nach einer Weile wurden aus ihren Kindertränen lautes Jammern; sie bettete den Kopf in den Schoß ihrer Großmutter. Ihre Schultern bebten beängstigend.

»Ich kann mir nicht denken, dass ich dich richtig verstanden habe«, versuchte es Emil. »Hör um Himmels willen auf zu weinen, Rosie. Es ist nicht das Geringste geschehen. Granny hat das doch gar nicht so gemeint.«

»Doch das hat sie«, sagte Martha leise.

David war blass. Er kaute, was er seit Jahren nicht mehr getan hatte, an seinen Nägeln. Die Stimme war so hoch und gequetscht wie vor dem Stimmbruch. Seine Augen machten ihn kurz zu einem Mann, der nicht verstehen will, und dann zu einem Kind, das nicht verstehen kann. »Das ist nicht fair«, presste er hervor. »Ich dachte, du liebst uns. So wie wir dich lieben. Ehrlich, das habe ich immer gedacht. Sorry, Mrs Freund. Hast du deinem Arbeitgeber schon die guten Fleischpflanzerln gemacht?« Die Mühe, die er sich mit dem deutschen Wort gab, hatte seine Wirkung. Sie zerschnitt das Herz seiner Großmutter.

Und doch war eine, die verstand, eine die schon immer jene, die sie liebten, mit der Schlusspointe verblüfft hatte. »Vielleicht haltet ihr alle mal den Mund, ihr egoistischen Klugscheißer«, sagte Liesel. Ihre Stimme war leise und freundlich, die der überlegenen Wissenschaftlerin, die sie hatte werden wollen, als sie ihre Träume noch zwischen die Maisfelder von Londiani pflanzte. »Wenn sich meine Mutter eine Arbeit sucht, wird sie einen Grund dafür haben. Vielleicht ist sie es auch einfach nur leid, mit mir zu diskutieren, ob sie sich einen neuen Wintermantel leisten kann oder ob sie ihrer anspruchsvollen Enkelin einen Wunsch erfüllen soll, den sie sich bestimmt nicht leisten kann. Wenigstens fragen hättet ihr können, warum sie nicht den ganzen Tag hier zu Hause sitzen will. Sorry, Master David. Du bist genauso ein mieser Egoist wie deine Schwester. Am besten du besprichst das mal mit Rabbi White. Vielleicht bringt der dir bei, dass es völlig unerheblich ist, ob du noch einmal am Freitagabend deine geliebten Karotten mit Rosinen bekommst oder nicht. Übrigens habe ich auch das Rezept.«

Liesel stand auf. Mit einem Klaps, der nicht ohne Zärtlichkeit war, entfernte sie die noch immer heulende Rose von Marthas Schoß. Sie streichelte, ein wenig abwesend, die mütterliche Stirn. Eigentlich wollte sie Martha vorschlagen, in Ruhe zu erzählen, was für eine Arbeit sie gefunden hatte und bei wem, doch Erinnerungen, lange verschüttet und nie vergessen, ließen Mutter und Tochter nicht zum klärenden Wort kommen. Beide dachten sie, im gleichen Augenblick, mit gleicher Sehnsucht und Innigkeit, an die Tage von Mombasa. Siebzehn Jahre war das nun her. Martha war damals unterwegs zu ihrem Bruder nach Montevideo gewesen, Liesel noch nicht entschlossen, Kenia für immer zu verlassen und in London zu leben. Das Licht, in Mombasa so weiß wie nirgendwo sonst, erhellte noch immer die Szene. Auf der Terrasse eines feinen Hotels hatte Martha in den ersten Gurkensandwich ihres Lebens gebissen und Liesel aus einem hohen Glas getrunken. Orangensaft mit Eiswürfeln und Standesbewusstsein. Dabei hatten Mutter und Tochter, denen das Leben die Gnade verwehrt hatte, zu sagen, was sie füreinander empfanden, sich gefunden. Schweigend und doch für immer. »Danke«, flüsterte Martha.

»Wofür? Dass ich dich vor meiner garstigen Brut schützen muss. Das ist doch meine Pflicht als Tochter.«

»Ich hab von Mombasa gesprochen.«

»Ich auch.«